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Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch: Roman
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Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch: Roman
eBook285 Seiten3 Stunden

Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch: Roman

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Über dieses E-Book

Neustadt an der Bille, nahe der Weltstadt Hamburg, zwischen den 50er- und 60er-Jahren. Hier scheint die Welt zunächst noch in Ordnung zu sein. Aber der Schein trügt. Schulstreiks, der Besuch der Beatles in Tremsbüttel, die revolutionäre Popkultur und der Widerstand gegen das Establishment – das alles drängt nun auch in die norddeutsche Provinz. Der engagierte Schuldirektor Traugott Busch ist ein Kämpfer für Fortschritt und Aufklärung. Er setzt den Neubau des städtischen Gymnasiums und pädagogische Neuorientierungen durch. Doch Busch macht sich nicht nur Freunde. Am Ende macht er sich angreifbar und wird zur tragischen Gestalt.
Die 60er sind mehr als APO, Rudi Dutschke, Vietnam-Krieg und Gruppensex – das wird dem Stadt-Chronisten, der in dem Roman in die Rahmenhandlung eingebettet ist, schnell klar. Und er hat nicht unrecht. Atemlos verfolgt der Leser seine Protagonisten auf ihrem Weg durch eine Zeit voller Veränderungen. Eine Art Schelmenroman und eine wunderbare Chronik der Ereignisse.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum30. Sept. 2019
ISBN9783947373444
Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch: Roman

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    Buchvorschau

    Die Beatles, Marx und warme Kuhmilch - H.J. Perrey

    Ende

    Wirtschaftswunder ist wichtiger

    Im Westen ein pompöser Abendhimmel, im Osten der aufgehende Mond. Um mein Büro, hier oben im dritten Stock, haben mich schon viele beneidet. Auch der, der gleich zu Besuch kommt. Er wird an die Tür klopfen, und sein Klopfen ist ein unverkennbares Signal: dreimal kurz und sanft, einmal hart und trocken.

    Nie hat sich Henry Petersen anders angekündigt, wozu auch zählt, dass er mit dem letzten Schlag schon sein rundes Gesicht mit dem schelmischen, fast hätte ich gesagt listigen Lächeln durch den Türspalt schiebt. Atmet er heftig, ist das ein untrügliches Zeichen, dass er auf den Fahrstuhl verzichtet hat.

    Meist wartet er mit einem Bonmot auf, das schon zu erkennen gibt, ob er in ernster Angelegenheit vorbeischaut oder ob es sich lediglich um einen jener Routinebesuche handelt, mit denen er lockeren Kontakt zu seiner Verwaltung hält.

    »Guten Abend. Im Kreml brennt noch Licht?«

    »Nehmen Sie Platz«, sage ich und zeige auf den Sessel, der mittlerweile sein Stammplatz geworden ist: mit dem Rücken zur Wand, so dass er meine Wirkungsstätte mühelos überblicken kann.

    »Ich sah Sie kommen. Sie gingen unsere Shopping Mall entlang, ohne die Auslagen zu beachten, was der Einzelhandel Ihnen nachtragen wird. Sie hatten aber einen Neustädter Landboten unterm Arm, was zu einem geschäftigen Bürgermeister bestens passt.«

    »Ich habe Ihnen die Postille mitgebracht, weil ich dachte, es wäre besser, wenn Sie’s heute Abend schon erfahren. Die SPD setzt Ihnen die Pistole auf die Brust. Sie sollen im Frühjahr fertig werden. Im Herbst soll Ihr Werk druckfrisch auf dem Tisch liegen. Das hat die Fraktion, ohne uns vorher in Kenntnis zu setzen, mir nichts, dir nichts auf die Tagesordnung gesetzt. Wie gesagt: ohne uns vorher zu fragen. Lesen Sie Seite drei. Wahrscheinlich sind die noch immer eingeschnappt, weil wir ihnen die Mittel für die Kindergartensanierung gekürzt haben. Dahinter steckt wieder mal Ihre Rote Cosima, die uns mit ihrer aufmüpfigen Berichterstattung die Weihnachtslaune verderben will. Ich rufe die morgen früh gleich an!«

