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Rabenschwarz: vivid lights
Rabenschwarz: vivid lights
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eBook588 Seiten7 Stunden

Rabenschwarz: vivid lights

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Über dieses E-Book

Rin ist in einer Beziehung, die liebevoller und heilsamer nicht sein könnte und liebt von ganzem Herzen. Er blüht auf, setzt sich mit seinen Problemen auseinander und ist glücklich. Wirklich glücklich.
Wäre da nicht dieses eine Problem, das sein alleiniges Verschulden ist. Das ihn immer noch nicht schlafen lässt, ihn auch nach Jahren stets an einen dunklen Ort zurückführt.

Aus den völlig falschen Gründen hat Rin sich dazu entschieden, seine Gefühle zu unterdrücken und den Kontakt zu seinem besten Freund abgebrochen. Seitdem vergeht kein Tag, an dem Rin sich nicht dafür hasst, Kaito aus seinem Leben verbannt zu haben.
Doch was ist, wenn er diesen Fehler korrigieren könnte?

Ein Liebesroman mit queeren Charakteren, bespickt mit gesellschaftsrelevanten Themen.
Triggerwarnung: Angstzustände, Panikattacken, Depression, Homofeindlichkeit/Queerfeindlichkeit
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Feb. 2023
ISBN9783347815988
Rabenschwarz: vivid lights
Autor

Nina Linz

Ich bin Nina, geboren 1996 in der Oberpfalz und seither dort geblieben. Meine Ausbildung zur Steuerfachangestellten habe ich 2019 abgeschlossen und gemerkt: Das hier soll nicht meine Zukunft sein. Ende 2019 habe ich angefangen, die Geschichte, die später meine Trilogie "Hidden Spirits" geworden ist, als Webtoon zu zeichnen. Schnell fiel mir auf, dass ich all die Worte in meinem Kopf nicht nur mit Bildern ausdrücken kann. Und dann fing ich an zu schreiben. Wie ich es früher in meiner Kindheit schon getan habe, aber mir immer dachte: Wie soll ich davon schon leben? Innerhalb von 2 Monaten habe ich den 1. Band meiner Trilogie (Hidden Spirits - Eisblau) geschrieben und diesen nach einigen Runden Probelesen schließlich im Mai veröffentlicht. Darauf folgte Band 2 (Hidden Spirits - Feuerrot) und Band 3 (Hidden Spirits - Schneeweiß). Zwischen Band 2 und 3 habe ich auch noch in Eigenproduktion ein Hörbuch zu Band 1 aufgenommen, das mir den letzten Nerv geraubt hat, aber hey - ich hab's geschafft, nicht wahr? Diese Trilogie ist mein Schatz, damit fing alles an. In diesen Seiten habe ich meine Gedanken, Wünsche & Ängste verarbeitet und all mein Herzblut hineingesteckt. Diese Charaktere sind fiktiv, aber sie waren über die ganzen Monate an meiner Seite und sind mir ans Herz gewachsen, völlig egal ob real oder nicht. Mit dem letzten geschriebenen Satz der Trilogie war mir aber klar: Das war's noch nicht. Dieses Universum muss weiterleben. Und so entstand "Rabenschwarz - sleepless nights". Rin, der Hauptcharakter, ist eine Figur, die mir persönlich sehr, sehr viel bedeutet, in die ich am meisten meiner eigenen Persönlichkeit gesteckt habe. Ich habe ihm Leben eingehaucht - mit meinem eigenen. Und damit ist er nicht alleine. Werde ich jemals aufhören zu schreiben? Ich hoffe nicht. Ich hoffe ich lache meiner Angststörung irgendwann ins Gesicht und sage: "Du bist zwar ein Teil von mir, aber du kontrollierst mich nicht." Und ich bin auf einem guten Weg dorthin. Denn die Angst vor der Veröffentlichung habe ich nun schon 6 mal besiegt - und wer sagt, dass das nicht immer wieder funktionieren kann?

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    Buchvorschau

    Rabenschwarz - Nina Linz

    © 2023 Nina Linz

    TW: Angstzustände, Panikattacken, Depression, Homofeindlichkeit

    ISBN E-Book: 978-3-347-81598-8

    Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:

    tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

    Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich.

    Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig.

    Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin,

    zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung Impressumservice,

    An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

    Umschlaggestaltung: Copyright © 2023 by Nina Linz

    RABENSCHWARZ

    vivid lights

    Inhaltsverzeichnis

    Kapitel 1 Hilfe zulassen

    Kapitel 2 Ein Jahr zuvor

    Kapitel 3 Kontaktabbruch

    Kapitel 4 Roxy

    Kapitel 5 Erwähnen verboten

    Kapitel 6 Ankunft

    Kapitel 7 Komfortzone

    Kapitel 8 Morgenspaziergang

    Kapitel 9 Sackgasse

    Kapitel 10 Voller Arbeitsspeicher

    Kapitel 11 Du fehlst mir so sehr

    Kapitel 12 Klare Ansagen

    Kapitel 13 Zueinanderfinden

    Kapitel 14 Erinnerungen

    Kapitel 15 Wiedersehen

    Kapitel 16 Überfällige Antworten

    Kapitel 17 Willkommen zurück

    Kapitel 18 Party

    Kapitel 19 Jede deiner Facetten

    Kapitel 20 Realisation

    Kapitel 21 Selbstgespräche

    Kapitel 22 Einen Rat einholen

    Kapitel 23 Geständnisse

    Kapitel 24 Durchatmen

    Kapitel 25 Recherche

    Kapitel 26 Langsames Herantasten

    Kapitel 27 Barbesuch

    Kapitel 28 Einklang

    Kapitel 29 Freitagabend

    Kapitel 30 Gewissensbisse

    Kapitel 31 Zeit für sich

    Kapitel 32 Dreiergespräch

    Kapitel 33 Das schwarze Loch

    Kapitel 34 Hilfe annehmen

    Kapitel 35 Bürokratie

    Kapitel 36 Liebestaumel

    Kapitel 37 Du bist Familie

    Kapitel 38 Miteinander

    Kapitel 39 Vorschnelles Urteil

    Kapitel 40 Auftritt

    Kapitel 41 Besichtigung

    Kapitel 42 Q & A, Poly Edition

    Kapitel 43 Mutausbruch

    Kapitel 44 Ōji

    Kapitel 45 Reaktionen

    Kapitel 46 Finn

    Kapitel 47 Unspektakulär

    Kapitel 48 Tanzen

    Kapitel 49 Du fehlst

    Kapitel 50 Ein Geschenk für alle

    Kapitel 51 Der Baum brennt

    Leseprobe Hidden Spirits - Eisblau

    Kapitel 1

    Hilfe zulassen

    Rin pfiff durch die Zähne und klopfte sich lautstark auf den Oberschenkel.

