Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Tage im Herbst: Plötzliche Turbulenzen im Leben einer Reporterin
Tage im Herbst: Plötzliche Turbulenzen im Leben einer Reporterin
Tage im Herbst: Plötzliche Turbulenzen im Leben einer Reporterin
eBook432 Seiten6 Stunden

Tage im Herbst: Plötzliche Turbulenzen im Leben einer Reporterin

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Im Oktober 2018 wird Annette Micklers Leben turbulent. Die alleinerziehende Soziologin lebt mit ihrer Tochter Lisa in Limburg an der Lahn. Sie schlägt sich mit zwei Jobs, als Kellnerin in einem Café und als freie Lokaljournalistin durchs Leben. Ihre Nachbarin, die Studentin Tabea, hat Ärger in ihrem Studentenjob. Annettes Freundin Kristina hadert, weil sie mit der Situation der Wochenendehe nicht zurechtkommt und auch ihre Chefin Barbara, die Inhaberin des Cafés hat Ärger mit ihrem Sohn. Allen versucht Annette, die gute Seele, zu helfen.
Die vielen Termine, von denen sie für die Presse berichten soll, belasten sie zusätzlich.
Und dann ist da noch dieser Gast, der neuerdings immer zum Mittagstisch ins Café kommt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum4. Feb. 2023
ISBN9783347853966
Tage im Herbst: Plötzliche Turbulenzen im Leben einer Reporterin
Autor

Christian Leeb

Der im September 1970 geborenen Bauingenieur Christian Leeb kam erst spät zum Schreiben. Die Schriftstellerei ist nach wie vor ein Nebenerwerb. Hauptberuflich kümmert er sich um Bauwerke im und am Wasser. Leeb verfügt über eine blühende Phantasie, mit der es ihm gelingt, aus Bildern im Kopf, interessante Geschichten entstehen zu lassen.

Ähnlich wie Tage im Herbst

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Tage im Herbst

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Tage im Herbst - Christian Leeb

    Aus ein paar, in der Leichtigkeit eines Sommertages gesponnenen Gedanken, ist schließlich dieser Roman geworden. Die Kellnerin, die mich zur Figur der Annette inspiriert hat, arbeitet nicht in Limburg und es ist auch nicht ihre Geschichte, die ich erzähle. Der Ausgangspunkt für den Schauplatz Limburg, war ein Blick aus dem ICE-Fenster. Bei späteren Besuchen, nahmen die Figuren und die Geschichte Gestalt an.

    Real sind demnach einige Örtlichkeiten, wenngleich das Café am Limburger Neumarkt nicht Fleur heißt und in der Geschichte auch anders aussieht. Der Realität sind, neben den im Roman erwähnten Personen der Zeitgeschichte, auch der Politiker Mario Bouffier, der Vorsitzende der Kulturvereinigung Limburg, Peter Schreiber und der Kulturverein THING e.V. entliehen. Mir gefiel der Coup der PARTEI, einen namensgleichen Politiker aufzustellen und der Kulturverein, der sehr engagiert Kleinkunst in Limburg auf die Bühne bringt. Ich hoffe, Herr Bouffier, Herr Schreiber und der Verein nehmen mir das nicht übel.

    Alle anderen Personen und Handlungen sind fiktiv. Mit Sicherheit agieren die lokalen Politiker und die Journalisten der NNP anders, als ich sie beschrieben habe. Auch die Qualität der Speisen und Getränke in den beschriebenen Lokalen sind frei erfunden. Am besten, man überzeugt sich in der Realität davon.

    1

    Annette ist gerade dabei die Theke zu putzen. Eine Tätigkeit, die sie meistens verrichtet, wenn die Abendschicht endet. Gemeinsam mit einer Kollegin, die für die Vorbereitung von Getränken und Speisen zuständig ist, bringen sie das Café Fleur am Limburger Neumarkt auf Vordermann. Die Kaffeemaschine wird gereinigt: Milchsystem durchspülen, Brühgruppe ausbauen und von Kaffeetrester befreien und über die Maschine wischen. Tische und Stühle hat sie bereits geputzt. Ein anstrengender Tag liegt hinter ihr. Einer von vielen. Die Unterschenkel und die Füße schmerzen. Brigitte, ihrer Kollegin, geht es nicht anders. Beide freuen sich, wenn sie nach Hause kommen. Die Spätschicht setzt Annette besonders zu. Das Café schließt um 20 Uhr. Bis sie und ihre jeweilige Kollegin mit allem fertig sind, wird es schnell neun. Zum Glück muss sie dafür nicht allzu oft einspringen, nur manchmal an den Wochenenden. Danach fährt sie mit dem Rad nach Hause. Vom Neumarkt in der Limburger Altstadt bis in die Weilburger Straße braucht sie zum Glück nur ein paar Minuten. An den Spätschichtabenden passt ihre Nachbarin Tabea auf Lisa, Annettes fast neunjährige Tochter, auf. Tabea ist 24 und studiert an der TH Mittelhessen technische Gebäudeausrüstung. Sie hilft Annette gern und sie mag Lisa sehr. Sie nimmt sich Zeit für sie und versucht, die Kleine für Technik zu begeistern. Lisa ist auch begeistert von Tabea. Sie findet es sehr spannend, was ihre große Freundin mit ihr unternimmt und was sie ihr alles beibringt.

    Bald wird Tabea aber ihren Bachelor-Abschluss haben und aller Voraussicht nach in dem Ingenieurbüro arbeiten, in dem sie schon die Praxisanteile ihres Studiums absolviert hat. Erstmal möchte sie in Limburg wohnen bleiben, doch die meisten Aufträge des Büros sind in der Rhein-Main-Gegend, vor allem in Frankfurt. Annette verdrängt noch die Gedanken, wie sie es mit Lisa organisieren soll, wenn Tabea wegzöge. Aber der Tag wird wohl kommen, an dem sie sich dem stellen muss.

