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Isarvorstadt: Eine Münchner Geschichte
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eBook240 Seiten3 Stunden

Isarvorstadt: Eine Münchner Geschichte

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Über dieses E-Book

Für Charlotte Kleeblatt, Kind aus gutem Hause und Möchtegern-It-Girl, ist die bayerische Landeshauptstadt das Königreich, in dem sie eine Welt aus Glitzer und Glamour nach ihren Vorstellungen regieren möchte. Sie will um jeden Preis die Königin der Dolce Vita werden. Nichts soll sie aufhalten auf ihrem Weg an die Spitze – nicht ihre Mutter, die ihr das sagenumwobene Marienkleid nicht geben will, nicht ihr Love-Interest Moritz Roth, der in ihre beste Freundin Theresa Held verliebt ist, und schon gar nicht ihre BFF selbst! Die ist nämlich keusch, egal, was ihr Bettie-Page-Look den jungen Stenzen vormacht. Veith Haug, ein abgebrühter Szenejournalist eines Müncher Stadtmagazins, würde für eine richtig gute Skandalgeschichte seine Großmutter verkaufen. So eine Skandalgeschichte hat Romina "Romy" Oberhausen in petto: Ihre Affäre mit einem verheirateten Mann kostet sie fast das Erbe ihres Bruders Lino. Aber diese Kids haben genug Geld, sich aus diesen verzwickten Situationen frei zu kaufen – oder nicht?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Sept. 2012
ISBN9783942920629
Isarvorstadt: Eine Münchner Geschichte

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    Buchvorschau

    Isarvorstadt - Simone Bauer

    Rich«

    Weil man absolut nichts mit ins Grab nehmen kann

    Charlottes Geschichte

    »Auf jedem Begräbnis gibt es einen guten Lacher.«

    Während ich an die Worte von Marcus Wiebusch dachte, war mir schon wieder zum Kichern zu Mute. Diese ganze Geschichte war so surreal, warum sollte sie auch gerade wirklich geschehen? Es war wie ein dummer, schlechter Traum. Ich wollte und konnte nicht akzeptieren, dass es wahr war, dass es wirklich Lino war, der in diesem schwarzen Sarg lag, der gerade langsam in ein zwei Meter tiefes Loch gelassen wurde. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er nicht mehr war. Tot. Der junge Mann, den ich mit 14 am Ufer des Starnberger Sees geküsst hatte, mein allererster Kuss, er war gerade erst 16 geworden. Wie aufregend, mit einem älteren Typen rumzuknutschen, noch dazu einem so attraktiven! Lino, der immer dabei gewesen war, bei jeder Feier, zu jedem Anlass. Er hatte so zum Inventar gehört wie meine Valentino-Handtasche, die ich gerade jetzt besonders fest an mich presste, weil ich mich an irgendetwas festhalten musste.

    Das Lachen erstickte in meinem Hals und wich einem tonnenschweren Seufzer. Ich wollte weinen, lachen, den Kopf schütteln, sagen: »Was für ein schlechter Scherz, Leute, Lino, komm raus aus deinem Versteck!«

    Aber natürlich versteckte er sich nicht. Der Tumor in seinem Kopf war echt gewesen.

    Neben mir stand Theresa Held und starrte ins Leere. Ihr dichtes, schwarzes Haar, das unter der strahlenden Sonne glänzte, hatte sie unter ein schwarzes Hütchen geschoben, ein schwarzer Schleier hing über ihren grünen Katzenaugen. Man kam nicht umhin, ihr die Ähnlichkeit mit Bettie Page anzusehen, auch, wenn sie von dem verruchten Lebensstil eines Pin-Ups weit entfernt war. Ihre scharlachrot lackierten Lippen zitterten genauso wie ihr dünner, blasser Körper, auch sie haderte mit sich, ob sie der ganzen Geschichte nun glauben sollte oder nicht. Es war unvorstellbar, dass wir wirklich gerade Lino zu Grabe trugen. Dass ausgerechnet diese gute Seele so einen kaputten Körper gehabt hatte. Theresa hätte jetzt bestimmt gesagt, Gott hätte ihn zu sich geholt, weil er einen guten Freund brauche. Schwachsinn. Unfair war das.

    Wir hatten nicht damit gerechnet. Wir wussten, dass er krank gewesen war, aber wir hatten auf all die Spezialisten vertraut, die sich um ihn gekümmert hatten. Er hatte exzessiv gearbeitet, gefeiert und sein Leben in vollen Zügen genossen. Und am Ende hatte das ganze Geld ihn dann doch nicht retten können.

