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Anna C.: Chronik einer mörderischen Karriere
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eBook526 Seiten7 Stunden

Anna C.: Chronik einer mörderischen Karriere

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Über dieses E-Book

Bewaffnete Geheimdienste sind Machtmittel von gestern, James Bond ist ein Held des vorigen Jahrhunderts. Aktuell lassen sich ganz neue Wege eingeschlagen, um geheimdienstliche Ziele zu erreichen. Die These von Professor Wen Xiao dazu lautet, dass man zur Ausführung eines beliebigen Verbrechens stets einen normalen, nicht kriminellen, unvorbelasteten Menschen motivieren kann. Um keine Spuren zu hinterlassen, am besten jemanden, der vorher nichts, aber auch gar nichts mit den Umständen der Aktion zu tun hatte und die eigentlichen Zusammenhänge nicht durchschaut.
Das lässt Tom Kenwood, Exekutivdirektor des britischen Geheimdienstes MI6, auf einer Konferenz gleichrangigen Kollegen anderer Geheimdienste vortragen. Er ist begeistert von der Theorie, wird das Konzept auf eigene Faust erproben, auch wenn seine Vorgesetzten vor politischen Verwicklungen warnen und ihn nicht decken. Ein brisantes internationales Projekt hat er für den Test ausgewählt und beauftragt Frank Frey, einen angesehenen freien Mitarbeiter, intelligent, reich und unabhängig, mit der Testdurchführung.
Sein 'Medium' dafür hat Frank Frey durch Zufall bereits an der Hand. Bei Mondschein am Strand hat er Anna C. kennengelernt, genauer gesagt, hat sie seine Bekanntschaft provoziert. Anna C. ist aufgeschlossen für abenteuerliche Unternehmungen, nachdem sie gerade bürgerliche Engagements aufgekündigt hat, nämlich ihren Job als TV-Moderatorin und ihre Verlobung. Aus angesehener Anwaltsfamilie, behütet aufgewachsen, reich, schön und charmant lässt sie sich, manipuliert durch Frank Frey, auf zweifelhafte und gefährliche Aktivitäten ein. Scharfsinniges Planen und konsequentes Handeln bei der Ausführung krimineller Taten scheinen ihr angeborene Fähigkeiten zu sein, die sie mit den steigenden Herausforderungen weiterentwickelt.
Ihre ersten 'Erfolge' verbucht Anna C. in ihrer Geburtsstadt Hamburg. In diesem Zusammenhang entsteht ihr Kontakt zu einer Organisation für Verbrechen auf Bestellung in Nizza. Dorthin als Gast eingeladen, erfährt sie durch Ben, den Leiter des 'Club el Sur', wie legal und demokratisch gelenktes Handeln in unserer Welt mit Gewalt und ohne Skrupel beliebig und nachhaltig beeinflusst wird. Die Mitwirkung im "Club" erscheint ihr als ein erstrebenswertes Ziel. Zunächst muss sie jedoch ihr vermeintlich 'eigenes Projekt', der Aufbau eines Handelsmonopols mit hochwertigen Edelsteinen, zum Erfolg führen. Gut getarnt und sehr erfolgreich steuert sie es von London aus. Es führt sie nach Brasilien zu Minen und Edelsteinhändlern, und fordert von ihr die gewaltsame Auseinandersetzung mit Gegnern, über die sie vorher nicht informiert wurde. In Brasilien lernt sie ihre große Liebe kennen, doch die Beziehung kann sie nicht davon abhalten, dem plötzlichen Ruf von Ben zu folgen und aktiv in die Organisation in Nizza einzutreten. Ihre Bewährungsprobe ist der ausgeklügelte, eigenhändige Mord an dem einflussreichen Engländer Lord Christopher Sheldon – wie sich später herausstellt, ebenfalls ein Auftrag des MI6. Vergeblich versucht Scottland Yard, sie zu überführen.
Auch wenn Anna C. glaubt, stets ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, wird sie im Sinne der Vorgaben des MI6 von Frank Frey manipuliert. Nach und nach entgleitet sie jedoch seiner Hand, ihr Ehrgeiz sowie ihre kriminellen Instinkte und Fähigkeiten werden mehr und mehr geweckt. Wo aber arbeitet sie, im sogenannten organisierten Verbrechen oder in etablierten Kreisen politischer und wirtschaftlicher Macht? Die Machtmittel sind dieselben, die Grenzen verschwimmen. Wie tickt unsere Welt wirklich?
Ihr brasilianischer Verlobter wird Opfer ihrer eigenen verbrecherischen Organisation. Als sie die Zusammenhänge entdeckt, schwört sie Rache. Gelegenheit dazu bekommt sie schon bald durch besondere Umstände. Ihre Entwicklung zu einer skrupellos agierenden Frau mit hohem Machtanspruch wird damit abgeschlossen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Dez. 2012
ISBN9783847625018
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    Buchvorschau

    Anna C. - Joachim Günter

    1. Anfänge.

    „Willkommen! Ich darf Sie doch Anna nennen, nicht wahr?"

    Er schüttelte ihre Hand und ließ nicht wieder los.

    „So ist es ja wohl üblich unter Kollegen. Und nochmals vielen Dank für Ihr Vertrauen. Ich freue mich, für Sie zu arbeiten."

    Niemals würde sie aus Berechnung ein falsches Kompliment machen, sie war glücklich und stolz, sah zu ihm auf und strahlte ihn begeistert an. Ihr Talent und ihre Leistungen in den Jahren zuvor hatten sie in die engere Wahl und schließlich durch eine letzte Entscheidung dieses recht bekannten Mannes an den Job gebracht - die eigene Live-Sendung bei Pro-Tel-Vision! Anfangs eine halbe Stunde in der Woche, später vielleicht sogar zweimal, je nach Einschaltquoten. Ihr großes Ziel schien erreicht. Für 10.00 Uhr hatte der Produzent sie zu sich gebeten, zur letzten Abstimmung, wie er es nannte.

    „Nicht so formell! Ich habe dich lange genug beobachtet. Du hast es! Es wurde mein innigster Wunsch, dich in einer meiner Sendungen herauszubringen. Von nun an werden wir vertraut zusammenarbeiten. Und, ganz klar, das Du ist zwar üblich, aber ich verbinde mehr damit."

    Dabei legte er ihr den Arm um die Schultern, zog sie eng, sehr eng an sich heran. Ihre Hand hatte er noch immer nicht losgelassen. Nichts Besonderes; sie wusste, dass in der Branche nun mal eine gewisse Freizügigkeit an der Tagesordnung ist. Wer falsch reagiert, kann leicht als prüde und spießig eingestuft werden und endet im Abseits. Irgendwie empfand sie in diesem Moment sein Engagement allerdings übertrieben, zu direkt.

