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Die Englische Tochter: Das Leben der Gwenddydd Herkomer - Romanbiografie
Die Englische Tochter: Das Leben der Gwenddydd Herkomer - Romanbiografie
Die Englische Tochter: Das Leben der Gwenddydd Herkomer - Romanbiografie
eBook502 Seiten7 Stunden

Die Englische Tochter: Das Leben der Gwenddydd Herkomer - Romanbiografie

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Über dieses E-Book

Oktober 1913. Für die junge Gwenddydd Herkomer hängt der Himmel voller Geigen. Von fremdartiger Schönheit, klug und vielseitig künstlerisch begabt, wächst sie als verwöhnte Tochter des deutsch-englischen Malerfürsten, Sir Hubert Ritter von Herkomer und einer walisischen Mutter frei und unbeschwert auf. Als Lieblingstochter ihres Vaters reist sie mit ihm um die Welt und ist im Schloss der Familie in England genauso zuhause wie in der deutschen Heimat des Vaters. An ihrem 20. Geburtstag feiert sie ein rauschendes Fest am Sommersitz der Familie in der Idylle der bayerischen Kleinstadt Landsberg am Lech. Die Welt liegt ihr zu Füßen und eine glanzvolle Zukunft vor ihr. Doch mit einem Paukenschlag ändert sich ihr Leben: Der geliebte Vater stirbt und am Himmel Europas ziehen dunkle Wolken auf. Der Große Krieg überrascht die Deutsch-Engländerin und Weltenbürgerin in der bayerischen Stadt am Lech, und plötzlich gilt sie nicht mehr als geachtete und bewunderte Tochter des Ehrenbürgers der Stadt, sondern als englische Feindin und Spionin.
Monika Sadegor erzählt diese wahre Geschichte anhand akribischer Recherchen und zahlreicher neu entdeckter Quellen und zeichnet dabei ein breites gesellschaftliches Kaleidoskop des späten Kaiserreiches und des Zusammenbruchs der "alten Ordnung" in Europa durch den Ersten Weltkrieg. Ein Lesegenuss!
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Feb. 2023
ISBN9783864082955
Die Englische Tochter: Das Leben der Gwenddydd Herkomer - Romanbiografie
Autor

Monika Sadegor

Monika Sadegor, Jahrgang 1953, aufgewachsen in München und Passau, lebt heute zwischen Ammersee und Lech. Nach dem Studium der Psychologie, Verwaltungswirtschaft und Philosophie an der Ludwig-Maximilian-Universität in München war sie lange Zeit als Führungskraft und Trainerin in der Wirtschaft tätig. Ihr lebendiger Erzählstil und die wortgewaltige Sprache lassen den Leser eintauchen in die Gegenwart ihrer Texte. Ihre bildhafte und ausdrucksstarke Sprachschöpfung, untermalt mit psychologisch-philosophischem Gedankengut, erzeugt so ein ganz eigenes Sprachgefühl voll Sinnlichkeit und Emotionalität. Ästhetik der Sprache und Klarheit des Geistes gehen in ihrer Lyrik und Prosa eine gelungene Synthese ein. Ihre Bücher sind stets von wahren Begebenheiten inspiriert, die – literarisch überformt – von zeitloser Aktualität sind.

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    Buchvorschau

    Die Englische Tochter - Monika Sadegor

    DER GEBURTSTAG

    Dumpf schwangen die Kirchturmschläge der Stadtpfarrkirche über den Fluss. Noch waberte grauweißer Nebel über der Landschaft und verdeckte den Blick auf den Lech und die mittelalterliche Stadt. Die pittoresken Altstadthäuser von Landsberg am Lech, die das gegenüberliegende Flussufer wie eine Perlenschnur säumten, ließen sich nur erahnen. Die Luft roch nach Herbst und Laub, das sanft von den Bäumen zur Erde schwebte. Die Gischt des Flusses, der tollkühn über die hölzernen Stufen des Lechwehrs polterte, wirbelte wassergetränkte Luft das Flussbett entlang.

    Die junge Frau, die in ihrem Schlafzimmer im zweiten Stock des Turms am Fenster stand, hatte dieses geöffnet und sich weit über die Brüstung gelehnt. Bis hier oben war das Rauschen der Wassermassen zu hören und die feuchte Kühle ließ sie frösteln.

    Ein Schwarm schwarzer Krähenvögel hob sich plötzlich aus dem Geäst der hohen Birken und flog kreischend davon.

    „Good morning and happy birthday, dear Gwenny … Oh, dear God, Gwenddydd, weg vom Fenster, du holst dir noch die Schwindsucht … aber auf mich hört ja niemand." Rose, die Perle des Hauses, Köchin, Faktotum und Kinderfrau zugleich, stellte erschrocken das Tablett, mit dem sie zur Türe hereinkam, auf dem Tisch ab. Vom Heraufsteigen der steilen Wendeltreppen kurzatmig geworden, keuchte sie schwer. Energisch zog sie die junge Frau vom Fenster weg und schloss es. Immer noch ließ sie der Blick nach unten schaudern. Mit vier Stockwerken erhob sich der im normannisch romantisierenden Stil erbaute Turm majestätisch am linksseitigen Lechufer und sein goldenes Dach leuchtete weit hinein in die Stadt. Der englische Malerfürst Hubert von Herkomer hatte den Turm zu Ehren seiner verstorbenen Mutter erbaut. Gwenddydd, seine Tochter, war seit Kindertagen vernarrt in diesen Turm, und zu ihrem 16. Geburtstag hatte sie durchgesetzt, hier oben im zweiten Stock ihr Reich einzurichten.

    „Ach Rose, du bist ein alter Angsthase, ich muss doch sehen, wie das Wetter an meinem Geburtstag wird. Daddy hat versprochen, dass wir bei schönem Wetter alle einen Ausflug mit dem Automobil machen. Aber schau, die junge Frau stellte sich auf die Zehenspitzen, „siehst du nicht auch da drüben am Berg etwas Goldenes aufblitzen? Ich glaube, es ist das Kreuz der Jesuitenkirche, das aus dem Nebel auftaucht – ein gutes Zeichen, dass sich die Sonne durchsetzen wird.