    »Wieso meine Rote Cosima? Ich pflege hier ein kollegiales Verhältnis, verstehe mich gut mit ihr. Wir haben in puncto Geschichtsschreibung eine gemeinsame Wellenlänge. Sie ist im weitesten Sinne eine gute Freundin. Offiziell spreche ich von meiner Bekannten. Im Übrigen arbeitet sie freiberuflich und liegt eher auf der Linie des Holsteiner Tageblatts als auf der des Landboten

    Petersen lacht ein wenig zu laut. »Da gibt es aber auch andere Versionen, von wegen kollegiale Freundin …«

    »… die Sie hoffentlich nicht sonderlich beeindrucken. Noch einmal: Ich habe ein Verhältnis zu ihr, nicht mit ihr. Wir sind befreundet, auch wenn Sie lachen! Doch zu meinem Werk. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir das Erscheinen meiner Stadt-Chronik an einen bestimmten Termin gekoppelt haben. Als ich vor drei Jahren den Auftrag erhielt, hieß es auch auf Seiten der SPDler, lieber gründlich arbeiten als einen Schnellschuss abliefern. So eine Chronik, oder sagen wir besser: Stadtgeschichte, gönne man sich ohnehin nur einmal im Jahrhundert.«

    Ich hatte die Zeitung aufgeschlagen, wo unter der Überschrift: Neustadt braucht endlich eine Chronik ziemlich nassforsch über meine bisherige Arbeit berichtet wurde. Da gäbe es die verschiedenen Hochzeiten, auf denen ich gleichzeitig tanzen würde. Die Chronik allerdings – teilte der SPD-Chef im Interview mit – sei man allein schon dem wachsenden Tourismus schuldig. Einige zehntausend Euro seien bisher in das Projekt geflossen, jetzt wolle man Ergebnisse sehen.

    Petersen reibt sich die Nase: »Nun lassen Sie sich bloß nicht die Feierabendstimmung verhageln. Das Ganze ist doch ein durchsichtiges Manöver. In zwei Jahren haben wir Kommunalwahlen, da wollen sich die Sozen mit Ihrer Chronik in Szene setzen. Damals allerdings, als wir die Sache anschoben, waren sie strikt dagegen, auch nur einen Euro für solch ein Projekt zu bewilligen. Dabei lag die letzte Chronik über hundert Jahre zurück, hatte die Maße und das Gewicht einer Gehwegplatte und bejubelte unseren umtriebigen Kaiser, Wilhelm den Plötzlichen, auf jeder Seite mindestens einmal.«

    »Darf ich Ihnen was zu trinken anbieten?«

    »Schnaps während der Dienstzeit. Sie bringen mich in Verlegenheit!«

    »Von Schnaps habe ich nicht gesprochen. Ich habe auch Selters.«

    »Sie schätzen mich richtig ein. Die Grünen haben uns seinerzeit zur rauchfreien Verwaltung gemacht. Vom alkoholfreien Rathaus war nie die Rede. Unsere dänische Partnerstadt versorgt uns regelmäßig mit Aalborg Aquavit. Den sollten wir im Geiste der Völkerverständigung nicht schlecht werden lassen.«

    Ich stelle zwei Gläser auf den Tisch, schenke ein. Petersen schnüffelt und nickt mir zu. »Auf unsere dänischen Freunde!«

    Er lacht ausgelassen. Dann holt er tief Luft. »Kennen Sie eigentlich die Geschichte von jener norddeutschen Gemeinde, die – weil es schließlich alle machten – sich eine Chronik spendieren wollte, einige Sponsoren ins Boot holte und schließlich einen angehenden Historiker fand, der seit Jahr und Tag über seiner Doktorarbeit brütete und froh war, endlich einmal für seine staubtrockenen Recherchen honoriert zu werden?«

