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Besuch aus der Zwischenwelt
Besuch aus der Zwischenwelt
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eBook481 Seiten6 Stunden

Besuch aus der Zwischenwelt

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Über dieses E-Book

Heinrich Kramer, 40, ist mit seinem durchschnittlichen Leben zufrieden. Seine Frau Nelly sieht das anders. Er hofft, seine Ehe mit oberflächlichen Schönheitskorrekturen zu retten, muss aber erkennen, dass er auf diese Weise den Ansprüchen seiner Frau nicht genügen kann. Unverhofft erscheint ihm ein Wesen aus einer anderen Dimension, ein 15jähriges Mädchen, Maria Soginow, geisterhaft und doch real. Heinrich hat Angst vor ihr und will sie loswerden, doch ausgerechnet Nelly lässt sich von Maria in die geistige Welt hineinziehen und beobachtet fasziniert, wie sie die Geschicke der Vergangenheit mit ihren eigenen Gedanken verändern kann.
Heinrichs Leben wird durcheinandergewirbelt. Er steht vor der Wahl, sich ängstlich zurückzuziehen oder sich mit der Zwischenwelt auseinanderzusetzen. Als er erkennt, dass ihn jede Begegnung mit der geistigen Welt zu einer wegweisenden Entscheidung drängt, beginnt er zu begreifen, dass er dem Geheimnis eines erfüllten Lebens auf der Spur ist.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum9. März 2023
ISBN9783347893115
Besuch aus der Zwischenwelt
Autor

Bernhard Künzner

Bernhard Künzner, geboren 1959 in Bad Reichenhall, aufgewachsen in Burghausen, Oberbayern, wohnhaft in Mehring bei Burghausen, Standesbeamter 1984-2020, Meditationslehrer, Lebensberater, Seminarleiter im Praxis-Seminar-Zentrum BEDADEVA (www.bedadeva.de) 3 Kinder, 1 Enkelkind, 1 Hund, bisher veröffentlicht: „Ich war in Quies“ (Erlen-Verlag Gelsenkirchen) 1984, „30 Minuten leben“ (Ubooks-Verlag) 2005, „Zwischen dunklen Mächten“ (Books on demand) 2010, „Herzensträume“ (Books on demand) 2011, „30 Minuten – träumend die Realität verändern (EINBUCH-Verlag Leipzig) 2013, „Der dunkle Schleier fällt“ (EINBUCH-Verlag Leipzig) 2015, „Ohne Silikone“ (Books on demand) 2016 „Noch 30 Minuten bis zum Gipfel“ (Books on demand) 2018), „Mission Erleuchtung“ (Books on demand) 2019, „Im Mäuseturm“ (Books on demand) 2020, „Auswanderer“ (Books on demand) 2021, „Das Licht am Ende des Traumes“ (I.C.H.-Verlag) 2022, "Besuch aus der Zwischenwelt" (Tredition-Verlag) 2023 zahlreiche kleinere Theaterstücke, u.a. für historische Burgführungen, freier Mitarbeiter bei der Passauer Neuen Presse, begeisterter Sportler

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    Buchvorschau

    Besuch aus der Zwischenwelt - Bernhard Künzner

    Ich war hochkonzentriert, obwohl es mir nicht leichtfiel, meine fünf Sinne beieinander zu halten. Wie so oft in feuchtfröhlicher Gesellschaft war der Zeitpunkt gekommen, an dem mir klar war, dass ich zu viel getrunken hatte. Aus Trotz, um mir zu beweisen, dass ich mich den Wirkungen des Alkohols nicht einfach so ergab, setzte ich mich gegen den Nebel in meinem Kopf zur Wehr. Meine Frau Nelly war an diesem absurden Verhalten nicht unschuldig. Ich wusste, dass sie mich umso aufmerksamer kontrollierte, je betrunkener ich war. Also bemühte ich mich nach Leibeskräften, ihr durch reflektierte Äußerungen zu beweisen, dass ich noch klar im Kopf war. Jetzt war die Chance dazu gekommen! Ich könnte das Spiel gewinnen!

    Ungeduldig blickte ich auf die Karten in meiner Hand, eine gelbe Acht und eine blaue Acht. Wenn mein Vordermann Roland nun eine Karte mit der Farbe Gelb oder Blau ausspielte, hätte ich den Sieg in der Tasche. Gleich war er am Zug. Alle schauten gespannt auf den leeren Platz auf dem Tisch, auf den er seine Karte legen würde. Ich war bereit, meine beiden Karten blitzartig auf den Tisch zu werfen und die Worte „Uno, beziehungsweise „Uno Uno zu sprechen. Denn, wer vergisst, diese Worte auszusprechen, muss seine Karten behalten. Roland sah mich mit einem leichten Grinsen an. Was hatte er vor? Er wusste doch nicht, welche Karten ich in meiner Hand hielt. ‚Er wird doch nicht etwa…?‘, ging es mir durch den Kopf. ‚Verdammt! Das ist die dämlichste aller Karten!‘ Auf diese Karte hin mussten alle Spieler ihre Karten an den linken Spieler weitergeben. Das bedeutete, dass ich einen ganzen Packen unbrauchbarer Karten von Roland erhielt. Und Gerhard, der links von mir saß, hatte nun statt meiner die besten Chancen, das Spiel für sich zu entscheiden. Als ich die desaströse Wechselkarte vor mir sah, entfuhr mir ein derber Fluch, nicht zu Nellys Wohlgefallen. Die anderen taten es mir nach – ausgenommen Gerhard. Nach einer weiteren Runde war das Spiel entschieden. Gerhard hatte gewonnen.