    „Jetzt erst mal marsch wieder ins Bett, junge Dame, aufwärmen und einpacken!" Resolut zog Rose die junge Frau, die nur mit einem weißen Musselin-Nachthemd bekleidet war, endgültig vom Fenster weg und scheuchte sie ins Bett zurück. Sie baute das Frühstückstablett vor ihrem Schützling auf: „Jetzt gibt’s erst mal deinen early morning tea, du weißt ja: Tee am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen … und alles Liebe zum Geburtstag, liebe Gwenny. Ich mag es kaum glauben, gestern noch hab’ ich dich auf meinen Knien geschaukelt, und jetzt bist du eine junge Dame von 20 Jahren … Ach Gott, wie doch die Zeit vergeht!" Die alte Rose seufzte und zog liebevoll die Bettdecke über die gertenschlanke Mädchengestalt.

    Behaglich räkelte sich Gwenddydd noch einmal im Bett, nahm einen Schluck Tee mit einem Bissen Keks und seufzte wohlig. „Danke liebe Rose. Ich bin ja schon so aufgeregt, Daddy und Mummy taten so geheimnisvoll, es werde einige Überraschungen geben … ich kann es kaum erwarten … weißt du etwas?"

    Rose gehörte schon seit Urgedenken zum Haushalt der Familie. Die Sechzig hatte sie schon gut überschritten. Wohlbeleibt und stets mit einer weiß gestärkten Schürze bekleidet stellte sie das Idealbild einer viktorianischen Köchin dar. Sie kannte Gwenddydd von Kindesbeinen an. Jetzt strich sie ihr zärtlich eine Strähne ihres langen schwarzen Haares aus dem Gesicht: „Und wenn ich es wüsste, my little princess, würde ich es dir nicht sagen, sonst wäre es ja keine Überraschung mehr … So – und nun trink deinen Tee, und ich schicke dir gleich Babette, dass sie dir beim Ankleiden hilft. Du weißt ja, der Professor schätzt es, wenn alle pünktlich um neun Uhr zum Frühstück erscheinen – obwohl – wer weiß – er hatte eine ziemlich schlechte Nacht heute …"

    Den letzten Satz hatte sie kaum hörbar gemurmelt und damit das Zimmer verlassen.

    Die Westminster-Melodie der großen Standuhr schwang noch durch das Haus, als Gwenddydd beim letzten Glockenschlag Punkt neun Uhr die Treppe im Mutterturm herunterkam und durch den hölzernen Gang, der Turm und Wohnhaus verband, das Speisezimmer betrat. Sie war sportlich gekleidet, eine weiße hochgeschlossene Spitzenbluse und ein schmal geschnittener brauner Wollrock mit hoch angesetzter Taille ließen sie noch schlanker und zarter als sonst erscheinen. Die Haare waren – dank Babettes Künsten – zu einer eleganten Hochfrisur aufgesteckt. Die Familie, der Vater, die Mutter und ihr älterer Bruder Lorenz standen schon erwartungsvoll um den Esstisch. Wie auf Kommando tönte es durch den Raum: „Happy birthday, dear Gwenddydd …"

    Auf dem Tisch war der Geburtstagskuchen, ein sponge cake, aufgebaut, prächtig bunt verziert und von 20 brennenden Kerzen umrahmt.

    „Oh, wie schön!" Gwenddydds dunkle Augen strahlten vor Freude, dann lief sie auf Eltern und Bruder zu und umarmte sie stürmisch.

    „Gemach, gemach, kleiner Wildfang, das ist ja erst der Auftakt zu deinem ganz besonderen Geburtstag. Jetzt stärken wir uns erst einmal, Bescherung danach im Blauen Salon." Der Vater löste sich aus der Umarmung seiner Tochter und ging voraus zum Buffet. Das Frühstück wurde auch am bayerischen Sommersitz der Familie englisch zelebriert: Rose hatte gebratenen Schinken und Speck, Rührei, kleine Würstchen, Porridge, Orangenmarmelade und Toasts appetitlich angerichtet. Letzteres ein Zugeständnis an die Mutter, Lady Margaret, die Süßes zum Frühstück bevorzugte. Außer Tee, Kaffee und Fruchtsaft stand heute ein Kübel mit einer Flasche eisgekühltem Champagner bereit.

    „Auf dich, kleine Schwester, jetzt kann man allmählich etwas mit dir anfangen …" Lorenz, der vier Jahre ältere Bruder, ließ den Korken knallen. Der Champagner perlte überschäumend in die Kristallgläser. Lachend stießen sie mit dem Geburtstagskind an, und sogar Hubert von Herkomer, der sonst nie Alkohol trank, nippte am Glas und prostete Gwenddydd zu.

    „Nun, Darling, schmunzelte die Mutter und nahm sie in den Arm, „vorbei das Jungmädchendasein, jetzt ist Zeit, eine Lady zu werden!

    „Ach was, lasst mir nur mein Küken, meine kleine Zauberfee, wie sie ist. Der Vater drückte Gwenddydd an sich. „Seit 20 Jahren ist sie mein Sonnenschein, ich mag gar nicht daran denken, dass sie nun bald flügge ist und uns irgendwann davonfliegt … Für einen Moment wurde er ernst, dann lächelte er wieder und hob nochmals das Glas: „Auf dich, my sweetheart, bleib, wie du bist, du bist wunderbar."

    „Aber Daddy, du weißt doch, wie ich euch liebe, ich denke nicht daran, euch zu verlassen, ein Leben ohne euch kann ich mir gar nicht vorstellen!"

    „Na ja, irgendwann, mein Kind, wird es aber einmal so sein …" Die Stimme des Vaters klang seltsam verhalten.

    „Ach was, eines Tages kommt der Prinz auf dem Schimmel angeritten und entführt dich. Also – noch vor ein paar Jahren war man mit zwanzig schon eine alte Jungfer …", feixte der Bruder.

    „Unsinn, ich will überhaupt nicht heiraten, ich bleibe bei Daddy und Mum."