    Annette selbst hat Soziologie in Marburg studiert. Noch den klassischen Magister Artium. Mittlerweile ist es fünfzehn Jahre her, dass sie den Abschluss gemacht hat. 26 Jahre war sie alt, 2003. In den ersten Jahren nach dem Studium wollte sie etwas von der Welt sehen. Sie war voller Tatendrang gewesen und hatte den Wunsch gehabt, etwas zu bewegen. Da traf es sich gut, dass eine politische Stiftung eine Stelle in Peru angeboten hatte. Annette hatte damals nicht geglaubt, dass sie eine Chance hätte, aber sie musste im Bewerbungsgespräch überzeugt haben, denn sie hatte die Stelle bekommen.

    Als junge Frau war sie voller Idealismus gewesen. Sie hatte das Ziel gehabt, die Gesellschaft, das Zusammenleben der Menschen untereinander besser zu machen. Diesem Ideal war die Stelle in Peru schon ziemlich nahegekommen. In Lima hatte sie auch Thilo kennengelernt, einen Journalisten und Politologen aus Oberschwaben, der in Tübingen studiert hatte. Er war ebenfalls bei der Stiftung beschäftigt gewesen. Beide hatten in einem Projekt mitgearbeitet, das die Stiftung zusammen mit der Universität Lima und den Ciudadanos por la paz, den Bürgern für den Frieden, organisiert hatte. Dabei war es um die Aufarbeitung der Taten der Organisation „Sendero Luminoso", dem Leuchtenden Pfad, gegangen. Man nimmt an, dass zehntausende von Menschen bei Terrorakten und den Auseinandersetzungen des Staates mit der Organisation ums Leben gekommen sein sollen. In dem Projekt hatten Wege gefunden werden sollen, wie der Friedens- und Versöhnungsprozess ganz praktisch, in den Dörfern organisiert werden könnte. Eine sehr herausfordernde Arbeit für die jungen Leute. Zumal sie als Ausländer zunächst einmal die Akzeptanz der Peruaner hatten gewinnen müssen. Verunsicherte Menschen, die einen Bürgerkrieg erlebt hatten, Gewalt durch die Rebellen und Gewalt durch den Staat. Der Bildungsstand war meistens gering gewesen, was die Sache noch zusätzlich erschwert hatte. Es waren viele Gespräche nötig gewesen, teilweise mit Dolmetschern für die indigenen Sprachen. Nicht jeder in der ländlichen Bevölkerung hatte Spanisch gekonnt. Auch Annette hatte ihre Sprachkenntnisse sehr schnell erweitern und vertiefen müssen. Sie hatte oft bis spät in die Nacht Vokabeln gelernt, um ihren Job gut machen zu können. Die Arbeit im Projekt hatte auch zur Folge gehabt, dass Annette und Thilo viele Stunden gemeinsam verbracht hatten. Sie hatten gemeinsam Ideen gesammelt, hatten sie weiterentwickelt und darüber diskutiert.

    Thilo hatte sehr charmant sein können. Er hatte Annette oft für ihren Fleiß gelobt und sich begeistert von ihrer Kreativität gezeigt. Arbeit und Freizeit waren zusehends verschwommen. Trotz einiger Kontakte zu den Ciudadanos-Leuten waren die Beschäftigten der Stiftung auch in ihrer Freizeit oft unter sich geblieben oder hatten sich mit anderen Europäern in Lima getroffen. Irgendwann hatte es sich eingebürgert, dass Thilo Annette an den Abenden nach Hause gebracht hatte, vorgeblich, um sie zu beschützen. Aber natürlich hatte Annette bald gemerkt, dass da auch mehr bei ihm gewesen war. Auch sie hatte sich Stück für Stück in ihn verliebt. Seine rotblonden Locken hatten es ihr angetan, dazu die Sommersprossen im Gesicht und sein, für einen Mann, recht zart geformter Mund.

    Auch Thilo hatte seine Zuneigung irgendwann ganz offen gezeigt, hatte um Annette geworben. So waren sie eines Abends von einer Diskussion an der Uni zu Annettes Wohnung gekommen und als sie sich hatten verabschieden wollen, hatte Thilo Annette einfach umarmt und sie geküsst. Sie erinnert sich noch genau, dass sie einerseits überrascht gewesen war, andererseits hatte sie aber auch ein Glücksgefühl gehabt. In den kommenden Wochen waren sie sich immer nähergekommen. Irgendwann hatten sie miteinander geschlafen und waren auch für ihr Umfeld ganz offen ein Paar gewesen.

    Annette hätte sich damals gut vorstellen können, in Peru zu bleiben. An den Anden hatte sie großen Gefallen gefunden und sie hatte, trotz der großen Spaltung zwischen Arm und Reich, gern in Lima gelebt. Sie hatte auch die gemeinsamen Ausflüge mit Thilo sehr genossen. Wenn sie im Hinterland unterwegs gewesen waren, hatten sie meist einige Wochen in den Dörfern gelebt. Die farbenfrohe Bekleidung der Einwohner, ihre charakteristischen Wollmützen, hatten sich ihr als äußerliches Zeichen der Freude gezeigt, die diese Menschen in sich tragen, auch, wenn das Leben hart und karg ist. Annette und Thilo hatten oft an den Abenden auf Bänken oder Steinen gesessen und den Sonnenuntergang beobachtet. Es hätte nicht romantischer sein können, als es in diesen Momenten gewesen war. Speziell an solchen Abenden war in Annette die Phantasie für mehr gereift.

