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Gelebt
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eBook230 Seiten3 Stunden

Gelebt

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Über dieses E-Book

Thela Mers, Anwältin und zweifache Mutter, ist gut damit beschäftigt, den Alltag zu managen. Als sie sich darauf einlässt, Ihre Oma Martha auf eine eintägige Dienstreise nach Dresden mitzunehmen, ahnt sie noch nicht, dass es mehr als nur das werden wird. Auf dem Weg berichtet ihr Martha vom einstigen Bauernleben in der ehemaligen DDR. So lässt sie für Thela eine bisher unbekannte Vergangenheit, geprägt von harter Arbeit und viel Natur, lebendig werden. Thela erlebt das heutige und das damalige Dresden und die wunderbare Landschaft des Elbsandsteingebirges. Sie lernt die junge Martha ebenso wie ihren Großvater kennen. Doch als Martha von Krebs, Würde im Alter und Selbstbestimmung redet, zieht sich Thela verwirrt zurück. Plötzlich ist sie mit Themen konfrontiert, über die sie sich zuvor selten Gedanken gemacht hat. Sie fühlt sich überfordert und verlangt nach Ruhe. Doch ihr aktueller Mandantenfall hilft ihr dabei ebenso wenig wie ihr alter Freund Michael.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum26. Feb. 2020
ISBN9783750225725
Gelebt

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    Buchvorschau

    Gelebt - Josephine Odrig

    Glück

    Der Himmel strahlte in einem Blau, das an Vergissmeinnicht erinnerte. Die Sonne liebkoste die unzähligen Ähren auf dem Feld und eine leichte Brise wiegte sie sanft. Eine grau gestreifte Katze schlich langsam durch das satte Grün der Wiese und die Blumen erschienen wie die bunten Farbtupfer auf einem impressionistischen Gemälde.

    Sie hielt die Augen geschlossen. Außer dem gelegentlichen Ruf eines Falken umgab sie eine vollständige Stille, wie sie nur den heißen Sommertagen eigen ist. Alles Leben ging träge voran, die wenigen Geräusche verschluckte die flirrende Luft wie ein Fisch im Wasser seine Beute. Als sie ihre Augen langsam zu schmalen Schlitzen öffnete, flimmerten weiß-goldene Lichter davor. Die filigranen Blätter der Weide bewegten sich leicht im Wind und erzeugten im Blätterdach über ihr die wunderbarsten Glitzermomente. Es war, als würden Sonne und Weide ihr die schönsten Augenblicke schenken wollen. Momente, in denen nur das glitzernde Licht zwischen den zarten Blättern zählte. Momente, in denen nur sie allein im Schutz der Weide das Leben in sich einsog und alles herum vergaß.

    Sie hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und betrachtete die alte, knorrige Weide. Was hatte sie schon alles gesehen? Wie viel Wasser hatte ihre Wurzeln bereits umspült? Das Mädchen setzte sich auf und betrachtete die zerfurchte Rinde des Baumes. Und plötzlich zog vor ihrem inneren Auge ihr eigenes Leben vorbei. Das vergangene und auch das zukünftige. Und dann kam das ihrer Mutter. Und ihrer Großmutter. Und ihrer Kinder. Und es war wie in einer Geschichte, die den Bogen über mehrere Generationen spannte. Ihr wurde die Vergänglichkeit, ihre eigene, aber auch diejenige allen Lebens auf der Welt, bewusst. Sie war ein klitzekleiner Teil, ein kleines Wesen auf dieser großen Welt im Rad der Zeit. Und dennoch fühlte sie sich nicht unbedeutend. Im Gegenteil, nur wenn alle Teile da waren und die Welt so erlebten, wie sie war, mit allem was dazugehörte, nur dann hatte die Erde und das Leben auf ihr einen Sinn. Das war das Beste und Größte, was es für den Menschen gab: sein Leben.

    Sie hatte sich auch schon oft die Frage gestellt, wo sie vor ihrer Geburt gewesen sein mochte. „Quark im Schaufenster", pflegte ihre Mutter dann zu sagen. Doch was sollte das sein? Und wo? Saß sie davor ebenso wie nach Lebensende auf dem Schoß Gottes? Oder daneben? Aber wie sollte das gehen, gab es doch so viele Menschen, die ebenfalls ein Anrecht darauf hatten. Und was machte sie dort überhaupt den ganzen Tag? Oder war Zeit relativ? Ihre Gedanken drehten sich immer mehr und die Fragen gingen immer tiefer.