    »Hey, Boy! Hier her!«

    Zwei Sekunden später hüpfte ein mittelgroßer Hund mit wehenden Ohren aus dem Gebüsch am Rande des Waldweges, den Rin entlang lief. Er beugte sich runter und wuschelte Boy durch das weiße Fell, das mit großen braunen und schwarzen Flecken bespickt war. Mit heraushängender Zunge hechelte der Vierbeiner Rin an und wedelte fröhlich mit der Rute.

    »Braver Junge«, lobte Rin ihn und gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich wieder frei bewegen durfte.

    In den letzten vier Jahren war einiges passiert. Boy gehörte allerdings erst seit circa einem halben Jahr zur Familie. Halbwegs zumindest. Eigentlich waren Nate und Ayden Boys rechtmäßige Besitzer. Auf ihren Flitterwochen hatten sie den jungen Hund aufgegabelt, denn ja, der fürsorgliche Rotschopf war mittlerweile tatsächlich verheiratet.

    Verrückt.

    Rin konnte sich noch an ihr Gespräch am Lagerfeuer erinnern, als sie das erste Mal gemeinsam Zelten waren. Als Nate sich noch so unsicher gewesen war, ob er für eine Beziehung überhaupt gemacht war, um dann mit 22 Jahren einen Blitzstart sondergleichen hinzulegen und mit 23 zu heiraten.

    Mit Nates Ehemann Ayden verstand Rin sich wahnsinnig gut. Sie waren sich in ihrem Gemüt recht ähnlich, standen beide nicht gerne im Rampenlicht, hatten Probleme mit Menschenansammlungen und machten sich oft zu viele Gedanken um unnötige Dinge. Rin hatte Ayden durch dessen erste Panikattacke geholfen und dabei wusste Ayden bis heute nicht, dass Rin das auch schon durchgemacht hatte. Was Rin besonders freute, war, dass er mit Ayden richtig gute Zockerabende haben konnte. Vorzugsweise zusammen mit Nate und Roxy.

    Als Nate und Ayden ihr neues vierbeiniges Familienmitglied aus den Flitterwochen mitbrachten, verliebte Rin sich sofort in den jungen Hund. Seitdem lebte Boy zur Hälfte in Rins WG und zur Hälfte bei Nate und Ayden, in deren Containerhaus außerhalb der Stadt.

    Für sie alle war das der perfekte Kompromiss. Nate und Ayden war ihre Zweisamkeit sehr wichtig, trotz ihrer unbändigen Liebe zu Boy. Und Rin hatte Phasen, in denen er sich einfach nicht dazu aufraffen konnte, zweimal am Tag mit dem Hund rauszugehen. Dennoch war die Präsenz dieses Hundes so heilsam für ihn, dass er ihn nicht mehr missen wollte. Auf keinen Fall.

    Und so sprachen sie sich alle paar Tage aufs Neue ab und Boy schien nicht ansatzweise darunter zu leiden. Für ihn war der Ortswechsel jedes Mal ein neues Abenteuer, was seiner Entdeckerfreude und seinem neugierigen Gemüt zu verdanken war.

    Während Rin in der Morgendämmerung so durch den Wald schlenderte und sich die ersten Sonnenstrahlen ins Gesicht scheinen ließ, lächelte er in sich hinein.

    Wenn ihm jemand vor vier Jahren gesagt hätte, wie die folgenden Jahre aussehen würden, er hätte nicht daran geglaubt, diese Zeit durchstehen zu können. Die letzten Jahre waren die schwierigsten Level, die Rin je durchlaufen hatte. Eine verdammte Achterbahnfahrt der Gefühle.

    Bei einem gescheiterten Therapieversuch war es leider nicht geblieben. Rin hatte gekämpft. Mit sich, mit seinen Ängsten, seinen Mitmenschen. Er hatte des Öfteren an der metaphorischen Klippe gestanden. War in seinem Kopf einen Schritt darüber hinausgetreten und dann zurückgeschreckt.

    Doch er hatte sich durchgekämpft. Mit seinen Eltern gestritten, seine Freunde leider nicht nur ein Mal von sich gestoßen, Therapieansätze von vornherein abgelehnt, Therapieplätze gewechselt.

    In dem Prozess, sich zu finden, verlor er sich vollends.

    Oft hatte er gehört, dass es einem gerade am Anfang einer Therapie erst mal schlechter gehen würde und ja, Rin wusste das. Er informierte sich früh darüber und bereitete sich darauf vor. Aber nicht auf das, was wirklich auf ihn zukam.

    Er wurde noch selbstkritischer, noch erbarmungsloser, noch gemeiner. Bekam in seiner tiefenpsychologischen Therapie ein so verzerrtes Bild von sich, das er nicht annehmen wollte und erhielt in seiner Verhaltenstherapie noch dazu Aufgaben, die er nicht mal anfing, weil sie ihm blöd vorkamen. Er sah sich als schlauer an, überlegen, wusste schon, was mit den Aufgaben bezweckt werden sollte und fühlte sich von seiner Therapeutin verarscht. Dachte, sie würde ihn für so dumm halten, nicht zu wissen, was das Ziel dieser Aufgaben war.

    Sich im Spiegel anzusehen und sich positive Eigenschaften von sich selbst ins Gesicht zu sagen? Kindisch. Albern. Erbärmlich. Ja, ja, man würde dann mehr positive Dinge sehen. Wem man mit einem Lächeln begegnete, der schenkte einem eins zurück, bla, bla. Hatte er gedacht.

    Und dann sagte seine Therapeutin ihm in ganz ruhigem, liebevollem Tonfall, dass man jemandem nicht helfen konnte, der sich nicht helfen lassen wollte.

    Rin ballte die Fäuste, blaffte sie an, was sie denn dachte, weshalb er hier war. Etwa zum Spaß? War außer sich, sagte ihr in bissigem Ton, dass er hier war, weil er Hilfe brauchte.

    Hilfe brauchte er, antwortete sie. Aber wollen tat er sie nicht.

    Und Recht hatte sie.

    Es dauerte einige Zeit, bis ihm klar wurde, dass er es auch wollen musste. Er musste glücklich sein wollen. Er dachte, dass er sich an diesem Punkt schon längst befinden würde. Alles, was jedoch passiert war, war, dass er sich der Tatsache gestellt hatte, eine Therapie zu brauchen. Nicht aber der Therapie selbst.

    Rin hatte gelernt, sich in Selbstmitleid zu suhlen. Und als er die Diagnosen ›Depression‹, ›Angststörung‹, ›Soziale Phobie‹ erhielt, hatte das nicht den Effekt, den es hätte haben sollen. So peinlich es ihm heute war, er nutzte die Diagnosen anfangs als Freifahrtschein für abscheuliches Benehmen. Dafür, sich nicht bessern zu müssen. Er ›konnte ja nichts dafür‹.