    „Ich brauche die Zusammenarbeit; mir fehlt noch die Sicherheit in einer so anspruchsvollen Aufgabe."

    „Darüber mach dir mal gar keine Gedanken. Ich bin immer für dich da. Und du musst mir natürlich versprechen, auch für mich immer da zu sein. Wir sind ein Team, wir sind Partner."

    „Für Vorbereitungen und Proben gibt es doch wohl einen festen Zeitplan?!"

    Er war nicht nur erfolgreich und prominent sondern auch attraktiv. Wenn er ihr Zeit gelassen hätte, wenn er es anders angefangen hätte..... Aber so, wie das jetzt gerade zu laufen schien, wollte Anna es nicht. Sein Arm lag wie eine Klammer um ihre Schultern. Mit festem Griff drehte er sie weiter zu sich herum, legte seine andere Hand in ihre Hüfte und spannte die Muskeln.

    „Das mit dem Zeitplan ist selbstverständlich; am kommenden Dienstag beginnen wir. Heute und mit Vorrang geht es um dich und mich."

    Dabei beugte er sich weiter zu Anna hinab, sie konnte nicht anders, als nach oben zu schauen, und noch während er sprach, erreichten seine Lippen fast ihren Mund. Fast. Ohne sich zu rühren, mit ruhiger Stimme ermahnte sie ihn.

    „Ich fände es besser, wenn wir Privatleben und Geschäft voneinander trennen. So habe ich es immer gehalten; so soll es auch bleiben."

    Noch ließ er sie nicht los, im Gegenteil nahm seine Muskelanspannung zu.

    „Genau umgekehrt ist es bei mir. Eine gute Zusammenarbeit beruht auf größtmöglicher Übereinstimmung, auf Nähe, auf gemeinsamen Wünschen und deren Erfüllung."

    „Dann haben wir wohl ein Problem?"

    Jetzt endlich gab er sie frei, nahm seine randlose Brille ab und begann, sie andächtig zu putzen.

    „Wir scheinen tatsächlich ein Problem zu haben. Aber eigentlich nicht wir, sondern Sie."

    „Ach ja? Würden Sie mir das bitte erklären?"

    „Ich habe versucht, herauszufinden, wie kooperativ Sie sind, wie anpassungsfähig und Team-orientiert. Und Sie spielen sich auf, als müssten Sie hier Ihre Unschuld verteidigen."

    Anna wurde wütend, war enttäuscht, dachte aber keinen Moment daran, das alles hinunterzuschlucken, nur, um ihre Sendung und ihre Zukunft zu retten. Völlig beherrscht und sachlich gab sie ihren letzten Kommentar.

    „Sie kennen sicher auch diesen Spruch, dass man sich immer zweimal im Leben begegnet. Also werden wir diese erste Begegnung jetzt beenden und für die nächste bessere Bedingungen erhoffen."

    Dann drehte sie sich um und verließ den Raum, das Studio, den Sender.

    Das Erlebnis am Morgen hatte sie in die rechte Stimmung gebracht, noch am selben Tag ein zweites Problem zu lösen. Seit fast einem Jahr plante sie ihre Hochzeit mit Bernhard. Besser gesagt, er plante. Anfangs war sie voll dabei gewesen, doch das ließ nach. Schließlich konnte sie nicht einmal mehr den Namen ertragen: von Schill und Rathlau! Sicher hätte sie auch ihren eigenen behalten dürfen, wenn sie nur genügend hart dafür kämpfte. Aber die Kinder, wie sollten die heißen? Solche Gedanken waren ganz klar nur Symptome; die eigentlichen Gründe für ihre wachsende Abneigung waren andere. Es war nicht ihre Welt. Bernhard war erfolgreich, Makler, auf der Karriereleiter bei einer bedeutenden Firma, nur exklusive Objekte und komplette Unternehmen wurden zur Vermittlung angenommen. Ursprünglich beeindruckt hatte er sie allerdings nicht damit, sondern mit seiner jungenhaft offenen und immer fröhlichen Art. Dass er außerdem ‚gut’ aussah, wie die meisten pauschal zusammenfassend meinten, spielte natürlich auch eine Rolle. Nach und nach vermisste Anna aber den Tiefgang, die Interessen außerhalb des Berufes, die Distanz zu den Äußerlichkeiten. Also Schluss.

    Eine kurze, heftige Auseinandersetzung beendete das Kapitel, und Anna war frei.

    Bis dahin hatte Anna C. ein recht behütetes Leben geführt; in engem Kontakt mit ihrer Familie, ihrer Zwillingsschwester Lara, ihrer Stiefmutter, ehemals Topp - Model aus Brasilien, und ihrem Vater, einem angesehenen Anwalt. Sie selbst besaß, was ein Mensch sich nur wünschen kann: Ein beneidenswertes Aussehen, Charme, Freunde, Geld, aber auch Klugheit, Unabhängigkeit, Durchsetzungsvermögen. Jedem schien absehbar, dass sie ein Leben mit angemessen großen Erfolgen führen würde, eingebettet in die Annehmlichkeiten und Privilegien der bürgerlichen High Society.

    Seit ihrem Abgang von Pro-Tel-Vision und ihrer Trennung von Bernhard räumte sie aber erst einmal weiter auf. Sie ordnete ihre Beziehungen und Freundschaften neu, reiste viel und überprüfte kritisch ihre Einstellungen und ihre Lebensweise.

    ‚Ist das nicht ein bemerkenswertes Wort: ‚Einstellungen’?’ philosophierte sie. ‚Wir sind ein-gestellt wie eine Eieruhr, wie ein Fernseher auf hell oder dunkel, auf laut oder leise, auf die Sprache und auf den Sender. Das muss ich doch wohl nicht akzeptieren. Das Wort ‚Einstellungen’ streiche ich ab sofort aus meinem Wortschatz und aus meinem Leben. Ich ersetze es durch einen Ausdruck, der mehr Flexibilität zulässt: Launen. Ich habe keine Einstellungen, mache mich frei davon und leiste mir beliebig wechselnde Launen.’

    Eine ihrer ‚Einstellungen’ war von diesem Sinneswandel allerdings nicht betroffen: Sex. Sex blieb für sie zu jeder Zeit eine der wichtigsten Angelegenheiten der Welt. Sie wartete nicht, bis ein Mann versuchte, sie zu verführen; sie wusste, wie man es anstellt, ein eigenes Ziel zu erreichen. Der eine oder andere mochte dadurch auf die Idee kommen, dass sie doch nicht so intelligent ist, sondern nur von ihren „Trieben getrieben". Falls solche Kritiker Anna dann genauer kennen lernten, mussten sie sich immer korrigieren. Eiskalt in ihren Gedanken und messerscharf mit Worten, hat sie sich in jeder Situation im Griff, doch mit vollem Bewusstsein lässt sie sich auf die verwegensten Dinge ein, wenn die Sehnsucht sie packt. Man kann davon ausgehen, dass sie immer, bei jeder Gelegenheit, den Gedanken im Hinterkopf hat: was kann ich mit diesem oder jenem Mann wohl noch anstellen, außer mit ihm zu reden. Mit leichter Ironie ließe sich sagen, Sex gehört bei Anna zum ‚ganzheitlichen Denken’.