    So stand sie mit einem Ruck, der alle Grübeleien abschütteln sollte, auf und ging zum Bach. Sie stellte sich mit ihren nackten Füßen in das kühle Nass und ließ das Wasser sanft ihre Knöchel umspielen. Das war eine Liebkosung der Natur, die sie vor allem an solch heißen Tagen in vollen Zügen genoss. Sie setzte sich auf den großen Stein am Ufer und stützte den Kopf auf die Hände. Sie starrte in das Wasser und verfiel fast in eine Art Trance, ausgelöst durch die sanften Wellen des dahinplätschernden Wassers. Der Duft des Weizens stieg ihr in die Nase, gefolgt von einer Mischung aus Nässe, frischem Gras und Weidenrindengeruch. Ein Schmetterling tanzte knapp an ihrem Knie vorbei, dem Wasserlauf folgend. In der Ferne hörte sie eine Kuh rufen. Ein kleines Stöckchen trieb im Wasser. Im Wind umspielte ihr Haar sanft ihr Gesicht.

    Ein Moment, den sie für sich mit dem Herzen fotografierte, umschloss und gut aufbewahrte, sollte es jemals anders werden.

    TEIL 1

    Pflaumenbaum

    In Nachbars Garten im Pflaumenbaum

    da rauschte leise der Wind

    Er ließ mich träumen von der Zeit

    als ich noch war ein Kind

    Wie oft saß ich in diesem Baum

    Ein Spielzeug war’s für mich

    Der gleiche Wuchs so groß und frei

    erinnert mich an dich

    Geschaukelt hab ich oft an ihm

    und fiel auch mal herab

    bekam da leider keine Luft

    da lief die Oma Trab

    Das Klettern fiel mir niemals schwer

    mit Lust war ich dabei

    das kann ich leider niemals mehr

    die Jugend ist vorbei

    Gedanken wandern nur zurück

    beim Anblick dieses Baums

    die schöne Zeit ist nun vorbei

    es bleibt nur noch ein Traum.

    Erika Renger

    Kapitel 1

    Februar 2016, bei Nürnberg

    Thela stellte die Musik lauter. Sie lenkte den Wagen rückwärts aus der Parklücke und fuhr zum Ausgang, schob die Karte in den Schlitz, wartete und entnahm sie wieder. Langsam öffnete sich die Schranke. Sie legte den ersten Gang ein und fuhr auf den Fußweg vor. Ein Radfahrer zwang sie zum Halten. Dann kam eine lange Reihe Autos und Lkws. Nach gefühlt fünf Minuten konnte sie sich endlich in den Straßenverkehr einreihen. Es war 15 Uhr und jede Menge Fahrzeuge waren unterwegs. Dankbar, dass sie auf diese Weise vom Arbeitsstress abgelenkt wurde, ließ sich Thela von der Autoschlange mitschieben. Die Musik spielte eines ihrer Lieblingslieder aus den 90ern. Sie sang mit, während sie das Auto durch die Stadt lenkte.

    Zehn Minuten später war sie auf der wenig befahrenen Bundesstraße angelangt und so schweiften ihre Gedanken wieder zur Arbeit. Sie hatte ein völlig unnötiges Meeting mit ihren Kollegen gehabt, in dem heftig diskutiert worden war. Allerdings ohne Ergebnis. Stattdessen zog es sich in die Länge. Thela war dann einfach gegangen. Zum Glück hatte sie einen anerkannten Grund dafür. Aber das Meeting warf sie, neben den drei Mandantengesprächen heute, zeitlich zurück. Sie hatte eine Klage einzureichen. Und Montag lief die Frist ab. Nur leider konnte sie bis jetzt weder die notwendigen Recherchen betreiben noch den Text verfassen. Also hatte sie die Wahl: Abgabe einer völlig unzureichenden Klageschrift, Wochenendarbeit oder die Hoffnung, dass sie es Montag schaffen würde. Immerhin konnte vielleicht Jo am Montag die Kinder übernehmen. So bliebe ihr wahrscheinlich noch genug Zeit – wenn nicht etwas dazwischenkam. Was nicht abwegig war. Immerhin war Februar. Und ihr Hals kratzte schon wieder gewaltig.