    Ja, er konnte nichts für seine Depression. Er konnte nichts für die Episoden, in denen er froh darüber war, überhaupt vom Bett zur Toilette und am Kühlschrank vorbeizukommen. Er konnte nichts für seine Angst vor Telefonaten, selbst wenn es sich nur um einen Arztbesuch handelte. Er konnte nichts für das Trauma, für das Amy verantwortlich war.

    Aber er konnte etwas dafür, sich damit gehen zu lassen. Es gab Techniken, die ihm dabei halfen, solche Episoden frühzeitig zu erkennen. Sie zu kommunizieren, dafür zu sorgen, dass er damit nicht seine Mitmenschen belastete.

    Er lernte, dass es durchaus einen Unterschied machte, ob man um Hilfe bat und bereit war, sie anzunehmen, oder ob man andere Menschen durch das eigene Gejammer einfach nur mit runterzog, ohne die Bereitschaft zu zeigen, etwas daran ändern zu wollen.

    Geteiltes Leid war nicht halbes Leid, wenn man sein Leid auf andere abwälzte und ihnen damit Leid zufügte, das sie nie hätten ertragen müssen.

    Rin musste erst lernen, dass all das nicht bedeutete, in seinen besonders depressiven Phasen alleine sein zu müssen. Im Gegenteil. Alles, was er tun musste, war es, zu sagen, wie man ihm unter die Arme greifen konnte.

    Ja, oft war es sogar schwierig, auch nur einen einzigen Satz ohne pissigen Unterton auszusprechen, wenn es ihm schon schlecht ging. Wenn er sich schon so tief im Treibsand befand. Aber das war seine Aufgabe, seine Verantwortung. Wenn er Ruhe brauchte, jemanden zum Reden, eine Begleitung beim Einkaufen – ein Satz reichte. Eine Textnachricht, ein kurzer Anruf.

    Rin war bis zum jetzigen Tag an keinem Ziel angekommen. Weil es kein Ziel gab. Die letzten Jahre hatte er sich immer wieder aktiv in Therapie befunden, seit ein paar Monaten kam er allerdings sehr gut mit sich zurecht.

    Dass ihm das Schicksal wieder einen Kinnhaken mitgeben würde, wenn er es am wenigsten erwartete, wusste er, war darauf vorbereitet. Der Unterschied dabei war, dass er sich heute im Klaren darüber war, dass er nur eine Hand ausstrecken musste und sich zu seiner Therapeutin setzen konnte. Allein dieses Wissen war seine ganz eigene Medizin.

    Wie es auch seine Freunde waren. Wie es auch Boy war.

    Und allen voran Roxy.

    Rin lebte schon seit zwei Jahren in einer WG, allerdings nicht mit Roxy. Mit 18 Jahren war er direkt ausgezogen. Nicht weil er seine Eltern nicht mehr ertrug, sondern weil er für sich selbst verantwortlich sein wollte. Und das war er seither.

    Roxy lebte in einer WG mit Samira, ihrer Bandkollegin. Trotzdem verbrachten sie die meiste Zeit bei Rin. Was Rin bei seiner Wohnung am wichtigsten gewesen war – neben einem ruhigen Mitbewohner, der ihn nicht die ganze Zeit zum Saufen anstiften wollte –, war ein Balkon, Garten oder Dachzugang.

    Den Dachzugang hatte er bekommen, und damit auch seinen Frieden.

    Schlafstörungen hatte Rin noch immer, würde sie wahrscheinlich in seinem Leben auch nie vollständig loswerden. Aber sie waren über die Jahre tatsächlich seltener geworden. Er hatte gelernt, seine Gedanken besser zu sortieren, sie wie in Ordner zu unterteilen. Sich am Abend nur Zugang zu den Ordnern zu erlauben, die ihn nicht negativ aufwühlten. Ihm stattdessen positive Gedanken bescherten.

    Und wenn er dann abends auf dem Dach saß und auf die vielen grellen Lichter der Stadt blickte, war er zufrieden.

    Meistens zumindest.

    Es gab diese Nächte, in denen er sich fühlte wie das Auge eines Tornados. Momente, in denen er das Gefühl hatte, alles um ihn herum passierte zu schnell, während er langsam und qualvoll erstickte.

    Rin hatte in seiner Therapie viel gelernt. Über sich, seine Gefühlswelt, wie er besser mit seinen extremeren Emotionen umgehen konnte und allem voran, dass er auch nur ein Mensch war. Dass er Fehler machte wie jeder andere. Wie es Nate vor ein paar Jahren auch schon versucht hatte, ihm begreiflich zu machen.

    In der Therapie wurde ihm außerdem nahegelegt, sich erst mal nur auf sich selbst zu konzentrieren. Sich, so egoistisch es auch klang, zu priorisieren. Und das hatte Rin angenommen. Seitdem horchte er in sich hinein, hörte sich selbst zu und nahm seine Gefühle ernst.

    Fakt war, dass Rin sehr viele Emotionen empfand. Neben all den negativen auch wahnsinnig positive und unter diesen eine ganz intensiv: Liebe.

    Und daher war es seine höchste Priorität, jemanden, den er liebte, nicht zu verletzen, nur weil er aufgrund schlechter Impulskontrolle unfair wurde. Er wollte sich erst selbst unter Kontrolle haben, ehe er diesen Gefühlen wirklich Raum gab.

    Bis Roxy ihm zuvorkam.

    Kapitel 2

    Ein Jahr zuvor

    Rin klopfte an die Tür von Shadows Badezimmer, in dem Roxy sich vor ein paar Minuten verschanzt hatte. Sogar durch die Tür konnte er sie weinen hören.

    Er war so ein verdammter Idiot.

    Roxy hatte gerade auf dem Sofa in Shadows Wohnung allen Mut zusammengenommen und Rin gesagt, dass sie ihn mochte. Vor den Augen und Ohren von Shadow, Nate, Ayden, Finn und Kyla. Seine Antwort war, dass er sie selbstverständlich auch mochte. Und damit sah er die Sache als erledigt an. Das sagten Roxy und er sich schließlich nicht zum ersten Mal.

    Bis Roxy ihm klar machte, dass die Intensität dieses Mögens viel mehr dem von Nate und Ayden entsprach als einem rein freundschaftlichen Verhältnis. Und dann verschwand sie auch schon in Shadows Badezimmer, dicht gefolgt von Shadow.

    Weil Rin vollkommen perplex war und damit kein bisschen gerechnet hatte, starrte er die anderen auf dem Sofa nur verloren an. Sein Kopf völlig leer, einmal großzügig durchgekehrt.

    Nate und Kyla machten es sich zur Aufgabe, Rin vor Augen zu führen, woran er Roxys Gefühle schon weitaus früher hätte erkennen können. Und ja, dass er mit Roxy viel engeren Kontakt hatte als mit den anderen, stimmte. Dass sie mit ihm zusammen schon im selben Bett, im selben Zelt und auch demselben Schlafsack geschlafen hatte, entsprach ebenso der Wahrheit.

