Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Eigentlich: Roman
Eigentlich: Roman
Eigentlich: Roman
eBook250 Seiten3 Stunden

Eigentlich: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wenn man nur noch Essen und Nieselwetter tröstlich findet – ist das dann Midlife-Crisis? Oder müsste man einfach mal raus aus der Kleinstadt, dem Job, dem gewohnten Einerlei? Als wenn die eigene Krise nicht schon lästig genug wäre, kommt auch noch die Weltkrise dazu: mit Benzinpreis-Schock und Hamsterkäufen. Was ist bloß los mit der Menschheit? Und was mit Ina Boerns?
Seit zwölf Jahren ist sie beim Steininger Tageblatt, dem Zentralorgan der Altmark, die in ganz Deutschland kein Mensch kennt. Bisher hat die Arbeit sie immer ausgefüllt. Aber der neue Chef und die Primel zum Frauentag machen ihr klar: So kann es nicht weitergehen! Wenn da nicht das urig-skurrile Panoptikum der Kleinstadt-Bewohner wäre: der kauzige Nörgel-Nolte, die traumdeutende Redaktionsassistentin, die allwissende Stadtarchiv-Leiterin und der dichtende Designer. Außerdem muss sie sich noch um Bank-Skandal, Ausgrabungen und Rosenvandalismus kümmern. Doch in ihr drinnen braut sich längst was zusammen …
Mit pointiertem Zynismus, gewitzten Dialogen und hier und da aufflackernden magischen Momenten schickt die Autorin ihre Protagonistin auf eine herausfordernde Gratwanderung zwischen Resignation und Rebellion. Nora Knappe schafft ihr eigenes Genre des „Befremdeten Realismus“.
SpracheDeutsch
HerausgeberOmnino Verlag
Erscheinungsdatum4. Apr. 2023
ISBN9783958942349
Eigentlich: Roman
Autor

Nora Knappe

Nora Knappe (geb. 1978) wuchs in Wernigerode auf. Nach ihrem Sinologie-Studium in Leipzig und Nanjing/China arbeitete sie 14 Jahre lang im Lokaljournalismus. Seit 2022 ist sie freiberufliche Autorin. Sie lebt in der Altmark, wo die Liebe sie Wurzeln schlagen ließ. Zu diesem Leben gehören viel Literatur, ein Garten und vier Fahrräder.

Mehr von Nora Knappe lesen

Ähnlich wie Eigentlich

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Eigentlich

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Eigentlich - Nora Knappe

    Eigentlich

    Impressum

    Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    ISBN: 978-3-95894-233-2 (Print) // 978-3-95894-234-9 (E-Book)

    Satz und Layout: www.dariussamek.de

    © Copyright: Omnino Verlag, Berlin/2023

    Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

    Coverabb.: Shutterstock.com, 2187163689, fran_kie

    Nora Knappe, hintere Klappe: Foto Ullrich

    Inhalt

    Ein grauer Januartag

    Einige Tageblatt-Ausgaben später: Dienstag

    Mittwoch

    Donnerstag

    Freitag

    Sonnabend

    Sonntag

    Montag

    Epilog

    Dank an alle Mitwirkenden

    Die folgende Geschichte ereignet sich in den 2020er Jahren. Eine Pandemie findet nicht statt – das Leben ist so schon kompliziert genug.

    Ort des Geschehens ist Steiningen – ein hübsches kleines 40 000-Seelen-Städtchen in der Altmark im nordmittelostdeutschen Nirgendwo, das sein kulturelles, touristisches und sonstiges Potenzial zu wenig ausschöpft. Vorreiter-Ambitionen hat man in nichts, ruht sich aber gern auf seiner Historie aus. Und so lebt es sich ganz gemütlich hier.

    Möglicherweise scheint die ein oder andere Figur wie auch diese oder jene Begebenheit der Wirklichkeit zu entstammen. Ausgeschlossen ist das nicht. Letztlich speist sich jede Erfindung aus der Wirklichkeit.

