Kassel: Leben am Fluss
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Über dieses E-Book
Der vorliegende Sammelband beleuchtet dies sowie ganz unterschiedliche Aspekte des Lebens am Fluss, angefangen mit der Frühzeit, die viele Funde, aber auch Rätsel hinterlassen hat. Erzählt wird die Geschichte der Flussschifffahrt, des Hafens und der Stadtschleuse, die nach umfangreicher Sanierung 2023 wieder nutzbar sein soll. Das wird auch Kassels Volksfest, dem fast hundert Jahre alten Zissel mit seinem Wasserfestzug zugutekommen. Das Thema Hochwasserschutz, die Historie des Flussbadens, die Uferpromenade unterhalb des Auedamms und die Bundesgartenschau 1981, mit der gegenüber dem städtischen Ufer das Freizeit- und Naturschutzgelände der Buga entstand, sind weitere Themen.
Ebenfalls auf der östlichen Seite der Fulda wurde die Unterneustadt auf historischem Grundriss wiedergegründet, während der Wiederaufbau auf Seiten der Altstadt historisches Gespür bis in die jüngste Zeit vermissen lässt. Anders in Bad Karlshafen, wo die Sanierung des alten Hafens die Stadt aufblühen lässt, wie ein Exkurs über die Barockperle an der nördlichen Spitze des Landkreises Kassel beschreibt.
Mit Beiträgen von Gerhard Böttcher, Joachim Bürgel, Karl-Erwin Franz, Irina Görner, Christina Hackenberg, Uli Hellweg, Bertram Hilgen, Albrecht Hoffmann, Eckhard Jochum, Harald Kimpel, Alexander Lorch, Martin Marburger, Franziska Umbach, Petra Wettlaufer-Pohl und Günther Wagner
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Buchvorschau
Kassel - Petra Wettlaufer-Pohl
Petra Wettlaufer-Pohl
Leben am Fluss
Die Wiederentdeckung der Fulda, die doch schon immer zu Kassel gehört hat
Einleitung
S
pielen auf der Fuldawiese am Heimatort, während die Großen schon badeten, gehörte zur frühen Kindheit. Später ging es lieber ins Freibad, inzwischen genießen wir die Flusslandschaft beim Spaziergang oder der Fahrradtour, während sich die Fulda selbst durch Felder und Wiesen schlängelt. Dazwischen allerdings lagen 15 Jahre am Rhein, einem Strom, den man ganz anders wahrnimmt. Manchmal fast ehrfürchtig, oft schlicht begeistert von der Weite des Flusses. Zurück an der Fulda dauerte es eine Weile, sich mit dem kleinen Fluss abzufinden.
Aber: die Fulda mit neuen Augen sehen, ihre Geschichte, ihre Funktion für die Stadt, die Flusslandschaft, die schönen und auch die weniger schönen Seiten bewusst wahrnehmen; lernen, was man noch besser machen könnte, um die Fulda stärker in den Fokus zu rücken, das alles ist der Arbeit an diesem Buch und den Beiträgen der Autoren und Autorinnen zu verdanken.
Dabei haben sie sich ganz unterschiedlichen Themen gewidmet, beginnend mit archäologischen Zeugnissen einer Zeit, die viele Tausend Jahre zurückliegt und auch an der Fulda noch manches Rätsel aufgibt. Zur – wesentlich jüngeren – Vergangenheit gehört die Flussschifffahrt, einst ein wichtiger Wirtschaftszweig, der Kassel mit der Welt verband und der Stadt Ende des 19. Jahrhunderts einen Hafen bescherte. Heute liegt der, bar öffentlicher Nutzung, eher versteckt. Dabei beherbergt er ein kleines Juwel: Das Museum für Fuldaschifffahrt, mit dem engagierte Vereinsmitglieder diesen Teil der Kasseler Geschichte lebendig halten. Schon damals ging es nicht immer konfliktfrei zu auf der Fulda, heute ist hier die Wasserschutzpolizei im Einsatz, deren Boot im Hafen stationiert ist.