    Doch Rin hatte das immer Roxys offenem, freundlichen Wesen zugeschrieben. Ging davon aus, dass nur ihm diese Gesten viel mehr bedeuteten.

    Oh, wie er sich geirrt hatte.

    »Geh bitte, Rin«, hörte er Roxys Wimmern durch die Badezimmertür. Dieses Geräusch schnürte ihm das Herz in der Brust zusammen. »Ist besser für dich.«

    »Seit wann entscheiden andere, was gut für mich ist?«, fragte Rin, worauf die Badezimmertür abrupt geöffnet wurde und Shadow den Kopf durch den Spalt streckte. Ihr Gesicht war umrahmt von schwarzen und lilafarbenen Haaren und ihre herzlichen, braunen Augen blickten ihm direkt in die Seele.

    »Wenn ich dich jetzt reinlasse, sagst du ihr, was du fühlst?«

    »Hatte ich vor«, antwortete Rin wahrheitsgemäß.

    Roxy protestierte zwar hinter Shadow, wurde jedoch von ihr und Rin ignoriert. Natürlich würden sie Roxys Bedürfnisse berücksichtigen, aber ihnen war durchaus bewusst, dass Roxy nur unfassbar beschämt war und sich deshalb nicht vor Rin zeigen wollte. Doch er ließ sich davon nicht abschrecken. Roxy hatte ihn schließlich schon in so viel schlechterer Verfassung erlebt.

    Shadow verließ das Badezimmer, streichelte Rin kurz aufbauend über den Rücken und verschwand mit wehendem Pferdeschwanz in Richtung Wohnzimmer, worauf Rin das Bad betrat.

    Roxy saß in der leeren Badewanne, der Kopf gesenkt und hinter ihren angezogenen Knien versteckt. Ihr Anblick war für Rin unfassbar schmerzhaft, gerade weil er so viel Liebe für sie empfand. Dass er diesen Gedanken so einfach zulassen konnte, war den letzten Jahren geschuldet.

    Die Geschichte mit Roxy hatte schon begonnen, bevor Rin es überhaupt richtig realisierte. Die Gefühle für sie bauten sich über die Jahre langsam aber kontinuierlich auf, bis er sie nicht mehr ignorieren konnte. Doch er hatte bisher nie darauf gehandelt. Roxy als Freundin in seinem Leben zu haben war mehr als genug. Mehr als genug, um ihn glücklich zu machen.

    Aber da er schon mit sich so viel zu tun hatte, war es sein innigster Wunsch, Roxy nicht in seine Probleme mitreinzuziehen. Völlig unabhängig davon, ob sie das als in Ordnung empfunden hätte oder nicht. Das war seine Entscheidung.

    Die körperliche Nähe zu ihr genoss Rin dennoch. Oder vielleicht gerade deshalb. Weil er sich nicht erlaubte, mehr daraus entstehen zu lassen.

    Jedes Mal, wenn Roxy es schaffte, ihn abends mit dem Zupfen an der Gitarre oder allein mit ihrem samtigweichen Gesang in den Schlaf zu wiegen, verliebte er sich ein klein wenig mehr in sie.

    Jedes Mal, wenn sie morgens wieder halb auf ihm liegend aufwachte und dachte, er würde noch schlafen, genoss er den Moment, in dem sie ihm mit den Fingern flüchtig über die Hand streichelte.

    Jedes Mal, wenn Roxy ihn zurechtwies, weil er sich ihr gegenüber unfair verhielt, stieg seine Bewunderung und Dankbarkeit für ihre Loyalität und Ehrlichkeit nur weiter an.

    Seine Therapeutin hatte ihm vor Augen geführt, dass das Unterdrücken seiner eigenen Gefühlslage einer seelischen Selbstverletzung glich, und auch damit traf sie ins Schwarze.

    Es war ein Spiel mit dem Feuer. Er wollte Roxy nah sein, ihre Wärme spüren, aber er war immer so kurz davor, sich zu verbrennen. Er war ein Kleinkind, das sich zwar an der Herdplatte verbrannt hatte, es aber wieder und wieder versuchte, um herauszufinden, wie nah er der Hitze nur irgendmöglich kommen konnte.

    Wenn er Roxy in der Bar dabei beobachtete, wie sie ihre roten Wangen hinter ihren Händen versteckte, weil ihr ein junger Mann ein Kompliment zu ihren schönen Augen gemacht hatte, genoss er das geradezu. Fühlte die Verbrennung in seiner Brust, weil er Roxy zu nah war, um das spurlos an sich vorübergehen zu lassen. Sog den Schmerz in sich auf und sagte sich, dass er das verdiente, wenn er den Mund schon nicht selbst aufbekam. Das war seine Art, sich zu bestrafen.

    Egal wie ausgiebig Rin bereits an sich gearbeitet hatte, er hätte sich wahrscheinlich zu keinem Zeitpunkt als würdig für Roxy empfunden. Jeden Morgen hoffte er, dass nicht heute der Tag war, an dem sie ihm sagen würde, dass sie sich in jemanden verguckt hatte. Dass sie nicht mehr so miteinander umgehen konnten wie bisher. Und dennoch betete er jeden Abend, dass es ihm möglich sein würde, sie gehen zu lassen, wenn es so weit war.

    Über Jahre hatte er die Kunst perfektioniert, seine Liebe zu Roxy im Hintergrund ablaufen zu lassen. Wie das Grundrauschen eines Fernsehers. Roxy nun weinend in Shadows Badewanne sitzen zu sehen, weil es ihr so unangenehm war, dass Rin über ihre Gefühle Bescheid wusste, war für ihn vollkommen surreal. Und es brach ihm das Herz in Sekundenschnelle.

    Ohne ein Wort zu sagen, ging Rin neben der Badewanne in die Hocke, verschränkte die Arme auf dem Rand und legte den Kopf auf seinen Unterarmen ab. Er hielt den Blick auf Roxys blonde Haarsträhnen gerichtet, die ihr leicht zerzaust ins Gesicht hingen, welches sie noch immer in ihren Knien vergrub.

    »Sag doch was«, brach es schluchzend aus Roxy heraus, ehe sie sich mit dem Unterarm übers Gesicht wischte. »Irgendwas

    Roxy jetzt anzulügen oder das Thema zu umschiffen, war für Rin keine Option. Es war mühsam genug gewesen, zu lernen, ehrlich zu sein. Zu kommunizieren. Ja, er würde mit den Konsequenzen dieses Gesprächs leben müssen, aber auch das war ihm bewusst.