    Natürlich hatte es auch Schattenseiten gegeben. Manche Gegend war immer noch gefährlich gewesen und auch manche Stadtviertel Limas hatte man als Europäer besser gemieden. Auch war der Alltag manchmal recht schwer zu bewältigen gewesen. Stromausfälle oder Wasserknappheit hatten nicht nur Annette und Thilo zu schaffen gemacht. Besonders den Müll in den Straßen hatte Thilo irgendwann nicht mehr ertragen wollen. Allzu oft hatte es Probleme bei der Abfuhr gegeben. Schleichend hatte er sich nicht mehr wohlgefühlt in Peru, hatte auch in der Arbeit bei der Stiftung nicht genügend Möglichkeiten für sich gesehen, um weiterzukommen. Wobei weiterkommen für ihn in erster Linie Geld und Hierarchie bedeutet hatte. Vor allem deshalb hatte es Thilo nach Deutschland zurückgezogen. „Wenn ich jetzt nicht einsteige, kann ich nicht mehr als Journalist arbeiten", hatte er damals immer argumentiert. Er war deshalb schon eine Weile auf der Suche nach einem Job in Deutschland gewesen und hatte ein Angebot der Nassauischen Neuen Presse bekommen. Er hatte eine Stelle in der Lokalredaktion in Limburg übernehmen können. Trotzdem hatte Annette lange gezögert, mit ihm nach Deutschland zurückzugehen. Hatte das ja auch bedeutet, den Job bei der Stiftung aufzugeben. Aber sie hatte Thilo geliebt und das war, was damals für sie gezählt hatte. Kurz vor Ihrem 31. Geburtstag, Anfang August 2008, waren sie dann nach Deutschland zurückgekehrt.

    Sie hatten schnell die kleine Wohnung in der Weilburger Straße in Limburg gefunden. Es hatte ihr gemeinsames Leben werden sollen, so hatten es Annette und Thilo geplant, als sie Peru verlassen hatten. Heute sieht Annette an vielen Stellen, dass es vor allem Thilos Leben geworden ist.

    Was von der Beziehung übriggeblieben ist, sind jede Menge seelische Scherben, die Arbeit als freie Journalistin für die Lokalredaktion der NNP und Lisa. Mit den Unterhaltszahlungen von Thilo, den Artikelhonoraren und dem Geld fürs Kellnern kommt sie über die Runden. Aber natürlich ist das nicht das, was sie sich vom Leben erwartet hatte.

    Auf dem Weg zur Wohnung stoppt sie auf der Alten Lahnbrücke. Ihr Rad stellt Annette bei der Nepomukskulptur ab. Sie stellt sich an die Brüstung, schaut hinüber zum angestrahlten Dom und hinunter auf den trägen Fluss. Sie mag diese abendliche Stimmung, wenn der Dom sich deutlich vom abendlichen Grau der übrigen Altstadt abhebt. Auch die glatte Wasseroberfläche der Lahn hat etwas. Wie ein schwarzes Band mit ein paar Glitzerfasern liegt sie unter ihr.

    Ich wünschte, ich könnte auch mal für mich so eine Ruhe finden. Ein Leben leben, das so langsam und beschaulich dahingleitet. Nicht fortwährend dieser Stress. Zwei Jobs, die Wohnung, Lisa. Ich weiß Lisa, Liebes, ich tue Dir unrecht. Aber manchmal wünsche ich mir auch ein festes Ufer, an dem ich anlegen kann und Halt finde.

    Mit Thilo war Annette auch oft hier gestanden. Hier hatte sie ihm auch gesagt, dass sie schwanger ist. Seine erste Reaktion hatte sie verstört. Sie hatte sofort erkennen können, wie ihm die Gesichtszüge entglitten. Nur mühsam hatte er sich fangen können und hatte gestammelt „das, das, … das ist ja wunderbar Annette. Aber sie hatte damals sofort gespürt, dass das Gesagte nicht zu dem passte, was sie in seinem Gesicht hatte lesen können. Annette hat ein feines Gespür für das, was Menschen empfinden. „Du freust Dich nicht., hatte sie zu ihm gesagt. Thilo hatte nur schwach abgewehrt, hatte ihr mehr widersprochen, weil er geglaubt hatte, dass er es tun müsse.

    Annette befällt eine Traurigkeit, wenn sie daran zurückdenkt. Auch damals war sie sehr traurig gewesen. Dennoch hatte sie es unterdrückt zu weinen. Vielleicht hatte sie auch versucht Thilo Glauben zu schenken. Aus heutiger Sicht ist ihr aber bewusst, dass an diesem Abend die Beziehung zu Thilo zerbrochen war. So hatten sie aber noch fast drei Jahre zusammengelebt.

    Lisa, ihr Mädchen, sie sollte ihrer Liebe entspringen, doch letztlich hatte sich Thilo in seiner Rolle als Vater nicht zurechtgefunden. Annette hatte sich nicht genug von ihm unterstützt gefühlt, hatte immer den Eindruck gehabt, dass ihm der Job wichtiger ist als Lisa und sie. Er hatte offenbar nie einen wirklichen emotionalen Bezug zu seiner Tochter bekommen. Wie oft war es vorgekommen, dass er erst aus der Redaktion gekommen war, wenn Lisa längst geschlafen hatte. Annette war es zunehmend schwerer gefallen, das immer allein zu tragen. Sie und Thilo hatten immer öfter über Prioritäten und eigene Ansprüche gestritten. Irgendwann hatten sie keine gemeinsamen Ziele mehr gehabt. Im September 2012 hatten sie sich dann getrennt. Thilo arbeitete seither in Stuttgart. Er hatte dort ein lukratives Angebot in der Politikredaktion der Stuttgarter Zeitung bekommen und angenommen. Letzten Endes war das folgerichtig gewesen. Er bezahlt zuverlässig, was er bezahlen muss, aber ansonsten hat er keinen Kontakt mehr zu ihnen, auch nicht zu Lisa.