    Jetzt lachten wieder alle und bedienten sich schließlich am Buffet. Lady Margaret und Lorenz griffen kräftig zu, nur Gwenddydd brachte vor Aufregung kaum einen Bissen hinunter. Wenn doch nur das Frühstück schon vorbei wäre und sie die Geschenke auspacken könnte! Auch der Vater aß nur ein paar Löffel Porridge und eine Gabel voll Rührei.

    „Geht’s dir gut, Daddy? Besorgt blickte Gwenddydd auf ihren geliebten Vater. Kam es ihr nur so vor, oder war er heute ganz grau im Gesicht? Als wäre er über Nacht um Jahre gealtert? Einen Moment lang überkam sie ein ungutes Gefühl. Sie umarmte ihn ungestüm: „Ist auch alles in Ordnung, Daddy?

    „Ja, ja, Darling, keine Sorge! So – und wenn ihr fertig seid, lasst uns in den Salon hinübergehen. Ich sehe ja, meine kleine Gwenddydd platzt schon vor Neugierde." Hubert von Herkomer nahm die Hand seiner Tochter und ging mit ihr voraus in den Blauen Salon. Im ersten Stock des Anbaus gelegen und nach der Farbe seiner Tapeten benannt, war er der repräsentative Aufenthalts- und Empfangsraum des Anwesens. Hier traf sich die Familie gern am Abend, und hier empfing sie ihre Gäste. Die übrigen Räume des Hauses dagegen waren schlicht und ländlich eingerichtet.

    Ignaz, der Hausdiener, hatte im Kamin bereits ein Feuer angezündet und das Knistern der brennenden Holzscheite verbreitete eine heimelige Atmosphäre. Vor dem offenen Kamin luden zwei sich gegenüberstehende wuchtige Ottomanen zum Verweilen ein, dazwischen stand ein kunstvoll geschnitzter Eichentisch. Darauf waren die unterschiedlichsten Päckchen und Schachteln drapiert, allesamt in bunt glitzerndes Papier eingepackt. Eine dicke Schriftrolle lag obenauf und zog Gwenddydds neugierigen Blick auf sich. Sie sah ihren Vater fragend an, und als dieser aufmunternd nickte, griff sie danach. Sie löste das dicke rote Band, mit der sie verschnürt war. URKUNDE war auf der ersten Seite der Dokumentenmappe zu lesen, die außerdem mit einem Siegel mit Bändchen, einem eingravierten Wappen und den Angaben des Notars versehen war. In der Mappe viel Text und ein großer Lageplan, auf dem sie das Herkomer-Anwesen samt Grundstück, Wohnhaus und Turm erkannte. Und obwohl sie genauso gut Deutsch wie Englisch sprach, verstand sie nicht recht, was hier geschrieben stand und was es bedeutete. Wieder blickte sie fragend auf ihren Vater.

    „Meine liebste Gwenddydd, Hubert von Herkomers Stimme klang geradezu feierlich, „mit dieser Urkunde ist es amtlich verbrieft, dass du die stolze Besitzerin dieses Anwesens bist mitsamt Grundstück, Wohnhaus, Nebengebäuden und dem Mutterturm. Ich weiß, wie du diesen Sommersitz und den Turm hier liebst. Schon immer hatte ich das Gefühl, hier gehörst du her, hier ist dein Zuhause, mehr als in Bushey. Mir scheint, in dir kommt das deutsche Erbe meiner Familie, speziell das meiner verstorbenen Mutter, am meisten durch. Du bist ihr sehr ähnlich, nicht nur im Äußeren, auch die Liebe zur bayerischen Heimat, zu Pflanzen und Tieren und auch die musikalische Begabung hast du von ihr. Deshalb habe ich dir das Anwesen schon vor einigen Jahren überschrieben. Bis zu deiner Volljährigkeit, heute in einem Jahr an deinem 21. Geburtstag, ist unser Freund Georg Mayr noch als Vormund hierüber eingesetzt. Danach kannst du frei über alles verfügen. Zwei Einschränkungen gibt es allerdings: Solltest du kinderlos sterben (was ja eher unwahrscheinlich ist), fällt das Anwesen an die Familie zurück. Und zweitens: Für Vetter Peter mit Familie ist ein lebenslanges Wohnrecht in der Wohnung im Erdgeschoss und eine monatliche Leibrente von 100 Goldmark eingetragen. Heute an deinem 20. Geburtstag ist nun der richtige Zeitpunkt gekommen, dir dies mitzuteilen. Seine Augen glänzten verdächtig feucht, als er Gwenddydd an sich drückte.

    Diese schaute von ihrem Vater auf das Dokument und zurück und wusste nichts zu sagen. Eine geradezu andächtige Stille breitete sich im Salon aus. Schließlich brach Lorenz das Schweigen und kniff sie in die Seite: „Ja, Schwesterherz, wir sind hier nur zu Gast – und wenn wir uns nicht ordentlich benehmen, kannst du uns des Hauses verweisen …"

    Nun war das Eis gebrochen und Gwenddydd lachte und weinte gleichzeitig und fiel ihrem Vater um den Hals. „Und ist das denn für euch auch in Ordnung?" Ein wenig besorgt schaute sie auf Mutter und Bruder.

    „Nun, die Gefahr, dass wir anderen Familienmitglieder deshalb am Hungertuch nagen, ist gering. Und du weißt ja, dein Bruder wird überdies in Kürze eine gute Partie machen und in eine der ersten Familien in London einheiraten. Na ja – und zu Hause in Bushey ist ja auch noch ein wenig Vermögen vorhanden. Nein, das ist schon richtig so, niemand passt so gut hierher wie du, das war schon so, als du hier noch als Kind das Ritterfräulein oder die walisische Zauberin spieltest, die Mutter blinzelte Gwenddydd zu und nahm sie in den Arm, „und außerdem beherrschen Lorenz und ich die deutsche Sprache im Gegensatz zu dir nicht besonders gut.

    Langsam wich die Röte der Aufregung aus Gwenddydds Gesicht und sie ließ sich auf eine der Ottomanen am Kamin nieder.

    „Ja – und das muss nun schließlich auch gebührend gefeiert werden, meinst du nicht auch?" Der Vater schmunzelte und reichte Gwenddydd einen verschlossenen Umschlag.