    Und nachdem sie nun den ersten Teil ihres Lebens mit dem Eklat bei Pro-Tel-Vision beendet hatte, wird genau diese Neigung zum Ursprung eines völlig anderen, ganz neuen Lebens.

    *******Urlaub*******

    Ihre Energie ist beispiellos, doch irgendwann, nach etlichen Monaten der Auseinandersetzungen, der Besinnung und der Neuorientierung ist selbst sie geschafft. So nimmt sie sich vor, ein paar entspannte Tage am Meer zu verbringen. Nur zur Erholung, ohne besondere Absichten oder Erwartungen. Sie wählt die ungefähre Himmelsrichtung, orientiert sich etwas genauer im Internet und macht sich auf den Weg. Nach einer Autofahrt von wenigen Stunden ist sie am Ziel und lässt sich fallen.

    Es ist das Ende des Sommers und schon kühl am Meer. Anna hüllt sich in ihren flauschigen Mantel. Was sie darunter trägt, ist kaum zum Wärmen geeignet; sie wird später zum Tanzen gehen, eine der Bars besuchen. Aber erst einmal sitzt sie im Strandkorb, hat den Sonnenuntergang genossen und träumt entspannt in den Abend, danach in die Nacht hinein. Mit hochgezogenen Beinen in eine Ecke gelümmelt, ist sie gut geschützt vor dem Wind; ihr Blick hängt gedankenverloren über dem Wasser und dem endlosen, verlassenen Strand.

    Aus dem Augenwinkel sieht sie eine Gestalt im Jogging- Anzug auftauchen. Groß, schlank, die Arme angewinkelt, aufrecht und in leichtem, regelmäßigen Trab. Keine Spur von Anstrengung in der Bewegung, keine verkrampfte ich-muß-was-für-meinen-Körper-tun Haltung. Ein professioneller Sportler oder so etwas Ähnliches . Er läuft ein paar Meter entfernt an ihrem Strandkorb vorbei und weiter in die Dunkelheit hinein.

    Mit etwas Glück will sie die Rückkehr des Athleten erleben.

    Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, doch dann, tatsächlich – der Läufer hat irgendwo kehrt gemacht und kommt nun fast direkt auf sie zu. Sie richtet sich auf, nichts will sie sich entgehen lassen. Wenige Meter querab von ihrem Strandkorb wendet er seinen Kopf, und ganz kurz begegnen sich ihre Blicke im Schein des Mondes. Anna ist angespannt, vielleicht sogar ein wenig verwirrt. Als sie ihm nachschauen will, ist er vom Erdboden verschwunden.

    Enttäuscht fällt Anna in die Ecke ihres Strandkorbes zurück. Aber was hatte sie sich versprochen? Sie wird sich auf den Weg machen, steht auf und rafft ihre Sachen zusammen.

    „Warum wollen sie gehen?"

    Niemand ist zu sehen.

    „ Wer sind Sie, und wo sind Sie?"

    „Gerade bin ich an ihnen vorbeigelaufen. Nun sitze ich im Strandkorb mit der Nummer 25."

    Die 25 kann sie nicht entdecken. Doch die Begegnung hatte sie ja gewollt, also setzt sie sich wieder.

    „Und woher wissen Sie, dass ich gehen will?"

    „Das kann ich sehen."

    „Sie sehe ich nicht."

    „ Suchen sie mich!"

    „Oh nein, ich bleibe lieber hier. Aber nun mal genauer, wer sind Sie?"

    „Ich bin Frank, eins fünfundachtzig, im Urlaub und vertreibe mir die Zeit gerade mit Dingen, die meinem Körper gut tun – zum Beispiel Jogging. Und was tun Sie, wer sind Sie?"

    „Ich bin zum Nichtstun hergekommen. Ich heiße Anna."

    „Anna klingt gut in einer so wundervollen Nacht am Meer, bei Mondschein und in dieser Einsamkeit."

    Ihr fällt nichts dazu ein; ziemliches Bla Bla. Trotzdem. Das leichte Prickeln kennt sie, hat sich bei ihr schon angemeldet; sie muss dem Ganzen nur die richtige Richtung geben, um es zu verstärken.

    „Sind sie verstummt?"

    Mit einem sinnlichen Unterton flüstert sie:

    „Ich bin versunken in den Mondschein, in die Nacht und in dem Blick auf das Meer."

    „Das gefällt mir."

    Seine Stimme ist gut zu verstehen, aber auch er hat sehr leise gesprochen, passend zu dem leichten Wind, dem monotonen Rauschen der Wellen und überhaupt zu allem.

    „Ich möchte dich besser sehen können, Anna. Der Mond bescheint dich so schön. Setz dich doch mal gerade hin."

    Ein Fuß von ihr steckt im Sand, das andere Bein liegt angewinkelt auf der Sitzbank. Anna reckt sich, öffnet ihren Mantel und zieht ihn nach beiden Seiten auf wie einen Bühnenvorhang.

    „Nun bist du dran", bemerkt Anna.

    „Mich hast du ja schon gesehen. Außerdem werde ich nicht vom Mond beschienen, so wie du. Wenn du einverstanden bist, bleibe ich weiter im Verborgenen, und wir spielen Mensch belustige dich."

    „Was ist denn das?"

    „Das Gegenteil von „Mensch ärgere dich.

    „Hat das was mit Lust zu tun?"

    „Klar!"

    „Und wie geht das mit der Lust?"

    „Na, du sagst mir, worauf du Lust hast, und ich entscheide, was wir dann tun. Fang mal an. Worauf hast du gerade Lust?"

    Soll sie sagen, was ihr spontan durch den Kopf schießt? ‚Ich will, dass du mich nimmst wie ich hier sitze, dass du mich in den Strandkorb drückst, mir die Kleider vom Leib reißt?’

    „Ich habe Lust, mich vom Mondschein streicheln zu lassen."

    „Dann musst du Deinen Mantel ausziehen. Sonst fühlst du nicht das weiche Licht der Mondstrahlen vermischt mit dem Wind."

    Wieder richtet Anna sich im Sitzen auf, lässt den Mantel von den Schultern gleiten. Sie reckt die Arme in die Luft, streckt ihren Körper; ihr Busen wölbt sich in der engen Bluse.

    „Fühlst du nun die Mondstrahlen auf Deinem Körper, auf Deiner Brust?"

    „Nicht so richtig! Der Mond muss kräftiger strahlen, der Wind soll wärmer wehen, der Zauberer soll stärker wünschen."