    Dennoch geistern Annette diese Gedanken immer wieder durch den Kopf. Mittlerweile setzt ihr das Alleinleben zu und sie wünscht sich einen Partner. Bis auf zwei kurze Intermezzi hat sich für sie aber nichts mehr ergeben. Sie vermutet, dass es die Männer wohl abschreckt, dass sie Mutter ist. Ruhig fließt die Lahn unter ihr und sie verspürt Wehmut.

    Wann ist mir der Thilo abhandengekommen, den ich in Peru so geliebt habe, der mich in Peru so geliebt hat. Ach, die Gedanken sind so müßig. Ich muss ihn endlich hinter mir lassen. Wie schön wäre es, wenn jetzt jemand neben mir stünde. Jetzt lächelst Du wieder wehmütig. Dann tue doch was, statt hier zu jammern. Genauso gut könnte ich fragen, was der Thilo, den ich in Peru so geliebt habe, überhaupt für mich empfunden hat. Es ist so müßig.

    Jetzt ist es aber Zeit für Annette, nach Hause zu fahren. Durchatmen. Lisa wartet bestimmt schon auf sie. Meistens sitzt sie bei Tabea am Fenster und winkt schon, wenn sie Annette den Berg heraufkommen sieht. In diesen Momenten wird es ihr immer ganz warm ums Herz. Da spürt sie das starke Band, das sie mit ihrer Tochter verbindet.

    Auch heute sieht sie Lisa oben am Fenster, als sie zum Haus in der Weilburger Straße kommt. Lisa winkt und Annette winkt zurück. Sie sieht die Freude im Gesicht ihrer Tochter. Sie fährt mit ihrem Rad in den Hof und stellt es in den Holzschuppen. Herr Pawliczek, ihr Vermieter, hatte es ihr erlaubt, ihr Rad dort einzusperren. Nachdem seine Kinder aus dem Haus waren, war Platz im Schuppen geworden.

    Ach Lisa. Das ist so eine Freude, wenn ich Dich da oben so stehen sehe. Gleich wirst Du mir um den Hals fallen und mir deine Liebe schenken. Die tut mir so gut. Einfach nur gut. Was mache ich nur, wenn Tabea mal weggehen sollte.

    Annette sperrt die Haustüre auf und geht nach oben. Aus Herrn Pawliczeks Erdgeschoßwohnung ist der Fernseher zu hören. Seit dem Krebstod seiner Frau im April vor zwei Jahren, hat er sich zurückgezogen. Ab und zu bringt Annette ihm ein Stück Kuchen aus dem Fleur mit, das sonst weggeschmissen werden müsste. Am meisten aber freut er sich, wenn Lisa ihm Plätzchen oder Kuchen bringt, die sie zusammen mit ihrer Mutter gebacken hat.

    Guten Abend Herr Pawliczek, armer Kerl. Ihnen bleiben auch nur Erinnerungen, ihre Kinder, längst erwachsen, die doch nur selten zu Besuch kommen. Es sind hoffentlich schöne Erinnerungen, an ihre Frau. Aber einsam sind Sie jetzt trotzdem. Ich weiß, wir waren lange nicht mehr mit Kuchen bei Ihnen. Vielleicht sollte ich mich auch sonst ein wenig um sie kümmern. Ich bin einfach immer so platt. Sorry Herr Pawliczek, ich werde sehen, was sich machen lässt.

    Im ersten Stock sind die beiden kleinen Wohnungen, Annettes und Tabeas. Lisa steht schon in der Türe zu Tabeas Wohnung. Sie strahlt. Ihr langes blondes Haar, leicht gewellt, trägt sie offen. Mit dem Pony sieht sie richtig frech aus. Aus dem kleinen Mädchen ist ein Schulkind geworden.

    Lisa geht jetzt schon in die dritte Klasse. Annette ist froh, dass sie in der Schule gut mitkommt. Wann immer es geht, übt sie mit ihr. Lisa muss aber in die Mittagsbetreuung gehen, damit Annette arbeiten kann. Unter der Woche arbeitet sie am Vormittag, von halb acht bis halb drei. Lisa isst in der Mittagsbetreuung und sie kann im Fleur essen. So muss sie nicht kochen und spart sich Zeit und Geld. Meistens ist Annette sogar vor Lisa zuhause. Die Mittagsbetreuung geht bis um drei. Nur wenn sie Einkäufe erledigt oder in die Redaktion muss, um mit Dieter Wischnewski, dem Leiter der Lokalredaktion, einen Artikel zu besprechen, kommt sie später.

    2

    Ihr Leben mit Lisa hat sich inzwischen gut eingespielt, aber das war nicht immer so. Gerade jetzt, wie sie Lisa freudestrahlend vor sich stehen sieht, wird ihr das wieder bewusst. „Hallo Prinzessin, Du strahlst ja richtig. War es schön bei Tabea?, fragt Annette Lisa und bückt sich zu ihr hinunter. Sie legt ihre Arme um sie und drückt ihre Tochter an sich. Sie atmet den Duft ihrer Tochter ein. „Mama, es war so toll. Wir haben ein Windrad gebaut, mit dem man richtig Strom machen kann. Das können wir auf den Balkon stellen und müssen gar nichts mehr bezahlen.

    Ach Du, mein kleiner Schatz. Wenn man aus deiner Begeisterung Strom machen könnte, bräuchte ganz Hessen kein Kraftwerk mehr. Mindestens. Es tut so gut, das zu spüren. Wie schade, dass ich heute nicht mehr viel von Dir habe.

    Lisa berichtet voller Begeisterung über den Nachmittag bei Tabea. Die beiden hatten einen Bausatz zusammengebaut, den Tabea als Werbegeschenk von einem Windradbauer auf einer Jobmesse geschenkt bekommen hatte. Mit dem kleinen Windrad und dem Mini-Generator konnte man, mit Puste oder echtem Wind ein kleines Lämpchen zum Leuchten bringen. Natürlich viel zu wenig, um damit effektiv Strom zu erzeugen.