    »Auch auf die Gefahr hin, dass du mir nicht glaubst«, begann Rin und nahm einen tiefen Atemzug. »Ich bin in dich verliebt, seit ich dir nach deinem ersten Auftritt gesagt habe, dass du die schönste Stimme der Welt hast.«

    Prompt verstummte Roxys Schluchzen und ihr Kopf schoss in die Höhe. Durch verheulte, glasige Augen sah sie Rin ungläubig an, wohingegen er nur lächeln konnte.

    Er … hatte es nun wirklich ausgesprochen. Hielt kein Geheimnis mehr hinter zig Schlössern in einem Safe in der hintersten Ecke seines Herzens verborgen. Die Schlüssel der Schlösser hatte er vergraben, die Zahlenkombinationen vergessen und doch hatte Roxy jedes Einzelne davon wie durch Zauberhand geöffnet. Aufgepustet. Ein Klimpern, ein Klacken, offen. Einfach so.

    »Was?!« Roxy wischte sich erneut die Tränen von den Wangen und schüttelte verwirrt den Kopf. »Wieso … Warum hast du nichts gesagt?!«

    »Ich war und bin der Auffassung, dass du etwas Besseres verdient hast«, gestand Rin ihr achselzuckend.

    Das war kein desinteressiertes Achselzucken, sondern ein hilfloses. Ein hoffnungsloses. Wie hätte er die Tatsache, dass er sich als nicht gut genug für Roxy empfand, schon ändern können? Er zeigte nicht genug, er sagte nicht genug, er war nicht genug.

    »Klar war’s ziemlich eigennützig, die ganzen schönen Zeiten trotzdem mitzunehmen, aber ich war mir so sicher, dass jeden Moment jemand kommen würde, der das zwischen uns … stoppt. Ich wollte alles mitnehmen, was geht. Außerdem …« Rin hob eine Hand vom Rand der Badewanne und fuhr sich seufzend durchs Haar. »In der Zeit, in der meine Phasen am schlimmsten waren, war’s einfach wichtig, dass ich mich nur auf mich konzentriere. Ich hätte dir nicht alles geben können, was du verdienst, egal wie sehr ich mich angestrengt hätte.«

    »Hättest du es mir nie gesagt?«, murmelte Roxy und blickte Rin mit ungläubigen, ozeanblauen Augen an.

    Rin zögerte kurz. »Wahrscheinlich nicht. Immer wenn ich mir dachte, dass es vielleicht auf Gegenseitigkeit beruhen könnte, kam mein nächstes Tief um die Ecke, das mir unmissverständlich zu verstehen gegeben hat, dass ich einfach zu krank für eine Beziehung bin.«

    »Aber wir haben trotz deiner Tiefs unsere Zeit miteinander verbracht«, führte Roxy ihm vor Augen. »Du warst auch für mich da, nicht nur ich für dich. Ob wir zusammen gewesen wären oder nicht hätte doch nichts geändert? Vielleicht hätte es alles noch viel einfacher gemacht?«

    »Ich dachte, wenn wir emotional involvierter sind, würde ich dir noch viel mehr wehtun als in einer reinen Freundschaft«, versuchte Rin seine Gedankengänge zu erklären.

    Es fiel ihm verdammt schwer, so offen zu sein, obwohl er wusste, dass es das Richtige war. Aber all die Gefühle, die er jahrelang unterdrückt hatte, jetzt herauszulassen, war unglaublich ungewohnt.

    »Denkst du immer noch so?« Roxys Stimme war leise und kraftlos, doch ihr Blick voller Hoffnung.

    »Wenn ich verneinen würde, wär das gelogen«, seufzte Rin. »Was ich will, ist, dass du glücklich bist und ich dich nicht mit mir runterziehe.«

    »Ist es manipulativ, wenn ich sage, dass du mir mehr weh tust, wenn du mich wegstößt?«, fragte Roxy in einem Flüstern. »Ich werd mich nicht von dir entfernen und auch keinen Typen ranziehen, der am Ende nur die zweite Wahl ist.«

    Diese Worte kamen bei Rin durchaus an. Doch obwohl er verstand, dass Roxy erwachsen genug war, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, hatte er immerzu das Gefühl, ihr sagen zu müssen, dass er anstrengender war, als sie ahnte. Dass es nicht so einfach werden würde, wie sie es sich vorstellte.

    »Dir ist nicht klar, worauf du dich da einlassen würdest, oder?« Rins Frage war nicht nur voller Skepsis gestellt, sondern brachte auch noch viele andere Bedenken mit sich. Jetzt war die Zeit, ihr all diese mitzuteilen, anstatt wegzulaufen. Er wollte Roxy so unbedingt in den Arm nehmen, hatte aber Angst davor, sie dann nie wieder loslassen zu können. Davor, ihr zu versprechen, ihr die Sterne vom Himmel zu holen, wo er doch kaum im Stande dazu war, einen Fuß vor die Tür zu setzen.

    Man konnte nicht einfach den Damm eines Stausees einreißen und erwarten, dass das Wasser in einem stetigen Fluss vor sich hin plätschern würde. Reißende Fluten wären das Resultat. Und so riss es auch Rin mit. Wenn er sich öffnete, dann ganz. Mit allen Zweifeln, die er sich selbst gegenüber hatte. Wenn er Roxy jetzt nicht begreiflich machte, was eine Beziehung mit ihm bedeutete, würde er sich das nie verzeihen.

    Auf mit den Toren, die Flut kommt.

    »Du weißt doch, wie ich ticke. Was ich jetzt sage, klingt hart, aber ich muss das ansprechen. Ich kann dir diese öffentlichen Liebesbekundungen nicht geben, ich kann dir nicht vor versammelter Mannschaft sagen, wie viel du mir bedeutest. Ich kann nicht wie Ayden und Nate einfach mal eben vor allen rummachen oder `nen Fick drauf geben, was andere über uns denken. Na klar, ich arbeite an den Problemen, die ich mit meiner Außenwahrnehmung habe, aber ich werde niemals extrovertiert sein. Ich werde nicht über Wochen oder Monate Rundreisen über den Globus machen können, weil ich das einfach nicht bin. Und das heikelste Thema, weil Sex nun mal einen hohen Stellenwert in den meisten Leben hat, ist, dass ich nicht weiß, ob oder in welcher Form ich das jemals wieder zulassen kann. Ich will dir das nicht antun, Roxy, verstehst du das nicht?«

    »Verstehst du nicht, dass ich mich trotz dieser Dinge in dich verliebt hab? Oder auch deshalb?«, fragte Roxy ihn schniefend, wischte sich erneut die Tränen von den Wangen und holte tief Luft. »Das alles war mir nie wichtig, weil ich dich so mag, wie du jetzt bist. Ich erwarte nicht mehr. Ich brauche niemanden, der immer mit mir Händchen hält oder mit dem ich auf offener Straße rummachen kann. Ich bin gerne selbständig und frei, hab kein Problem damit, die Welt allein zu entdecken und dir von überall Postkarten zu schicken. Ich brauche nicht dreimal am Tag Sex, auch nicht in der Woche, dafür hätte ich nicht mal Zeit. Du brauchst deine Zeit für dich, ich brauch meine Zeit für mich. Und die Zeit, die wir zusammen haben, so schön zu verbringen wie möglich, ist alles, was ich will. Ich habe Gefühle für dich und nicht für einen Bilderbuchprinzen oder den Fuckboy next door, der seine Baustellen gar nicht kennt

    Rin musste wegsehen, weil Roxys Anblick ein fürchterliches Ziehen in seiner Brustregion hervorrief. Seine Arme zuckten, wollten Roxy in sich auffangen. Er wollte ihre Liebe, aber hatte so unheimliche Angst davor, dass sie schon bald realisieren würde, wie anstrengend es war, ihn zu lieben.