    „Dann nimm die beiden Mondstrahlen, die die Spitzen Deiner Brüste treffen, fasse sie zwischen Daumen und Zeigefinger und hilf ihnen, dich stärker zu berühren."

    Hoch aufgerichtet kreuzt sie die Unterarme, ergreift mit jeder Hand eine ihrer Brüste und massiert sanft die schon erregten Spitzen zwischen den Fingern. Die zärtliche Quälerei hat eine wundervolle Wirkung, der lustvolle Schmerz zwingt sie schließlich, sich zusammenzukrümmen.

    „Gut so, Anna. Noch ein bisschen mehr! Spürst du, wie der kleine, süße Schmerz bis in den Bauch zieht? Du musst aber gerade sitzen bleiben, damit die beiden Mondstrahlen dich nicht verlassen."

    Besser lässt sie jetzt los! Ein letztes Mal streicht sie mit gespreizten Fingern über ihre Brüste und streckt sich dabei dem Mond entgegen. Dann geht sie einen Schritt weiter. Mit schnellen, heftigen Bewegungen knöpft sie die Bluse auf, schiebt sie nach hinten und ihre Brüste recken sich nackt und weiß ins Mondlicht, umfasst und gestützt von ihren Händen.

    „Frank, was machst du?"

    „Was kann ich schon tun? Du bist zu weit weg. Ich würde gern deine Brüste streicheln, küssen, vielleicht auch beißen. Wenn du es dir vorstellst, spürst du den zärtlichen Biss?"

    „Tu es doch!.... Komm!..... Jetzt!....."

    Anna spricht sanft, langsam, ein wenig abgehackt und rau.

    „Noch nicht. Zieh deine Bluse aus und wirf sie in den Sand. – Gut. Nun steh auf, öffne deinen Rock, und lass’ ihn ebenfalls in den Sand fallen."

    Anna gehorcht nicht nur, sondern macht ein erregendes Spiel daraus. Behutsam öffnet sie den Reißverschluss, streift den Rock ganz langsam ein wenig nach unten. Ihr weißer Slip wird Zentimeter um Zentimeter sichtbar. Nach und nach lässt sie den Rock immer weiter hinab gleiten, bis auch der im Sand liegt. Nun zieht sie ein Bein hoch, stellt den Fuß auf die Bank des Strandkorbes, streicht mit der flachen Hand zärtlich erst über die nackte Haut ihres Oberschenkels, dann wieder und wieder über die feuchte Seide.

    „Die Mondstrahlen sind stark, Frank! Sehr stark!"

    „Du hast recht."

    Das hat er ganz leise gesagt. Doch sie hat sogar seinen Atem gehört. Er steht neben ihr, greift nach ihren Sachen, ihrem Mantel, hüllt sie darin ein. Dann hebt er sie auf und trägt sie über die Düne.

    In der letzten Stunde war es stockdunkel geworden, der Mond vollständig hinter Wolken verschwunden. Kniend über sie gebeugt, hebt er sie auf, stemmt sich hoch; ihre Arme um seinen Hals erleichtern das Tragen ebenso wie ihre schläfrigen Küsse. Auf dem Steg setzt er sie ab, nimmt sie bei der Hand, und in eiligen Schritten kämpfen beide gegen die Kälte an. Bisher hatten sie sie kaum empfunden.

    „Ich muss meine Sportsachen los werden. Und was machen wir danach? Gemeinsam essen gehen?"

    „Ich habe keinen Hunger. Wie wäre es mit Aufwärmen bei einer gut gekühlten Flasche Champagner?"

    „Ein optimaler Vorschlag. Der Champagner steht eh schon in der Minibar."

    Sein Apartment besteht aus einem Wohnraum und einem Schlafraum. Frank bestellt an der Rezeption zwanzig Kerzen, verteilt sie auf allen Möbeln, zündet sie an, öffnet den Champagner, schenkt ein, und das Spiel kann von neuem beginnen.

    „Lass uns mit dem Aufwärmen anfangen. Nichts ist dafür geeigneter als ein weiches Bett."

    Sie verstehen sich, trennen sich nicht an diesem Abend, auch nicht am nächsten Morgen, bleiben einfach einige Tage zusammen, so, als wäre das schon lange vorgesehen. Zwischendurch geht Anna mehrmals in ihr Hotel, holt ein paar Sachen oder zieht sich nur um. Sie überlegt, ob sie nicht ganz zu Frank übersiedeln sollte, aber sie will ihre Zuflucht nicht aufgeben. Abenteuer ja, Abhängigkeit nein.

    Zu erzählen gibt es genug; hunderte von kleinen und großen Geschichten aus ihren beiden Leben. Am letzten oder vorletzten Abend kommen sie dann hierauf.

    „Du warst schon in einer Spielbank?"

    „Ach du lieber Himmel, ja. Es gab eine Zeit, da zog mich das Glücksspiel magisch an. Meine Mutter hat mich auf wunderbare Weise davor bewahrt, vielleicht süchtig zu werden. Sie begleitete mich einfach und lenkte meine Aufmerksamkeit in die richtige Bahn. Bis ich die Hingabe mancher Besucher am Spieltisch dumm und schließlich widerlich fand."

    Er beugt sich weit zu ihr hinüber, schaut sie hypnotisch an und spricht fast feierlich beschwörend.

    „Ich werde Dir jetzt ein Geheimnis verraten, das Geheimnis des genussvollen Lebens. Alles, was wir mit unkontrollierter Leidenschaft tun, ist gefährlich und mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolglos. Hast du die Leidenschaft aber im Griff, kombinierst sie mit Intelligenz und Rationalität, lässt sich ein großartiges Spiel daraus machen. Das gilt selbst für eine solch primitive Sache wie Roulette."

    „Du redest ja wie der Hohe Priester eines Geheimbundes. Kannst du mir verständlich machen, wie das gemeint ist?"

    Jetzt schaltet er auf nüchtern und schulmeisterlich um.

    „Du hast beim Roulette verloren? -?-- Oder etwa gewonnen?"

    „Mal gewonnen, mal verloren. Aber insgesamt, na ja, schon verloren."

    „Und das war dir egal? Du wolltest einfach nur spielen?"

    „So kann man das nicht sagen. Es war mir nicht egal; Gewinnen war natürlich schöner. Aber wenn ich verlor, glaubte ich, weitermachen zu müssen, bis ein glücklicher Moment sich wiederholte. Erst beim Zählen meiner Chips kam immer die Erkenntnis, dass die kleinen Höhepunkte zwischendurch nichts wert sind, sondern alles fast regelmäßig auf einem Tiefpunkt endet."