    Natürlich kenne ich die Geschichte. Deshalb antworte ich entgegenkommend: »Ich bin mir nicht ganz sicher.«

    »Na, dann hören Sie!« Er füllt unsere Gläser nach und reibt sich die Hände. »Also, der Bürgermeister überweist ihm monatlich ein stattliches Sümmchen und freut sich über den tüchtigen jungen Mann, der überdies noch etliche Fahrten ins Landesarchiv und sonst wohin abrechnet. Die Aktenlage allerdings ist miserabel. Die Presseartikel der letzten hundert Jahre sind meist ebenso wenig aussagekräftig wie heute auch. Aus Amts- und Kreisblättern ist meist nur Belangloses herauszufischen. Amtliche Verlautbarungen spiegeln die Banalitäten eines längst vergangenen Alltags wider. Von einem wohlgeordneten Gemeindearchiv kann ohnehin nicht die Rede sein. Als der Geschichtsforscher im Landesarchiv nachfragt, ob es keine einschlägigen Quellen zur Kommunalgeschichte gebe, muss er sich die Gegenfrage gefallen lassen, ob die zuständigen Herrschaften denn jemals etwas abgegeben hätten. Schnell wird offenbar, dass die Verantwortlichen sich zwei Jahrhunderte lang nicht sonderlich für ihre eigene Geschichte interessiert hatten.

    Doch die Uhr tickt, und als man bei dem geplagten Mann anfragt, wann mit der Chronik zu rechnen sei, erlebt er eine waschechte Panikattacke. Er hat wenig Schreiberfahrung, sieht man einmal von seiner Diplomarbeit ab, und hat folglich keine Zeile zu Papier gebracht. Unmengen von Kopien hat er anfertigen lassen oder selbst hergestellt, prallgefüllte Aktenordner angelegt. Aber wie wird daraus ein Buch?

    In einer schlaflosen Nacht, die er neben seiner ahnungslosen Verlobten verbringt, sieht er die düstere Alternative auf sich zukommen: Entweder er fährt ins Rathaus und offenbart sich den lokalen Autoritäten, oder er übergibt sich dem nahegelegenen Baggersee und macht seiner bis dato ehrlichen, aber beruflich verkorksten Existenz ein Ende.

    Morgens beim Frühstück bricht er in Tränen aus und gesteht seiner Verlobten die furchtbare Situation. Die junge Frau, eine Kindergärtnerin, weiß ihn zu trösten. Was er sich nur plage. Die Leute wollten am Ende ein Buch zum Verschenken oder als Zierde für das Regal haben, während andere gern in Büchern schmökerten, eben weil es unterhaltsam sei und immer aufs Neue zu der Einsicht verhelfe, dass früher doch nicht alles besser war. Nicht einmal die Sommer waren länger. Wenn er ihnen solche Einsichten liefere, werde sich keiner beschweren.

    Gesagt, getan: Wenn man Bilder fälschen kann, dann erst recht Dokumente und Quellen aus der guten alten Zeit. Die beiden bringen ihre Laptops in Position und legen los. Manchmal biegen sie sich vor Lachen, wenn wieder ein historisches, bis dato unbekanntes Dokument auf der Festplatte Einzug gehalten hat.

    Vor allem die junge Frau erweist sich als Talent. Da gab es vor zweihundert Jahren eine Feuersbrunst, viel gewaltiger als die bekannte, auf die in der Kirche eine Tafel verweist. Entsetzliche Szenen haben sich abgespielt, alles erinnert an Friedrich Schillers Lied von der Glocke. Die entsprechenden Verse werden zitiert, ältere Leserinnen und Leser werden sich erinnern, zumal die Urgroßeltern das literarische Ungetüm in der Schule auswendig lernen mussten. Und wieder sind zwei Druckseiten gefüllt.