    Ein grauer Januartag

    Auf der Museumsbaustelle

    Bei Gelegenheiten wie diesen war Ina Boerns geneigt, ihren Beruf zu verfluchen. Wie konnte man denn mitten im hässlichsten, trübsten Winter einen Draußentermin mit allem offiziellen Brimborium ansetzen? Das hätte man mit ein bisschen Bautrödelei doch gut ins Frühjahr geschoben bekommen. Und jetzt: Alle fröstelten, allen war klamm, alle wollten möglichst schnell wieder nach drinnen. Aber nun standen sie hier wie eine handlungsunfähige Herde Schafe, die man nicht in den warmen, behaglichen Stall ließ. Und glotzten alle in dieselbe Richtung, als ob da gleich ein Weltwunder geschehen würde. Ina verkroch sich, so gut es ging, in sich selbst, wovon ihr allerdings auch nicht wärmer wurde. An den Füßen fing es immer an. Gegen kalte Füße war man machtlos, da half die beste Wandersocke nicht. Aber wer wollte es der Socke auch verübeln, es war ja eine Wandersocke und keine Draußenrumstehsocke.

    Endlich begann die Zeremonie, wegen der sie alle hier waren. Interessant war das nicht, aber ja, die Chronistenpflicht … ​wie dieses Wort schon klang: so müde und willenlos. Und irgendwie alt. Wie ging dieser Spruch noch mal? Nichts ist so alt wie die Zeitung von morgen … ​Oder nee, so alt wie die Zeitung von gestern? Ina kam nicht drauf. Sah aber aufmerksam-gelangweilt zu, wie jetzt die Zeitung von heute, das Steininger Tageblatt, in eine kupferglänzende Metallröhre gesteckt wurde. Der Typ von der anderen Zeitung sprang schon aufgeregt drum herum, links, rechts, vorn schräg unten, und machte Bilder. Ina nicht. Ein Foto davon brauchte sie nicht. Sollte sie nicht. So was ging jetzt nicht mehr. Der Chef wollte es gern dynamisch, originell. Grundsteinlegung dynamisch, Ina hatte verächtlich geschnaubt und in sich hineingegrummelt. Wieder so eine neue Linie, mal sehen, wie lange das durchgezogen wurde. Mit den Spendenübergaben hatte es angefangen. Machen wir nicht mehr, hatte es geheißen. Das Resultat war: Das Tageblatt ging nicht mehr hin, also schickten die Leute selber ein Foto, von – der Spendenübergabe. Das wurde dann unter der Rubrik „Leserpost" versteckt.

    „… ​freuen wir uns umso mehr, nach langen, aber fruchtbaren Diskussionen …" Die vernuschelte Rede des Stadtbauleiters war immer noch nicht zu Ende, es begann zu nieseln. Das kleinkarierte Papier in Inas Notizbuch fing einige der Tropfen auf, an den Aufprallstellen begann es sich zu wellen. Sie klappte das Büchlein zu, es gab noch nichts mitzuschreiben … ​Die Hülse lag jetzt im offenen Grundsteingeviert und wurde nass. Wie oft war die Zeitung auf diese Weise schon beerdigt worden, dachte Ina, totgesagt wurde sie ja ohnehin längst, aber immer wieder diese offiziellen Beerdigungszeremonien, das war schon makaber. Heute durfte sie also Augenzeugin sein, wie die Zeitung bestattet wurde. Wie würde man das eigentlich künftig machen, mit diesen Grundsteinhülsen, ein E-Paper reinlegen ging schlecht. Ein Tablet einmauern? Irgendwann würde es vermutlich einfach keine Grundsteinhülsen mehr geben, Rituale einer alten Zeit.

    „… ​sind wir auch zutiefst überzeugt von dem visionären Entwurf des Architekturbüros Brinkhoff & ​Clausen, der uns die künftige Gestalt dieses für Steiningen einmaligen, und ich möchte sagen: zeitgenössisch avantgardistischen Anbaus schon heute vor Augen stehen lässt …" Ina merkte auf, das hat der doch nicht selber geschrieben … ​ Wie viele Pressetermine es für den Museumsanbau wohl noch geben würde, wäre sie dann noch hier? Als Nächstes wären Richtfest und Baustellenrundgang dran, dann Erklärungen zu Bauverzögerung und Kostensteigerung, danach Fertigstellung und Einweihung mit Rede, Trara und Häppchen, bald die erste große Ausstellung mit Besuchern, dann im Jahresturnus dies und das und später käme noch die Widmung als besondere Traustätte. Und wenn einer vom Steininger Tageblatt es draufhätte, würden sie zwischendurch noch Finanzschummelei und Auftragsgemauschel aufdecken, bevor die ersten eklatanten Baumängel ans Licht kamen.