    Sein Tod war dann von heute auf morgen passiert. Ich hatte mir die Details nicht anhören können, genauso wie ich mich vor Weltuntergangsfilmen verschloss – es war zu grausam.

    Es war uns allen in unseren schwarzen Kostümen und Anzügen viel zu heiß, wir schwitzten hinter verspiegelten Sonnenbrillen und unter eleganten Hüten. Die Trauerweide über Linos Grab spendete uns nicht den geringsten Schatten. Eigentlich sollten wir weg vom Schwabinger Nordfriedhof, Richtung Starnberger See, raus aus Munich City mit all ihren Sperenzchen, uns unter der Sommersonne vergnügen und plantschen. Stattdessen beerdigten wir einen unserer besten Freunde.

    So hart wie es für uns auch war, umso schlimmer war es für Romina Oberhausen. Sie hatte etwas Aristokratisches an sich, wie sie mit ihrem brünetten, geflochtenen Haar auf dem kerzengeraden Ballerinahaupt dastand – und litt. »Romy«, wie wir sie alle nannten, war Linos um zwei Jahre jüngere Schwester. Sie stand ganz vorne, vor der Grube, eingerahmt von ihren Eltern, die aufpassten, dass Romy nicht gleich hinterher sprang. An dem Tag, an dem Lino uns verlassen hatte, hatte der letzte Rest Gutes diese Welt verlassen, dessen waren wir uns alle sicher.

    Romys Eltern waren extra aus Österreich angereist. Sie waren nicht gekommen, als Lino die Krankheit in seinem Körper bemerkt hatte. Wahrscheinlich war es ihnen auch schwer gefallen, überhaupt den Flug von Wien nach München einzuplanen, wegen den vielen Terminen und so. Romys Vater war Unternehmensconsulter, ihre Mutter Grande Dame österreichischer Wohltätigkeitsorganisationen – wohltätig zur eigenen Familie war sie nie gewesen. Die Eltern unserer Generation waren so, 1968 geboren und trotzdem Spießer durch und durch. Was in dieser Welt zählte, waren Kapitalanlagen, nicht die Gefühle des Einzelnen. Zu meiner Irritation, wie ich Linos Tod einordnen sollte, gesellte sich eine gute Prise Hass. Wären wir nicht in diese Welt hineingeboren worden, wäre Lino noch am Leben. Würde nicht für die Sünden seiner Eltern büßen müssen. Aber er war tot. Und alle Gefühle waren nicht mal mehr fünf Cent wert.

    Romys Weinen übertönte das Streichquartett, übertönte die Worte des Priesters. Es war ein rabenschwarzer Tag – für uns, für diese Stadt – und es war so schwer zu begreifen.

    Mein Blick glitt zu Moritz Roth, der neben Theresa stand, und die Spitzen seiner Budapester anstarrte. Was sollte ich nur tun, ohne Lino? Seine Weisheiten hatten mich am Leben gehalten. Er hatte immer gewusst, was zu tun war. Zwar hatte er mich nicht immer davon abgehalten, etwas Dummes zu tun, aber meistens hatte er dann doch erfolgreich an meinen Verstand appellieren können. Er war immer zu gut gewesen, zu nett, zu freundlich. Wahnsinnig klug. Und er wollte auch immer, dass wir alle glücklich waren, hatte sich immer hinten angestellt. Eines seiner großen Projekte war gewesen, mich mit Moritz zu verkuppeln. Es war ihm nicht mehr gelungen. Ihm war so vieles nicht mehr gelungen. Er war einfach viel zu jung gegangen. Hinter uns schniefte Bibi, Theresas Schwester, die zusammen mit ihrem Freund Leopold gekommen war. Entschuldigung, Verlobten. Lino hatte diese Verbindung immer für eine Farce gehalten. Er kannte Bibi gut, sie hatten gemeinsam studiert. Leopold stand ziemlich teilnahmslos daneben, wie ein in Hugo Boss eingekleideter Küchenschrank. Irgendwie sah er überall, außer im Fitnessstudio, ein wenig fehl am Platz aus.

    Romy und ihre Eltern waren als Erste dran, Graberde auf den Sarg zu schütten. Romy zitterte wie unter großen Schmerzen, als sie ihrem Bruder eine Rose zu warf. Ihr Vater checkte seinen Blackberry, kaum, dass er die Schaufel weggestellt hatte. Er mochte sauer darüber sein, dass Lino mit Romy Österreich verlassen hatte und nicht in seine Fußstapfen getreten war, aber das ging zu weit! Ich wollte schreien, wollte, dass sie alle gingen. Schreien in einem unfassbar lauten Ton. Nur die, die auch von Lino berührt worden waren, sollten heute hier sein, von ihm Abschied nehmen. Und sich die unsägliche Frage stellen: Wie sollte es nur jetzt mit uns allen weitergehen?