    Auswanderer schrieben über ihre bewegenden Eindrücke aus der Neuen Welt – und, vice versa, bisher völlig unbekannt: Es gibt auch Briefe aus der deutschen Heimat, die von den Lebensumständen der Landarbeiter packende Schilderungen liefern. Leider stammen viele Quellen aus Privatbesitz oder sind fatalerweise im Zuge einer Versteigerung oder Haushaltsauflösung in der Versenkung verschwunden. Sie sind – das wird zutiefst bedauert – nicht mehr verfügbar und wurden durch unsere Chronik gewissermaßen in letzter Minute konserviert.

    Und so geht es weiter. Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg erzählen von dramatischen Vorstößen mitten hinein in die feindlichen Linien von Verdun. Die Revolution 1918/19 verläuft in unserem Städtchen besonders geschichtsbuchreif. Ganze Kapitel aus älteren Chroniken und dem süddeutschen Raum werden entsprechend umgeschrieben und finden Eingang in die rasant anwachsende Arbeit.

    Weiter! Was sich irgendwo in Deutschland abgespielt hat, ereignete sich auch bei uns. Warum nicht! Hitler ist auf Wahlkampfreisen genau dreimal durch unseren Ort gefahren. Jetzt hat er sogar vor dem Rathaus eine Rede gehalten. Die hat er zwar anderswo auch gehalten, aber das schmälert die Bedeutung dieses historischen Ereignisses keineswegs. Und immer sind es faszinierende Menschen, die in der Geschichte und den dazugehörigen Geschichten aus dem Dunkel der Vergangenheit hervortreten.

    Dann kommt der Tag der Präsentation, mit Reden, Grußworten und einer Lesung des Verfassers. Der wird vom Bürgermeister ausführlich vorgestellt, wobei der Verwaltungschef es sich nicht nehmen lässt, die Entstehung des historischen Werks Revue passieren zu lassen. Er tut dies auf seine humorvolle Art, verweist aber auch darauf, wie viele Stunden harter Arbeit in diesem ansprechenden Werk steckten. Er zitiert Neil Postman, denn in keiner seiner Reden darf das erbauliche Zitat fehlen: Die Historiker wissen auch, dass sie ihre Geschichten zu einem bestimmten Zweck schreiben – nicht selten, um die Gegenwart entweder zu verherrlichen oder zu verdammen.

    Ja, es ist rhetorisch die Stunde des Bürgermeisters, der sich von dieser Sentenz gar nicht losreißen kann, seine Gemeinde-Chronik als vorbildlich preist und die Nachbargemeinden ermuntert, Vergleichbares auf den Weg zu bringen. Dabei verrät er kein Geheimnis, wenn er hier und jetzt mitteilt: Es gebe schon Anfragen benachbarter Kommunen, ob der junge Forscher nicht für ähnliche Projekte zur Verfügung stünde. Der wird von der Presse umlagert, beantwortet Fragen, signiert Bücher und fährt gleich danach in den Urlaub.«

    Ich habe geduldig zugehört und mich über Petersens Darstellung amüsiert. Mindestens dreimal habe ich sie schon aus seinem Munde vernommen, und jedes Mal bot er sie anders dar, weil er sie geschickt auf sein Publikum zuschnitt. Mir ist diese Methode schlecht bekommen. Hatten wir Besuch zuhause und die üblichen Geschichten aus Beruf und Freizeit und von der letzten Urlaubsreise waren an der Reihe, weil alles andere abgegrast war, pflegte meine Frau dazwischenzurufen: »Aber das hast du beim letzten Mal ganz anders erzählt. Außerdem war es so und so und nicht anders.«

    »Der eigentliche Clou kommt ja erst noch«, werfe ich ein.