    „… ​übergebe ich nun das Wort an unsere Vize-Oberbürgermeisterin, Frau Blumwies, bitte schön." Verhaltener Applaus, einige der Anwesenden waren damit beschäftigt, erst mal ihre Schirme aufzuspannen. Ina auch. Das war jetzt echt blöd, Schirm halten, mitschreiben, und dann noch fotografieren. Früher gab es ja eigene Fotografen in den Lokalredaktionen. Dieses Früher kannte Ina noch. Da konnte man sich aufs Zuhören und Mitschreiben konzentrieren. Also ihre eigentliche Arbeit. Seit Jahren schon mussten sie nun selbst fotografieren. Bald würden sie auch Videos drehen sollen. Und demnächst während des stattfindenden Termins schon mal was posten, einen Onliner fertig machen, das Wichtigste einfach schon mal raushauen, damit wir das als Erste haben. Zum Glück hatte Ina kein Smartphone, da ging das schon mal nicht. Und Diensttelefone gab es nicht. Eine Weile würde sie hoffentlich noch drum herumkommen. Falls das noch nötig war, denn wahrscheinlich würde sie selbst in absehbarer Zeit überflüssig sein. Kulturthemen waren nicht mehr gefragt, das hatten sie ihnen schon angedeutet, interessiert keinen, hatten sie gesagt.

    „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Kulturinteressierte und geschätzte Bauverantwortliche …" Oh, die Vize fing an, Ina hielt den Stift in Schreibbereitschaft, den Schirm hatte sie sich wie einen Telefonhörer links zwischen Schulter und Kinn geklemmt und stand nun etwas verbogen. Die Kamera hatte sie unter ihren Mantel geschoben, damit sie nicht nass wurde.

    „… ​der Kultur Raum geben, Raum zur Entfaltung, Raum in der Stadt und in der öffentlichen Wahrnehmung … Die Stellvertreterin des Oberbürgermeisters formulierte ihre Reden immer frei, spontan, aber mit Tiefgang und ohne ein einziges Äh. Alexa Blumwies – schöner Name, fand Ina, nur in der heutigen Zeit schon auch kurios. Machten sie im Rathaus damit Witze? „Alexa, übernimm meinen Termin! Oder: „Alexa, wie geht die Wahl aus? Und heute dann: „Alexa, leg den Grundstein! Das erheiterte Ina. Sie hatte nichts gegen Frau Blumwies, im Gegenteil, endlich mal eine Frau mit an der Spitze. Mit ökologischem Bewusstsein, modernem Denken und Veränderungswillen. Noch war sie nur Vize, aber wer weiß. Kulturaffin war die Blumwies auch und tat nicht nur so. Alle dachten, sie hätte was mit Herrn Friedländer von der Kulturstiftung. Das erheiterte Ina noch mehr. Der war Junggeselle aus Überzeugung, und die Blumwies, na … ​Ina war sich eigentlich sicher, sie hatte da ein Gespür für und dachte, das sieht man doch, ihre ganze Art, der Habitus, die war doch garantiert … ​War ja auch egal, aber wenn das erst mal die Runde machte, na, das gäbe ein Getratsche und Getuschel. Oder auch nicht. Bei den Steiningern konnte man nie wissen. Ina hatte die Menschen hier immer noch nicht ganz verstanden, das Etikett weltoffen klebte man sich gern mal an, aber wehe, die Welt kam dann wirklich.

    Wobei sie sich manchmal fragte, ob die Welt überhaupt von Steiningen wusste, von der Altmark allgemein. Für sie selbst war beides ja auch nicht-existent gewesen, bevor sie die Stelle hier bekommen hatte und nach ihrer Großstadt-Rastlosphase hergezogen war. Die Altmark: so ein unscheinbarer Landstrich, nein, mehr so ein Landfleck, ausgeblichen und ausgefranst, ein Fleck, an dem man zu doll herumgerubbelt hatte. Und nun fiel er umso mehr auf, jedenfalls bei Google Earth View. Und das war doch schon mal was. Den Tourismus-Leuten schien das zu genügen. Sie nannten es den „Charme unberührter Natur". Na, wenn man ausgedörrtes plattes Land, in dem der Algenbewuchs auf den Entwässerungsgräben manchmal das einzige Grün weit und breit war, als Natur bezeichnen wollte.