    Ich hob mein Bierglas und rief: „Auf das beschissenste Spiel des Abends!"

    Die anderen stießen mit mir an und lachten.

    „Noch jemand was zu trinken?, fragte ich. „Die Nacht ist noch jung.

    Tatsächlich war es schon weit nach Mitternacht. Ich warf einen Blick in die Runde und beobachtete, wie Hans breit grinsend sein leeres Glas hob, um mich um eine neue Füllung zu bitten. Doch ein kurzer Zischlaut aus dem Mund seiner Frau reichte aus, um sich eines Besseren zu besinnen. Stattdessen setzte er sein leeres Glas ab, erhob er sich und hielt, wie man es von ihm kannte, noch eine kurze Abschiedsrede.

    „Leute! Für mich ist es Zeit! Es war mir ein Genuss, mit euch diesen Abend zu verbringen. Ihr seid mir die Allerliebsten! Lasst euch umarmen!"

    Theatralisch umarmte er jeden einzelnen von uns. Als die Runde an meiner Frau war, versuchte er, besonders galant zu sein, nahm ihre Hand und drückte einen Kuss darauf.

    „Ein ganz besonderes Dankeschön an die charmante Gastgeberin."

    Bei der allgemeinen Umarmerei waren alle unsere Gäste aufgestanden und machten es Hans nach, so gut sie es in ihrem betrunkenen Zustand noch vermochten. Es wurde allerhand Unsinn geredet und gelallt, irgendetwas von „allerbeste Freunde, „müssen wir öfter machen, „Brauchst du noch Hilfe beim Aufräumen?" Aber auf den genauen Wortlaut der Abschieds- und Dankesformeln achtete um diese Zeit ohnehin niemand mehr. In wenigen Minuten stand ich mit Nelly an der Tür und winkte dem letzten Gast zu.

    Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, herrschte eine eigenartige Stille. Ich hatte irgendwie gehofft, Nelly würde zu mir etwas sagen wie: „War doch ein schöner Abend, oder? oder wenigstens „Ist ganz schön spät geworden. Stattdessen schwieg sie und würdigte mich keines Blickes. Um das bedrohliche Schweigen zu unterbrechen, rieb ich meine Hände und sagte fröhlich: „So! Dann haben wir das also auch erledigt. War doch ganz okay, oder?"

    Ich spielte darauf an, dass wir uns darauf geeinigt hatten, meinen vierzigsten Geburtstag bei uns zu Hause zu feiern, auch wenn es möglicherweise mehr Arbeit bedeuten würde, als in ein Lokal zu gehen. Einerseits hatten wir uns dadurch Geld gespart, andererseits empfanden wir es als gemütlicher und ungezwungener.

    Ohne mich eines Blickes zu würdigen, entgegnete Nelly: „Ich weiß nicht, was du vorhast, aber habe heute echt keine Lust mehr, die Küche aufzuräumen. Ich bin hundemüde und will nur noch ins Bett."

    Mit diesen Worten ließ sie mich stehen und ging die Treppe nach oben, wo unser Schlafzimmer und das Bad waren.

    „Ja, in Ordnung‘, erwiderte ich. „Dann werde ich noch ein bisschen –

    „Untersteh dich! Glaubst du, ich kann schlafen, während du hier unten mit den Gläsern und Flaschen klimperst?"

    Mit diesen Worten war sie im Badezimmer verschwunden.

    Ich musste einsehen, dass es in der Tat wenig Sinn machte, jetzt mit dem Aufräumen zu beginnen, wenngleich mir davor graute, morgen früh mit einem Kater aufzustehen und als Erstes das ganze dreckige, klebrige und übelriechende Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. Ein Blick auf den Spieltisch offenbarte mir das ganze Ausmaß an Schmutz und Chaos, das unsere Gäste hinterlassen hatten. Flaschen, leer oder halbvoll, Kronkorken, Verschüttetes und Eingetrocknetes, zerknülltes Wischpapier, Plastikverpackungen, zerbröseltes Knabberzeug und so weiter. Bei diesem Anblick schoss bleierne Müdigkeit in meine Glieder. Ich bezweifelte, dass ich morgen früh große Lust verspüren würde, alles wegzuräumen und zu reinigen. Aber es hatte keinen Sinn, sich jetzt noch darüber Gedanken zu machen. Die Frau hatte gesprochen, darum hieß es, einfach den Mund zu halten und so leise wie möglich ins Bett zu gehen.