    »Ja, ja! Sie kennen die Geschichte, vermute ich wenigstens. Unser Chronist ist mit unbekanntem Ziel verreist, hat zuvor allerdings alle belastenden Quellen durch den Schredder geschickt. Dann passiert einige Zeit nichts, bis ein pensionierter Realschullehrer beim Bürgermeister vorstellig wird. Der klassische Heimatforscher, der jeden Weg und Steg in seiner Gegend kennt, steht in der Tür: verschroben, kompetent, mit Trachtenjacke und Jägerhut und mit allen Wassern gewaschen.

    Während der Bürgermeister die behutsam vorgetragenen Bedenken flott vom Tisch wischt, gibt der Heimatforscher hartnäckig zu bedenken, dass sein Spezialgebiet Stadtbrände im vorindustriellen Zeitalter seien, speziell im norddeutschen Raum, und dass es jenen ausführlich beschriebenen Brand vom 6. Juni 1799 definitiv nie gegeben habe.

    Kurz und gut: Die Sache wird publik, der Heimatforscher zum gefragten Gesprächspartner von Kommunalpolitikern und Presseleuten. Schließlich kommt der Bürgermeister nicht daran vorbei, die Chronik einem Experten des Landesarchivs vorzulegen, der die Fälschung bestätigt. Der Eklat ist perfekt.«

    »Noch nicht ganz«, wende ich ein. »In der örtlichen Buchhandlung findet die Chronik in den kommenden Monaten einen unerwartet großen Absatz, was die Presse zunächst damit begründet, dass eine solche Fälschung letztlich auch ihren Sammlerwert besitze. Doch das ist nicht die Erklärung. Die Chronik findet mehr und mehr Leser, die stolz berichten, sie hätten das Buch mit Gewinn gelesen. Endlich erfahre man, was sich die letzten Jahrhunderte im Ort ereignet habe. Und trotz aller Fehler (wo kämen die denn nicht vor) biete das gelungene Werk viele Informationen und sei spannender als der frühere Unterricht des besserwisserischen Realschulpaukers.«

    Petersen kippt seinen Aalborg hinunter und sieht mich spöttisch an. »Ich hoffe, dass Sie nicht in einen solchen Konflikt von Dichtung und Wahrheit geraten. Ich wohne seit ewigen Zeiten in Neustadt. Mir würden Sie nichts vormachen. Wenn Sie nichts dagegen haben, werfe ich vor der Drucklegung einen Blick ins Manuskript. Verstehen Sie das nicht als Misstrauen. Doch Kommunalgeschichtsschreibung ist manchmal schwieriger zu betreiben als die Geschichtsdarstellung auf nationaler Ebene.«

    »Ich erwarte Ihre kritische Begutachtung mit klopfendem wie freudigem Herzen.«

    »Vor allem behandeln Sie die letzten sechzig Jahre nicht so stiefmütterlich. Die Nazis dürfen nicht verschwiegen werden, das ist klar. Die haben sich mit ihren zwölf jämmerlichen Jahren einen festen Platz in der Geschichte der letzten tausend Jahre gesichert. Ebenso unverzichtbar ist das Kaiserreich. Ob Feuerwehr, Schützen-, Gesangs- oder Sportverein – sie haben alle ihre Wurzeln in der guten alten Zeit. Die Leute wollen Groß- und Urgroßvater in Uniform und Pickelhaube sehen. Was kucken Sie zur Tür? Haben Sie Angst, dass uns jemand hört?«

    Ich schüttle den Kopf. »Ich lausche Ihren Ausführungen, die ich an Ihrer Stelle bei der Präsentation meines Buches nicht wiederholen würde.«

    »Wird schon nicht passieren, denn ich gehe davon aus, dass Sie mir die Rede schreiben werden. Oder ist das zu viel verlangt?«

    »Abgemacht!«

    »Prosit! Was ich aber sagen wollte: Ist der Wiederaufstieg nach 1949 nicht ebenso wichtig? Das, was man zu Recht als Wirtschaftswunder tituliert hat, waren doch ebenso verrückte wie erfolgreiche Jahre. Die kann nur einer schlechtreden, der sie nicht miterlebt hat. Die 60er sind mehr als APO, Rudi Dutschke, Vietnam-Krieg, Pille und Gruppensex.