    »Das sagst du jetzt, aber-«

    »Ja, das sag ich jetzt«, schnitt Roxy ihm eisern das Wort ab. »Aber was zählt denn mehr als das Jetzt? Wen kümmert gestern? Was morgen ist weiß ich nicht, werd ich auch heute nicht erfahren. Aber wenn ich die Chance hab, mein Heute mit dir zu verbringen, warum sollte ich noch einen Tag darauf warten?!«

    Rin sah auf und damit direkt in Roxys Augen. Trotz des kühlen Blaus darin, füllte sich sein Körper mit Wärme. Ein … bisschen näher? Würde er sich verbrennen?

    »Mein Kopf versucht gerade vergeblich, die nächste Ausrede zu finden. Aber mir fällt keine ein. Ich will dich vor mir beschützen, aber gleichzeitig will ich das hier so sehr. So lange schon.«

    Roxy hatte mittlerweile die Beine nach vorne ausgestreckt und die Hände in ihrem Schoß liegen. Sie kugelte sich nicht mehr zusammen, verschränkte die Arme nicht vor der Brust, versteckte das Gesicht nicht vor ihm. Sie zeigte sich verletzlich, angreifbar, verwundbar. Sie vertraute darauf, dass er ihr den Dolch nicht mitten ins Herz stoßen würde, wo es doch so frei lag. So ungeschützt war.

    »Du warst die letzten Monate schon mein Gestern, Rin«, flüsterte Roxy. »Und ich wünsche mir, dass du auch immer mein Morgen bleibst. Aber wenn ich dir sage, dass du mich unfassbar glücklich machen würdest, wenn du mein Heute bist, dann hoffe ich so sehr, dass du das auch glaubst.«

    So schnell wie ihn Roxys Liebe durchschwemmte, stieg auch die Angst, sich endgültig verbrannt zu haben. Doch so groß seine Angst auch sein mochte, sie hielt einer Sturmflut diesen Ausmaßes nicht lange stand. All die Bedenken wurden mit einer reißenden Welle aus seinem Kopf gespült. Er mochte, nein, er liebte dieses Mädchen, das ihn voller Herzenswärme anblickte. Und nun wusste er, dass auch sie so für ihn empfand.

    Rin hatte schon viel in seiner Therapie gelernt. Hatte sich die letzten Monate Zeit für sich genommen, an sich gearbeitet. Und auch in diesem Lebensabschnitt war Roxy stets an seiner Seite gewesen. Sie jetzt abzuweisen, nur weil er noch nicht am Ende seiner Reise angekommen war, war vollkommener Irrsinn.

    Er würde nie an einem Ziel ankommen. Würde kontinuierlich an sich arbeiten und über sich hinauswachsen müssen. Was er sich währenddessen aber einfach nicht mehr verwehren wollte, war Roxys Liebe. Er drängte danach, lechzte danach. In ihrer Liebe zu baden und ihr seine gleichzeitig zukommen zu lassen. In welcher Form auch immer.

    Sie würde natürlich jederzeit die Möglichkeit haben, sich umzuentscheiden. Wenn sie merken würde, dass eine Beziehung mit ihm nicht das war, was sie glücklich machte, würde sie damit Rins Herz brechen, und wie. Aber dieses Risiko wollte er eingehen. Er wollte sich nicht mehr vorstellen, was wäre, wenn …

    Er wollte sich erlauben, zu lieben und geliebt zu werden.

    Und dann ließ er los.

    »Darf ich dich küssen?«

    Diese Frage kam tatsächlich von ihm. Er war kein Fan davon, in aller Öffentlichkeit aneinanderzukleben, zumindest sah er sich einfach nicht in dieser Position. Aber im Privaten war er schon immer anders gewesen.

    Er hatte unzählige Male darüber nachgedacht, noch enger mit Roxy zu kuscheln, als sie es eh schon taten. Ihr über die Wangen zu streicheln und sich einfach zu ihr zu lehnen. Sie zu fragen, ob er weiter gehen durfte. Auf all seine negativen Gedanken getrost zu scheißen und sein Herz von der Leine zu lassen.

    Wenn also nicht jetzt, wann dann?

    »Du musst nicht-«

    »Aber ich darf, oder?«, konterte Rin mit einem schiefen Lächeln.

    Roxy entkam ein leises, verlegenes Kichern und Rin griff sofort nach der Hand, die sie sich vor den Mund halten wollte.

    Diese Frage hatte sich bei ihnen eingebürgert, weil Rin sehr gerne relativierte. Wenn Roxy anbot, ihm in einem seiner Tiefs etwas zu kochen oder für ihn einkaufen zu gehen, wollte er immer deutlich machen, dass sie das nicht tun musste. Obwohl er wusste, dass sie das freiwillig tat, war es wie eine Zwangshandlung, ihr zu sagen, dass sie die freie Wahl hatte.

    Weil ihm in seinem Leben ein Mal das ›Nein‹ verwehrt wurde, drängte er andere Menschen fast schon dazu, diese Option zu wählen. Die Stimme zu nutzen, die er an diesem Tag verloren hatte.

    Doch Roxy fragte jedes Mal mit einem Lächeln, dass sie aber doch durfte, oder? Und Rin drehte den Spieß seither sehr gerne um.

    »Ja«, antwortete Roxy mit strahlenden Augen. »Du darfst mich küssen.«

    Rin war eine Sache enorm wichtig, wichtiger als alles andere. Einverständnis. Auch wenn sie zuvor gekuschelt oder sich nur am Oberarm gestreichelt hatten, war es für ihn unverzichtbar gewesen, nachzuhorchen, ob das für Roxy auch in Ordnung war. So wie sie es auch bei ihm tat.

    Mit Roxys klarer Einwilligung war es Rin möglich, nachzugeben. Sich fallen zu lassen. Nach mehreren Jahren des Anschmachtens endlich loszulassen. Er lehnte sich über den Rand der Wanne, fuhr mit der Hand in Roxys blondes Haar und zog sie behutsam zu sich.

    Lavendel.