    »Ich finde, es war eine schöne Trauerfeier«, meinte Theresa, nachdem sie auf den Sitz meines azurblauen Cabrios gerutscht war. Sofort zog sie diesen furchtbaren Organizer aus ihrer Handtasche. Ihr Termintagebuch. Eine Mischung aus strikter To-Do-Liste und gefühlvollen Notizen (»Linos Beerdigung, 14 Uhr, ätzend«), die sie sofort aktualisierte, kaum, dass ihr Arsch das Leder des Sitzes berührt hatte.

    »Schön? Die ganze Veranstaltung war lächerlich. So heuchlerisch. Der Priester weiß doch gar nicht, von wem er gesprochen hat, er kannte Lino doch gar nicht. Und dann auch noch Romys Eltern. Die sind doch nur scharf darauf, den Flieger nach der Testamentseröffnung pünktlich zu kriegen«, knurrte ich und setzte mich hinters Steuer. Während ich in meinem schwarzen Täschchen nach den Schlüssel suchte, feuerte ich weiter: »Und den Brauch eines Leichenschmauses werde ich auch nie verstehen!«

    »Der Leichtrunk soll uns Lebenden signalisieren, dass das Leben weitergeht«, warf Moritz ein, als er es sich hinten im BMW gemütlich machte. Bei seinem Anblick dachte ich mir wehmütig, dass es zu windstill war, als dass seine schöne, braune Haartolle – nicht im Stil von Dick Brave, eher im Stil von James Dean, denn genauso sah er aus, wie der letzte Rebell auf Erden – bei vollem Alarm auf der Straße aufgewühlt werden würde. Ich liebte es, wenn er zerzaust war, weniger geleckt als jetzt in seinem maßgeschneiderten Anzug. Ich mochte es, wenn er mit einer Zigarette im Mund auf der Bühne stand und einen Liter Wodka nach dem anderen in sich hineinschüttete. Aber generell fand ich eh alles an ihm super. Doch egal, wie verliebt ich in ihn war – er wusste ja sowieso nichts davon –, ich musste ihm Paroli bieten: »Hast du das gerade noch schnell bei Wikipedia gegoogelt oder was?«

    Ich startete den Wagen, Theresa und Moritz schwiegen. Sie wussten, dass sie sich nicht mit mir anlegen brauchten, wenn ich ungehalten war. Und dennoch meinte Theresa: »Willst du nicht noch ein letztes Mal auf ihn trinken?«

    »Nein«, ich schüttelte vehement den Kopf, »Ich setze euch am Prinzregentenplatz ab. Wir sehen uns dann zu Hause.«

    Als wir am Nordfriedhof vorbei zogen, fühlte ich mich in die Anfangsszene von »Eiskalte Engel« versetzt. Ich wünschte mir, ein wenig kälter im Bezug auf Linos Tod zu sein. Aber es war nicht möglich. In mir war auch etwas gestorben.

    Theresa und ich wohnten zusammen, einfach, weil sie in der Ludwigvorstadt gewohnt hatte und dort heutzutage doch keiner mehr lebte. Auf dem Klingelschild stand allerdings nicht »Kleeblatt & Held«. Schon alleine, weil Theresas Name wie aus einem Groschenroman klang. Und außerdem war es immer noch meine Wohnung – und ich hatte gelogen, ich fuhr nicht direkt dorthin. Ich parkte meinen Wagen und trank irgendwo, in einer absolut billigen Spelunke, schon um vier Uhr nachmittags Bier aus dreckigen Gläsern, weil ich eben doch auf Lino trinken wollte, alleine, so lange, bis dieses Bierstüberl zumachte und ich nach Hause wankte. Ich war nicht bescheuert, ich würde nicht besoffen Auto fahren, schon gar nicht, wenn es ein 3er Cabrio ist. Als ich also in meiner Wohnung ankam, war bereits die Nacht über die Isarvorstadt hereingebrochen. Eine angenehme Kühle senkte sich über diesen Stadtteil, endlich wieder frei durchatmen. Theresa war noch nicht wieder zurück, wahrscheinlich saßen sie noch immer im Hypocampus und redeten über die alten Zeiten. Die alten, vergangenen Zeiten.