    Sie grinsen, aber Spaß beiseite. Manchmal denke ich, wir waren damals weiter. Wenn wir heute etwas von diesem 60er-Geist hätten: von der Aufbruchsstimmung, dem Glauben an die Zukunft und dem Vertrauen in Technik und Fortschritt! Wann sind die früher nicht zu befahrenden Feldwege asphaltiert worden? Wann wurde die Kanalisation für die gesamte Stadt fertig? Ebenso der Bau der Kläranlage. Vom Neubau des Gymnasiums will ich gar nicht reden. Wir haben drei Gewerbegebiete, fünf Neubaugebiete geschaffen. Das sind doch Errungenschaften, die irgendwie gewürdigt werden müssen.«

    »Ich stimme Ihnen zu. Aber wo bleibt der Mensch bei so viel Daseinsvorsorge?«

    »Das ist eine andere Frage. Da müssen Sie einzelne Familiengeschichten ausleuchten.«

    »Die ewigen Großbauern- und Handwerkerdynastien.«

    »Sind die etwa nicht erwähnenswert?«

    »Ich meine die normalen Menschen, die hier lebten oder leben mussten. Die hier scheiterten oder von bestimmten Leuten zu Fall gebracht wurden. Für die Neustadt an der Bille nichts Erinnerungswürdiges hat. Wenn man auf eine bedrückende Jugend zurückblickt, ist das immer an eine Zeit wie an einen Raum gekoppelt. Das müsste der Geschichtsforscher freilegen. Einer unserer bedeutenden Kommunalhistoriker hat in diesem Zusammenhang von der Rückkehr des Menschen in die Geschichtsschreibung gesprochen. Das war 1993. – Mir fällt der Name Busch ein, der langjähriger Direktor des Gymnasiums war. Hat es seinerzeit nicht so etwas wie einen Fall Busch gegeben?«

    »Mein lieber Schreiber, nun machen Sie bloß kein neues Fass auf. Das hat damals viel Wirbel gegeben, interessiert heute aber niemanden mehr. Lassen Sie mal die Kirche im Dorf. Das Wirtschaftswunder ist wichtiger!«

    »Und dann stößt man immer wieder auf den Namen Osswald …«

    »… ist ein ehrenwerter Mann, hat als Unternehmer, Kommunalpolitiker und Investor viel für diese Stadt getan. Dabei sollte es bleiben. Treten Sie bloß keinem allzu doll auf die Füße. Es gibt eine nicht unerhebliche Zahl von einflussreichen Politikern, die würden Sie lieber heute als morgen loswerden. Ein Chronist lässt sich gut einsparen. Das geht ratzfatz, und Sie sitzen wieder in der Schule, aus der ich Sie damals befreit habe.«

    Petersen gegangen, die Aalborg-Flasche leer. Der Abendhimmel tiefschwarz, der Mond hinter Wolken verborgen – ich bin wahrscheinlich mal wieder der Letzte im Haus. Alles kein Grund, mich zu beneiden.

    Paula packt aus

    [NACHLASS KONRAD ADELSTORFF]

    Ich hielt am ersten Sonntag des Monats meinen üblichen Vortrag im großen Speisesaal des Seniorenstifts. Mittels einer Power-Point-Präsentation unternahm ich auch dieses Mal virtuelle Ausflüge in die Stadtgeschichte. Am Ende der gutbesuchten Historischen Matinee beantwortete ich Fragen und kommentierte ergänzende Bemerkungen, insbesondere die älterer Herren, die meine Veranstaltungen gern als Gelegenheit nutzten, sich einmal ungebremst reden zu hören.