    Als Lisa fertig erzählt hat, fragt Tabea Annette, ob sie nach dem zu Bett bringen, noch einmal kurz zu ihr rüberkommen könnte. „Geh nur Mama, sagt Lisa leichthin. „Ich bin ja schon groß. Doch Annette merkt Tabea an, dass es wohl kein angenehmes Gespräch werden würde.

    Tabea, was kommt jetzt? Sagst Du mir jetzt, dass Du weggehst. Bitte nicht, das packe ich jetzt nicht.

    Annette bietet Lisa an, noch eine Geschichte vorzulesen. Lisa möchte aber keine Geschichte hören. „Mama, bitte lies mir aus dem ‚Was ist Was - Brücken‘ vor.", bittet sie ihre Mutter. Tabea hatte die Kleine mit ihrer Technikbegeisterung angesteckt. Für Annette blieb das eher verwunderlich, wo doch weder sie noch Thilo, sonderlich Interesse dafür aufbrachten. Aber sie möchte sie auch nicht bremsen und so hatte sie auch nichts dagegen, dass Tabea Lisa ihre alten ‚Was ist Was‘-Bücher geschenkt hat. Das heißt, Annette hatte ein Problem damit, dass Tabea sie Lisa als Geschenk überreicht hatte, nicht mit den Büchern als solches. Immerhin konnte sie ihre Nachbarin mit einem Arroz con pollo überraschen. Einem peruanischen Hühnchen-Rezept, das ihr Victoria, eine Aktivistin der Cuidadanos por la paz, einmal gegeben hatte.

    „…Bogenbrücken aus Stein ermöglichten den Menschen in der Antike auch breitere Flüsse zu überbrücken. Die Römer entwickelten darin eine wahre Perfektion. Durch die Verwendung des Opus Caementicium genannten Bindemittels als Mörtel, konnten sie eine feste Verbindung zwischen den behauenen Steinen herstellen. „Was ist ein Bindemittel, Mama?, fragt Lisa dazwischen. Sie scheint noch kein bisschen müde zu sein. „Puh, wie soll ich Dir das jetzt erklären?, fragt Annette mehr sich, als dass sie von ihrer Tochter eine Antwort erwartet. „Weißt Du was, schlägt sie vor, „Du schläfst jetzt und ich gehe zu Tabea und frage sie. Die kennt sich bestimmt damit aus. Lisa lächelt und erlaubt ihrer Mama großzügig, dass sie noch zu ihrer „großen Freundin geht. Annette ist bewusst, dass ihre Tochter auf eigene Faust weiterlesen wird. „So übt sie wenigstens lesen, denkt sie sich. Sie hat Lisa schon des Öfteren über einem Buch eingeschlafen gefunden. Dann lächelt sie milde, deckt ihre Tochter zu und schaltet die Leselampe aus. Wenn sie heute von Tabea zurückkommt, so denkt sie bei sich, wird es wieder so sein. „Wie großzügig von Dir., sagt sie mit gespieltem Ernst, „Aber lies nicht mehr allzu lang. Auch, wenn Du morgen ausschlafen kannst."

    Opus Caementitium, wird wohl eine Art Zement sein. Ob sich Tabea damit auskennt. Na dann, schauen wir, was mich jetzt erwartet.

    3

    Annette geht aus ihrer Wohnung und klopft an Tabeas Tür. Klingeln möchte sie so spät nicht mehr. Das käme ihr unangemessen vor, weil der Ton nicht zur Dunkelheit und dem heimeligen warmen Licht passen würde, das Tabea in ihrer Wohnung hat.

    Klingeln bei Nacht bleibt Notfällen vorbehalten.

    Tabea öffnet und bittet sie herein. Sie hat eine Flasche Rotwein geöffnet, was bei ihr eher selten vorkommt. Sie bittet Annette sich zu setzen. Annette nimmt auf dem Sofa Platz, einem sehr gemütlichen blauen Zweisitzer mit Samtbezug. Man sieht ihm den jahrelangen Gebrauch besonders an den vorderen Rändern schon an, aber das tut dem Sitzkomfort keinen Abbruch. Tabea setzt sich ihr gegenüber in den Sessel, ein klassischer Schwingsessel des allseits bekannten schwedischen Möbelhauses. „Trinkst Du ein Gläschen Wein mit mir?, fragt sie Annette. „Gerne., antwortet sie, „Gibt es einen besonderen Anlass? So oft trinkst Du ja keinen Alkohol. Tabea lächelt und sieht einen Moment sehr glücklich aus. Sie erzählt Annette wie schön der Nachmittag mit Lisa war, dass sie spazieren gingen und den Josaphat-Spielplatz besucht haben. Dort habe Lisa sich ausgetobt und weil es etwas windig war, sei ihr, Tabea, der Bausatz für das Windrad wieder eingefallen. „Das glaube ich Dir nicht., sagt Annette, „den wolltest Du doch bestimmt schon die ganze Zeit mit ihr zusammenbauen." Wie schon bei Lisas Erzählung vor dem zu Bett gehen, sieht Annette vor ihrem geistigen Auge, wie Lisa über den Spielplatz läuft. Die Kleine liebt den Josaphat-Spielplatz, das Kletternetz und die Schaukeln, mit denen sie so hoch hinaus kann. Oft kann Annette gar nicht hinschauen, aber sie möchte Lisa in ihrer Freude und Ausgelassenheit nicht einschränken. Lisa trifft dort meistens Freundinnen aus ihrer Klasse oder sie schaut den älteren Jungs beim Skateboarden zu. Auf der dortigen Bahn probieren einige von ihnen waghalsige Manöver, die Lisa gar nicht wild genug sein können. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis sie auch so ein Board haben möchte.