    Ich traf Nelly im Badezimmer an, aber sie behandelte mich, als wäre ich Luft. Vielleicht – versuchte ich mir einzureden – weil sie vollauf damit beschäftigt war, sich abzuschminken, oder weil es einfach gerade nichts zu sagen gab. Eine Minute später verließ sie das Badezimmer, ohne meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Als ich die Tür zum Schlafzimmer leise öffnete, sah ich, dass sie schon tief und fest schlief, oder vorgab, tief und fest zu schlafen. Peinlich darauf bedacht, jedes Rascheln oder Knarzen zu vermeiden, legte ich mich im Zeitlupentempo ins Bett und deckte mich zu. Kaum jedoch lag ich in der Horizontale, begann sich in meinem Kopf ein Karussell zu drehen. Ich hatte mit etwas Ähnlichem gerechnet, da ich nicht wenig getrunken hatte, aber die erste Reaktion fiel heftiger aus als erwartet. Die Halsschlagadern machten ordentlich Lärm, ich hörte den stoßweisen Blutstrom so deutlich unter meinen Schläfen, als würde ich über ein Mikrophon ins Innere meines Körpers horchen. Ich sprach in Gedanken die Hoffnung aus, am nächsten Morgen nicht allzu sehr leiden zu müssen, dann übermannte mich die Müdigkeit und ich schlief ein.

    Ich erwachte viel zu früh, geweckt durch klapperndes Porzellan und klirrendes Geschirr. Nelly war schon aufgestanden und hatte sich über das Tohuwabohu in der Küche hergemacht. Damit war klar, dass ich nicht weiterschlafen konnte, egal, wie schwer sich mein Kopf und wie elend sich mein Magen anfühlten. Ich meinem ausgetrockneten Mund entdeckte ich den Geschmack von altem Fett und abgestandenem Bier. Als ich mich im Bett aufrichtete, glaubte ich, jemand hätte just in diesem Moment ein Pfund Schlagsahne in meinen Magen gepumpt. Gleichzeitig stand mir kalter Schweiß auf der Stirn. Ich ließ mich auf mein Kissen zurückfallen, um zu verhindern, dass ich mich übergab. Was hätte ich darum gegeben, jetzt so lange liegenbleiben zu können, bis sich mein Körper wieder normal anfühlte! Doch das hätte einen nicht wieder gut zu machenden Fauxpas bedeutet. Nach Nellys gestriger Demonstration schneidender emotionaler Schärfe war klar, dass mir tagelang nur noch Eiseskälte ins Gesicht blasen würde, wenn ich mich jetzt vor der Arbeit drückte. Ich nahm einen tiefen Atemzug, straffte meinen Körper, ignorierte Übelkeit und Schwäche und taumelte ins Badezimmer. Nach einem entsetzten Blick in den Spiegel, der mir das Gesicht eines 60jährigen Lebemanns zeigte, stellte ich mich unter die Dusche in der naiven Hoffnung, mit Wasser und Seife würden sich alle Verfehlungen des vergangenen Abends abwaschen. Tatsächlich fühlte ich mich danach ein wenig besser. Doch schon während ich die Treppe hinunterging, stand mir erneut kalter Schweiß auf der Stirn. Mir leuchtete ein, dass ich auf Nelly einen denkbar schlechten Eindruck machen würde. Ich tröstete mich mit der Vorstellung, dass ich gegenwärtig die Talsohle durchlebte und es im Laufe des Tages nur noch aufwärts gehen konnte.

    Als ich die Küche betrat, stellte ich beschämt fest, dass Nelly schon die halbe Arbeit getan hatte. Die Spülmaschine lief, das restliche Geschirr mit den eingetrockneten Speiseresten wusch sie soeben von Hand in der Spüle.

    „Guten Morgen!, sagte ich. „Du bist schon so früh aufgestanden? Ich wollte nicht, dass du die ganze Arbeit alleine machst.

    „Du kannst die leeren Flaschen einsammeln und in die Kästen stellen. Den Tisch muss auch noch jemand wischen."

    Während sie das sagte, sah sie mich sogar kurz an. Ihr halb verachtender, halb spöttischer Blick sagte deutlich: „In deinem Zustand wärst du sowieso keine große Hilfe gewesen."

    „Ja, natürlich. Mach ich."

    Ich schleppte die Kästen vom Keller in die Küche und füllte sie mit den Flaschen. Den Inhalt der Flaschen, die nicht leer waren, schüttete ich in den Ausguss. Dabei musste ich mehrfach einen Würgereiz unterdrücken. Ich war froh, dass Nelly die Fenster weit geöffnet hatte, um die Räume zu lüften. Dann stellte ich die Kästen vor die Tür. Anschließend wischte ich den Tisch sauber. Nach dieser Arbeit, die in weniger als fünfzehn Minuten erledigt war, war ich schweißgebadet und hatte nur ein einziges Bedürfnis: mich ins Bett zu verkriechen und den ganzen restlichen Tag dort zu bleiben. Doch auf diese Weise wollte ich den Sonntag nicht verbringen. Dafür war mir meine Ehe zu wertvoll. Um gute Miene zum bösen Spiel zu machen, sagte ich zu Nelly: „Soll ich schon mal das Frühstück richten? Ein Kaffee wäre jetzt genau das Richtige, hm?"