    „Sir Hubert Ritter von Herkomer lädt zum Dinner mit anschließendem Ball in den Zederbräu-Saal, Samstag, den 11. Oktober 1913, 7 Uhr", stand auf der Karte, die Gwenddydd aus dem Kuvert zog.

    „Oh, Daddy, Gwenddydd sprang auf, „das ist ja unglaublich, das ist ja wunderbar – ja – aber ich habe dafür gar keine Garderobe dabei … Kurz überzog ein Schrecken ihr hübsches Gesicht.

    „Nun, vielleicht solltest du einfach mal weiter die Geschenke auspacken …" Die Mutter lächelte verschwörerisch und deutete auf ein großes Paket, das den Kamintisch nach allen Seiten überragte. Das ließ sich Gwenddydd nicht zweimal sagen. Ungeduldig riss sie das Geschenkpapier auf und löste das Band, das den Karton umfing. Chic Parisienne stand darauf. „Oh, Mummy, es wird doch nicht …?!"

    Mit vor Aufregung zitternden Händen öffnete sie nun den Karton und vor ihr lag eine komplette Abendrobe mit Kleid, Seidenschuhen, Haarschmuck und kleiner Abendtasche. Behutsam nahm sie das Kleid heraus und hielt es in die Höhe: ein warmroter Brokatstoff, golden bedruckt, mit einem Überwurf aus feiner goldener Spitze, einer leicht angedeuteten Schleppe, vorne mit durchsichtigem goldenen Spitzenbesatz hochgeschlossen, aber mit einem verführerischen Rückendekolleté. „Oh, Mummy, wie wunderschön … und die Farbe – Rot ist doch meine Lieblingsfarbe …" Gwenddydd betastete bewundernd den Stoff.

    „Weiß ich doch, Darling, es sind ja auch die Herkomer-Farben: Rot und Gold … Ich hoffe, es passt, aber Madame Madeleine von Chic Parisienne meinte, wenn du seit letztem Jahr nicht zugenommen hast, müsste es perfekt sitzen. Wir haben ja schon öfter bei ihr schneidern lassen."

    „Schon ein bisschen gewagt für die bayerische Provinz, der Vater runzelte leicht die Stirn, „aber was soll’s, in jedem Fall bestehe ich auf dem ersten Tanz.

    „Und ich auf dem zweiten. Lorenz nahm die beiden übrigen kleinen Päckchen vom Tisch und überreichte sie seiner Schwester. Ein Tanzbüchlein enthielt das erste, und das zweite einen Gedichtband von Rainer Maria Rilke. „Du liebst ja die deutsche Lyrik und sagst immer, damit lerne man die Sprache am besten, diesmal also ein zeitgenössischer Dichter …

    Und vom großen Bruder Siegfried, der diesmal wegen dringlicher Geschäfte in England geblieben war, fand sich noch ein Glückwunsch-Telegramm mit einer Einladung zu einem Opernbesuch im Royal Opera House London mit anschließendem Dinner im ersten Hotel der Stadt.

    „Ach, ich danke euch allen, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, alles ist so aufregend. Was für ein wunderbares Jahr, dieses 1913. Zu Hause die großartigen neuen Filmaufführungen von Daddy, die Ausstellung in der Leicester Gallery in London, der neue Rosengarten, der herrliche Sommer hier, diesmal nur mit der Familie, ganz ohne Besucher, die Daddy porträtieren soll, eure Silberhochzeit, jetzt mein Geburtstag, und Weihnachten steht ja auch noch ein Höhepunkt ins Haus, Lorenz’ Hochzeit …! Gwenddydd blickte plötzlich ein wenig wehmütig zu ihrem Bruder: „Obwohl, ich bin schon ein bisschen eifersüchtig, dann spielen wir nicht mehr die erste Geige in deinem Herzen … und du ziehst fort!

    „So, und jetzt ist Schluss mit Sentimentalitäten! Schaut mal zum Fenster hinaus, die Wolkendecke hat aufgerissen, der Nebel hat sich aufgelöst und es verspricht, ein goldener Oktobertag zu werden. Lasst uns aufbrechen. Ignaz hat schon den Daimler startklar gemacht. Schließlich wollen wir pünktlich zum Dinner wieder hier sein. Onkel Peter wird am Abend zu uns stoßen, er ist heute in München. Und was ich so flüstern hörte, gibt es zum Dinner einige deiner Leibspeisen und noch eine weitere Überraschung", zwinkerte der Vater Gwenddydd zu.

    Diese hielt immer noch ihr neues Ballkleid in den Armen und wirbelte Walzer tanzend durch den Salon.

    „Jetzt los, Gwen, Hut und Jacke geholt, das Kleid kannst du später anprobieren. Mutter Margaret schubste die Tochter liebevoll, aber bestimmt zur Türe hinaus und seufzte: „Ich fürchte, unsere Schöne wird nie erwachsen oder gar eine Lady werden …

    Was für ein herrlicher Tag!

    Ein wenig müde und vom Fahrtwind zerzaust stieg Gwenddydd am späten Nachmittag die Treppen zu ihrem Zimmer im Turm empor. Sie riss den ungeliebten Hut vom Kopf und warf sich glücklich, aber erschöpft auf die Chaiselongue. Noch eine kleine Weile ausruhen, danach umziehen und sich auf das Dinner und Onkel Peter freuen, der sicher auch noch ein Geschenk brachte.

    Bis nach Dießen am Ammersee waren sie mit dem Daimler gefahren. Sie durfte neben dem Vater auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, und bald schon tauchte vor ihnen zum Greifen nahe die gesamte Alpenkette auf, die Zugspitze und Karwendel waren schon weiß bemützt und glänzten in der Sonne. Im Gasthof Unterbräu hatten sie das in Bayern so beliebte Weißwurstfrühstück eingenommen und das selbstgebraute Weizenbier genossen.