    Bestimmt hat Lisa Tabea wieder Löcher in den Bauch gefragt, als sie das Windrad zusammengebaut haben. Wie der Generator funktioniert, zum Beispiel. Ich habe mit Technik ja gar nichts am Hut. Tabea, ich bin so froh, wenn Du uns helfen kannst, wenn es mal ein Problem gibt.

    Von Tabea wird sie auch aus ihren Gedanken gerissen. Sie hat den letzten Satz von ihr wohl gar nicht mitbekommen mit ihrer Träumerei. „Du solltest Lisa diese Begeisterung auf jeden Fall bewahren., sagt sie gerade. „Da muss ich wohl ganz auf Dich bauen., erwidert Annette, „Ich habe da überhaupt keine Ahnung." Tabea lacht und prostet Annette zu. Dann nimmt sie einen Schluck von ihrem Wein. Auch Annette trinkt. Ein schwerer Primitivo. Tabea setzt ihr Glas ab und blickt aus dem Fenster in die Dunkelheit. Ihr Blick wird ernst.

    „Ich weiß nicht, was ich machen soll., beginnt sie zu erzählen. „Sven Körber, der Junior-Chef hat sich, glaube ich, in mich verguckt. Leider ist er so gar nicht mein Typ. Sie berichtet, wie er ihr einerseits Komplimente macht, wie er immer nach Gelegenheiten sucht, sie in seine Projekte mit einzubeziehen. Andererseits, und das stört Tabea, nimmt er kein Blatt vor den Mund, wenn er über Projektpartner herzieht. „Er macht sich drüber lustig, wie die Leute aussehen, oder wenn sie einen Akzent haben. Ganz besonders aber ist es ihr ein Dorn im Auge, wenn er mit den anderen Jungingenieuren im Büro über Frauen lästert. Auch, wenn sie selbst nicht Opfer seiner Tiraden ist, stört sie die Abfälligkeit. „Die Jungs glauben wahrscheinlich, man hört sie nicht. Aber wenn sie in der Teeküche spotten und lachen, schnappt man genug auf, auch ohne es zu wollen. Tabea widert es an, wie sie Frauen nur als Lustobjekte sehen, die ordinäre Sprache, mit der sie Frauen und ihre Körper belegen. „Mit so einem möchte ich nicht zusammen sein, sagt sie. „Am Ende geht es ihm auch nur darum, mich ins Bett zu bekommen, damit er wieder was zu erzählen hat. Annette ist betroffen von Tabeas Schilderungen. „Weißt Du, fährt ihre Nachbarin fort, „selbst, wenn er es ernst mit mir meinte, fühle ich mich da als Frau nicht wohl.

    Puh. Arme Tabea. Jetzt schäme ich mich fast ein bisschen, dass ich vorhin nur an mich gedacht habe. Leider bin ich in solchen Dingen eine ganz schlechte Ratgeberin. Außer Thilo hatte ich nicht so richtig jemanden. Die Schulzeit zählt nicht und seit Thilo, naja, da hat sich wohl eher mein Körper was geholt, als dass für meine Seele was zu holen gewesen wäre. Aber ich verstehe gut, dass das für Dich eine blöde Situation ist.

    „Das ist eine blöde Situation für Dich, kommentiert Annette. Sie fühlt sich etwas unbeholfen, weil ihr nichts Besseres einfällt, was sie Tabea sagen kann. Die zeigt aber gleich die ganze Dimension ihres Dilemmas auf: „Das Blöde ist vor allem, dass ich nicht weiß, wie es wird, wenn ich nach dem Bachelor fest dort arbeiten sollte. Gebe ich ihm einen Korb, schätze ich ihn so ein, dass er Stimmung gegen mich macht oder mich sogar mobbt. Annette stimmt ihr zu. Von der Warte hatte sie das Ganze gar nicht gesehen. Wie könnte sie Tabea helfen. Die freute sich doch so, dass sie nach den Praktika gleich einen Job dort antreten könnte. Aber ihre Bedenken sind natürlich nicht von der Hand zu weisen.

    Wenn der Junior-Chef tatsächlich so ist, wie Tabea ihn schildert, sollte sie wohl wirklich die Finger von ihm lassen. Sie würde nicht glücklich werden.

    „Was soll ich Dir da raten?, stellt Annette als Frage in den Raum. „Wenn er seine Machtposition tatsächlich ausnutzt, kann Dir das jetzt auf die Füße fallen, oder später, wenn die Beziehung vielleicht scheitert. Sie fragt die Freundin, ob sie ihm nicht direkt sagen sollte, dass sie keine Beziehung zu Sven Körber möchte. Vielleicht würde auch ein Gespräch mit seinem Vater helfen. Dass sie zwar gerne in der Firma arbeiten möchte, dass es aber klar sein muss, dass mit Sven nichts läuft. „Allerdings ist das schon ein Risiko.", entgegnet Tabea. Doch sie merkt selbst, dass sie nicht in der unklaren Situation bleiben kann, auch wenn es im schlimmsten Fall bedeuten würde, dass es mit dem Job nichts wird.

    Ach Mensch Tabea, ich hätte Dir so gewünscht, dass Du es gut erwischt. Aber Du bist noch jung. Selbst wenn dein Leben jetzt eine neue Bahn einschlägt, hast Du noch alles offen.

    Die beiden sitzen noch ein wenig, wälzen Für und Wider hin und her. Doch wie sie es auch drehen, es kommt keine andere Lösung heraus. Tabea muss Klarheit schaffen und Sven Körber deutlich machen, dass es abseits der Arbeit nichts mit ihnen beiden wird. Wenn er so reagieren wird, wie sie es vermutet, würde sie sich eine andere Arbeit suchen müssen. Annette stößt noch einmal mit Tabea an. „Tabea, ich hätte Dir so gewünscht, dass alles so für Dich klappt, wie Du Dir das vorgestellt hattest." Ihre Freundin gibt sich zuversichtlich und meint, dass ja noch nicht aller Tage Abend sei.