    „Mit Intelligenz nutzt man solche Erkenntnisse und entwickelt einen Plan daraus. Die eine Möglichkeit ist der Ausstieg aus der Leidenschaft. Das ist sehr anstrengend und frustrierend! Die andere Möglichkeit ist die weitere Befriedigung der Leidenschaft ohne nachteilige Begleiterscheinungen. Das führt zum ungetrübten Genuss des Lebens."

    „Und wie soll das funktionieren, zum Beispiel beim Roulette?"

    „Lass uns dein eigenes Wissen benutzen, um der Antwort näher zu kommen. Glaubst du daran, die Gewinnzahl voraussagen zu können? Aus dem Bauch heraus oder nach irgendwelchen mathematischen Verfahren?"

    „Das ist unmöglich. Deswegen setzen die Spieler mit Erfahrung ja kaum jemals auf nur eine Zahl."

    „Gut. Dann könnten wir ja auf Rot oder Schwarz setzen und decken damit immer die Hälfte aller Zahlen, also die Hälfte aller Gewinnmöglichkeiten ab."

    „So habe ich angefangen. Ich habe versucht, mit der Farbe zu gewinnen, die im vorhergehenden Spiel verloren hatte. Auch dabei verlor ich, weil eben doch immer und immer wieder, zigmal hintereinander, dieselbe Farbe kam."

    „Also lässt sich nicht einmal die einfache Chance voraussagen. Zusätzlich stört noch die Null; wenn Zero kommt, haben weder Rot noch Schwarz gewonnen."

    Fast ist es, als hielte Frank einen wissenschaftlichen Vortrag. Anna amüsiert sich. Wie kann ein solch leidenschaftlicher Mann plötzlich so trocken daher reden?

    „Ein perfekter Plan verlangt Systematik. Wir müssen alle Möglichkeiten des Roulette-Spiels durchdenken, für jede eine Strategie entwickeln, die Gewinnchancen miteinander vergleichen und daraus die optimale Lösung auswählen. Zusätzlich ist dabei eine Rahmenbedingung zu beachten: wenn ich in einem Spiel verloren habe, muss ich im nächsten den Einsatz erhöhen, um den Verlust auszugleichen. Das kann sehr teuer werden, und unsere Nerven machen wegen der enorm ansteigenden Einsätze vielleicht nicht mit, oder wir erreichen den von der Spielbank festgesetzten Höchsteinsatz, müssen abbrechen, ohne unsere Verluste zurück gewonnen zu haben."

    „Das ist ja eine Lebensaufgabe! Ich kann jetzt schon deinen Erklärungen nicht mehr folgen, Herr Professor. Wie sollte jemand sich systematisch durch dieses Chaos hindurcharbeiten?"

    „Das ist in der Tat eine riesige Fleißarbeit. Ich will es aber kurz machen heute Abend, wenn du mir das Ergebnis einfach glaubst. Es kommt bei der komplizierten Untersuchung ein banaler Ansatz heraus. Du musst auf das erste, zweite und dritte Dutzend oder auf die drei senkrechten Säulen setzen. Nach bestimmten Regeln, in einem bestimmten Rhythmus und immer auf die beiden Verlierer.

    „Und so gewinnt man garantiert?"

    „Nein, du erhöhst nur die Gewinnwahrscheinlichkeit. Gewinnen und Verlieren lösen sich ab, einige Extras in den Regeln sorgen allerdings dafür, dass du am Ende mehr Geld in der Tasche hast als am Anfang. Und das macht doch wohl den entscheidenden Unterschied!"

    „Ich glaube, das ist zu kompliziert, um es spontan zu verstehen. Aber wir könnten es ja in der Spielbank praktisch erproben."

    „Dann werde ich dir aufschreiben, was du bei jedem einzelnen Spiel und in jeder Situation zu tun hast. Damit gehst du in die Spielbank und holst das Geld ab."

    „Na, du wirst mich begleiten!"

    „Nein, das werde ich nicht, das bringt Unglück."

    „Ach du Spinner! Aber schön. Wir fahren bald nach Hamburg zurück; dann kann ich bei Gelegenheit in die Spielbank gehen. Schreib mir deine Rezepte mal auf."

    *******Wen Xiao*******

    Ein Konferenzraum für dreißig Personen wurde einige Wochen zuvor im Dorchester Hotel reserviert. Das war ausreichend repräsentativ und garantierte äußerste Diskretion. Mit normalen Londoner Taxis fuhren die Teilnehmer vor; niemandem würden sie auffallen, niemand würde die Personen erkennen. Es lag in der Natur ihrer Jobs, dass sie kaum je in der Öffentlichkeit auftraten. Vize-Direktoren von Geheimdiensten sind weder leibhaftig in spektakuläre Fälle verwickelt, noch müssen sie ihre Behörden politisch nach außen vertreten. Sie sind die unbekannten Drahtzieher, bei denen die Fäden zusammenlaufen, und von denen neue gesponnen werden. Aus Vorsicht, die in diesem Geschäft an der Tagesordnung ist, ließen sie ihre Exekutiv-Direktoren in separaten Taxis und in angemessen großen Zeitabständen ebenfalls anfahren. Vertreter mehrerer Länder, die seit langem eng zusammen arbeiteten, fanden sich so zur Teilnahme an der Konferenz ein.

    Anlass war der Vortrag eines Professor Wen Xiao, der bereits am Vortag angereist war und im Dorchester übernachtet hatte. Prof. Xiao von der University of Berkeley/Calif. sollte über seine Entdeckung berichten. Er hatte eine Hypothese aufgestellt und war seit Jahren unterwegs in aller Welt, um Belege für deren Richtigkeit aufzuspüren. Obwohl er sie reichlich fand, erhielt er weder den Nobelpreis, noch wurden seine Forschungen in der Tagespresse verbreitet. Alles blieb trockene Wissenschaft, alles schien Theorie, und alles wäre auf der Ebene eines Disputes unter Fachkollegen verblieben, wenn nicht...........

    Wenn nicht in den Reihen des MI6 mehr zufällig und gerade zum rechten Zeitpunkt jemand auf seine Hypothesen gestoßen wäre. Und wenn dieser Jemand nicht eine Eingebung gehabt hätte. Zunächst misstraute er allerdings seiner Intuition. Nach dem vertraulichen Gespräch mit einem Kollegen beim CIA beschlossen die beiden jedoch, gemeinsam zumindest für einen Gedankenaustausch zu werben. So kam es zu dieser Konferenz und dem Einführungsvortrag des Professors aus Kalifornien, der allerdings nie erfuhr, wer seine Zuhörer waren.

    Tom Kenwood begrüßte die Teilnehmer der erlesenen Runde und hielt eine kurze Ansprache zur Einstimmung in das Thema, ehe der Gastredner zugelassen wurde.