    Sie hasste diesen Termindruck. Normalerweise gab sie notwendige Schriften etwas vor Fristende ab. Aber gelegentlich hatte sie so viel zu tun, dass sie es einfach nicht eher schaffte. Denn im Gegensatz zu den meisten ihrer Kollegen konnte sie selten Überstunden machen. Obgleich Jo ab und zu die Kinder übernahm, auch er musste seine Arbeitszeit schaffen. Und ihre Eltern hatten auch zu tun. So blieb es an ihr, sich um die Kinder zu kümmern. Was ihr ja Spaß machte. Nur hatte der Tag ab und zu einfach zu wenig Stunden.

    Wahrscheinlich sollte sie Jo vor die Wahl stellen: Entweder Wochenendarbeit und er kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt oder sie konnte Montag lange machen. Denn eine unzureichende Klageschrift nur zur Fristwahrung einzureichen, das wäre nicht ihr Stil und würde gegen ihre Prinzipien laufen.

    Im Radio ertönte der Gong zur Anzeige der Nachrichten. Wieder stand die deutsche Flüchtlingspolitik an erster Stelle. Dieses Mal debattierten die Abgeordneten das „Asyl II"-Paket im Bundestag. Die Nachzugsproblematik.

    So interessant und zugleich schwierig dieses Thema sein mochte, die Nachrichten zeigten Thela an, dass sie wieder einmal zu spät kam. Sie stellte ihr Auto vor der KiTa ab und beeilte sich, noch vor Anspringen der automatischen Türverriegelung im Kindergarten anzukommen. Doch leider blieb ihr auch dieses Mal ein peinliches Klingeln nicht erspart.

    Lina kam auf ihre Mutter zu gerannt und ließ sich in deren Arme fallen. „Hallo, Mami. Der Tobi hat mich heute geärgert. Immer will er mich fangen…", und schon sprudelten die Worte nur so hervor. Ohne Unterbrechung erzählte Lina ihr vom gesamten Kindergartentag. Solch unwichtige Sachen, ob sie heute draußen waren, ob sie ihr Mittag vollständig aufgegessen oder heute geschlafen hatte, blieben natürlich unerwähnt. Vielmehr wurden nur die wichtigen Details ausführlich berichtet: Welche ihrer Freundinnen dieses Mal das Prinzessinnenkleid tragen, wer heute zum Prinzen auserwählt wurde und welch köstliches Essen sie den Erzieherinnen vorgesetzt hatte – man nehme einen Plastikmuffin, viel fiktiven Ketchup darauf und etliche Wollnudeln dazu.

    Thela kam es oft so vor, dass sie einen Teil ihres Lebens vor der Kindergartentür ab- und dafür den anderen Teil hinter der Tür überstreifte. All ihre Gedanken zur Arbeit waren nicht mehr wiederzufinden. Stattdessen kreiste ihr jetzt im Kopf, wo denn Linas zweiter Schuh geblieben war, ob sie auch alles eingepackt hatten und wie die Nachmittagsgestaltung ausfiel. So wandelte Thela für den restlichen Tag im Mutter- und Hausfrauenkleid umher und genoss den anderen, den „Mutter-Stress".

    „Hallo, mein Schatz, Thela küsste ihren großen Sohn auf die Wange und drückte ihn. „Hast Du schon die Hausaufgaben fertig? Jonas schüttelte den Kopf. Er war jetzt sieben Jahre alt und besuchte die zweite Klasse. „Wann sollte ich die denn machen? Bin doch eben erst reingekommen! Und im Hort hat Sandro wieder so viel Blödsinn gemacht. Es war wieder so laut. Und dann mussten wir noch die Autotunnel fertig bauen!" Thela nickte. Sie schaute auf die Uhr und rechnete nach. Noch eine Stunde, dann würde auch Jo zu Hause sein. Bis dahin sollte sie vielleicht ein wenig Hausarbeit erledigen, sodass sie die Kinder im Auge hatte. An Hinsetzen und Ausruhen war sowieso nicht zu denken.