    Einen kurzen Moment lang sahen sie sich an, streiften sich an den Nasenspitzen. Ihr Blick war so vertraut und doch so neu. Innig. Intim. Rins Herz klopfte wie wild, denn in genau diesem Moment konnte er Roxys Liebe spüren. Sie sah ihn an wie immer. Weil es immer Liebe gewesen war.

    Und dann, wie auf ein Zeichen, überschritten sie die unsichtbare Grenze zwischen ihnen. Als sich ihre Münder berührten, er endlich Roxys zarte Lippen auf seinen spürte, musste er fast weinen, so unendlich sanft war ihr Kuss. So sehr hatte er sich dieses Gefühl herbeigesehnt.

    Obwohl sie sich seit Monaten und Jahren nacheinander verzehrten und beide schon unzählige Male hiervon geträumt hatten, war ihr Kuss nicht stürmisch oder hungrig. Er war zärtlich, unaufgeregt. In Rin ging ein Feuerwerk nach dem anderen hoch, doch ihre Lippen bewegten sich in Zeitlupe. Kein hektisches Suchen von Händen nach nackter Haut, kein regelrechter Kampf von Zungen um die Oberhand, kein Ringen nach Luft, nichts davon.

    Sie küssten sich zaghaft, geradezu schüchtern. Tasteten sich aneinander heran, beide im Wissen darüber, dass das hier wahrscheinlich nur ein Kuss von vielen war, die noch folgen sollten.

    Also weshalb hetzen?

    Plötzlich begann Roxy während ihres Kusses zu kichern, griff mit den Händen nach dem Kragen seines Hoodies und hielt Rin davon ab, sich von ihr zu entfernen.

    »Was ist los?«, fragte Rin im Flüsterton und musste selbst lächeln, weil Roxys Lachen reinste Musik in seinen Ohren war und sich so befreit anhörte.

    »Ich kann’s nicht glauben«, flüsterte Roxy zurück und sah ihn durch nasse, glänzende Wimpern an, die noch vom Weinen feucht waren. »Du bist so ein sturer Esel.«

    »Zum Glück nicht stur genug«, erwiderte Rin und setzte Roxy einen sanften Kuss auf die Lippen. »Ist vielleicht nicht der romantischste Ort, aber können wir noch ein wenig hier drin bleiben? Nur wir zwei?«

    »Also die Wanne ist groß genug für zwei Menschen«, entgegnete Roxy grinsend.

    Rin erhob sich und stieg über den Badewannenrand zu Roxy in die leere Wanne hinein. Hinter ihr ließ er sich nieder und zog sie zwischen seinen Beinen vorsichtig an sich heran, bis sie mit dem Kopf an seiner Schulter lehnte und zu ihm aufsah.

    Dass Rin wahnsinnige Fortschritte damit gemacht hatte, Nähe zuzulassen, wusste er. Und darauf war er auch unfassbar stolz. Was Roxy aber mit ihm machte, war etwas vollkommen anderes. Ihre Nähe wollte er aktiv und ließ sie nicht nur passiv zu.

    Ohne ein lähmendes Gefühl, das ihn in irgendeiner Weise noch zurückhalten konnte, führte er die Arme unter Roxys Armen hindurch und schlang sie um ihre Taille. Roxy reagierte sofort darauf, indem sie eine seiner Hände nahm, sich diese an den Mund führte und einen lauten Schmatzer daraufsetzte, was sie an Rins Kiefer wiederholte.

    Rin drückte Roxy fest an sich, schloss die Augen und lächelte in sich hinein. Die Küsse, die er Roxy auf die Schläfe setzte, wurden nur von erleichterten, tiefen Seufzern kommentiert.

    »Mein Heute«, flüsterte Rin und schmiegte sich mit der Wange an Roxys Kopf. »Und mein Morgen.«

    Ein paar Minuten später ließ ihn Roxys schrilles Quietschen überrascht zusammenzucken. Kaltes Wasser spritzte in solch einem Tempo aus dem Hahn in die Wanne hinein, als wären Rins metaphorische Staudämme in Wirklichkeit gebrochen.

    »Ich hätte Shadow niemals Smart Home einrichten sollen«, stöhnte Rin durch zusammengebissene Zähne hindurch. Hastig fischte er sein Handy aus der Hosentasche, bevor es nass werden konnte, und öffnete den Chat mit Shadow.

    [Rin]: Kann man hier nicht EIN Mal romantisch sein, ohne gestört zu werden?

    [Shadow]: Ist das wieder deine Art, Danke zu sagen? :P

    [Rin]: … Ja. Danke.

    [Shadow]: <3

    Roxy lachte nur ausgelassen und drehte den Wasserhahn auf warm. »Wenn wir schon nass sind, dann machen wir das Beste draus«, kicherte sie und erhielt dafür einen weiteren Kuss von Rin.

    Und damit sicher nicht den Letzten.

    Kapitel 3

    Kontaktabbruch

    Rin saß auf dem Dach, Boy direkt an seiner Seite. Zusammen warteten sie auf Roxy, die nach einer langen Bandprobe noch etwas zu essen von einem Imbiss für sie mitnehmen wollte.

    Gedankenverloren kraulte er den jungen Hund hinter den Ohren und scrollte währenddessen auf seinem Handy durch die neuen Bilder, die seine Freunde in der letzten Zeit gepostet hatten.

    Nate hatte ein Foto seiner Hochzeit hochgeladen, in dem er mit dem Rücken zur Kamera stand, der Kopf zur Seite gedreht. Ayden war darauf zwar nicht zu sehen, aber seine Hand, die sich in der von Nate befand. Auf diesem Foto lächelte der Rotschopf unfassbar sanftmütig und selbst wenn man Aydens Hand nicht gesehen hätte, wüsste man, wen Nate dabei ansah. Sein Blick war voller Liebe, so innig und intim, dass einen das Gefühl beschlich, man würde etwas sehen, was nicht für die eigenen Augen bestimmt war.

    Rin tippte das Bild zwei Mal an, ehe er weiter scrollte.

    Ein Bild von Kyla in einem von ihr designten Kleid versah Rin ebenso mit einem Herz. Er hatte mitbekommen, wie dieses Kleid Kyla den letzten Nerv gekostet hatte. Sie konnte verdammt stolz auf dieses Ergebnis sein. Er musste sich unbedingt merken, ihr das auch zu sagen. Kyla studierte noch, war gleichzeitig aber aktiv im Fashionbereich tätig und arbeitete auf ihren ganz großen Traum hin: ihre eigene Modelinie. Talent hatte Kyla, aber auch den nötigen Biss, den es dafür brauchte, um sich in diesem Feld einen gewissen Namen zu machen.

    Als Nächstes tauchte auf Rins Handydisplay ein Beitrag von Shadow auf, die eine neue Mottoparty für dieses Wochenende ankündigte. Rin teilte diesen Beitrag, völlig unabhängig davon, ob sich irgendwer seine Beiträge auf dieser Plattform ansah. Für ihn zählte die Intention.