    Und Steiningen? War ganz in Ordnung, Ina hatte es liebgewonnen. Eine von diesen Eigentlich-Städten. Eigentlich lebt es sich doch ganz gut hier. Eigentlich hat Steiningen doch alles, was man braucht. Eigentlich ist es doch ganz schön hier. Als ob man sich dafür schämen und rechtfertigen müsste, dass man in einer Kleinstadt lebte. Aber so hörte Ina die Leute immer mal schüchtern aufbegehren, wenn irgendwer sich wieder darüber beklagte, dass hier nichts los wäre. Manchmal hörte sie sich schon selber so reden: Eigentlich mag ich es hier.

    „… ​freue ich mich ganz persönlich schon sehr auf die Eröffnung der ersten Ausstellung in diesem faszinierenden und für unsere Stadt wohl wegweisend-markanten neuen Museum und hoffe sehr, dann auch unsere lokale Presse wieder hier begrüßen zu können." Ina fühlte sich angeguckt und lächelte höflich. Ihr Bauch gluckerte und ihr war ein wenig flau, zum Glück war bald Mittag. Da setzte das 12-Uhr-Geläut der Hedwigskirche ein. Und am Haus gegenüber, bemerkte Ina, öffnete sich im dritten Stock ein Fenster, eine Frau mit Brille war zu sehen, sie lehnte sich ein wenig heraus, stützte sich mit den Händen draußen auf den Sims und schaute herüber, wirkte sinnierend, gedankenverloren … ​abwesend oder ganz bei sich? Auf die Entfernung schwer zu sagen. Aber ein schönes Fotomotiv, dachte Ina und erschrak: Mist, ich brauche doch noch ein Foto von diesem Grundsteingedöns!

    Einige Tageblatt-Ausgaben später: Dienstag

    Bei Ina Boerns zu Hause

    Sie saß auf der Bettkante und schnaufte wie ein Igel auf nächtlichem Streifzug. Mit klebrig-müden Lidern erblinzelte Ina sich den Morgen. Ihr Wecker hatte sie aus tiefem Schlaf gerissen. Und es ging ihr jetzt so, wie wenn sie aus einem unerwartet intensiven Nachmittagsschlaf aufwachte: Dann war Ina jedes Mal so orientierungslos, als ob sie zum ersten Mal in dieser Welt erwachte. Das seltsam animalische Schnaufen war eine Begleiterscheinung, die merkwürdigerweise dabei half, sich wieder zurechtzufinden. Und während sie da so saß und allmählich wieder in ein Atmen verfiel, das keiner größeren Anstrengung bedurfte, wunderte sie einem Traum hinterher. Der war brauchbar gewesen. Eine Idee für ihre berufliche Zukunft. Vielleicht. Warum war da noch keiner drauf gekommen? Sie ja auch nicht. Das müsste sie nachher mal Heike erzählen. Für Träume war die immer zu haben, hatte stets eine schlüssige Erklärung parat. Seit sie mal diesen Volkshochschulkurs mitgemacht hatte, „Traumdeutung – mit Freud(e) ins Unbewusste". Seither hoffte Ina immer, möglichst interessant und verworren zu träumen. Alles erzählte sie Heike dann aber auch nicht.