    Nelly hatte sich ein Sweatshirt übergezogen und trug eine von diesen Destroyed Jeans, über dich ich mich üblicherweise lustig machte. Doch ihr stand sie ausgezeichnet. Sie hatte makellose Beine. Unter normalen Umständen hätte ich ihr jetzt ein Kompliment gemacht, aber die Stimmung und der Zeitpunkt hätten nicht ungünstiger sein können. Sie sah müde aus, aber bei weitem weniger kaputt als ich. Vielleicht lag es an meinem Aussehen, dass sie mir aus dem Weg ging – oder an meinem Geruch? Nein – ich wusste, dass dies nur die halbe Wahrheit war.

    „Ich habe keinen Hunger, antwortete Nelly. „Außerdem hab ich noch Wäsche im Keller.

    Sie kehrte mir den Rücken zu und ging die Kellertreppe hinunter. Ich vermied es, ihr meine Hilfe anzubieten. Es war offensichtlich, dass sie wütend war und nicht mit mir kommunizieren wollte. So, wie die Dinge lagen, entschloss ich mich, meinen körperlichen Bedürfnissen nachzugeben und wieder ins Bett zu gehen. Ich hoffte, wenn ich mich nachher besser fühlte, wäre auch Nellys Wut verraucht und die Welt würde wieder anders aussehen.

    Ich schlief länger als beabsichtigt. Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte 15:25 an, als ich meine schweren Augenlider öffnete. Wenigstens war mir nicht mehr übel, im Gegenteil, ich hatte einen Bärenhunger. Ich entschied mich, noch einmal unter die Dusche zu gehen. Dieses Mal wollte ich meiner Frau wieder im Normalzustand unter die Augen treten. Ich seifte mich gründlich ein, um allen Dreck, der aus meinen Poren getreten war und wie eine Schleimschicht auf meiner Haut klebte, abzuwaschen. Danach rasierte ich mich, gurgelte ausgiebig meine Mundspülung und zog mir frische Kleidung an. Als ich, bereit, den Tag noch einmal unter anderen Vorzeichen zu beginnen, die Treppe ins Erdgeschoss hinunterging, hörte ich eine fremde Stimme. Hatte Nelly Besuch? Ich ging den Flur entlang und lauschte an der Tür. Ich erkannte diese tiefe, dunkle Frauenstimme sofort. Es war Marina, eine frühere Nachbarin. Sie hatte mit ihrer Familie zwei Jahre in dem Haus neben unserem gewohnt. Wir hatten uns immer ganz gut verstanden, das heißt, eigentlich bekam ich sie nur selten zu Gesicht, man sah sich eben ab und zu vor der Haustür, aber Nelly hatte sie öfter eingeladen. Soviel ich weiß, gab es dann und wann ein munteres Kaffeekränzchen, zu dem sich noch andere Damen gesellten. Ich war froh, bei diesen Treffen nicht dabei sein zu müssen. Die Gesprächsthemen langweilten mich. Ich konnte überhaupt nie verstehen, wie Frauen über meines Erachtens absolut belanglose Dinge stundenlang reden konnten. Aber nun war Marina schon mal da, und ich hatte Hunger! Also musste ich wohl oder übel zum Kühlschrank gehen und mich den Damen zeigen.

    „Hallo, Marina!, sagte ich so freundlich, wie ich konnte. „Habt ihr heute ein – äh – Kaffeekränzchen?

    „Nein, antwortete Nelly kühl. „Sie hat mich einfach so besucht. das kommt unter Freundinnen vor. Was machst du hier?

    Was machst du hier??? Genauso gut hätte sie sagen können: Wir können dich hier nicht brauchen.

    „Ich würde gerne etwas essen. Ich habe nämlich heute noch gar nichts – "

    „Er hat gestern zu viel getrunken", schnitt mir Nelly das Wort ab. Ich hörte den Triumph in ihrer Stimme sehr wohl heraus.

    „Eine Geburtstagsfeier!, entgegnete ich an Marina gewandt. „Es waren viele Freunde da, und es wurde etwas später, wie das so ist bei Geburtstagsfeiern. Man wird ja nicht alle Tage vierzig.

    „Du hattest Geburtstag!, Marina war ein Licht aufgegangen. „Na, dann nachträglich alles Gute.

    Sie drückte mir ihre Hand und sagte: „Vierzig Jahre? Kaum zu glauben!"

    „Ich finde auch, er schaut wesentlich älter aus", ätzte Nelly.

    „Ach was! Was du nur wieder sagst, erwiderte Marina. „Ich finde, er hat sich gut gehalten.

    „Gut gehalten! Das hörte sich an wie „Noch ganz rüstig!

    Für einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, mich ganz still in die Küche zurückzuziehen und die beiden nicht zu stören. Doch dann entschied ich mich anders. Schließlich war das hier auch mein Haus – genaugenommen war es sogar zu drei Vierteln mein Haus, denn ich hatte zur Finanzierung die größere Summe hineingesteckt – und in meinem Haus wollte ich es nicht so weit kommen lassen, mich vor fremden Leuten verstecken zu müssen. Ich toastete ein paar Scheiben Weißbrot und belegte sie mit Wurst und Käse. In der Mikrowelle erhitzte ich sie so lange, bis der Käse anfing zu verlaufen. Etwas Salz und Pfeffer und obendrauf je ein Salatblatt, und schon war mein verspätetes Mittagessen fertig. Mit einer fröhlichen Miene nahm ich meinen Teller und setzte mich zu Nelly und Marina an den Tisch.