    „Mama, ich hab Hunger! Jonas ließ sich rücklings über die Couchlehne fallen und versuchte sich im Handstand. Dabei krachte er, wie zu erwarten, vom Sofa hinunter, gerade so neben den Couchtisch. Er sprang gleich wieder auf und lachte sein „Ich-mache-gerade-Blödsinn-und-finde-das-toll-Lachen. „Mama, spielst Du mit mir und Lore?, Lina stand in der Tür und hielt ihre Puppe in der Hand. Sie schaute Thela mit ihren großen Augen erwartungsvoll an und … „Mama, ich will was eeesseeen!!!, Jonas sprang zum zweiten Mal in einer halsbrecherischen Haltung vom Sofa und rannte zu ihr. Er konnte nicht gehen. Jonas musste immer rennen. Als müsste er immer der erste sein – auch dort, wo niemand sonst war.

    „Jonas, hör auf mit dem Springen und schrei mich nicht so an! Du bekommst gleich ein Brot. An Lina gewandt sagte Thela: „Du, ich habe jetzt keine Zeit. Schau mal, dass Du was alleine spielst. Oder magst Du mir helfen? Ich habe noch viel zu tun. Lina schüttelte den Kopf und schaute sie böse an. „Vielleicht kannst Du ja später mit Jonas spielen. Wenn er seine Hausaufgaben gemacht hat. Und Papa kommt dann auch bald. Thela wandte sich in Richtung Küche: „Ach übrigens, wir müssen noch etwas vorbereiten. Oma hat doch morgen ihren Geburtstag. Jonas, kannst Du schon ein Lied oder ein Gedicht? Jonas folgte ihr schmollend in die Küche. „Och nein, nicht schon wieder was lernen! Außerdem will ich was Süßes!"

    Im Wohnzimmer ertönte ein spitzer Schrei und dann packte Lina die höchsten Töne ihrer Wut aus. Thela stöhnte innerlich und sehnte Jos Feierabend herbei.

    Fünfzehn Minuten zu spät. Für Thela, die Unpünktlichkeit hasste, wieder eines dieser Ärgernisse, die das Familienleben mit sich brachte. Es machte sie rasend, dieser Stress vor einem Termin, einer Feier oder einer großen Fahrt. Immer wieder die notwendige Organisation, Planung und Hektik. Immer wieder Stress. Wenn sie irgendwann einmal beide Kinder aus dem Haus hatten – was wäre das für eine Ruhe. Und endlich keine Unordnung mehr.

    Sie hatte sowieso schon Halsschmerzen gehabt, jetzt ging die Tendenz zur Stimmlosigkeit. Dieses ständige anweisen, schimpfen, reden. Immer wieder dasselbe. Immer wieder die gleichen Litaneien. Wahrscheinlich war genau dies die Kunst der richtigen, der guten Erziehung: Nicht aufgeben!

    Jedenfalls waren sie jetzt endlich angekommen. Mit fünfzehn-minütiger Verspätung wohl gemerkt. Als sich die Haustür öffnete und Thela ein wenig später den gedeckten Kaffeetisch entdeckte, war ihr klar, dass Oma Martha auch dieses Mal ungeduldig gewartet hatte. Und wie immer waren sie die Letzten.

    Thela sollte es einmal schaffen, bei einer Feier den Kaffeetisch schon gedeckt zu haben, wenn die ersten Gäste erschienen. Vielmehr war sie jedes Mal froh, wenn im Bad alle Armaturen getrocknet waren und sie den Putz-Look gegen festliche Kleidung getauscht hatte. Auch das würde sich – hoffentlich – mit dem Auszug der Kinder bessern. Irgendwann einmal.

    Jetzt saßen alle fröhlich am Tisch und genossen die Köstlichkeiten, wie etwa die leckere Eierschecke. Das Rezept hatte Martha aus ihrer Heimat mitgebracht und variierte es bei jeder Feier: einmal Dresdner Eierschecke pur, dann mit Mohn und ein andermal mit Stachelbeeren. Und alles schmeckte köstlich.

    Thela blickte sich um und stellte zufrieden fest, dass sowohl Lina als auch Jonas ruhig auf ihren Plätzen neben den Großeltern saßen und ihre Kuchenstücke und Kekse verdrückten. Zuvor hatten sie ihre Lieblingsoma Heidi und ihren Lieblingsopa Thomas ausgelassen begrüßt und sie mit Erzählungen über Schule, Kindergarten, Freunde und Co. überschüttet. Diese freuten sich jedes Mal sehr, wenn sie Zeit mit ihren Enkelkindern verbringen konnten. Und für Thela und Jo war es eine enorme Erleichterung.