    Als sie das Fenster zum Lüften aufmachte, sah sie gegenüber den alten Mann auf dem Balkon. Es gab ihn also noch. Bis vor Kurzem, wie lange war das jetzt her?, hatte sie ihn oft im Innenhof getroffen, er war immer mit dem Fahrrad unterwegs, Taschen am Lenker, Taschen am Gepäckträger, wirkte sehr geschäftig. Ob er Arbeit simulierte? Manche Rentner oder plötzlich arbeitslos Gewordene machten so was ja. Einmal hatte Ina sich Sorgen gemacht, da war das Badfenster gegenüber auf gewesen, es schwankte vom Wind bewegt leicht hin und her, die Gardine hing auf halb acht … ​immer wieder hatte sie rübergeguckt, keiner hängte die Gardine wieder gerade … ​ob da alles in Ordnung war, vielleicht hatte er einen Schlaganfall gehabt, Herzinfarkt, hatte sich beim Stürzen an der Gardine festhalten wollen, keiner merkte es, ob sie mal die 112 anrufen sollte … ​ Irgendwann war das Fenster wieder zu und die Gardine wieder ordentlich. Hatte sie zu lange überlegt? Jetzt war sie beruhigt, dass der alte Mann noch lebte. Wenn auch offenbar etwas beschwerlicher. Er füllte das Vogelhäuschen nach, goss bedächtig die Blumenkästen, über die Brüstung lugte der Wäscheständer. Der Mann verschwand wieder in seiner Wohnung, in seinem für Ina unsichtbaren Tag. Bis morgen, dachte sie, drehte sich um und ging in ihren Tag.

    Der Abwaschberg vom Wochenende war immer noch da. Wie gestern auch schon. Sie ignorierte ihn. Müsste sie diese Woche mal erledigen. Jetzt nicht, jetzt erst mal Frühstück. Im Radio war mal wieder Krise, die sich abzeichnende Dürre, ein neuer Krieg, ganz nah sogar, Atomkraft ja-nein-vielleicht, und dann erzählten sie noch was von Allzeithoch bei den Spritpreisen … ​Spekulationen, wie weit das noch gehen würde, was kommt auf die Verbraucher zu … ​Ina drehte den Knopf zum Kultursender. Musik. Einfach nur Musik, das war besser geeignet, um den Tag und die mit ihm verbundene Welt wohlwollend zu betrachten. Twist in my sobriety, wie lange hatte sie das nicht gehört. Und seit Jahren immer noch nicht nachgelesen, was das eigentlich heißen sollte. Sober, nüchtern, oder hieß das noch was anderes? Drehung in meiner Nüchternheit? Während sie sinnierend dem Lied lauschte, drehte Ina an der Kurbel ihrer Handkaffeemühle. Die besaß sie, seit sie mal eine Packung Kaffee geschenkt bekommen hatte, ganze Bohnen. Sie kaufte sonst nur gemahlenen. Es war eine schöne Mühle, Holz und Gusseisen. Den Zylinder zwischen die Knie geklemmt, kurbelte sie jetzt jeden Morgen für ihre Frühstücksration Kaffee. Es dauerte ungefähr 74 Sekunden, bis alles durchgekruschelt war, manchmal nur 70. Entweder hatte sie dann schneller gedreht oder eine Bohne weniger eingefüllt. Domkaffee. Guter Kaffee, Fairtrade. Geschenk einer Leserin. So was durfte sie annehmen, das ging. Bei zwei Packungen müsste sie wahrscheinlich erst nach dem Gesamtpreis fragen.

    Wie sie da so vor sich hin kurbelte, dachte sie, wie schön es wäre, heute nicht los zu müssen. Einfach noch frei haben. Und dann: In den blauen Tag hinein leben. Wie das wohl wäre? Es hatte ja nie sein sollen, nicht sein dürfen. Und durfte noch immer nicht sein. Dabei müsste sie es sich nur selbst erlauben, da war doch längst niemand mehr, der ihr einen Vorwurf daraus machen könnte. Was da nicht alles mitschwang, in diesem Du lebst ja in den blauen Tag hinein! Faulheit, Unnützsein, auf anderer Leute Kosten leben. Wieso eigentlich Kosten? Was kostete es irgendwen denn, wenn man mal einen Tag nichts tat, außer den eigenen Impulsen zu folgen, oder eben den nicht vorhandenen Impulsen. Was dann darin mündete, dass man durch den Tag eierte. Von Belanglosigkeit zu Belanglosigkeit. Die in ihrer ganzen Banalität und Unnützheit dann auf einmal doch Bedeutung bekamen. Weil sie eben den eigenen Tag füllten. Ob es ein erfüllter Tag gewesen sein würde, das konnte man noch nicht wissen. Man lebte ja in ihn hinein. Das war doch eigentlich sogar ganz gut: in den Tag eintauchen, sich hineinbegeben, ihn auf sich zukommen lassen, oder nein: sich auf ihn zukommen lassen. Das war ja sogar mutig, weil man gar nicht wusste, was einen erwartete in diesem Tag.