Ein anderes kleines Juwel, ebenfalls von engagierten Bürgerinnen und Bürgern erhalten, befindet sich im Kurbad Jungborn in der Unterneustadt und widmet sich der Geschichte des Flussbadens. In unmittelbarer Nachbarschaft beginnt das wohl ambitionierteste Stadtbauprojekt Kassels, die in den neunziger Jahren auf dem historischen Grundriss begonnene Wiedergründung des im Zweiten Weltkrieg nahezu komplett zerstörten Stadtteils Unterneustadt. Ganz anders der Wiederaufbau nach dem Krieg auf der anderen Seite des Flusses, wo nur noch wenig an die Altstadt erinnert. Aber muss das so bleiben?
Um eine politische Entscheidung geht es auch in einem sehr persönlichen Beitrag des früheren Oberbürgermeisters Bertram Hilgen, der 2009 die Promenade unterhalb des Auedamms durchsetzte – gegen zunächst erbitterten Widerstand der Schwimm- und Rudervereine, die dort seit vielen Jahrzehnten ansässig sind und lange Zeit einen wichtigen Beitrag zum sozialen Leben Kassels leisteten. Nicht einmal zur Bundesgartenschau 1981, der Kassel das Freizeit- und Naturschutzgelände Fuldaaue verdankt, hatte man sich an den privilegierten Zugang der Vereine zum Wasser herangetraut.
Ganz anders, nämlich selbstverständlich, haben die Menschen in Kassel den Zugang der documenta-Künstlerinnen und
-Künstler
zur Fulda im Sommer 2022 erlebt. Fast so, als müsste die Kunst den Kasselern die Augen öffnen für ihren Fluss. Und doch stimmt es nicht ganz. Auch in der Vergangenheit gab es viele Bezüge zwischen Kunst und Fluss. Dass das Leben an der Fulda auch seine Schattenseiten hat, davon zeugen historische Hochwasserereignisse in Kassel. Wie man dem heute gerade unter den Bedingungen des Klimawandels vorbeugt, beschäftigt die Hochwasserexperten des Regierungspräsidiums.
Zum Schluss geht es um einen Zugang zum Wasser, der Hoffnung macht – nicht an der Fulda, sondern im Norden des Landkreises Kassel, an Diemel und Weser: Die Stadt Bad Karlshafen, das von Landgraf Karl gegründete barocke Kleinod, das vor einigen Jahren noch auszubluten drohte, hat seinen Hafen neu entdeckt und damit die Stadtentwicklung wieder angekurbelt.
Danke an alle, die Beiträge zu diesem Buch geleistet, aber auch an diejenigen, die zuvor Anregungen dafür gegeben haben. Und an die Fotografen und Fotografinnen der Fotogruppe Kassel der Stiftung Bahnsozialwerk, die den Fluss auf ihre Weise für uns entdeckt haben.
1 Vom Mammutbackenzahn über eine jungsteinzeitliche Steinaxt bis hin zur neuzeitlichen Kanonenkugel reicht das Fundspektrum in zwei Kiesgruben im Bereich des heutigen Buga-Geländes in Kassel.
Dr. Irina Görner
Gaben an die Götter?
Archäologische Funde vom Grund der Fulda
F
lüsse nehmen in unserer Geschichte in vielerlei Hinsicht eine wichtige Rolle ein: Sie lieferten einen wertvollen Beitrag zur Ernährung, hielten Trink- und Brauchwasser bereit, dienten als Transportweg oder als willkommene Möglichkeit der Abfallentsorgung. Nicht überraschend bergen Flüsse wie die Fulda daher eine Vielzahl von Dingen, die im Laufe der Jahrtausende auf die eine oder andere Art dorthinein geraten sind. Archäologen sehen sich durch Flussfunde allerdings vor erhebliche Herausforderungen gestellt. Schließlich handelt es sich meist um Zufallsfunde, die bei Eingriffen in den Flusslauf durch Baggerarbeiten oder in Kiesgruben zutage kamen. Es liegt in der Natur der Sache, dass dabei kaum mehr genauere Angaben zur Lage und Tiefe der Fundobjekte möglich sind, was ihre Deutung erheblich erschwert. Vielfältig sind nämlich nicht nur die Flussfunde selbst, sondern auch die Umstände, die zu einer Ablagerung im Fluss geführt haben können. In den Fluss geriet so einiges, manches absichtlich, anderes wohl eher unfreiwillig. Es finden sich die Überbleibsel von Unglücksfällen und Hochwasserkatastrophen ebenso wie aus unterschiedlichen Gründen gezielt versenkte Gegenstände und nicht zuletzt auch die Umweltsünden unserer älteren und jüngeren Vergangenheit. Die Schichten, die ein Fluss im Laufe der Zeit ablagert, sind ein mehr oder weniger lückenhaftes – und nicht unbedingt wohlgeordnetes – Archiv der Geschichte.