    Das Wetter war Stunde um Stunde schöner geworden. Der Föhn machte seinem Namen alle Ehre und sorgte für tiefblauen wolkenlosen Himmel und beste Fernsicht. Das Kloster Andechs mit der barocken Zwiebelhaube auf seinem Kirchturm grüßte von der anderen Seite des Sees herüber. Der Wald am darunterliegenden Hochufer hatte sein buntes Herbstkleid angelegt und flammte in Rot, Gold und Kupfer in der Sonne auf. Weiße Segelschiffe zogen über den See, der blau und ruhig wie ein Kristallspiegel im Sonnenlicht lag. Ein Hauch von Sommer wehte noch einmal über die Seepromenade, und nur das Rascheln des Laubs unter ihren Füßen kündete vom Herbst. Ein goldener Oktobertag wie aus dem Bilderbuch.

    Am Nachmittag war es so warm geworden, dass die Familie ausgiebig am Seeufer promenierte. Gwenddydd hatte sich standhaft geweigert, auf die Ermahnungen der Mutter zu hören und den Sonnenschirm zu nehmen. Sie genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht und lachte nur, als Lady Margaret meinte, sie bekäme einen Teint wie eine Bäuerin und nicht die vornehm blasse Haut, die einer Lady gezieme.

    Auch jetzt in ihrem Turmzimmer vermeinte sie, die Sonnenstrahlen noch auf ihrer Haut zu spüren. Aber es war wohl nur die Wärme des kleinen Ofens in der Ecke, die sie einlullte und einnicken ließ.

    „Miss Gwenddydd, aufwachen, halb acht, Sie sollten sich umkleiden. Ich helfe Ihnen. Babette, das Hausmädchen, stand vor ihr. „Was möchten Sie anziehen?

    „Eigentlich wollte ich das dunkelgrüne Kleid aus London anziehen, aber ich weiß nicht – was meinst du – wäre es nicht eine hübsche Überraschung für Vater, wenn ich das neue Dirndlkleid anziehe, das wir im Sommer bei unserem Ausflug nach Garmisch gekauft haben? Wo er doch so begeistert von seinem ersten Aufenthalt mit seinem Vater dort erzählte und auch heute wieder so viel von seiner Mutter schwärmte, der ich angeblich so ähnlichsehe. Ich habe sie ja leider nicht mehr kennengelernt …"

    „Oh ja, das Dirndlkleid steht Ihnen ganz ausgezeichnet, Miss Gwenddydd, das ist eine gute Idee und wird den Herrn Professor sicher freuen."

    „Dann musst du mir aber auch die Haare zu Zöpfen flechten und so um den Kopf winden, wie ihr es hier tragt."

    „Mach’ ich gerne, Miss, jetzt aber Beeilung!"

    Acht Uhr am Abend

    Die Familie, einschließlich Onkel Peter und Tante Theres, saßen bereits um den ovalen Eichentisch, den einst der Großvater geschnitzt hatte und der mit Kerzen und Blumengestecken prächtig dekoriert war. Man hatte im Blauen Salon gedeckt. Die funkelnden Kristallgläser und das extra für diesen Abend herausgeholte Essgeschirr aus feinstem Porzellan mit Goldrand und Blumendekor ergaben ein festliches Bild. Alles wartete auf das Geburtstagskind. Es war schon 15 Minuten über der Zeit und Hubert von Herkomer, der Wert auf pünktliche Essenszeiten legte, blickte leicht ungeduldig auf die große Standuhr.

    Endlich öffnete sich die Türe zum Salon und bei Gwenddydds Eintritt ging ein Raunen durch den Raum. Das burgunderrote, knapp bodenlange Dirndlkleid bauschte sich über ihren weiß bestrumpften Beinen, die in schwarzen Trachtenschuhen steckten. Eine blassblaue Seidenschürze mit Blumenornamenten, ein ebensolches Schultertuch mit langen Fransen und ein schwarzes Mieder mit Zinn-Geschnür über der weißen Bluse rundeten das Ensemble ab. Für das Dekolleté hatte Babette aus den letzten Blumen im Park ein kleines Gesteck gezaubert. Am beeindruckendsten aber war Gwenddydds Haarpracht: Die üppigen schwarzen Haare waren in einem dicken Zopf kranzförmig um den Kopf gelegt und umrahmten ihr ebenmäßiges Gesicht. Jetzt blitzten die dunklen Augen schelmisch und voll Vergnügen über ihren Auftritt.

    Der Vater fasste sich als Erster, erhob sich und ging auf seine Tochter zu. „Die Überraschung ist dir gelungen. Du siehst wunderbar aus, wie eine echte bayerische Prinzessin."

    Gwenddydd strahlte und drehte sich vergnügt im Kreis. Der Vater nahm sie bei der Hand, führte sie zum Sitzplatz und rückte ihr als vollendeter Gentleman den Stuhl zurecht. „Ja, sagte er, und sein Blick ging in die Ferne, „wir hatten einen besonders schönen Sommer dieses Jahr: echte Ferien, gänzlich ohne Arbeit, ohne Besuch, ohne Kunden, kein Zeitdruck, nur Familie und Freunde, Stadt und Land hier genießen – wirklich eine neue Erfahrung. Das hätte ich schon viel früher machen sollen.

    Beim Geburtstagsmenü übertraf sich Rose wieder einmal selbst. Nach dem obligatorischen Sherry als Aperitif servierte sie Garnelensalat, anschließend eine würzig-sahnige Currysuppe und als Hauptspeise Gwenddydds absolutes Lieblingsessen: Lammbraten mit Minzsauce, Karottengemüse und roasted potatoes. Apple Pie und Kaffee schlossen das Dinner ab. Alle griffen kräftig zu, nur Hubert von Herkomer beschränkte sich auf Suppe und das extra für ihn zubereitete Lammhaschee. Sein Magenleiden machte ihm wieder zu schaffen.