    Und dann blieb sein Daumen über dem Display in der Luft stehen. Am unteren Rand des Bildschirms sprang ihm ein Username ins Auge, der ihn versteinern ließ.

    Kaito.

    Mit unbeabsichtigter Brutalität biss Rin sich auf die Unterlippe und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Fluchend führte er sich einen Finger an die Lippe. Das Blut, das er sich daraufhin vom Mund wischte, schleckte er von seiner Fingerkuppe und zog die pulsierende Lippe zwischen die Zähne ein, um die Blutung irgendwie zu stillen.

    Sein Herz schlug automatisch schneller, was Boy dazu veranlasste, irritiert zu ihm aufzusehen.

    »Alles okay, Kleiner«, beruhigte er Boy und streichelte ihm weiter durch den Pelz.

    Eigentlich hätte er die App direkt schließen wollen, doch durch die kurze Interaktion mit Boy war er auf das Display gekommen und hatte unbewusst etwas runtergescrollt.

    Und dann war er auch schon auf Rins Handydisplay. In Hochauflösung. Kaito grinste in der Mitte zweier Freunde in die Kamera, die Arme um ihre Schultern gelegt und beide Hände mit Peace-Zeichen vor sich gehalten. Zu den bereits vorhandenen Piercings waren noch zwei Stück an dem Ohr gekommen, das nicht von Haaren verdeckt wurde.

    Er sah gut aus. Glücklich. Hatte sich die Haare wieder grün gefärbt und länger wachsen lassen. Auch die Nietenjacke kannte Rin.

    Verdammt, tat das weh. Obwohl es genau das war, was er wollte.

    Rin hielt es nicht aus, ihn anzusehen. Bevor ihm die Tränen wieder in die Augen schießen konnten, sperrte er sein Handy, umfasste es mit beiden Händen und drückte es sich an die Stirn. Er hob seinen Kopf ein wenig an und ließ ihn zurück auf die Oberkante seines Handys fallen. Und dann wieder. Und wieder. Immer und immer wieder, bis Boy mit der Schnauze Rins Unterarm anstupste und sich auf seinen Schoß zwängte.

    Rin legte sein Handy beiseite, umklammerte den Körper seines vierbeinigen Freundes und vergrub das Gesicht in dessen Fell. Er setzte alles daran, nicht zu weinen. Biss sich weiter auf die schmerzende Unterlippe, kniff die Augen zusammen, atmete tief ein und aus und wiegte sich mit Boy in den Armen hin und her.

    »Ich bin so dumm«, murmelte er Boy in den Pelz. »So, so dumm.«

    Boy protestierte sofort mit einem Niesen und schnüffelte in Rins Gesicht herum, ehe er ihm quer über den Kiefer schleckte.

    »Du liebst mich wohl immer, egal wie sehr ich alles verbocke, hm?« Boy blickte Rin mit seinen Knopfaugen so ahnungslos an, dass Rin leise lachen musste. »Können wir mal tauschen? Ich würde echt gern wissen, ob dein Leben nur so einfach scheint oder es wirklich so unkompliziert ist.«

    Rin hatte sich gerade in eine etwas bequemere Liegeposition begeben, da hörte er, wie sich die Tür zum Dach öffnete. Prompt sprang Boy auf und marschierte auf Roxy zu, die ihn ebenso freudig begrüßte und sich schließlich neben Rin auf den Kiesboden fallen ließ.

    »Bitteschön, der Herr«, flötete sie frohen Mutes und platzierte eine Plastiktüte auf Rins Schoß, nachdem er sich wieder aufgesetzt hatte.

    »Lass dich erst mal begrüßen«, sagte Rin lächelnd und lehnte sich Roxy entgegen. Obwohl es dunkel genug war, um keine Farben mehr ausmachen zu können, nahm er wahr, dass Roxy rot wurde. Jedes Mal, wenn er Körperkontakt initiierte, wurde Roxy zum kleinen, schüchternen Schulmädchen vor dem ersten Kuss, das ihn voller Verlegenheit anblickte. Und Rin liebte das.

    Sie teilten keinen leidenschaftlichen Kuss miteinander, sondern berührten sich sanft mit den Nasenspitzen. Fuhren mit ihnen behutsam über die Haut des anderen und setzten sich einen zarten Kuss auf die Lippen, ehe sie ihre Augen wieder öffneten und sich anlächelten.

    »Hey, du«, flüsterte Rin und entlockte Roxy damit ein leises Giggeln.

    Er war so unsagbar froh, sich vor einem Jahr dafür entschieden zu haben, seinen Gefühlen zu folgen. Seither hatte er es nicht einen einzigen Tag bereut oder in Frage gestellt. Und das, obwohl es Tage, Wochen, Monate gab, an denen er in tiefen, schwarzen Löchern feststeckte und sich dafür verfluchte, Roxy das anzutun. Ihr damals die Möglichkeit gegeben zu haben, sich emotional so an ihn zu binden, dass er seinen Schmerz in ihren Augen wiederfinden konnte, schürte Wut in ihm. Wut auf sich selbst.

    Aber noch schlimmer war es, zu merken, dass einer dieser Tage wieder bevorstand und er rein gar nichts dagegen tun konnte, als zu versuchen, seine Gefühle gut genug zu kommunizieren.

    Ja, es ging ihm besser. Es ging ihm gut, aber eben nicht immer. Nicht jeden Tag. Nicht jede Woche.

    »Du guckst heute besonders verliebt«, kicherte Roxy und wandte ihr Gesicht von ihm ab. Entknotete stattdessen die Henkel der Plastiktüten in ihrem Schoß.

    »Bin ich. Aber ... Ich hab das Gefühl, es geht wieder los«, sagte Rin in leiser Tonlage, sah Roxy aber immer noch an. Diese hob prompt den Kopf, drehte sich ihm zu und umschloss sein Gesicht liebevoll mit ihren Händen.

    »Und auch dieses Mal werden wir’s da durch schaffen«, sagte Roxy, begleitet von einem aufmunternden Lächeln. Einem Lächeln, das Berge versetzen, aber leider keine Schluchten schließen konnte. »Hast du gar keinen Hunger? Soll ich’s dir später in den Kühlschrank stellen, dass du für den Notfall was hast?«

    »Mhmm, danke«, brummte Rin bejahend. »Ich versteh mich manchmal echt nicht. Klar, ich weiß, bei jedem läuft das anders ab, aber ich find es so komisch, dass ich quasi voraussagen kann, wann’s so weit ist. Und dass es auch nur so kurze Episoden sind.«

    »Du hast durch deine Therapeutin gelernt, wie du diese Teufelskreise durchbrechen kannst«, rief Roxy ihm wieder ins Gedächtnis. »Du kennst deinen Körper am besten und ich bin mir sicher, dass du’s auch

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