Wäldar ka nüd jedar sin!: Eine Geschichte des Bregenzerwalds
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Über dieses E-Book
Um zu verstehen, wie der Bregenzerwald in der Gegenwart "tickt", braucht es das Wissen um seine alles andere als geradlinige historische Entwicklung – jenseits der üblichen Stereotype. Manches erklärt sich aus langer geschichtlicher Tradition, anderes aus der Notwendigkeit und Bereitschaft, sich immer wieder an neue Gegebenheiten anzupassen. Der Bregenzerwald wird so zu einem trefflichen Beispiel dafür, dass Beharrungsvermögen und Flexibilität, Abgeschiedenheit und Weltoffenheit keine Gegensätze sein müssen.
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Buchvorschau
Wäldar ka nüd jedar sin! - Alois Niederstätter
Hinführung
An regional begründetem Selbstbewusstsein mangelt es den Bewohnerinnen und Bewohnern des Bregenzerwalds, eben den Wälderinnen und Wäldern, die sich niemals Bregenzerwälderinnen bzw. -wälder nennen würden, in der Regel nicht. Ihr noch nicht gegendertes »Wäldar ka nüd jedar sin« (»Wälder kann nicht jeder sein«) toppt nur die Feststellung der Schwarzenberger, dass es »Männle, Wible« und – gleichsam als Krone der Schöpfung – eben sie gebe.
Dafür lassen sich mehrere Gründe ins Treffen führen: Bevor die Industrialisierung das Rheintal und den Walgau erfasste, lebte gut ein Viertel der Vorarlberger im Bregenzerwald. Das gab ihm wirtschaftliches und politisches Gewicht. Mit den vor allem in Schwaben, der Schweiz und im Elsass wirkenden Barockbaumeistern, der weltberühmten, aus Schwarzenberg stammenden Malerin Angelika Kauffmann (1741–1807), dem in Wien tätigen Gelehrten Joseph Bergmann (1796–1872) als erstem Erforscher der Geschichte seiner Heimat sowie dem Dichter und Sozialreformer Franz Michael Felder (1839–1869), den die Leipziger Zeitschrift »Europa« kurz vor seinem frühen Tod »eines der wunderbarsten Phänomene unserer Zeit« nannte, besaß und besitzt die Region wirkmächtige Propagandisten.
IllustrationDer Dichter Franz Michael Felder mit seiner Frau Nanni, seiner Mutter und den Kindern Kaspar, Mikle und Jakob.
Von den 1820er-Jahren an erkundeten Dichter, Reiseschriftsteller und Volkskundler die Schönheit der Gegend, den Charakter der Bewohner, ihre Gewohnheiten und Gebräuche. Dabei fanden sie allerlei Bemerkenswertes, darunter die Vorstellung, der Bregenzerwald sei einstmals eine weitgehend autonome »Bauernrepublik« und damit eine Art Schweiz gewesen. Ihre viel gelesenen Berichte erschlossen die Talschaft dem Fremdenverkehr.
Heute steht der Bregenzerwald für einen ungewöhnlichen Mix, der freilich auch Spannungsfelder eröffnet: Er ist eine prosperierende Handwerksregion mit urbanen Merkmalen, die eine Vorreiterrolle in der modernen Baukunst, vor allem im Holzbau, spielt. Was die zahlreichen Touristen – der Bregenzerwald verbucht mehr als 800.000 Nächtigungen im Sommer und eine knappe Million im Winter – als »Landschaft« oder »Natur« schätzen, dient gleichermaßen als Vorarlbergs bedeutendster, immer intensiver und keineswegs nur nach ökologischen Grundsätzen genutzter landwirtschaftlicher Produktionsraum mit etwa 1.000 Betrieben. Eingriffe wie der Ausbau von Liftanlagen für den Wintersport rufen außer den Naturschützern auch jene auf den Plan, die den Gästen »Unberührtheit« in einer »Genussregion« bieten möchten. Selbst »Hochkultur« kann mit bäuerlichen Interessen kollidieren, so in Schwarzenberg, wo vor einigen Jahren das international bedeutende Musikfestival »Schubertiade« und der traditionelle Alpabtrieb unvereinbar schienen.