    „Jetzt lasst uns hinüber in den Mutterturm gehen und bei einem Gläschen Portwein schauen, was der Abend noch so alles bringt …" Peters Stimme klang geheimnisvoll und er tauschte mit seinem Vetter Hubert einen bedeutsamen Blick. Alle erhoben sich, froh, ein paar Schritte durch den hölzernen Verbindungsgang vom Wohnhaus hinüber in den Turm gehen zu können. Der Raum mit dem achteckigen Grundriss im ersten Geschoss des vierstöckigen Turms war ursprünglich als Atelier gedacht. Aber schnell war es zu mühsam geworden, die oft großen Gemälde über den Fallboden ins Erdgeschoss abzulassen. Und so hatte Hubert von Herkomer sein Atelier in eine eigens dafür errichtete Hütte am Rande des Herkomer-Parks verlegt. Nun diente das Zimmer als repräsentativer Wohnraum, der schon viele Festlichkeiten gesehen hatte: vor nunmehr über 25 Jahren die Hochzeit der Eltern und vor Kurzem ihr silbernes Ehejubiläum. Berühmte Persönlichkeiten hatten Hubert von Herkomer hier Modell gesessen, viele Gesprächsrunden fanden statt, aus denen oft große Projekte entstanden. Und immer blickte das Bildnis seiner Mutter, das einzige, das er je von ihr malen durfte, von der Wand herab.

    „Wo ist denn Onkel Peter plötzlich abgeblieben?" Gwenddydd blickte sich fragend um. Doch da kam er auch schon die Treppe vom Erdgeschoss des Turms heraufgestiegen, einen ovalen Korb im Arm, daraus ein klägliches Winseln zu vernehmen war.

    „Einen kleinen Kameraden für dich, liebe Gwenny, ich weiß ja, wie traurig du warst, als du deinen Moody vor zwei Jahren begraben musstest …"

    „Oh, mein Gott, ein Hundebaby, ach, ist der süß …" Gwenddydd nahm das kleine Fellbündel auf den Arm und drückte es zärtlich an sich.

    „Ein Border Collie, gerade mal zehn Wochen jung …" Peter schmunzelte und freute sich an ihrem Entzücken, kannte und liebte er seine Nichte Gwenddydd doch wie eine eigene Tochter.

    „Was für ein weiches Fell er hat, wie Plüsch! Er ist wahrhaft eine Schönheit: schwarz und weiß! Schwarzes Fell, weiße Pfoten, weißes Näschen, weiße Brust, sogar am schwarzen Schwanz noch eine weiße Spitze, und diese blauen Augen … Oh, lieber Onkel Peter, danke, danke …" Gwenddydd strahlte und drückte den Welpen an ihre Brust.

    „Die blauen Augen wird sie noch verlieren, die haben alle Hundewelpen, sie werden dunkel, aber sonst bleibt sie, wie sie ist. Sie ist nämlich eine Sie, eine Hundeprinzessin. Ich dachte, sie passt zu dir, genau wie du wird sie eine sportliche, kluge und etwas eigenwillige Lady … Ich freue mich, wenn sie dir gefällt."

    Nun standen alle um Gwenddydd und das Hundebaby herum und streichelten es.

    „Ich werde sie Bonny nennen." Gwenddydd vergrub ihr Gesicht in dem weichen Fell der Hündin.

    „Auf dich, mein Kind, und deine neue Freundin! Der Vater entkorkte die Portweinflasche, die die gute Rose bereits mit Gläsern und einer herrlichen Käseplatte mit Walnüssen bereitgestellt hatte. „Ich finde es beruhigend, dass du nun eine Kameradin hast, die dich auf deinen ausgedehnten Spaziergängen begleitet und beschützt. Wer weiß, was noch alles kommt … möge sie stets gut auf dich aufpassen, Border Collies sind ja die geborenen Hütehunde.

    Unvermittelt lag ein gewisser Ernst über der Runde.

    „Was meinst du, Daddy? Glaubst du, es kommt doch zu einem Krieg?" Lorenz blickte besorgt zu seinem Vater.

    „Nein, das denke ich eigentlich nicht. Am Balkan kriselt es zwar mächtig, aber das ist ja schon seit Langem so. Nein, mittlerweile sind die Länder Europas wirtschaftlich und finanziell so miteinander verzahnt, dass ein Krieg so gut wie unmöglich geworden ist."

    „Trotzdem spüre ich bei uns zu Hause in England seit einiger Zeit so etwas wie eine Deutschfeindlichkeit – will doch die Familie meiner Braut unbedingt, dass ich meinen deutschen Vornamen Lorenz anglisiere und mich Lawrence nenne …"

    „Macht nichts, feixte Gwenddydd und kniff den Bruder, „für uns bist du nach wie vor Tutti …

    „Ja, aber im Ernst, ich habe auch so ein Gefühl, als ändere sich die politische Großwetterlage, Peter Herkomer runzelte nachdenklich die Stirn, „auch bei uns ist so ein neues Nationalbewusstsein und Säbelrasseln bei den Militärs zu spüren. Der 1870/71er Krieg liegt wohl schon zu lange zurück, als dass man sich noch an seine Schrecken erinnert …

    „Ach was, der deutsche Kaiser liebt zwar das Militär, aber nur für Paraden und Kaisermanöver, ansonsten widmet er sich der Jagd, seinen Schiffen und träumt davon, eine Kolonialmacht nach britischem Vorbild zu werden. Nein, ihm sind Hofzeremoniell und neue Kleiderordnungen wichtiger als ernsthafte Politik, und er lässt sich schließlich gerne als Friedenskaiser feiern. Nein, von ernsthaften Kriegsabsichten ist er weit entfernt. Und England hat schon gar kein Interesse an einem Krieg, der doch nur den florierenden Welthandel stören würde. Außerdem sind die Herrscherhäuser ja geradezu eine Familie und samt und sonders miteinander verwandt. Wilhelm II. ist doch ein Enkel unserer Queen Victoria, Gott hab sie selig, nicht wahr? Und schließlich: Der Balkan ist weit weg. Was geht uns das an?" Hubert von Herkomer hatte sich in Rage geredet.

    „Ja, ja, mag alles sein, dennoch hat der Kaiser im Juni einer enormen Verstärkung des Heeres zugestimmt … und manchmal merkt man sogar in dieser sonst so friedlichen Kleinstadt so etwas wie eine neue nationalistische Grundstimmung …" Peter seufzte sorgenvoll.

    „Ach, die Herren sind schon wieder bei der Politik, seufzte Lady Margaret, „nicht mal heute am Geburtstag unseres Nesthäkchens können sie es lassen.