Auch aus der Fulda bei Kassel stammen zahlreiche Objekte unserer jüngeren, aber auch älteren Vergangenheit. Steingeräte der Jungsteinzeit (5500–2200 v. Chr.) wurden unter anderem bereits im 19. Jahrhundert im Fuldakies an der Schlagd gefunden. Damit sind sie keineswegs die ältesten Funde aus der Fulda. Auch einige Mammutbackenzähne stammen aus ihren Kiesschichten und die letzten Mammuts streiften vor über 10.000 Jahren durch das Kasseler Becken. Und selbstverständlich finden sich auch immer wieder Zeugnisse der jüngeren Geschichte, wie etwa eine Kanonenkugel aus einer Kiesgrube an der heutigen Regattastrecke im Bereich des Buga-Geländes (Abb. 1).
2 Die ungefähre Lage der beiden fundreichen Kiesgruben im Bereich der heutigen Messehalle (1) und weiter südlich schon in der Gemarkung Fuldabrück-Bergshausen (2).
Die bei weitem überraschendsten Funde kamen in den 1950er und Anfang der 1960er Jahre in zwei Kiesgruben in Kassels Süden zutage. Die eine Grube lag im Bereich der heutigen Messehallen an der Damaschkestraße, die zweite schon in der südlich anschließenden Gemarkung Fuldabrück-Bergshausen (Abb. 2). Heute fließt die Fulda in bis zu 300 m Entfernung zu den beiden Fundstellen. Trotzdem handelt es sich bei den Kiesschichten, in denen die Funde entdeckt wurden, eindeutig um Ablagerungen der Fulda. Durch die starken Landschaftsveränderungen im Laufe der Jahrtausende – nicht zuletzt durch die Anlage des Geländes für die Kasseler Bundesgartenschau im Jahr 1981 – sind die Altarme der Fulda, die zu diesen Kiesablagerungen führten, jedoch nicht mehr überall eindeutig zu erkennen.
Aus beiden Kiesgruben stammen jeweils mehrere Funde der Bronzezeit (Abb. 3). Diese vorgeschichtliche Epoche fällt etwa in die Zeit zwischen 2200 v. Chr. und 800 v. Chr. Damals lebten die Menschen bereits seit über 3.000 Jahren als sesshafte Ackerbauern und Viehzüchter. Sie hielten Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen, gegen Ende der Bronzezeit wurde auch das Pferd domestiziert. Sie bauten verschiedene Getreidearten, Hülsenfrüchte und Lein an. Die Menschen kannten den Transport mit Booten sowie Wagen und legten bereits erste Straßen aus Holzbohlen in unwegsamem Gelände an. Prägend für diese Periode ist die Entdeckung des Metalls. Verwendete man anfangs noch reines Kupfer, hatte man wenig später bereits entdeckt, dass eine Legierung aus Kupfer und Zinn bessere Materialeigenschaften bot. Die nötigen Rohstoffe mussten in Hessen allerdings durch Handel mit weit entfernten Regionen beschafft werden. Die heimischen Kupferlagerstätten, etwa im Gebiet von Richelsdorf im Werra-Meißner-Kreis, ließen sich mit den eingeschränkten Möglichkeiten der Bronzezeit noch nicht ausbeuten und Zinnvorkommen sucht man in Hessen vergeblich. Metallanalysen verraten, dass das verwendete Kupfererz aus dem Ostalpenraum stammt, wo es bereits in der Bronzezeit bergmännisch unter Tage gewonnen wurde. Das notwendige Zinn stammt wohl aus dem Erzgebirge, aus Südengland oder Nordfrankreich. Kupfer und Zinn mussten jedenfalls von weither nach Hessen transportiert werden. Vor Ort verarbeiteten spezialisierte Handwerker das Metall zu einer Vielzahl von Gegenständen, vom Armring bis zum Schwert.