IllustrationAlte und neue Architektur sind im Bregenzerwald kein Gegensatz.
IllustrationFür die Wirtschaft der Talschaft spielt der Tourismus eine große Rolle – Ansichtskarte aus dem Jahr 1956.
Differenzen wurden auch sichtbar, nachdem die Regionalplanungsgemeinschaft Bregenzerwald vor etwa zwei Jahrzehnten den Plan gefasst hatte, die Aufnahme der Talschaft in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes zu betreiben. Begründet wurde das Ansuchen in erster Linie mit der traditionellen »Drei-Stufen-Wirtschaft«, einem System der abwechselnden Nutzung verschiedener Produktionszonen von den Tallagen bis ins Hochgebirge zur Heuernte bzw. als Viehweide. Sie mache den Bregenzerwald zu »einer der herausragenden Kulturlandschaften Österreichs und der Alpen überhaupt« (Hans Peter Jeschke).
Zum Abschluss des Verfahrens kam es nicht. 2008 entschieden die Betreiber, das Projekt nicht weiter zu verfolgen, weil sich, so die offizielle Begründung, die Aufnahmepolitik der UNESCO geändert habe. In der »Neuen Zürcher Zeitung« hieß es am 30. August 2008 dazu freilich, dass die zum Augenschein angereisten Experten vom Argument der Bregenzerwälder nicht überzeugt gewesen seien und das Komitee daraufhin beschlossen habe, das Begehren auf die lange Bank zu schieben. Außerdem sei es zu Spaltungstendenzen innerhalb der Bevölkerung gekommen; vor allem im hinteren Bregenzerwald habe man die strengen Auf lagen der UNESCO und deren Auswirkungen unter anderem auf den Ausbau der Schigebiete gefürchtet. Es mochte ein kleines, allerdings unvergleichlich weniger werbewirksames Trostpflaster gewesen sein, dass es die »Drei-Stufen-Wirtschaft« 2010 in das »Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes in Österreich« (Kategorie »Bräuche, Wissen, Handwerkstechniken«) brachte.
Es sind aber gerade solche Spannungsfelder, die den Blick auf den Bregenzerwald als eine höchst komplexe Kulturlandschaft interessant machen. Manches davon erklärt sich aus langer geschichtlicher Tradition, anderes aus deren Gegenteil, aus der Notwendigkeit, sich immer wieder neuen Gegebenheiten anzupassen. Der Bregenzerwald ist ein treffliches Beispiel, dass Beharrungsvermögen und Flexibilität, einstmalige topographische Abgeschiedenheit und Weltoffenheit keineswegs Gegensätze sein müssen.
IllustrationAls renommiertes Festival lockt die »Schubertiade« Musikfreunde aus der ganzen Welt nach Schwarzenberg.
Eingrenzungen
Während sich andere Talschaften Vorarlbergs wie das Montafon, der Walgau oder die beiden Walsertäler unschwer eingrenzen lassen, decken sich die Gebiete, die die Geographie, die Geschichte oder die Sprachwissenschaft jeweils als »ihren« Bregenzerwald definieren, nicht.
Am nächsten liegend wäre es, ihn als das Einzugsgebiet der Bregenzerach zu bestimmen. Das gelingt aber nur annähernd, weil mehrere ihrer Zuflüsse – Rotach, Weißach, Leckenbach, Bolgenach, Rubach – im benachbarten Allgäu, also in Bayern, entspringen. Sogar die Quelle der Bregenzerach liegt im Gebiet der Gemeinde Lech, die weder historisch noch politisch jemals zum Bregenzerwald zählte.
Geologisch-topographisch erweist sich das Gebiet als höchst uneinheitlich. Wer es vom Rheintal zum Arlberg durchreist, gelangt von den sanften Molassehügeln im Nordwesten zu den schon schrofferen Kreidekalkerhebungen vor Au, passiert die bis zur Enge oberhalb von Schoppernau reichenden Flyschformationen, um schließlich das aus Triaskalken gebildete Hochgebirge zu erreichen.