    „Ja, du hast recht, Maggie. Heute ist nicht der Tag dafür. Wir wollen ihn heiter ausklingen lassen." Hubert von Herkomer stand auf, ging zu einem Wandschrank, holte die Zither hervor und begann, darauf deutsche und englische Lieder zu improvisieren. Und bald stimmte Gwenddydd mit ein und ihr voller Mezzosopran verzauberte zusammen mit dem Klang der Zither die Nacht.

    Der Mond stand schon voll am Himmel, als die Familie das Turmzimmer verließ und untergehakt den hölzernen Wandelgang hinüber ins Wohnhaus ging, während Gwenddydd die Wendeltreppen hinauf in ihr Schlafzimmer im zweiten Stock des Mutterturms stieg. Den Hundekorb mit der kleinen Bonny drückte sie fest an sich. Nach ein paar Stufen wandte sie sich noch einmal um.

    „Ich danke euch allen von Herzen, das war so ein wundervoller Tag, ach, könnte es immer so bleiben …"

    Sie stellte das Körbchen neben ihr Bett, streichelte das Hundebaby zärtlich und machte sich daran, das Dirndlkleid abzulegen und die Haarpracht zu lösen. Müde, aber glücklich ließ sie sich endlich ins Bett fallen und schlief sofort ein.

    Halb zwei Uhr in der Nacht

    Schon von Weitem hörte sie ihn. Feuerspeiend und bedrohlich grollend war er in den Park eingebrochen. Jetzt schlurfte er mit schweren Schritten die Treppen des Turms herauf, immer näher, Stufe für Stufe, und Gwenddydd erstarrte vor Angst.

    „Oh Gott, wo sind nur meine Ritter, meine Beschützer? Wer hilft mir, ihn abzuwehren? Wie war nur gleich der Zauberspruch, der ihn bannt? Hilfe, gleich ist er da …" Schweißgebadet schreckte sie hoch.

    Immer wieder mal verfolgte sie dieser Albtraum von dem Angriff des Drachen. Doch bisher war sie stets in letzter Minute gerettet worden, gerade so wie in den alten Rittersagen und Märchen, die sie seit Kinderzeiten so gerne las. Heute hörte sie seine Tritte überdeutlich. Jetzt war ihr, als böge er ab in das Wohngebäude, in dem die Schlafzimmer der Eltern und des Bruders lagen. Ihr Herz raste. Sie richtete sich auf. Schließlich gab sie sich einen Ruck und stieg zitternd aus dem Bett. Barfuß und sorgsam bedacht, keinen Laut zu verursachen, schlich sie durch den hölzernen Verbindungsgang hinüber in das Haus. Vor dem Schlafzimmer der Eltern hielt sie an. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Dämmriges Licht drang nach außen, und ein qualvolles Stöhnen ließ sie erschaudern. Vorsichtig näherte sie sich der Türe und schob sich sachte einen Schritt weit hinein. Jetzt erkannte sie einen schwarzen Schatten über das Bett des Vaters gebeugt. Gwenddydd stand starr vor Schreck. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz pochte so lautstark, dass sie meinte, jeder müsse es hören. In dem Moment winselte Bonny, die ihr nachgelaufen war, und der Schatten wandte den Kopf. Gwenddydd glaubte, das Herz bliebe ihr stehen, und sie schloss entsetzt die Augen. Als sie es schließlich wagte, sie wieder zu öffnen, war sie fast überrascht, dass sie in ein menschliches Antlitz blickte und nicht in das erwartete Reptiliengesicht. Der Schatten, ein schlank gewachsener Mann mit strengen Augen und einer rahmenlosen Nickelbrille, musterte kurz und durchdringend die Mädchengestalt. Gwenddydd starrte ihn fassungslos an. Sie fröstelte. Und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie barfuß, mit offenen Haaren und nur mit einem leichten Nachthemd bekleidet war. Sie zog es enger um sich und verschränkte die Arme über der Brust. Endlich wandte der Schatten den Blick von ihr, drehte sich um und beugte sich wieder über das Bett des Vaters.

    „Gwenny, geh zurück in dein Bett, Dr. Rupfle kümmert sich schon um Vater. Sein Magen hat wohl einiges heute nicht gut vertragen …" Die Mutter drängte Gwenddydd zur Türe hinaus. Sie nahm gerade noch wahr, dass der Vater mit schmerzvoll verzerrtem Gesicht dem Arzt den Arm hinhielt und dieser eine Spritze aufzog. Dann schloss die Mutter die Türe.

    Nur langsam beruhigte sich Gwenddydds Herzschlag. Eine Weile horchte sie noch an der Türe, aber es waren nur gedämpfte Stimmen zu hören, die sie nicht verstand. Sie zitterte.

    Der Welpe schmiegte sich an ihre nackten Beine und wimmerte. Schließlich nahm Gwenddydd ihn auf den Arm, hastete den Gang zum Turm hinüber und eilte die Treppen hinauf in ihr Zimmer. Sie drehte den Schlüssel zweimal im Schloss herum und warf sich auf ihr Bett. Immer noch vermeinte sie, die Augen des Mannes auf sich zu fühlen. Sie schauderte und ihr Kopf dröhnte. Ein ums andere Mal wälzte sie sich im Bett umher und konnte keinen Schlaf finden.

    Plötzlich spürte sie etwas Warmes an ihren Füßen: Der kleine Hund hatte sich angekuschelt. Sie legte die Hand auf sein plüschiges Fell und endlich konnte sie einschlafen. Und wieder kam es ihr vor, als sei sie in letzter Minute gerettet worden.

    Schweigend saßen die Geschwister am Frühstückstisch. Die Kerzen am Tisch waren entzündet und verbreiteten ein diffuses Licht. Obwohl nicht mehr ganz früh am Tag, war es noch dämmrig im Raum. Der Föhn war zusammengebrochen und Nebel und Regen verbreiteten eine düstere Stimmung. Der Herbstwind ließ die schon müden Blätter von den Bäumen regnen und über dem gestern noch grünen Rasen des Parks breitete sich ein brauner Laubteppich aus. Von den Trauerulmen lief silbrig glänzend der Regen wie eine Fontäne herab. Der Nebel war so dicht, dass nicht einmal der nahe Fluss zu sehen war. Selbst der sonst so dominante Mutterturm mit seinen golden glänzenden Dachziegeln war unsichtbar, als gäbe es ihn gar nicht.