    „Gentleman,

    Kriege werden heute nur noch von und mit kleinen Staaten geführt. Umfangreiche Auseinandersetzungen mit Waffengewalt sind kontraproduktiv. Sie kosten Geld, Zeit und Menschenleben. Kämpfe um Machtpositionen werden in Zukunft mit Mitteln der Wirtschaft am Weltmarkt ausgetragen. Auch der Cyberkrieg gehört in diese Kategorie. Man braucht ein Land nicht mehr zu erobern und zu besetzen, man muss nur konkurrenzfähig, besser noch, konkurrenzlos für den Rest der Welt produzieren. Oder die Wirtschaft seines Gegners durch einen Virus im Datennetz stilllegen.

    Das ist eines der umwälzenden Ergebnisse der Globalisierung und der IT-Entwicklung.

    Waffen sind damit Machtmittel von gestern. Dasselbe gilt für bewaffnete Geheimdienste. James Bond ist ein Held des vorigen Jahrhunderts. Wenn es in Ausnahmefällen doch erforderlich sein sollte, auf traditionelle Aktionen zurückzugreifen, lässt sich das extern beauftragen, ‚Outsourcing’ ist der entsprechende Fachbegriff in der Wirtschaft. Auftragsmorde sind Klassiker, Söldnerarmeen werden immer populärer.

    Unter diesen Prämissen ist auch daran zu arbeiten, völlig neue Wege zu gehen, um geheimdienstliche Ziele zu erreichen. Ein vielversprechender Ansatz könnte sich aus den Hypothesen von Prof. Xiao herleiten lassen.

    Optimale Ergebnisse wird diese Methode allerdings vor allem bei internationaler Zusammenarbeit erbringen. Daher wurden Sie als Repräsentanten eng verbündeter Staaten zu dieser heutigen Veranstaltung eingeladen. Ich begrüße Sie und danke für Ihr Erscheinen.

    Und nun werde ich unseren Gastredner herein bitten."

    Wen Xiao sprach etwa ein und eine halbe Stunde. Stark vereinfacht und zusammengefasst war seine These, dass man zur Ausführung eines beliebigen Verbrechens stets einen normalen, nicht kriminellen, unvorbelasteten Menschen motivieren könne. Um keine Spuren zu hinterlassen, am besten jemanden, der vorher nichts, aber auch gar nichts mit den Umständen der Aktion zu tun hatte, und dem die Zusammenhänge nicht bekannt sind. Allerdings sei nicht jeder beliebige Mensch derart motivierbar, sondern man müsse denjenigen (oder selbstverständlich auch diejenige) suchen, dem oder der die Tat psychologisch übertragbar ist; populär ausgedrückt jemanden, der sich scheinbar freiwillig „den Schuh anzieht". Wen Xiao nannte es den ‚Aktions-Affinen Typ’, den AA-Typ.

    Am Ende des Vortrages herrschte zunächst Schweigen. Für die Meisten schien nicht spontan erkennbar, welche praktische Bedeutung die Theorie für die Geheimdienstarbeit haben sollte. Schließlich gab es noch einige Nachfragen zur Klärung allzu fachlicher Ausführungen, und der Redner durfte gehen.

    Bemerkungen in die Runde und Gesprächsansätze mit den Tischnachbarn signalisierten einen gewissen Unmut. ‚Was soll das?’ stand als unausgesprochene Frage im Raum. Doch ehe diese negative Stimmung sich als einheitliches Urteil artikulieren konnte, ergriff Tom Kenwood vom MI6 wieder das Wort.

    „Genau das, was Sie jetzt empfinden, ist die Resonanz im Allgemeinen. Und genau aus diesem Grund kann es unsere neue, geheime Waffe werden.

    Wir unterscheiden in unserem Geschäft ganz grob zwischen Spionage und Spionage-Abwehr, in beiden Kategorien noch einmal unterteilt in passiv oder aktiv. Die harmloseren passiven Methoden, wie z. B. Verschlüsselung, Verwahrung von Dokumenten, Bewachung, Abhören und Abfangen von Informationen werden von unseren Beamten praktiziert. Aktive Spionage und Spionage - Abwehr von der Sabotage bis hin zur Liquidation ist das Aufgabengebiet unserer Agenten. Auf diese Agenten könnten wir bei praktischer Anwendung der vorgetragenen Theorie in Zukunft weitgehend verzichten. Sie würden dann, wie James Bond, weiter zur Unterhaltung in Filmen bemüht werden, in der Realität müsste es sie nicht mehr geben.

    Wir könnten uns darauf beschränken, nur noch den Ansatz für einen Sabotageakt zu entwickeln und zur Ausführung den Aktions-Affinen Typ suchen. Er oder sie wird – in der Regel freiwillig, hoch motiviert und eigenständig – für uns die Tat vollbringen. Auch bei Entdeckung bleiben unsere Regierungen aus der Schusslinie; der Täter wird ganz allein sich selbst das Motiv zur Tat zuschreiben – psychologisch adäquate Vorbereitung vorausgesetzt.

    Wir müssen zur Realisierung dieses Konzeptes allerdings auf eine andere Art von Mitarbeiter umstellen – statt Agenten brauchen wir Mediatoren, die unter Umständen auch den Lösungsansatz liefern, aber vor allem den Ausführenden, den AA –Typ, suchen und anleiten."

    „Soll das heißen, dass wir vornehm im Hintergrund bleiben, einen Unschuldigen ausspähen und ihn - ohne dass es ihm bewusst wird – zum Begehen eines Verbrechens manipulieren, für das er ganz allein einstehen muss?"

    „Genau so ist es!"

    „Dem kann ich niemals zustimmen!"

    „Ich ebenfalls nicht."

    „Niemals!"

    Einige waren erregt aufgesprungen, andere hatten sich skeptisch zurückgelehnt, die Mehrheit bekundete spontan ihre ablehnende Haltung. Zustimmung gab es kaum, das Äußerste war diplomatisches Schweigen.

    „Wir hatten doch noch nie Skrupel, auch einen Mord zu organisieren. Warum sind wir plötzlich so feinfühlig?"

    „Weil wir unschuldige Bürger in unser nach dem Buchstaben des Gesetzes sehr wohl illegales Geschäft hineinziehen würden."

    „Wir könnten aber gleichzeitig auch unsere Problemlösungen anpassen. Wir müssten keine Tötung beauftragen, zumindest nicht zwingend, nicht als erste Wahl. Wir könnten über alternative Szenarien nachdenken, die aktive Spionageabwehr und auch Sabotage auf neue, intelligentere Art ermöglichen."

    „Das glauben Sie! Das werden wir aber nicht unter Kontrolle haben."

    „Doch. Über die Mediatoren. Sie werden unsere eingeschworenen Fachleute sein, die nach den neuen Regeln arbeiten."