    „Das sieht ja lecker aus!", sagte Marina, während Nellys Augen tödliche Giftpfeile auf mich abschossen.

    „Möchtest du auch etwas haben?, fragte ich. „Mache ich gerne. Es ist noch genug davon da.

    „Ja, natürlich, sagte nun auch Nelly. Ich wusste, dass sie wusste, dass es unhöflich gewirkt hätte, wenn sie nicht nachgefragt hätte. „Wir können gerne noch etwas Deftiges essen. Bestimmt bist du von dem bisschen Kuchen nicht satt geworden.

    „Nein, vielen Dank! Das würde ich bereuen, ganz sicher. Außerdem muss ich dann auch heim und das Essen für Robert richten."

    „Jetzt schon?, fragte Nelly. „Es ist erst vier.

    „Er hatte Frühschicht. Da kommt er schon früher nach Hause."

    „Ach so."

    Marina sah sich unsicher um und stand schließlich auf.

    „Ja, also… Ich muss dann mal wieder. Hat mich sehr gefreut. Das müssen wir bald mal wiederholen!"

    „Wahnsinnig gerne!", sagte Nelly lächelnd und begleitete sie zur Tür. Als sie wieder zurückkam, war von ihrer Freundlichkeit nichts mehr zu sehen. Im Gegenteil – sie hatte einen hochroten Kopf und eine Falte zwischen den Augenbrauen.

    „Bist du jetzt völlig übergeschnappt!, schrie sie mich an. „Reicht es dir nicht, mit deinen Saufkumpanen die Nacht durchzumachen? Musst du dich auch noch in meine Freundschaften einmischen?

    „Ich weiß gar nicht, was du hast? Ich darf doch wohl noch in meinem Haus essen, wann ich will."

    „Stell dich nicht dümmer als du bist! Du wusstest, dass ich nichts weiter wollte, als mich mal ein Stunde mit einer Freundin in Ruhe zu unterhalten. Und das hast du mir zerstört. Absichtlich!"

    „Nein, das stimmt nicht! Ich wollte mich nur zu euch setzen, freundlich sein… Was hätte es für einen Eindruck gemacht, wenn ich verschämt in der Küche geblieben wäre? Also ob ich Angst vor unserem Besuch hätte! Ich hätte euch doch nicht gestört. Kein Wort hätte ich gesagt."

    „Du hättest zugehört und mir hinterher deine Meinung darüber aufs Auge gedrückt. So, wie du es immer tust. Ich will aber deine Meinung nicht hören! Hast du das verstanden? Ich will einfach nur über Dinge reden, die mich interessieren. Ich will mir meine eigenen Gedanken machen, ohne von dir kritisiert zu werden."

    „Als ob ich jemals – "

    „Hast du! Immer wieder! Du denkst, deine Welt und deine Gedanken seien das Nonplusultra! Glaubst du im Ernst, mich würde interessieren, was deine tollen Freunde im Rausch faseln? Glaubst du, es sei die Erfüllung meiner Träume, dir dabei zuzusehen, wie du dir dein Gehirn kaputtsäufst und dir dabei gefällst, denselben Unsinn wieder und wieder zu erzählen? Etwas milder fügte sie an: „Hast du denn nicht das Bedürfnis, etwas aus deinem Leben zu machen?

    Eigentlich hatte ich in diesem Moment nur ein Bedürfnis: Nelly in den Arm zu nehmen und mich bei ihr zu entschuldigen. Ich sah ja, dass sie den Tränen nahe war. Es geschah aus Stolz und Sturheit, dass ich den Streit mit halbseidenen Argumenten fortsetzte.

    „Also, jetzt mach aber mal einen Punkt! Stell mich doch nicht so hin, als wäre ich eine gescheiterte Existenz! Ich bin in meinem Beruf erfolgreich, ich schaffe das ganze Geld nach Hause, damit wir ein schönes Leben haben."

    „Und das wars dann? Oder kommt da noch irgendwas? Demonstrativ blickte sie nach oben als würde sie nachdenken. „Ich meine, regelmäßig mit mittelmäßig intelligenten Leuten zusammenzukommen und sich zu betrinken, ist jetzt nicht gerade das, was ich mir unter einem schönen Leben vorstelle. Wenn du damit zufrieden bist, na gut! Ist deine Sache. Das darfst du dann aber ohne mich machen. Ich bin mir dafür zu schade.