    Müde fällt Annette ins Bett. Die Gedanken hängen ihr noch nach.

    Ich hoffe, Tabea täuscht sich und er will gar nichts von ihr. Vielleicht wartet sie doch besser, bis er sie wirklich anspricht, sie privat treffen möchte. Vielleicht ist es gar nicht so gut, unmittelbar auf ihn zuzugehen. Andererseits ist sie dann die ganze Zeit gelähmt. Außerdem ist er dann vielleicht erst recht gefrustet, wenn er sich für sie interessiert. Es ist halt doof, weil ich ihn auch nicht kenne. Aber das, was sie so von ihm erzählt. Klar sind die Kerle mal derb, im Fleur wird ja auch geredet. Aber wenn es so ist, wie sie es sieht, fürchte ich, wird sie sich was Neues suchen müssen. Es wäre halt gut, wenn sie den Bachelor wenigstens noch fertig machen könnte. Da kommt ganz schön was zusammen.

    Grins nicht so blöd, Thilo, ich möchte jetzt schlafen. Dabei fand ich dein Grinsen mal so schön, habe es für Lächeln gehalten. Bitte, lass mich endlich in Ruhe.

    4

    Am Sonntag hat Annette im Fleur frei. So hat sie viel Zeit für Lisa. Sie spielen gemeinsam und verbringen einen schönen Tag zusammen. Nach dem Essen schauen die beiden die Schulsachen durch. Die Herbstferien gehen zu Ende und der Schulalltag beginnt. Immer noch, auch jetzt in der dritten Klasse ist Lisa von einem richtigen Ehrgeiz gepackt. Annette muss sie fast einbremsen, damit sie nicht nur an die Schule denkt. Auch hier ist Tabea wieder das große Vorbild, weil sie so klug ist und Lisa so viel beibringen kann. So verwundert es Annette nicht, dass die Kleine bei der Durchsicht der Hefte schon darauf hinweist, wo es bestimmt bald eine Klassenarbeit geben wird.

    Lisa, Lisa, Du bist mir richtig unheimlich. Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, mögen die meisten Jungs kluge Mädchen so überhaupt nicht. Die sind als Streberinnen verschrien und haben es in den höheren Klassen eher schwer.

    Am späten Nachmittag muss Annette in die Stadthalle. Sie soll einen Bericht über das dort dargebotene Theaterstück schreiben. Ein Münchner Tourneetheater gibt „Kleine Eheverbrechen" nach dem Drama von Eric-Emmanuel Schmitt. Sie ist etwas zwiegespalten, weil sie fürchtet, dass Erinnerungen an Thilo hochkommen. Das Stück wird nur von zwei Personen bestritten, Lisa und Gilles. Das macht es ihr schwer, neutral zu bleiben, wie es sich für sie als Journalistin gehören würde. Die Handlung spielt sich in der gemeinsamen Wohnung des Paares ab. Man erfährt, dass die beiden seit 15 Jahren verheiratet sind. Gilles ist zunächst sehr desorientiert, er lag 14 Tage im Koma. Annette verfolgt das Stück aufmerksam, notiert und versucht, einige Zitate, die ihr brauchbar erscheinen, wörtlich zu protokollieren. Mit der Zeit, so scheint es, ist zu spüren, dass Lisa etwas zu verheimlichen hat. Doch auch Gilles‘ Amnesie erweist sich als einen Tick zu perfekt. Schließlich wird klar, dass es darum geht, ob die beiden es schaffen, ihrer Beziehung neuen Schwung zu geben, ob sie ihre kleinen Geheimnisse verbergen können. Die Schauspieler sind nicht übermäßig gut, aber sie schaffen es doch, ihre Charaktere glaubwürdig rüberzubringen. Ihre Dialoge haben einen doppelten Boden. Sie schießen giftige Pfeile aufeinander, die Spannung ist spürbar. Schritt für Schritt, so scheint es, verstricken sie sich in ihrer beider Ränke. Andererseits, und das gefällt Annette, spüren sie beide doch immer noch einen Funken Liebe in sich. Am Ende sieht es dann doch so aus, als könnte die Rückbesinnung auf die Anfänge die Beziehung retten und beiden einen gemeinsamen weiteren Weg eröffnen. Der Beifall der etwa 80 Zuschauer ist nicht überschwänglich, aber es kommt doch zum Ausdruck, dass sich die Leute gut unterhalten gefühlt haben. Einige von ihnen kennt Annette. Peter Schreiber ist da, der Vorsitzende der Kulturvereinigung, aber auch einige Abonnenten, die regelmäßig Gäste sind. Frau Gerlach, eine ältere Dame spricht Annette an. Wie gut ihr das Stück gefallen habe und dass Verzeihen zu können doch ein sehr wichtiger Punkt sei, wenn eine Beziehung lange halten soll.

    Touché, Madame. Obwohl sich die Frage nach dem Verzeihen ja nie gestellt hat. Er ist ja einfach gegangen. Warum schaffe ich es nicht, das Kapitel Thilo endlich abzuschließen. Vielleicht gerade deswegen. Es ist rum, Annette.

    Später holt sich Annette noch ein paar Aussagen der Regisseurin, einer jungen Frau, die erst vor zwei Jahren ihr Studium der Theaterwissenschaften abgeschlossen hat. Sie zeigt sich sehr zufrieden. Am Dienstag würde das Stück noch einmal in der Stadthalle aufgeführt. Sie wäre Annette sehr dankbar, wenn sie berichten würde, wenn es ginge, nicht allzu schlecht.