3 Aus den beiden Kiesgruben stammen zahlreiche Funde der Bronzezeit. Einige Stücke – etwa unten rechts – wurden durch die Brechanlagen der Kiesgewinnung beschädigt.
4 Die Kiesgrube im Bereich der heutigen Messehallen mit Blick auf Kassel-Waldau. Deutlich erkennbar ist der Schwimmbagger mit der Eimerkette, mit dem der Kies aus bis zu 8 m Tiefe gefördert wurde.
Die Mehrzahl der Funde aus den Kiesgruben von Kassel-Waldau und Bergshausen stammen aus der Spätphase der Bronzezeit, einer Periode zwischen 1100 und 800 v. Chr. Dass wir die Objekte heute im Museum bestaunen können, ist der Aufmerksamkeit der damaligen Kiesgrubenarbeiter zu danken, denn ohne sie wären die Funde unwiederbringlich verloren gewesen. Auch die damals noch eher einfache Technik der Kiesgewinnung mit Greifbaggern oder Baggern mit Eimerketten ermöglichte die Rettung der Funde (Abb. 4). Auf Förderbändern wurden seinerzeit Fremdkörper von Hand aussortiert, um Schäden an den Maschinen zu vermeiden. Viele Fundstücke wurden so von den Arbeitern der Kieswerke vom Förderband gelesen. Objekte, die zu spät bemerkt wurden, gelangten mit dem Kies in die Zerkleinerungsmaschinen und trugen entsprechende Schäden davon.
5 Unter den Funden aus der Kiesgrube im Bereich der Messehallen war auch ein 10,5 cm langes Tüllenbeil der Späten Bronzezeit.
6 Ein so genanntes Randleistenbeil der Mittleren Bronzezeit (1550–1300 v. Chr.) stammt aus der Kiesgrube von Fuldabrück-Bergshausen.
7 Eines von zwei Fundstücken der Frühen Bronzezeit (2200–1550 v. Chr.): ein Trapezbeil aus Kupfer geborgen in der Grube von Kassel-Waldau.
Bei den Funden handelt sich um dreizehn so genannte Lappenbeile aus Bronze, hinzu kommt ein Tüllenbeil (Abb. 5). Ein Randleistenbeil (Abb. 6) stammt noch aus der Mittleren Bronzezeit (ca. 1550–1300 v. Chr.). Nur zwei Objekte sind noch älter: Ein Flachbeil (Abb. 7) und eine seltene Doppelaxt (Abb. 8) aus Kupfer sind noch der Frühbronzezeit (ca. 2200–1550 v. Chr.) zuzurechnen. Daneben wurden noch drei bronzene Sichelklingen, die zur Getreideernte dienten, zwei Schwerter und der Rest einer Lanzenspitze geborgen. Schmuckgegenstände sind unter den Funden nicht vertreten. Ein halbmondförmiger Anhänger war nach ähnlichen Stücken aus gleichalten Gräbern wohl das Zierstück eines spätbronzezeitlichen Wagens.
8 Die über 43 cm lange frühbronzezeitliche Doppelaxt aus Kupfer weist nur ein winziges Schaftloch auf. Zum praktischen Gebrauch war die fast 3 kg schwer Axt damit nicht geeignet.
Die genaue Fundsituation bleibt leider weitgehend im Dunkeln. Die Objekte stammen auf jeden Fall aus erheblicher Tiefe, denn in den bis zu drei Meter dicken Deckschichten aus Auelehmen, die vor der Kiesausbeutung durch Bagger entfernt wurden, sind keine Funde bekannt geworden. Die Kiesschicht selbst ist bis zu fünf Meter mächtig. Die Funde stammen also aus drei bis acht Meter Tiefe. Über die exakte Lagerung der Objekte liegen ebenfalls nur vage Angaben vor. Immerhin existieren für die Waldauer Kiesgrube Beobachtungen zur Verteilung der Fundstücke. Dabei wird klar, dass viele Funde aus einem enger begrenzten Bereich stammen (Abb. 9).
Die Frage, ob die Funde am Ort ihrer Wiederentdeckung auch ins Wasser gelangt sind, scheint auf den ersten Blick nicht so einfach zu beantworten. Der Fluss verlegt schließlich sein Bett im Laufe