    Inzwischen saßen alle wieder in ihren Sesseln, einer nach dem anderen wurde stumm und nachdenklich. Sie malten sich innerlich Szenarien aus, in denen der Geheimdienst unschuldig im Hintergrund bleibt, und das manipulierte Medium ohne Kenntnis der Zusammenhänge die von anderen geplante Tat ausführt. Einer in der Runde lachte kurz und trocken auf, sein Nachbar schaute ihn mahnend an.

    „Und wie finden wir den AA -Typ?"

    „Prof. Xiao hat, aufgrund seiner Sammlung praktischer Beispiele, Regeln hierzu aufgestellt. Wir können uns einweisen lassen in ihre Anwendung."

    Wieder schweigendes Nachdenken.

    „Eine offizielle Verabschiedung einer solchen Strategie ist unmöglich. Beim ersten Fall, der bekannt wird, würde sich das Parlament einschalten und die Verantwortlichen in unserer Behörde zur Rechenschaft ziehen. Ich sage Nein und verlasse diese Konferenz. Bitte nehmen Sie das ausdrücklich ins Protokoll auf. Gleichzeitig empfehle ich – außerhalb des Protokolls – dass die Herren Exekutiv-Direktoren das Konzept abschließend diskutieren."

    Der Vize-Direktor des MI6 erhob sich und entfernte sich mit einer knappen Verbeugung. In kurzen Abständen folgten die anderen Vize-Direktoren wortlos oder mit ähnlichen Ansagen. Mit sich allein gelassen wurden die Executiv-Direktoren. Gemeinsam setzten sie das offizielle Protokoll auf. Bei der Verabschiedung gaben sie verhalten, aber ziemlich einvernehmlich zu erkennen, dass die Ideen ihnen sehr wohl als erprobenswert erschienen. Die beiden Urheber der Konferenz blieben noch zwei Stunden länger, unter sich. Tom Kenwood war fest entschlossen.

    „Ich werde die Methode erproben. Ich werde es auf meine Kappe nehmen. Der erste Schritt in Richtung einer neuen Geheimdienst-Strategie."

    „Das Schwierigste ist der Einstieg, nämlich den Mediator zu finden."

    „Ich habe meinen Mediator bereits. Zumindest glaube ich, einen bestens geeigneten Mann aus dem Kreis unserer freien Mitarbeiter zu kennen."

    „Dann bin ich gespannt. Halt mich auf dem Laufenden."

    Diese Konferenz fand vor zwei Jahren statt. Ein Jahr später gab es keinen einzigen Hinweis auf die Forschungsarbeiten von Prof. Wen Xiao mehr, weder im Intranet der Bibliotheken noch auf neutralen Internet - Servern. Jede Art von Recherche über Hypothesen von Prof. Wen Xiao endete im Nichts. Nur wer die Library of Kongress in Washington DC besuchte und privilegierten Zugang zu den Archiven mit handgeschriebenen und persönlichen Unterlagen hatte, konnte fündig werden - vorausgesetzt, er wusste, wonach er suchte. Wen Xiao konnte sich dank glücklicher Umstände, die für ihn im Geheimen maßgeschneidert wurden, frühzeitig pensionieren lassen und stellte leichten Herzens seinen Entdecker- Ergeiz zurück. Nach einem weiteren Jahr beginnt der MI6 mit der testweisen Umsetzung einer nun praktisch unbekannten Theorie.

    *******Erste Versuche*******

    Nach ihrer Rückkehr lässt Anna fast eine Woche vorübergehen, ehe sie sich einen Besuch in der Spielbank vornimmt. Sie findet es beruhigend, ist zufrieden, nicht spontan und hektisch hingelaufen zu sein. Keine Leidenschaft, keine Gier. So recht glaubt sie auch nicht an den todsicheren Tipp von Frank, aber gerade deswegen will sie es ausprobieren. Da sie nichts Besseres vor hat, ist für Samstagabend ihr erster Versuch eingeplant.

    Es ist eines der imposantesten Gebäude in der Innenstadt, mit einer Fassade, die sich sogar mit dem Casino von Monte Carlo vergleichen ließe. Der Eingang von Säulen umrahmt, darüber ein langer Balkon, von dem Fürsten und Könige auf das Volk hinunterschauen könnten. Riesige Sprossenfenster, teils als Französische Balkone gestaltet, sind über die drei sichtbaren Seiten des Hauses und seine vier Stockwerke verteilt. Der Wagen wird in der Tiefgarage geparkt, mit dem Lift geht es nach oben. Erster Halt im Empfangsbereich, ein langer Tresen für die Formalitäten. Dann noch einmal mit dem Fahrstuhl oder über die Treppe ein weiteres Stockwerk nach oben. Wenn sich die pompöse Tür öffnet, wird der Blick in den Spielsaal freigegeben.

    Was Anna sieht, ist eine Enttäuschung. ‚Wie ist das alles eng, voll gestellt mit Spieltischen, wenig großzügig, kaum elegant. Hier wird doch wohl nicht wirklich das große Geld gewonnen oder verspielt!?’ Am liebsten würde sie auf dem Absatz kehrt machen. Aber sie überwindet sich; schließlich soll sie sich ja nicht vergnügen, sondern arbeiten.

    Ihren Arbeitsplatz findet sie schnell. Es gibt nur einen einzigen Tisch mit französischem Roulette. An den amerikanischen Tischen mag sie nicht spielen. Dieses Grabschen mit den Händen nach dem Geld ist für sie abstoßend. Die Ansagen in Französisch, das Setzen für die Spieler durch den Croupier mit einem kunstvollen Wurf des Chips, das Einziehen der Einsätze der Verlierer mit dem Roulett-Rechen sind Rituale, die einen Teil des Flairs ausmachten, den sie von einer Spielbank erwartet. ‚Das müssen Zeiten gewesen sein, als sich Spieler nach dem Verlust ihres ererbten Vermögens im Garten der Spielbank stilvoll umbrachten!’ malt sie sich hingerissen aus. Heutzutage prickelt es für ihre Begriffe nicht mehr, es läuft automatisch, ist kaltes Geschäft, Ablenkung, Abzocke, wird ihr kaum echtes Vergnügen bereiten.

    An der Bar bestellt sie einen Drink. Sie möchte aus der Distanz zuschauen, vielleicht auch erst ein wenig mehr in Stimmung kommen. Gedämpft dringen die Ansagen der Croupiers zu ihr herüber, einsehen kann sie den Tisch mit dem französischen Roulette von ihrem Barhocker allerdings kaum. Sie muss doch näher heran; in der zweiten Reihe bleibt sie stehen. Die Kugel rollte auf die 25, die Gewinnkombinationen werden ausgerufen, die entsprechenden Einsätze bleiben als einsame Häufchen auf dem Tisch und werden bezahlt. Schon setzen die ersten wieder, in kurzer Zeit ist der Tisch erneut mit Chips bedeckt. Das Spiel ist schnell und intensiv. Ihr Glas in der linken, den Notizzettel von Frank in der rechten Hand, studiert Anna die Anweisungen.