    Mit diesen Worten knallte sie die Tür hinter sich so schwungvoll zu, dass ich fürchtete, die Zarge würde aus der Wand fliegen. Ich hatte nicht mit einer so heftigen Reaktion gerechnet. und war für einen Augenblick wie gelähmt. Mein Hals war zugeschnürt und mein Herz klopfte so stark, dass sich meine zitternden Hände im Rhythmus des Pulses bewegten. In meinem Kopf summte es, als hätte sich dort ein Bienenschwarm eingenistet. Als sich die Erstarrung nach einer Minute löste, wusste ich nicht, ob ich wütend, verletzt oder traurig war. Ich bemühte mich, Nellys Tirade noch einmal in Gedanken zu wiederholen, doch ich konnte mich an kein einziges Wort erinnern. Das Einzige, was sich als unumstößliche Tatsache in meinem Bewusstsein festgesetzt hatte, war: Ich hatte einen gewaltigen Schuss vor den Bug bekommen, und wenn ich nicht schnellstens angemessen reagierte, würde mich der nächste Schuss mit zerstörerischer Kraft treffen. Ich musste mit Nelly reden, ihr sagen, dass es mir leidtat. Ich atmete tief durch und ging nach oben. Eben wollte ich an die Schlafzimmertür klopfen, da hörte ich sie weinen. Ausgerechnet in diesem Augenblick fiel mein Blick auf das Schild, das an unserem Hochzeitswagen angebracht war – Heinrich   Nelly, eine Erinnerung an eine Welt voller Optimismus. Alles schien damals zu passen, ein Tag, wie man sich ihn erträumt: Sonnenschein, ein Meer von roten Rosen, fröhliche Gäste, Musik, Tanz, Essen und die Tickets für die Hochzeitsreise nach Griechenland bereits in der Tasche. Wir waren bereit für das Leben. Was auch immer sich uns in den Weg stellen sollte, würden wir gemeinsam beseitigen.

    Irgendwie hatten wir von Jahr zu Jahr ein weiteres Stück von unserem Optimismus verloren. Wir mussten einsehen, dass wir nicht immer am selben Strang zogen, sondern in einigen Dingen unterschiedlicher Meinung waren. Manche Gewohnheiten, die wir zu Beginn der Beziehung gar nicht beachtet hatten, entwickelten plötzlich ein gefährliches Konfliktpotenzial. Und der Alltag tat das Übrige dazu, um uns müde zu machen und unsere Leidenschaft füreinander zu ersticken.

    Ich hätte mir gerne eingeredet, dass Nelly heute einen schlechten Tag hatte, vielleicht ihre „Tage", oder dass sie einfach den ganzen Weltschmerz in sich spürte, und dass ihr das Weinen helfen würde, einen inneren Konflikt zu lösen. Aber das wäre eine Lüge gewesen. Sie weinte nicht nur, sie schluchzte gotterbärmlich. So hatte ich sie noch nie erlebt. Diese Traurigkeit war mit gutem Zureden und einer Fußmassage nicht zu vertreiben. Es brauchte mehr als das, um diese Krise zu meistern.

    Auf leisen Sohlen ging ich die Treppe wieder hinunter und setzte mich ganz still ins Wohnzimmer. Stilles Nichtstun hatte mir schon oft geholfen, wirre Gedanken zu ordnen und so eine Lösung für ein Problem zu finden. Ich richtete meine Augen auf ein Bild an der gegenüberliegenden Wand und stellte sie unscharf. Auf diese Weise hoffte ich, eine nützliche Eingebung zu erhalten. Doch sobald eine verheißungsvolle Idee in mein Bewusstsein flog, entwischte sie mir wie ein Stück nasse Seife und andere, problembehaftete Gedanken nahmen ihren Platz ein. Ich strengte mich noch mehr an, schließlich ging es um eine existenzielle Angelegenheit. Ohne meine Frau war ich ein Niemand. Ich wollte sie auf keinen Fall verlieren. Ich musste etwas tun! Ich musste eine Lösung finden, auch wenn sie im Augenblick außer Reichweite war. Ich nahm einen Zettel und einen Stift zur Hand und begann damit, die entscheidenden Eckpunkte zu notieren. Da waren wir beide, Nelly und ich – ich malte ein Pärchen in die Mitte des Blattes. Dann gab es meinen Arbeitsplatz, meine Freunde, Nellys Halbtagsjob und ihre Freunde – ich malte weitere Symbole auf das Blatt. Und irgendwie hatten wir Ziele für unser Leben. Ich zeichnete über unsere Figuren zwei Kreise, die ich mit Inhalt füllen wollte, aber mir fiel nichts ein. Die Kreise blieben leer. Lag es also daran, dass unser Leben in eine Sackgasse geraten war? Ich hatte doch Ziele, oder? Jeder Mensch hat Ziele, die er erreichen will. Nun gut, ich hatte einen Beruf, eine Ehefrau, ein Haus… Kinder wollten wir beide nicht, darin waren wir uns einig… Zugegeben – wir hatten es ein paar Jahre lang versucht, doch irgendwie wollte es nicht klappen. Um einem von uns die Schmach zu ersparen, sich von einem Arzt Unfruchtbarkeit bescheinigen zu lassen, hielten wir es für klüger, der Natur ihren Lauf zu lassen und unter Umständen später ein Kind zu adoptieren. Sollte Nellys Kinderwunsch doch intensiver sein, als sie zugab? Unschlüssig führte ich meinen Bleistift in den Kreis über Nellys Figur und begann, ein Baby zu zeichnen. Aber nein! Ein Kind sollte nicht dafür herhalten müssen, die Leere im Leben seiner Eltern zu füllen.