    „Hast du das heute Nacht auch gehört?", fragte Gwenddydd ihren Bruder und stocherte lustlos in ihrem Frühstücksbrei.

    „Ja, natürlich, ich schlafe ja gleich im Zimmer nebenan. Ich ging hinüber, weil ich Vater stöhnen und röcheln hörte. Mum rief Ignaz und schickte ihn nach dem Arzt. Der war übrigens, glaube ich, schon ein paar Mal nachts hier … aber immer, wenn er kommt, scheucht mich Mum aus dem Zimmer."

    „Weißt du, Tutti, ich hatte wieder diesen grässlichen Albtraum von dem Drachen, der sich anschleicht. Erst war ich starr vor Angst, doch diesmal habe ich es geschafft, aufzustehen und seinen Schritten nachzugehen. Entsetzt sah ich ihn im Schlafzimmer der Eltern über Dad gebeugt. Zuerst nahm ich nur einen Schatten wahr, später erkannte ich, dass es ein Mann war, wohl ein Arzt … Ich hab’ mich so erschrocken …"

    „Ach, Gwenny, du hast einfach als Kind zu viele Drachen- und Rittergeschichten gelesen. Dr. Rupfle ist kein Drache oder schwarzer Ritter, im Gegenteil, Vater geht’s ja nach seinem Besuch immer gut. Er ist also eher der weiße Ritter, schon seinem ganzen Aussehen nach: ein aschblonder Lancelot mit Augen so stahlblau wie ein Winterhimmel am Morgen, schütterem Haar und einem gepflegten Kaiser-Wilhelm-Bart. Und wenn du schon deiner Sagenwelt so verhaftet bist, Schwesterherz, du weißt ja: Du bist Gwenddydd, die mächtige Zauberin, Merlins Schwester, und kannst den Bann brechen. Und sag nicht immer ‚Tutti‘ zu mir …" Wie immer protestierte Lorenz gegen seinen Kosenamen, der ihm geblieben ist, seit Gwenddydd ihn bei ihren ersten Sprechversuchen so genannt hatte. Schließlich lachte Lorenz und umarmte sie, die für ihn immer noch die kleine Schwester war, das Küken der Familie.

    Endlich ging die Türe auf und die Eltern kamen herein, der Vater noch etwas blass um die Nase, die Mutter bemüht, sich die Müdigkeit nicht anmerken zu lassen.

    „Daddy, wie geht es dir? Was war das heute Nacht?" Besorgt lief Gwenddydd auf ihren Vater zu.

    „Alles ist gut, Darling, eine kleine Unpässlichkeit, ich bin wohl das Feiern nicht mehr gewohnt, Hubert von Herkomer zwinkerte seiner Tochter zu, „aber keine Angst, bis Samstag bin ich wieder ganz der Alte. Ich werde mir doch den Ball mit meiner kleinen Zauberfee nicht entgehen lassen.

    Rose kam herein und brachte eine Kanne frisch aufgebrühten Tee und eine Schale angemachten Porridge.

    „Oh danke, Rose, niemand macht den Porridge so exzellent wie Sie, was täte ich nur ohne Sie … der wird meinen Magen gleich wieder einrichten …"

    Rose lächelte geschmeichelt: „Das freut mich, Herr Professor und recht guten Appetit! Sie müssen wieder ein wenig zunehmen, Sie sind ja ganz von Kräften gekommen."

    „Mach’ ich, Rose, danke." Hubert von Herkomer lächelte, goss noch ein wenig Sahne über den Haferbrei, streute etwas Zimt darüber und begann, ihn langsam und genießerisch zu löffeln. Auch Margaret bediente sich am Frühstücksbuffet und schenkte sich eine Tasse English breakfast tea ein, ihren Lieblingstee am Morgen. Schweigend saßen sie am Frühstückstisch und nichts erinnerte mehr an die fröhliche Stimmung des Vortages. Schließlich erhob sich Gwenddydd. „Bonny muss mal raus, Daddy, darf ich gehen?"

    „Natürlich, Kind, lauf nur, der Hund braucht Erziehung, und sei nur ein wenig streng mit ihm … geh ruhig mit, Tutti." Der Vater machte eine erlaubende Handbewegung, nickte Lorenz zu, und die Geschwister verließen das Esszimmer. Bonny tapste zufrieden hinterdrein.

    „Ja, strenge Erziehung … Mein Lieber … ich weiß nicht, ob du unsere Tochter nicht zu sehr verwöhnst. Du versuchst, alles Schwere von ihr fernzuhalten, ich weiß nicht, ob das richtig und gut für sie ist …" Margaret von Herkomer seufzte und blickte ihren Kindern ein wenig besorgt nach, als sie mit Bonny in den Park liefen.

    „Ach was, der Ernst des Lebens kommt noch früh genug auf sie zu. Lass sie doch noch ein wenig die Unbeschwertheit der Jugend genießen …

    Übrigens, was meinst du, sollten wir nicht vielleicht diesen Dr. Rupfle mit Gemahlin auch zu unserem Festdinner und Ball am Samstag einladen? Es könnte doch nicht schaden, sich mit ihm gut zu stellen …" Fragend schaute Hubert seine Frau an.

    „Ich weiß nicht, er ist mir nicht eben sympathisch, immer wenn ich ihn sehe, habe ich unwillkürlich das Bild eines Geiers vor mir …" Margaret zog die Stirn in Falten.

    „Ach, Maggie, hast du vielleicht auch wie Gwenny zu viele Schauermärchen gelesen? Das kommt nur daher, weil er sich beim Operieren immer vornüberbeugen muss. Das macht den Hals lang, und daher kommt sein kleiner Buckel. Na ja, und vielleicht auch von seinen nicht gerade bescheidenen Honoraren …" Hubert lachte und nahm seine Frau in den Arm.

    „Nun, mag sein, wie du meinst." Ganz waren ihre Bedenken

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