    „Na, meine liebe Thela, wie geht es Euch denn so?" Oma Martha blickte sie erwartungsvoll an und erst jetzt registrierte Thela, dass sie angesprochen wurde. Sie erzählte ein wenig von ihren Kindern. Ein paar Anekdoten gab es da immer zu berichten. Aber Oma interessierte sowieso alles, was ihre Urenkel anging. Allerdings war sie auch den ganzen Tag allein. Den dadurch angestauten Redeschwall bekam Thela zu spüren, als sie anfing von ihrem Job zu berichten. Martha unterbrach sie dann und informierte sie wie so oft über ihre unzähligen Termine – Ärzte, Geburtstage, Rommeerunden. So beherrschte also bald sie das Gespräch und Thela freute sich, einmal nicht reden zu müssen. Ihr Hals würde es ihr danken.

    Später wurden wie immer Spiele gemacht. Die Kinder waren eifrig bei der Sache. Besonders die „stille Post" ließ beide mehrfach losprusten. Auch Martha genoss es. Sie machte jeden Spaß mit, schien sich prächtig zu amüsieren und lachte lauter als alle anderen. Das steckte bald die ganze Gesellschaft an, sodass es insgesamt eine sehr lustige Runde wurde. Thela dachte hinterher, sie hatten wohl lange nicht mehr eine so vergnügliche Familienfeier gehabt. Auch den einstudierten Vorträgen der Kinder merkte man ihren anfänglichen Protest nicht an. Martha freute sich, wie zu erwarten, wieder sehr über ihre Urenkel. Auch wenn Thela meinte, ein wenig Wehmut in Marthas Blick erkannt zu haben, als Jonas sein einstudiertes Lied zum Besten gab.

    Kapitel 2

    Als Martha aufwachte, wusste sie nicht, wo sie sich befand. Sie öffnete die Augen. Alles war dunkel. Nur durch die schmalen Schlitze der Rollläden drang das spärliche Licht der Straßenlaternen.

    Jetzt fiel es ihr wieder ein. Natürlich, wo sollte sie auch sein. Seit Jahren war sie jeden Morgen in ihrem Haus aufgewacht. Wieso sollte es heute anders sein? Und dann kam ihr der gestrige Tag wieder vor Augen. Ihr Geburtstag. 77 Jahre. Ganz schön alt. Und doch staunte sie manchmal, dass es immer mehr Menschen wurden, die jünger waren als sie und immer weniger, die älter waren. Dabei konnte sie sich noch so gut an längst vergangene Ereignisse erinnern. Als wäre das gestern gewesen und nicht ihr 77. Geburtstag.

    Martha wollte aufstehen. Wie immer war es viel zu früh am Tag. Aber ihr Kopf drängte. Doch ihr Körper rebellierte. Jedes ihrer Körperteile schien zu schreien: Ich bin müde! Lass mich noch schlafen! Sie spürte, dass ihre Arme und Beine einfach nicht wollten. Sie wollten einfach liegen bleiben. Ruhe haben. Das Nichtstun genießen.

    Martha überlegte, was sie heute alles zu tun hatte. Es war so viel aufzuräumen. Die Essensreste waren zum Glück schon verstaut. Doch das Geschirr wartete, in der Spülmaschine und daneben. Tische und Stühle mussten wieder an ihre Plätze. Und gegen neun Uhr kamen Thomas und Heidi zum Helfen. Bis dahin wollte sie schon einen großen Teil geschafft haben. Sie musste also aufstehen.

    Martha setzte sich auf und lehnte sich an das Kopfende des Bettes. So saß sie und schaute zum Fenster. Kein Laut von draußen. Ruhe. Dunkelheit. Nicht einmal die Finsternis entfernte sich langsam. Sie blickte auf die Uhr. Kein Wunder – es war kurz nach sechs. Es würde noch gut eine Stunde dauern bis es hell wurde. Sie rutschte ein Stückchen in ihre Kissen zurück. Ihre Arme fühlten sich an, als würden sie heruntergezogen. Wieder ins Bett hinein. Und den Beinen erging es ebenso. War sie gestern tatsächlich keinen Marathon gelaufen? Ihr ganzer Körper wollte liegen bleiben. Aber das Geschirr wartete. Und es musste unterm Tisch gesaugt werden. Lina war gestern nicht die Einzige gewesen, die ihr Essen auch dort verteilt hatte. Auch die Küche war zu

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