    Ich dachte noch eine Weile nach, dann warf ich den Stift auf den Tisch. „Ist doch alles Unsinn!, sagte ich zu mir. „Jeder Mensch möchte Spaß im Leben haben. Jeder möchte Freunde haben und das Gefühl, irgendwo dazuzugehören. Und wenn man Geld übrighat, um mal wegzufahren, ans Meer oder in die Berge, um was von der Welt zu sehen, dann hat man doch alles, was man braucht, oder nicht?

    Es war Ende November. Um fünf Uhr dämmerte es bereits. Heute war Sonntag. Morgen würde der Alltag wieder beginnen. Im Allgemeinen versuchten wir den Sonntagabend bewusst zu genießen, ein ausgedehntes Abendessen, dazu ein Gläschen Wein, einen romantischen Film anschauen oder eine Sportübertragung, Fußball, Formel I, je nachdem, was Nelly so vorhatte. Doch heute war ich auf mich allein angewiesen. Und die traurige Wahrheit war, dass ich es ohne Nelly nicht schaffte, mich in eine genussvolle Stimmung zu versetzen. Im Gegenteil – mit jeder Minute erreichte mein Kummer eine neue, noch schmerzhaftere Dimension. Es würde über meine Kräfte gehen, noch einen Tag in dieser Stimmung ertragen zu müssen. Wie ein Tiger im Käfig ging ich im Wohnzimmer hin und her. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Diese Ratlosigkeit brachte mich an den Rand des Wahnsinns. Meine schriftliche Analyse lag zerknüllt auf dem Fußboden. Wenigstens war mir eines klar geworden: Ich musste jetzt etwas tun! Was sollte es mir nützen, wenn mir ein Lebensziel offenbart würde, das ich erst in zehn oder zwanzig Jahren erreichen würde? Jetzt, in diesem Augenblick, lag meine Frau verzweifelt in ihrem Bett und überlegte vermutlich, ob Sie sich von mir trennen oder sich oder mich ermorden sollte. Ich sah ein, dass es keinen Zweck hatte, hier weiterhin die Krise zu zelebrieren, ich musste mich öffnen, alles aussprechen, was mich bewegte, nur so konnte ich etwas in Bewegung bringen. Ich schloss die Augen, atmete tief ein und aus und machte mich auf den Weg zu Nelly.

    In diesem Augenblick knipste jemand das Licht in der Küche an.

    „Was machst denn du hier im Dunkeln?", fragte Nelly und drückte auf den Lichtschalter fürs Wohnzimmer. Wie eine Elfe stand sie in der Tür. Sie sah so leicht aus, fast durchsichtig, irgendwie übernatürlich. Ich wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen. Ich bemerkte nur ein zerknülltes Taschentuch in ihrer Hand.

    „Ich? Äh… Ich musste über so vieles nachdenken. Da habe ich gar nicht bemerkt, dass es dunkel geworden ist."

    „Willst du heute gar nichts mehr essen? Es sind noch Tomaten mit Mozzarella im Kühlschrank. Vom Kartoffelsalat ist auch noch was übrig."

    Ihre Stimme klang noch weicher als sonst. Beinahe zart wie die eines jungen Mädchens.

    „Doch. Schon…"

    Ganz vorsichtig, als würde ich einen Blick auf Medusa riskieren, sah ich in Nellys Gesicht. Sie sah aus wie immer. Keine Spur davon, dass sie geweint hatte, keine verschwollenen Augenlider, sie sah sogar beinahe freundlich aus. Ich war völlig perplex. Hieß das für mich, sie hatte mir vergeben? Sollte ich das Thema noch einmal ansprechen und sie um Verzeihung bitten oder wäre das ungeschickt? Vielleicht hatte sie beschlossen, das Thema kurz und bündig aus der Welt zu schaffen, oder sie sah ein, dass sie überreagiert hatte. Wie auch immer, ich war mir sicher, nur ein Narr würde diese Chance ungenutzt verstreichen lassen. Daher lächelte ich zurück.

    „Ja, natürlich. Setz dich doch! Ich decke schon mal den Tisch. Soll ich Würstchen zum Kartoffelsalat warm machen?"

    „Ja, das wäre gut."

    Ich tat mein Möglichstes, um das zarte Pflänzchen der Versöhnung in seinem Wachstum zu unterstützen, und gab mir Mühe, das Essen liebevoll auf die Teller zu arrangieren. Ich war heilfroh, dass Nelly ihrerseits den Part der Unterhaltung übernahm. Ab und zu traute ich mich, ihr in die Augen zu sehen, und entdeckte keinen Groll darin.

    „Kannst du mir das Salz geben?"

    Eine harmlose Frage, aber ich konnte nicht verhindern, dass meine Hände zitterten, als ich ihr den Salzstreuer reichte. Irgendwie hatte ich Angst davor, unsere Finger könnten sich dabei berühren. Ich wusste, dass Nelly mein Zittern bemerkte und ich glaubte, die Andeutung eines Lächelns in ihren Augen zu bemerken.

    „Hast du morgen viel Arbeit?"

    „Ich fürchte schon. Ein langweiliger Besprechungstermin gleich um neun. Meistens bleibt dann die wichtige Arbeit liegen. Und bei dir?"