    Klar doch, wir Frauen müssen zusammenhalten. Im Grunde habt ihr es ja gut gemacht. Ich versuche Dir zu helfen.

    Annette kann ihr nicht zusichern, dass ihr Beitrag gedruckt wird, aber falls dem so wäre, könnte sie mit einem positiven Bericht rechnen. Sie plaudern noch ein bisschen und so erfährt Annette, dass die Truppe noch bis Weihnachten unterwegs sein wird. Sie haben noch Vorführungen in Marburg, Korbach und Bad Arolsen. Im neuen Jahr wollen sie dann in Thüringen und Sachsen touren. „Da sind schwierige Stationen dabei, wo wir vor fast leeren Häusern spielen werden.", berichtet die junge Regisseurin.

    Die Lisa-Darstellerin kennt Annette von irgendwoher. Sie spricht nach dem Abschminken mit ihr, auf dem Flur hinter der Bühne. Auf die diffuse Bekanntheit angesprochen, erzählt sie, dass sie ein paar Mal kleinere Rollen im Tatort hatte. Da fällt Annette das Bild wieder ein. Sie hatte eine Kassiererin in einem Supermarkt gespielt, wo sich Leitmayr einen Schokoriegel und was zu trinken gekauft hatte. „Genau, sagt die Schauspielerin, das sei sie gewesen. „Dass Sie sich daran noch erinnern… Sie wirkt fast verwundert, aber auch ein wenig stolz.

    Klar erinnere ich mich. Ich habe genau gesehen wie der Leitmayr gezuckt hat. Du hast ihm gefallen.

    Annette erinnert sich noch gut, denn Leitmayr wirkte in dieser Szene spontan irritiert. Sie hatte sich damals überlegt, ob das wirklich spontan war und Udo Wachtveitl beim Anblick der Frau tatsächlich etwas empfunden hat, oder ob das Teil der Rolle war. Im Film wurde es jedenfalls nicht thematisiert und die Kassiererin tauchte auch nicht mehr auf. Auch hier zeigt sich Annettes feines Gespür dafür, wenn Menschen mit ihrer Mimik etwas aus ihrem Inneren verraten. Deshalb fragt sie sie jetzt kurzerhand danach. Doch der Schauspielerin war nichts aufgefallen. Sie sagt mehr im Spaß, dass sie den Udo da mal fragen müsse, wenn sie ihn sieht. Annette betrachtet ihr Gesicht noch einmal ganz genau.

    Ihre dunklen Augen haben Tiefe, wenn man möchte, kann man sich darin verlieren. Wie das wohl auf Männer wirken mag. Ob es überhaupt solche Männer gibt, die sich in tiefen dunklen Augen verlieren wollen? Einfach versinken und zu träumen beginnen. Nee, sowas gibt es nicht. Da geht wohl meine Phantasie mit mir durch.

    Die Frage nach den Augen stellt Annette dann auch dem Gilles-Darsteller. Der lacht aufgesetzt, doch über sein Gesicht huscht auch ein Ertapptsein. „Mareike, lass mich mal in deine Augen schauen.", ruft er seiner Kollegin zu, die sich gerade mit der Regisseurin angeregt unterhält. Die Angesprochene sieht ihren Spielpartner mit Annette stehen und antwortet mit einem verschmitzten Grinsen, dass das nur der Udo dürfe. Annette stellt noch drei, vier Fragen zum Stück, zu seiner Einschätzung, warum die, die es noch nicht gesehen haben, unbedingt am Dienstagabend kommen sollten.

    Sie verabschiedet sich danach und radelt nach Hause. Heute stoppt sie nicht auf der Brücke. Ihre Lisa ist allein zuhause. Tabea schaut nur ab und an nach ihr. Sie muss etwas für ihr Studium tun. Annette ist nicht wohl dabei, aber sie hat auch keine andere Lösung organisieren können. Sie findet Lisa in ein ‚Was ist was‘ - Buch vertieft. Sie liest über Windmühlen. Der gestrige Nachmittag mit Tabea und der Bastelei hat offenbar einen bleibenden Eindruck hinterlassen. „Ach Lisa. Ich freue mich so über deine Begeisterung. Aber jetzt ist es langsam Zeit schlafen zu gehen. Morgen ist wieder Schule. „Nur noch die Seite fertig., erwidert ihre Tochter. „Windräder sind voll interessant. So eins möchte ich mir mal in echt anschauen. Annette lässt ihre Tochter noch fertiglesen und bringt sie dann zu Bett. Sie schreibt den kurzen Bericht zum Theaterabend und legt ihn auf dem Server der Redaktion ab. „Auch wieder ein paar Euro, denkt sie sich. Nach den Fernsehnachrichten geht sie auch ins Bett. Vor dem Einschlafen geht ihr Thilo noch einmal durch den Kopf.

    Ich weiß noch, wie er sich während der Schwangerschaft doch auf das Kind in meinem Bauch gefreut hat. Unser Kind. Wie er seinen Kopf auf meine Bauchdecke gelegt und gehört hat. Wie er sich später über Lisas Strampler amüsiert hat, die sie gegen die Begrenzung ihrer behüteten Umgebung vollführt hat. Neun Jahre war das jetzt her. Natürlich war er auch bei der Geburt dabei gewesen. Er hat meine Hand gehalten, mir den Schweiß von der Stirn gewischt. Irgendwie muss seine Freude doch echt gewesen sein. Obwohl er sich am Anfang so erschreckt hat. Wann ist das wieder gekippt. Ich weiß es nicht. Warum hat er sich dann wieder so in seinen Job gestürzt? Warum hat er sich von uns zurückgezogen? Von mir? Verdammt, warum geht mir das immer wieder durch den Kopf? Thilo

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1