    In meiner Wohnung erkannte man mich in jedem Winkel wieder. Mich, Charlotte Kleeblatt, die 22-jährige Modestudentin, die aussah wie Michelle Williams. In einem Anfall von besonderer Fashion-Infiziertheit hatte ich meine wasserstoffblonden Haare zu einem radikalen Pixie schneiden lassen, wirklich gestört hatte es niemanden. Jemandem besonders aufgefallen – wie zum Beispiel Moritz, für den ich es im Endeffekt getan hatte – leider auch nicht. Ich liebäugelte mit einem Undercut, aber man ließ sich die Haare normalerweise nach dem Ende einer Beziehung schneiden, nicht nach dem Ende eines Lebens. Oder auf der Suche nach einem neuen Look, und meiner funktionierte eigentlich ganz gut.

    Theresa hatte trotz ihrem Einzug in mein Gästezimmer kaum etwas an meiner Wohnung verändert, sie war noch immer die Malibu-Stacy-Fantasie, von der jede 12-Jährige träumte. Ich liebte Kitsch. Ich war so schnell wie möglich von zu Hause ausgezogen um eine ganze Wohnung mit Kitsch füllen zu können. Kitsch und Fotos von all meinen Freunden, von all den coolen Partys, Erinnerungsstücke an Reisen und Events. Und wo wir schon von zu viel Romantik sprechen: Unter meinem Bett lagerte ich ein Poster von Moritz’ Band Dance Polly Dance. Dance Polly Dance hatte zwar noch nicht mal einen Plattenvertrag, aber Merchandise stellten sie schon her wie die Wilden. Am liebsten zog ich das Poster unter meinem Bett hervor und küsste Moritz’ verwegene Fotografie. Unter dem Poster lagen noch viele andere Poster. Moritz war ziemlich rastlos und gründete ständig neue Bands, wie es ihm gerade so passte. Öfter als nur manchmal bewunderte ich seinen Ehrgeiz, seine Kreativität.

    Ich bewunderte grundsätzlich jeden, der es schaffte, seinen Arsch aus dem Sessel zu bringen, in dem ich die meiste Zeit saß und Wiederholungen amerikanischer Sitcoms guckte. Ich fühlte mich träge, von der Muße verlassen. Moritz gründete Bands, Lino hatte an einem Club gearbeitet, Theresa war wahnsinnig begabt, was Mode betraf. Und ich? Ich schaffte es nicht mal, meine Wohnung selbst auf Vordermann zu bringen und beschäftigte einen persönlichen Einkäufer und eine ukrainische Haushälterin. Weil ich der Meinung war, dass ich, wenn ich in die Knie ging, nichts aufheben sollte.

    Trotz der langsamen Abkühlung der Stadt war es eine dieser heißen Nächte, in denen ich mich komplett auszog und immer noch brannte. Als hätte ich Fieber, war meine Haut ganz furchtbar heiß. Ich stellte mich vor das offene Fenster und starrte hinaus, versuchte, mich abzukühlen. Bei jeder Bewegung war mir bewusst, wie schlaff mein Hintern geworden war. Im Verhältnis zu Mischa Barton sah ich nackt natürlich immer noch super aus, aber ich machte mir nichts vor, bald war ich kein junger Hüpfer mehr, bald landete ich genauso wie Lino in der Kiste. Wir sind alle nur vergänglich. Die Gedankenspirale »Ich stehe kurz vor meiner Menopause« setzte sich in Bewegung. Was konnte ich jetzt noch großartig erreichen? Ich war verhandlungssicher in Englisch und konnte in sieben weiteren Sprachen Kaffee bestellen, war mehr so der Wolfgang Joop an der Modeschule und weniger die Vivienne Westwood – und sowieso nur noch dort, weil meine Eltern das nötige Schulgeld aus der Portokasse zahlten. Sehnsüchtig starrte ich den Mond an. Lino, was soll ich nur tun?

    Ich bekam keine Antwort. Stattdessen entschied ich mich, ein paar Xanax zu werfen, um ins Bett gehen zu dürfen. Und zu vergessen.

    Am nächsten Morgen, ein Samstag, traf ich Bibi vor dem Konsulat. Noch immer war die Stadt aufgeheizt, die sonst so hippen Radfahrer hatten abgesattelt und schoben müde ihre Fahrräder an uns vorüber. Kleine Kinder machten auf FKK und die Mütter, die ihnen hechelnd hinterher liefen, wünschten sich wohl eben so sehr, blank ziehen zu können.

    Vor mir stand eine dampfende Tasse Kaffee, während Bibi an einer Saftschorle nippte.

    »Gestern, da dachte ich kurz, wie schön es wäre, schwer zu trinken. Scotch oder Bourbon, von mir aus auch Grey Goose.« Bibi seufzte. Sie war ein Kontrollfreak. Warum sollte sie also trinken und sich so außer Kontrolle geben? Eben. Aber ich wusste ja, dass sie mit Lino studiert hatte und es ihr auch deswegen sehr, sehr schwer fiel, Abschied von jemandem zu nehmen, den man so lange gekannt hatte.

