Antoine exlex
Von Angelina Roth
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Über dieses E-Book
Beide wollen etwas ändern und stehen vor der gleichen Frage: Wie trifft man die richtige Entscheidung und findet den für sich passenden Weg?
Eine Geschichte über Lebensinhalt, Schicksal und Freiheit in der Multioptionsgesellschaft.
Angelina Roth
Angelina Roth, geboren 1989, ist eine schweizerisch-deutsche Schriftstellerin. Sie schreibt für Literaturmagazine, bloggt auf www.angelinaroth.ch und verfasst regelmässig eine Autorenpost für ihre Leserinnen. Sie lebt in Basel.
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Buchvorschau
Antoine exlex - Angelina Roth
Quellennachweis
1. Kapitel
So viele Varianten in mir.
Das Bedürfnis nach Einsamkeit
und der Wunsch nach Gesellschaft.
Der Ordnungswille
und die Lust auf Koks und Zerstörung.
Das Streben nach Erfolg
und der Hang zum Untergang.
Der Genuss der Stille
und die Freude an schepperndem Lärm.
Denken müssen
und scheiß Fernsehen gucken.
Nähe und Distanz.
Anfang und Ende.
Tod.
Nie stellt eines zufrieden.
Man braucht immer alles.
Für die Erschließung der modernen
Zerisssenheit.
Jetzt habe ich es mit drei »s«
geschrieben.
Ich möchte weinen.
Weil mir heute auch der Mix nicht genügt.
Ich bin Antoine.
2. Kapitel
Ich heiße wirklich Antoine. Obwohl das gar nicht zu mir passt. Ich bin weder kreativ noch schwul. Meine Eltern sind keine Franzosen und ich war auch nicht auf einer Privatschule. An Frankreich mag ich eigentlich nur Baguette. Und Gauloise.
Es gibt Menschen, zu denen passt ihr Name nicht. So wie es Frauen gibt, die in einem Kleid komisch aussehen. Als hätte man sie gezwungen es anzuziehen. Ein unpassender Vorname ist zum Glück weniger auffällig.
Antoine ist ein guter Name. Aber er passt nicht zu mir. Viel zu edel, viel zu fremdländisch. Als wäre ich etwas Besonderes. Ich habe keine Komplexe. Aber ich bin sehr emotional und nehme alles persönlich. Deshalb ziehe ich mein Ego lieber aus meiner Fähigkeit, anderen Menschen überlegen zu sein. Antoine zu heißen, brauche ich nicht für meine Vita, auch wenn es hilft. Denn ich bleibe anderen im Gedächtnis, obwohl ich eher durchschnittlich aussehe, nicht sehr maskulin oder besonders attraktiv. Wenn ich eine Frau kennenlerne, weist erst mal nichts darauf hin, dass ich für sie interessant bin. Höchstens meine tätowierten Unterarme. Dann stelle ich mich vor:
»Hi. Ich bin Antoine.«
Damit rechnen die Wenigsten.
»Oh, echt? Antoine? Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Wieso überrascht dich das?«, frage ich mit einem unschuldigen Blick.
»Ich ... äh ... nein. Ich hätte mir gar nicht vorstellen können, wie du heißt.«
»Meine Eltern kommen aus Frankreich.«
»Ach so. Dann sprichst du Französisch?«
Und schon wirke ich kultiviert. Es entsteht ein Gespräch, in dem ich sie einwickeln kann. Im Gespräch jemanden von mir zu überzeugen, ist meine Königsdisziplin. Dass meine Eltern gar keine Franzosen sind, finden die Frauen in der Regel nicht heraus. So weit kommt es nicht.