    Und was wäre denn das bessere Gegenteil vom In-den-Tag-Hineinleben? Etwa aus dem Tag herausleben? Wäre das nicht viel schlimmer: diesen Tag zu verlassen, ihn sich selbst zu überlassen – und was dann? Wo wäre man dann selbst?

    Eine Weltflucht gab es, negativ konnotiert, natürlich. Aber eine Tagflucht? Wäre die denn akzeptabel, erwünscht gar? Weil sie ja nur für einen überschaubaren Zeitraum stattfände. Andererseits: Wäre es nicht manchmal recht gesund, aus dem Tag herauszuleben? Einfach, weil es ein außerordentlich grauer, wenn nicht gar beschissener Tag war?

    Die Bohnen waren längst fertig gemahlen, Ina hielt sich trotzdem noch an der Kurbel der Kaffeemühle fest, als sie aus ihren Gedanken wieder auftauchte. Sie schaute aus dem Fenster: Ja, es war ein blauer Tag. Und nun würde sie mal in ihn hineinleben. Nur eben anders. Geschäftig, beschäftigt, tätig. Nützlich. Wie sich das gehört. Aber erst mal in Ruhe frühstücken.

    Bevor sie los musste, nahm Ina das „Lexikon der schönen Wörter von der Fußbank im Flur, setzte sich, schloss die Augen und schlug es auf einer beliebigen Seite auf. Legte den Zeigefinger an eine Stelle auf der linken Seite und guckte: „widerborstig. Ihr Wort der Woche. Sie schmunzelte, zufrieden mit dem Wort und mit sich und wie gut sie zueinander passten. Widerborstig … ​Fast schon ein bisschen zu energiegeladen.

    Unterwegs

    Der Weg zum Zeitungshaus war kurz, zu kurz, um Größeres zu denken. Geschweige denn Motivierendes. Ina radelte ihn noch lustloser als an anderen Dienstagen, nachdem ihr eben dies gerade aufgegangen war: dass heute erst Dienstag war. Die Woche kam ihr ewig vor. Termine gab es kaum, es fand nur wenig statt, Steiningen schien noch im Winterschlaf zu sein. Und Ina hatte keine Ideen. Das war nicht gut, die Woche ohne Ideen zu beginnen. Mit einer eigenen Idee hast du immer eine Ausrede, um Aufgedrücktes abzuwehren.

    Als sie beim Steininger Tageblatt angefangen hatte, war ihr jeden Tag bange gewesen: Was der Chef heute wohl wieder für Aufträge hatte? Was sie heute wohl machen müsste? Bis sie angefangen hatte, sich eigene Themen zu organisieren. Es verschaffte eine gewisse Freiheit. Man machte sich aber auch selber Druck damit. Ein Dilemma.

    Heute fühlte sie sich wieder so ausgeliefert, dem Chef und seinen Einfällen. Der Schwäblinger und Ideen, was der da immer aus dem Hut zieht. Wochenenddienst hatte sie dann auch noch. Wieder nichts los. Sie brauchte noch ein Thema. Irgendwas mit Frühling vielleicht? Bäume … Stadtgrün … Begegnungen im Park … Saisonbeginn im Kleingarten … ​Blödsinn. Was soll das denn? Das konnte sie unmöglich machen. Fehlte bloß noch eine Gartenfeuerumfrage!

    Vielleicht rief ja doch noch jemand an, meistens fiel den Leuten das erst am Freitag ein, dass sie Sonnabend gern die Presse dabei hätten. Aber darauf verlassen konnte man sich auch nicht. Wochenenddienst, das war ihr jetzt immer lästiger. Anstrengend, energieraubend. Würde lieber in Ruhe was kochen, lesen, in den Wald gehen, schon mal den Balkon startklar machen, aufräumen, die alte Erde aus den Töpfen, sie brauchte noch Saaterde für die Tomaten. Wird wohl nichts. Und um die zwei freien Ausgleichstage würde man wieder betteln müssen.

    Wann war sie zuletzt eigentlich widerborstig gewesen?

    In der Redaktion

    Jeder Arbeitstag begann mit Heike. Bei ihr musste man durch. Heike Sommer war so etwas wie

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1