IllustrationBlick von Westen über den Pfänder oberhalb von Bregenz in den Bregenzerwald mit seinen unterschiedlichen geologischen Formationen, historische Luftaufnahme.
IllustrationDer winterliche Hinterwald von der Alpe Baumgarten (Gemeinde Bezau) aus.
Deutlich kleiner als die heute landläufige Vorstellung vom Umfang des Bregenzerwalds ist der Befund der Historikerzunft. Sie beschränkt ihn auf den vom 14. bis ins beginnende 19. Jahrhundert bestehenden, mit bedeutenden Sonderrechten ausgestatteten Gerichtssprengel dieses Namens, der nicht etwa zu Bregenz, sondern zur Herrschaft Feldkirch gehörte. Er umfasste Egg, Schwarzenberg, Andelsbuch, Bezau, Bizau, Reuthe, Mellau, Au, Schnepfau sowie als Exklave Krumbach und Unterlangenegg. Selbstverständlich verwendeten die älteren Landesbeschreibungen den Begriff »Bregenzerwald« ausschließlich in diesem Sinn. Seine Entstehung verdankt dieser Sprengel einer im Jahr 1338 von den damaligen Landesherren, den Grafen von Montfort, vollzogenen Besitzteilung.
Dass die Urkunden und der Volksmund diesen Bezirk auch den »hinteren« Bregenzerwald – kurz: »Hinterwald« – nennen, lässt die Existenz eines entsprechenden Gegenstücks erwarten. Einen »Vorderwald« gab es allerdings nur inoffiziell. Man meinte damit das nördlich der Subersach gelegene Gebiet der Ortschaften Lingenau, Hittisau und Sibratsgfäll. Sie waren verwaltungsmäßig als »Gericht« Lingenau der Herrschaft Bregenz zugewiesen. Die gleichfalls bis ins frühe 19. Jahrhundert bestehenden »Gerichte« Alberschwende und Sulzberg (mit Doren und Riefensberg) wurden bis in die jüngere Vergangenheit überhaupt nicht zum Bregenzerwald gezählt. Die moderne Einteilung trägt dem Rechnung, indem für dieses Gebiet nicht das »Wälder« Bezirksgericht Bezau zuständig ist, sondern jenes in Bregenz.
IllustrationDie historischen Verwaltungssprengel Vorarlbergs. Karte von 1783.
IllustrationDer heutige Bregenzerwald und seine Gemeinden:
IllustrationAn der Grenze zum Rheintal: das Bödele (Gemeinde Schwarzenberg) oberhalb von Dornbirn, 1953.
Das alte historische Korsett hat der Bregenzerwald längst gesprengt, den Sulzberg ebenso vereinnahmt wie die Siedlungen Damüls und Warth, deren Bewohner, wie es heißt, im Spätmittelalter als »Walser« aus dem Schweizer Wallis zugewandert seien. Zuletzt expandierte er sogar bis an den Rand des Rheintals, indem sich die Gemeinden Buch und Langen bei Bregenz der 1970 ins Leben gerufenen Regionalplanungsgemeinschaft (kurz: Regio) Bregenzerwald anschlossen. Dass der Bregenzerwald damit die einzige »wachsende« Talschaft Vorarlbergs ist, mag für die Attraktivität des »Wäldertums« stehen.
Dem nach außen zur Schau gestellten Selbstverständnis – man kann durchaus von einer »Talschaftsideologie« sprechen – steht im Innern ein gleichermaßen kräftig entwickelter Partikularismus gegenüber. Dass etwa Großdorf – als Fraktion der Gemeinde Egg – eine eigene Freiwillige Feuerwehr, einen eigenen Kameradschaftsbund sowie eine eigene Viehzuchtgenossenschaft besitzt, ist einer von vielen augenfälligen Belegen für die Fähigkeit der »Wälder«, diese beiden Positionen miteinander zu verbinden.
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