Nur Lucia, die letzte Frau, die ich auf diese Art kennengelernt habe, hat schnell gemerkt, dass ich mit Frankreich nichts am Hut habe. Aber sie hat es mir nicht übel genommen. Lucia hat mir ausgesprochen gut gefallen; sie ist attraktiv, nicht übertrieben feminin und sehr unbeherrscht. Ihr Leben ist voller Widersprüche. Sie treibt viel Sport, aber nimmt Drogen; sie studiert Wirtschaft, aber verhält sich wie eine wilde Kunststudentin. Außerdem ist sie eifersüchtig, das mag ich. Sie hat dieselbe Einstellung zum Leben wie ich, deshalb haben wir uns gegenseitig nicht gutgetan. Zu viele Abstürze, zu viele Krisen, zu viele Emotionen. Leidenschaft und Desaster haben sich gegenseitig gejagt. Und was gibt es Heißeres, als gemeinsam in den Untergang zu gehen? Lucia war wie Amy Winehouse, nur nicht so musikalisch. Es war am Schluss trotzdem zu eng und zu ernst für mich. Ich hätte sie lieben können. Wenn ich gewollt hätte. Sie hat es erstaunlich gelassen genommen, obwohl es fast schon Verrat war.
Lucia ist eine gute Freundin von meinem schwulen und sehr kreativen besten Freund. Er spricht fließend Französisch und ist als Botschafterkind auf der ganzen Welt groß geworden. Er heißt Paul. Wir sollten tauschen.
3. Kapitel
Paul beeilt sich, aus der U-Bahn auszusteigen. Er schiebt sich vorbei an einer alten Dame, überholt zwei Schulkinder und läuft schnell zum Ausgang. Draußen regnet es. Paul kommt wieder zu spät zur Arbeit und das liegt nicht daran, dass ihn irgendetwas davon abhalten würde pünktlich zu sein. Er schafft es einfach nicht. Egal wann er morgens aufsteht, die Zeit verfliegt zu schnell.
Er spielt schon länger mit dem Gedanken, seinen Job in der Werbeagentur an den Nagel zu hängen. Weil es ihn langweilt. Er will sich als Künstler selbstständig machen. Aber das ist nicht einfach. Was ist, wenn es schiefgeht? Wie kommt man dann zurück in die normale Arbeitswelt? Sagt man im Vorstellungsgespräch, dass man mal Künstler werden wollte, man gescheitert sei und es jetzt großartig fände, wieder in einen normalen Beruf einzusteigen? Um einen der begehrten Werber-Jobs zu bekommen, muss man aktuelle Beispiele namhafter Kunden vorweisen können. Wenn man ein oder zwei Jahre weg ist, wird es schwierig. Außerdem halten sich in der Branche insgeheim alle selbst für Künstler und lachen nur zu gerne über die, die daran scheitern. Weil es ihnen recht gibt.
Deshalb behält Paul seinen Job. Und er ist frustriert. Die Tage in der Agentur sind lang, abends ist er müde und das Wochenende ist kurz. Für Kreativität bleibt zu wenig Zeit. Wenn er sich bei Freunden über seine Situation beschwert, sagen die oft: »Mach doch einfach beruflich was Kreatives, dann kannst du von der kreativen Arbeit leben.« Paul hat es aufgegeben, ihnen zu erklären, dass diese vermeintlich kreativen Berufe nicht kreativ sind. Sonst wäre er in der Werbebranche ja schon lange glücklich geworden.
Der Menschenstrom, mit dem Paul sich auf dem Bürgersteig Richtung Büro bewegt, ist ins Stocken geraten. Zu viele Schirme und Kinderwagen auf engem Raum haben den Fluss zum Erliegen gebracht. Etwas weiter vorne sieht Paul Lea vor einem Geschäft stehen. Sie telefoniert – beziehungsweise spricht sie mit dem Handy, das sie vor sich auf der ausgestreckten Hand hält. Lea ist Lucias kleine Schwester und mit Antoines Vater befreundet. Paul kann nicht verstehen, was sie an ihm findet. In seinen Augen ist Antoines Vater ein intellektueller Dandy. Völlig überkultiviert. Er gibt sich als Mann von Welt, war zwei Mal verheiratet und wohnt in einer überteuerten Wohnung, die Wände voller Bücher. Aber eigentlich hat er nur eine Leidenschaft. Frauen. Er hat ständig wechselnde Freundinnen. Meistens mehrere gleichzeitig. Antoine hat sich schon als Kind darüber geärgert und findet es auch heute immer noch peinlich.