    Zuschauen.

    Rhythmus der Gewinnzahlen der vorlaufenden Spiele an mehreren Tischen analysieren.

    Tisch auswählen.

    Strategie des Setzens festlegen und konsequent durchhalten*.

    *Mathematiker glauben nachweisen zu können, dass keine Gesetzmäßigkeiten existieren, die Gewinnvoraussagen beim Roulette ermöglichen. Entsprechend kritisch sind die Ansätze von Frank Frey zu betrachten.

    Danach folgen die eigentlichen Strategien. Drei Alternativen gibt es für den Einstieg, und jede Alternative verzweigt wiederum in drei unterschiedliche Vorgehensweisen, je nachdem, ob das Spiel gewonnen oder verloren wurde, oder Zero alles zunichte gemacht hatte.

    Anna spielt mit; nicht wirklich, sie setzt in Gedanken. Und nach und nach beginnt sie zu verstehen, worauf Franks Regeln hinauslaufen. Es gibt keine Voraussage einer Gewinnzahl, es ist die Wette auf den Wechsel; je öfter man verliert, desto wahrscheinlicher wird der Wechsel und damit der Gewinn. Der Einsatz muss dabei ständig steigen; bis zu einem festgelegten Maximum; ist das Maximum erreicht, wird die Serie abgebrochen. Verluste sind also unvermeidlich, sie sind sogar eingeplant. Ein Spieler kann bei 100 Spielen durchaus 70 Mal verlieren, und trotzdem vermehrt er sein Kapital. Absurd, aber real – je öfter der Spieler verliert, desto mehr kann er gewinnen.

    Anna beschließt, sich die Permanenzen von Tisch 1 zu beschaffen und nach Hause zu gehen, um sich besser vorzubereiten. Am folgenden Samstag wird sie wiederkommen und wirklich einsteigen.

    Eine Woche später. Sie wartet, bis ein Platz direkt am Spieltisch frei wird, kauft ihre Chips - mit Zehntausend Euro wird sie einsteigen.

    Wie beim letzten Mal schaut sie eine Weile zu, analysiert die vorhergehenden Gewinnzahlen, wählt die Strategie, setzt zunächst in Gedanken. Nach und nach vergisst sie alles um sich herum. Beim Rollen der Kugel verfällt sie in eine Art Trance, ihr Körper geht förmlich mit, wiegt sich innerlich und unsichtbar, bis sie am Schluss, nach dem unüberhörbaren Tanzen und Klappern der Kugel, sich ruckartig aufrichtet. Sie ist dabei nicht angespannt, sie erwartet nicht mit Herzklopfen die Ansage der Gewinnzahl - sie weiß spontan, wann sie gewonnen hat. Auch wenn sie verliert, weiß sie es intuitiv. Vielleicht war es gut, dass ihre Mutter sie hier herausgeholt hat, schießt es ihr durch den Kopf. Ihr ganzes Empfinden scheint der rollenden Kugel zu folgen. Als sie dann wirklich setzt, ist es genau so. Aber sie lässt sich von keinerlei Emotionen ablenken, folgt exakt Franks Anweisungen und gewinnt. Erstes Dutzend, im nächsten Spiel wieder das erste Dutzend. Jetzt einsteigen, setzen. Gewonnen. Drittes Dutzend, dann erstes Dutzend, wieder drittes Dutzend. Warten, warten, warten. Wieder drittes Dutzend. Setzen. Gewonnnen. Nach einigen Spielen das zweite Dutzend zum vierten Mal hintereinander. Verloren, ein hoher Einsatz ist verspielt; aussteigen und warten bis der Wechsel kommt. Erstes Dutzend zum dritten Mal. Höchsteinsatz, Zero absichern. Zero! Perfekt! Die Chips stapeln sich vor ihr.

    Es ist harte Arbeit! Anna merkt nicht, wie die Zeit vergeht. Nach hundertzwanzig Spielen rafft sie ihre Chips zusammen, steht abrupt auf. Schluss! Mehr als vier Stunden sind vergangen, wie aus einem Traum kommt sie in die Wirklichkeit zurück. Über ihr Geld hat sie keinerlei Überblick. Siebenundzwanzigtausend achthundert und fünfzig Euro bekommt sie an der Kasse ausgezahlt. Kein schlechter Stundenlohn. Herzlichen Glückwunsch, Frank. Aber sie hat keinen Nerv, ihn noch anzurufen.

    *******Frank Frey*******

    Frank Frey ist vierundvierzig Jahre alt, Millionenerbe eines erfolgreichen Vaters und ausgestattet mit der Intelligenz zu besonderen Einsichten. So hat er sich entschieden, seine Zeit nicht damit zu vergeuden, dieses Erbe zu vermehren, oder eigenem geschäftlichen Ruhm nachzujagen. Er will leben und in absoluter Freiheit alle Facetten dieser Welt kennen lernen; nicht nur kennen lernen, auskosten. Manche behaupten, er sei ein Playboy. Doch dagegen sprechen seine Lebensart, seine Bildung und das, was er daraus macht. Er hatte nicht wie jeder normale Student eine bestimmte Fachrichtung gewählt, nicht die entsprechenden Examina darin durchgestanden, um dann mehr oder weniger mühsam sein Wissen in einem soliden Beruf in Geld umzumünzen. Er hatte studiert, wie es vor hundert, oder besser noch, vor zweihundert Jahren üblich war, und sich auf den verschiedensten Gebieten gebildet. Psychologie, Kunst, Architektur, Literatur, Politik und einiges mehr waren die Gegenstände seiner ‚undisziplinierten’ Studien. Klausuren schrieb er nur so nebenbei als Test für sich selbst, Abschlüsse hatte er nie angestrebt, doch in zwei oder drei Disziplinen – niemand wird je erfahren in welchen – fielen sie ihm ohne große Mühen zu. Im Gegensatz zu den Experten und Koryphäen in ausgewiesenen Teilgebieten, behält er stets das übergeordnete Ganze und die Zusammenhänge im Auge, kann jederzeit Querverbindungen herstellen und auf diese Weise scheinbar fundierte Expertisen durch lebensnahe Argumente relativieren. Er kennt keinerlei Parteilichkeit, ist niemandem gegenüber verpflichtet und vertritt völlig unabhängig von Konsequenzen das, was er für richtig hält. Sein ererbtes Vermögen ist eine der Grundlagen dieser Freiheit, die andere und mächtigere ist sein unabhängiger Geist. Hitzige Diskussionen mit renommierten Managern und Politikern haben es ihm besonders angetan. Solides Spezialwissen der anderen kann ihm dabei nichts anhaben, denn er führt den Gesprächspartner an die Grenzen, an denen

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