    Das alles erforderte viel Vorbereitung und ging zu Lasten meiner Chronik. Auf der anderen Seite war schon so manches historische Juwel zutage gefördert worden, das meine Arbeit bereicherte. Dieses Mal war mir eine ältere Frau aufgefallen, die mich kritisch zu mustern schien, sich aber an den Gesprächen nicht beteiligte. Erst als ich meine Sachen schnell zusammenpacken wollte, denn es roch schon nach Vorsuppe und die Tische um uns herum waren bereits eingedeckt, trat sie an mich heran.

    Ob ich einen Augenblick Zeit hätte. Ihr Name sei Paula Adelstorff, sie könne mir wichtige Informationen über Direktor Traugott Busch liefern. Sie sei mit dessen Sohn Konrad verheiratet gewesen. Ich hätte Traugott zwei-, dreimal erwähnt. Da gäbe es noch sehr viel mehr zu sagen.

    Ich hatte meine Packerei unterbrochen und teilte ihr mit, dass ich seit einiger Zeit auf der Suche nach einschlägigen Unterlagen sei. Wenn sie mir dabei helfen könne, käme ich einen großen Schritt weiter.

    Wir verabredeten den kommenden Donnerstag. Ich stand pünktlich vor einer der Villen in der Bismarckallee, unserem Preußenviertel, das von Moltke, Roon, Wrangel und anderen Größen unserer Militärgeschichte kündete. Ich wurde von meiner Gastgeberin mit einer liebenswürdigen Geste hereingebeten. Wie es meine Art ist, nahm ich trotz einer freundlichen Aufforderung nicht gleich Platz, sondern sah mich um und entdeckte auf diese Weise im Bücherregal ein Foto, das einen Mann mittleren Alters zeigte.

    »Das ist er!«, rief Frau Adelstorff. »Kennen Sie die Aufnahme? Es zeigt ihn gewissermaßen auf der Höhe der Macht, Mitte der Sechzigerjahre. Ich glaube allerdings, das Foto hat Seltenheitswert. Ich wüsste niemanden, der eine Kopie davon besitzt. Ja, wenn Hermann noch etwas dazu sagen könnte, Hermann Schrotmüller, der die Schule abbrach, um Fotograf zu werden. Das hing mit seinem Vater zusammen, der ganz plötzlich verhaftet wurde. Schreckliche Geschichte. Sollte man vielleicht gar nicht wieder aufrollen.«

    »Erstaunlich«, fügte ich hinzu, wobei ich meiner Gastgeberin bis in die Küche gefolgt war.

    »Ich glaube, es lag an seinem fehlenden Arm, den Traugott gern verdeckte. Er empfand das als Makel. Schöne Männer sind oft eitel. Es hat einige Jahre gedauert, bis er sich mit seinem Schicksal arrangiert hatte. Überhaupt liebte er das Leben. Trübsal blasen war seine Sache nicht. Er war ständig in Aktion. Stillstand verabscheute er.«

    »War es eine Kriegsverletzung?«

    »Ja, er kam armamputiert nach Hause und wurde zunächst von depressiven Stimmungen heimgesucht, die er aber schnell in den Griff bekam. Nehmen Sie doch Platz. Kuchen? Ich erhielt vor einigen Tagen einen Anruf von Konrad …«

    »Ihrem geschiedenen Mann!«

    »Ja, ich habe die Vermutung, das hängt mit Ihnen zusammen und dem, was über Sie in der Zeitung stand.«

    »Was wollte er denn?«

    »Konrad ist Eigentümer des Nachlasses. Er ist misstrauisch gegenüber jedem, der ihm in die Quere kommt. Er wollte immer die Geschichte seines Elternhauses schreiben, ist jedoch nicht weit gekommen. Zu viele Unterlagen sind im Laufe der Jahre verschwunden. Zudem schien Konrad der Auffassung zu sein, dass er sich im alleinigen Besitz der historischen Wahrheit befände. Er kann

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