Antoines Vater will sich nie mehr binden, denn das würde ihn unterjochen. Er hat Paul seine ganze Theorie zu Männern und Frauen erklärt und warum eine Beziehung das Ende der Freiheit bedeutet. Seine These ist, dass Männer in einer Beziehung schleichend entmannt würden, bis sie schließlich in konstanter Angst lebten. Sie würden unglücklich und gingen ins Bordell, aber nicht aus böser Absicht, sondern aus Verzweiflung. Es sei eine Art Hilferuf. Die meisten Männer hätten aber nicht einmal mehr dazu den Mut.
Er ist überzeugt, dass die Frauen das nicht absichtlich machten. Es läge in ihrer Natur als Mütter und Hausfrauen, den Mann subtil zu unterwerfen. Aber eigentlich sei gar nicht die Frau das Opfer, wie es die moderne Gesellschaft darstellt. Nein, der Mann sei gutmütig und wehrlos. Aus Liebe zur Frau lasse er alles mit sich machen. Das sei Antoines Vater auch passiert und so wolle er nie wieder leben.
Wenn man den Frauen aber nicht entsagen kann, so wie Antoines Vater, dann muss man einen Weg finden, sich nicht abhängig zu machen von ihnen. Deshalb hat er sich für die Polyamorie entschieden. Für seinen Sohn Antoine hat er keine Zeit, denn er verbringt seine gesamte Freizeit mit dem Management seiner vielen Beziehungen. Und er hat seit Neuestem auch eine Freundin, mit der er angeblich kein Verhältnis hat. Lea.
Der Menschenstrom vor Paul hat sich wieder in Bewegung gesetzt. Er geht einen Schritt zur Seite, um die anderen vorbeizulassen, und überlegt, ob er Lea ansprechen soll. Sie hat aufgehört zu telefonieren und tippt jetzt auf ihrem Handy.
Nach einem Blick auf die Uhrzeit entscheidet sich Paul, weiterzugehen, und reiht sich wieder in den Menschenstrom ein. Ein paar Häuser weiter ist seine Agentur untergebracht, in einem runden Glasturm mitten im Zentrum. Er bleibt vor dem Eingang stehen, hält seinen Badge an den Sensor. Das Schloss surrt und er geht durch die Tür. Im Aufzug atmet er tief ein.
4. Kapitel
Als Paul durch die Eingangstür in das Großraumbüro tritt, herrscht dort das übliche hektische Treiben. Mitarbeiter laufen hin und her, rufen sich Scherze zu, Telefone klingeln, die Besucher, mit denen er im Aufzug war, werden vom Chef in Empfang genommen. Er bahnt sich den Weg zu einem freien Arbeitsplatz. Paul ist nicht sehr groß, aber kräftig gebaut. Er muss sich an Regalen und Kollegen vorbeiquetschen, so eng ist es für ihn, wenn viel los ist. Als er an seinem Platz ankommt, schaltet er den Computer ein. Während er wartet, fährt er sich mit der Hand durch seine kurzen braunen Haare und schaut sich um. Erstaunlich eigentlich, dass ihm niemand ansieht, wie schwermütig er ist. Gleich wird ihn dieser Bienenstock wieder einverleiben, in Gespräche einbinden, neue Projekte vorstellen und Rollen zuweisen. Er muss sich darauf einlassen, damit er nicht untergeht in dem Theater. Wenn er das tut, verschwinden aber auch alle seine Ideen, die ihn am Wochenende so inspiriert haben. An ihre Stelle tritt E-Mail-Gequake, Kollegen-Gequake, Kunden-Gequake. Paul muss reagieren, Ideen kreieren, Skizzen anfertigen. Sein Gehirn wird in kurzer Zeit ausgequetscht. Der Werbemarkt verlangt schnell viel Kreativität. Von wem auch immer.