    »Lass uns nicht darüber reden.« Ich starrte in die unbarmherzige Sonne. Während ich blinzelte, versuchte ich, nicht wieder alle Emotionen hochkommen zu lassen. Die letzte Nacht war schlimm genug gewesen, trotz der Xanax hatte ich mich kaum beruhigen können.

    »Ich bin froh, dass es doch mal mit einem Treffen zwischen uns klappt«, meinte ich schließlich, schob meine Tasse zur Seite und legte meine rechte Hand feierlich auf Bibis. Bibi starrte auf die Hand und murmelte: »Na ja, du kennst ja Leopold, er mag es nicht so gerne, wenn ich was ohne ihn mache.«

    Ich folgte Bibis Blick. Unter der Sonne glitzerte Bibis Verlobungsring nur halb so schön wie der Diamant, gelb wie eine Tulpe, den ich mir selbst an den Mittelfinger gekauft hatte. Er passte hervorragend zu meinem Floralträgerkleid. Eine alte Frau in der Schlange vor mir beim Bäcker, eine Stunde zuvor, hatte etwas Ähnliches getragen, aber ich versuchte, meine vorzeitige Midlifecrisis erst einmal zu verdrängen und das Beste aus der Situation zu machen. Lieber erfreute ich mich an dem Funkeln des Rings und das entging auch Bibi nicht. Schnell zog sie ihre Hand unter meiner weg und fuhr sich durch die Haare. Ich nahm wieder meine Tasse Kaffee. Zwischen zwei Schlucken fragte ich: »Und? Was wünschst du dir als Hochzeitsgeschenk?«

    »Ach, ich …«, Bibi zögerte. Ich machte mir keine Mühe, zu verschleiern, dass ich Bibis und Leopolds Hochzeit nach nur knapp einem Jahr Beziehung für eine absolute Farce hielt.

    »Ich dachte an einen Botoxgutschein«, plapperte ich dazwischen.

    »Nervengift?« Entgeistert sah Bibi mich an.

    »Da gibt es auch diese neue Operationstechnik. Dir wird etwas in die Fersen gespritzt, sodass du wie auf Wolken gehst, egal, wie hoch deine Absätze sind. Aber ich fürchte, das interessiert dich jetzt nicht so.« Bibis Blick glitt unter den Tisch und auf die einfachen Schläppchen, die sie trug. Mit denen hätte man sicher problemlos barfuß nach Australien laufen können. In meinen Jimmy Choos eher nicht so.

    »Was anderes, wie läuft es mit Moritz?«, lenkte Bibi ab.

    »Ich habe nach wie vor keine Ahnung, wie ich es schaffen soll, dass er sich auf mich legt«, ich zuckte mit den Schultern, »Nichts hilft! Kein Arschwackeln, kein aufreizender Ausschnitt, kein Augenaufschlag. Ich finde ihm zuliebe jetzt sogar Sonic Youth gut. Juckt es ihn? Nein. Absolut nicht.«

    Nach meinem Vormittagskaffee mit Bibi zog es mich zurück in die Kühle meiner Wohnung, aber wie es meistens war, kam etwas dazwischen. Irgendetwas war ja immer. Vor allem, wenn es nach Frau Römer ging. Ich musste zugeben, ich wartete sehnsüchtig auf den Moment, in dem sich ihre Verwandten dazu entschieden, sie endlich abzuschieben. Sie hatte wahrscheinlich schon in meinem Apartmenthaus in der Isarvorstadt gewohnt, als noch die Grundmauern hochgezogen wurden. Frau Römer war wirklich steinalt. Und auch, wenn sie eigentlich furchtbar schlecht hörte, beschwerte sie sich jeden Morgen über die Lautstärke der Gespräche, die Theresa und ich beim Abendessen führten – ihr Schlafzimmer war nämlich neben unserer Küche und bekanntlich beginnt so eine handelsübliche Schlafruhe ja schon ab vier Uhr nachmittags.

    Jetzt stand sie wieder im Haustürrahmen, unsere Hausmeisterin des Vertrauens, in einem Kittel, der wahrscheinlich von Else Kling persönlich inspiriert worden war. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie einen Umzugswagen an, der auf dem Bordstein vor dem Haus parkte.

    »Guten Morgen Frau Römer.« Ich wollte schnell vorbeihuschen, aber natürlich war ich zu langsam. Und ein Cape, das mich

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