    „Montag ist immer die Hölle los. Aber das geht vorbei. Ich habe gelernt, die Wutanfälle meines Chefs zu ignorieren."

    War das nur so daher gesagt, oder ein versteckter Tipp an mich, um mit ihren Wutanfällen besser umzugehen?

    „Sehr gut!, sagte ich. „Das können die Wenigsten. Ich will mich da gar nicht ausnehmen. Meine Kollegen meinen zwar immer, ich sei die Ruhe selbst, aber wenn sie wüssten, wie es manchmal in mir kocht, würden sie anders denken.

    „Tatsächlich? Ist das so?"

    Warum fragte sie jetzt nach? Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie mit dieser Art Fragen etwas aus mir herauskitzeln möchte.

    „Ja. Leider. Wenn ich mich über eine herablassende Bemerkung meines Chefs ärgern muss, dann dauert es zwei Tage – Minimum! – ehe ich mich wieder beruhigt habe."

    „Das ist nicht gut. Du schadest dir damit nur selbst."

    „Ich weiß. Das Problem ist, dass ich meinem Chef nicht sagen kann, was ich denke. Wer kann das schon? Man spuckt ja nicht in die Hand, die einen füttert. Doch wenn man so viel zurückhalten muss, kostet das viel Energie."

    „Warum kannst du ihm nicht sagen, was du denkst?"

    „Warum?! Ich war lauter geworden, als beabsichtigt, und mäßigte meinen Tonfall sofort. „Weil ich ihn damit beleidigen würde, und das würde mir meinen Job kosten.

    „Bist du dir sicher? Vielleicht würde dein Chef deine Offenheit schätzen."

    „Nein! Der nicht! Du kennst ihn nicht! Das ist kein Mensch, der mit Kritik umgehen kann. Der würde explodieren!"

    Wieder hatte ich lauter gesprochen, als es einer Unterhaltung zwischen Eheleuten angemessen wäre. Ich fühlte eine unerklärliche Wut in mir aufsteigen. Ich konnte nicht ausmachen, ob ich mich über meinen Chef oder über die Ahnungslosigkeit meiner Frau ärgerte.

    „Na gut, beschwichtigte Nelly. „Dann ist es wohl so. Manche Dinge lassen sich eben nicht einfach so ändern.

    „Ja, ich glaube auch."

    Die Ruhe, mit der Nelly auf mein persönliches Reizthema reagierte, beschämte mich. Jetzt war mir klar, dass ich mich vor allem anderen am meisten über mich selbst ärgerte. Ich war unfähig, mit meiner Frau, dem wichtigsten und liebsten Menschen in meinem Leben, eine angenehme, erbauliche Unterhaltung zu führen. Ich konnte meine Emotionen nicht einmal während der kurzen Zeit eines Abendessens unter Kontrolle halten. Unser Gespräch war beendet, weil es nicht möglich war, sich mit mir friedlich zu unterhalten. Nach dem Essen schaltete Nelly den Fernseher ein. Wir fanden einen Film, den wir beide ganz amüsant fanden. Dann gingen wir früh zu Bett.

    Am nächsten Morgen stand ich leise auf, um Nelly nicht zu wecken. Sie musste erst später am Arbeitsplatz erscheinen, wenn ich bereits aus dem Haus war. Sie teilte sich eine Stelle als Zahnarzthelferin mit einer Kollegin und konnte ihre Arbeitszeiten flexibel gestalten. Ich war froh, dass ich mich ihr nicht zeigen musste, denn ich hatte schlecht geschlafen. Ich war so aufgewühlt, dass unablässig Gedanken- und Gesprächsfetzen des gestrigen Tages vor meinem geistigen Auge vorbeizogen, ohne dass ich es verhindern konnte. Zwischen meinen Augenbrauen hatte sich eine tiefe Falte gebildet. Ich war nicht wirklich müde, vielmehr erschöpft vom pausenlosen Nachdenken. Wie jeden Morgen wärmte ich mir eine Schüssel Milch auf und füllte sie mit Haferflocken. ‚Wenigstens etwas in meinem Leben, das Bestand hat‘, dachte ich dabei. Mechanisch schaufelte ich mir den Brei Löffel für Löffel in den Mund, doch die Gedanken kreisten und kreisten. Auf dem Weg zur Arbeit war ein bestimmter Gedanke vorherrschend. Ich sagte mir immerzu, dass alles gut sei, solange ich nur mit Nelly meinen Frieden hatte. Ohne meine Frau wäre mein Leben trist und sinnlos. Beinahe hätte ich mich von finsteren Fantasien über einen Selbstmord aufsaugen lassen, doch dann entdeckte unter all den trüben Gedanken einen lichtvollen: Sie hatte mir vergeben! Sie hätte mir gestern Nachmittag ebenso gut eine Szene machen oder die kalte Schulter zeigen können, aber das hatte sie nicht getan; sie hatte sich zu mir gesetzt und gemeinsam mit mir gegessen. An diesen Gedanken klammerte ich mich, und das war meine Rettung.

    Jetzt, da es in meinem Bewusstsein verankert war, dass sie mir vergeben hatte und mir immer noch treu zur Seite stand, fühlte

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