Kurz nach elf Uhr ist Paul wieder drin im Tagesgeschäft. Draußen wird es dunkler und der Regen wird stärker. Drinnen sind die Lichter an. Paul hat vor sich mehrere Entwürfe für ein Logo, zu jedem einzelnen muss er sich eine Geschichte überlegen. Warum ist dieser Entwurf geeignet, das Unternehmen zu repräsentieren, wieso jener? Er setzt sich Kopfhörer auf, dreht die Musik laut und vertieft sich in die Entwürfe. Das Wochenende verblasst. Alle paar Stunden blitzt die Erinnerung kurz auf, auf dem Weg zur Kaffeemaschine oder zu einer Sitzung. Dann nimmt ihn das nächste Projekt in Anspruch. Am Montagabend ist er oft wehmütig, weil er dem allwöchentlichen Wechsel von Wochenende zu Arbeitswoche so hilflos ausgeliefert ist. Spätestens dienstags abends kommt es ihm absurd vor, dass er am Wochenende Kündigungspläne ausheckt, denn die Arbeit erscheint ihm plötzlich wieder sehr relevant. Ohne ihn würden Rebrandings von Konzernen nicht stattfinden, Fußballclubs und Modehäuser wären mit ihren Social-Media-Kanälen heillos überfordert und Discounter-Werbung würde völlig lahm aussehen. Seine Arbeit hat einen Sinn, er wird gebraucht.
Am Mittwoch und Donnerstag leistet Paul am meisten. Er arbeitet hoch konzentriert und bis in den Abend hinein. Wenn er am Donnerstagabend das Büro verlässt, ist er so erschöpft, dass er den Freitag nur noch absitzt und sich sehnlichst aufs Wochenende freut, um endlich wieder Zeit für seine Projekte zu haben. Auf einmal sind die Freizeitinhalte wieder ganz nah, aber der letzte Tag muss noch überstanden werden. Freitagabend verbringt er mit Fertigessen und Kopfschmerzen vor dem Fernseher. Er will niemanden sehen oder hören. Nur der Fernseher vermag sein Gehirn so sanft zu betäuben, dass er seine Erschöpfung und seine Unzufriedenheit vergessen kann.
Am Samstag schält er sich erst gegen Mittag aus dem Bett und frühstückt auf dem Balkon. Er sitzt dort immer eine Weile mit einer Tasse Kaffee an einem kleinen, runden Bistrotisch. Auf seinem Tablet skizziert er Ideen oder macht sich Notizen, legt alles wieder beiseite und liest Nachrichten auf dem Handy. Erst am späten Nachmittag wird er noch mal produktiver. Dann geht er an seine Werkbank und fängt an zu arbeiten. Zurzeit arbeitet er an einer Skulptur aus Stein und Holz. Das Holz betackert er stellenweise mit Kunstleder. Die Skulptur ist nicht zu groß, einen halben Meter hoch vielleicht, und soll eines Tages auf einem Wohnzimmertisch kunstaffiner Leute stehen.
Am Sonntag steht Paul meist relativ früh auf und arbeitet weiter an seinen Entwürfen. Sonntag ist auch der Tag, an dem er oft Besuch bekommt oder sich mit Freunden trifft. Der Tag vergeht wie ein angenehmes Durcheinander zwischen künstlerischer Arbeit und entspanntem Rumhängen mit Freunden beim Brunch oder im Sommer draußen am Rhein. Sonntags abends ist Paul unfassbar unglücklich, dass am nächsten Tag wieder Montag ist. Aber alles in allem ist er sehr zufrieden. Es ist das wohlige Gefühl, aus jedem Wochenende das Beste gemacht zu haben, was die kurze Zeit hergibt.
Woche für Woche findet derselbe erschöpfende Kreislauf statt: von Arbeitshass zu widerwilligem Arbeiten, zu ungebremstem Arbeiten, zu Erschöpfung und Frustration und dem glücklichen Wochenende.
5. Kapitel
Die Sonne scheint durch das kleine Fenster in der schweren Haustür der Stadtvilla. In dem schmalen Lichtstrahl sammeln sich die mikroskopischen Partikel, die in der Luft herumschwirren. Dadurch wirkt es staubig in dem alten Flur mit den aufgereihten Briefkästen an der braun verkleideten Wand. Die ursprüngliche Farbe des abgenutzten, aber intakten Linoleums ist nicht mehr erkennbar.
In dem Flur, der zur Treppe führt, stehen ein älterer Mann und eine sehr junge Frau. Er schließt den Briefkasten auf und schaut hinein.
»Ignoriert die Welt mich wieder?«, fragt Antoines Vater und zieht seinen Kopf enttäuscht zurück.
»Erwartest du Post?«, fragt Lea.
»Nein«, antwortet er, »aber ich fühle mich nicht in die Überlegungen der Welt einbezogen, wenn ich keine erhalte.«
Sie lächelt.