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Nanna: Mondtochter
Nanna: Mondtochter
Nanna: Mondtochter
eBook351 Seiten4 Stunden

Nanna: Mondtochter

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Über dieses E-Book

Folge dem Ruf der Freiheit und finde die Wahrheit!

Elysion ist die letzte menschliche Siedlung auf der Erde. Dort werden Kinder von Androiden großgezogen, um dann als Erwachsene zum Mars umzusiedeln. Nanna steht kurz vor ihrer arrangierten Hochzeit, doch sie sehnt sich nach Freiheit, nach einem Leben außerhalb der Kuppel, die ihre Heimat umgibt. Eine Legende erzählt von den Profillosen, die dort draußen überlebt haben sollen. Das junge Mädchen wird von einer tiefen Sehnsucht beherrscht und ahnt nicht, wie viele Geheimnisse in ihrer Vergangenheit begraben liegen und welch außergewöhnliches Schicksal für sie bereitliegt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum31. Jan. 2023
ISBN9783757827069
Nanna: Mondtochter
Autor

Hanna Jung

Hanna Jung ist das Pseudonym einer Autorin und freien Lektorin, die mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in einem Dorf im Bayerischen Wald lebt. Das Schreiben hat sie 2018 für sich als Passion entdeckt, denn die Welt der Bücher und Geschichten spielte schon immer eine wichtige Rolle in Hannas Leben. Um mehr über sie und ihre Projekte zu erfahren, besuche ihr Instagram-Profil (@hanna_jung.autorin) oder ihre Website (www.lektorat-felidea.de). Bewerte Hannas Bücher und unterstütze ihre Projekte, denn alle Einkünfte fließen in Spenden an soziale Organisationen.

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    Buchvorschau

    Nanna - Hanna Jung

    Inhaltsverzeichnis

    TEIL I: ELYSION

    1. DAS ENDE DER KINDHEIT

    2. THEATER OHNE ZUSCHAUER

    3. ERINNERUNGEN

    4. MATERNITA

    5. NANNAS VISION

    6. NANNAS ENTSCHLUSS

    7. DIE BIBLIOTHEK

    8. DER DSCHUNGEL

    9. DIE HOCHZEIT

    10. HENDRIK

    11. DER DREAMWALKER

    12. GESTÄNDNISSE

    13. LEVI

    14. DIE ERSTE NACHT

    15. LEVIS GEHEIMNIS

    16. DER BEGEGNUNGSRAUM

    17. LAYLANI

    18. SPINNWEBEN

    19. LEVIS DÄMONEN

    20. MARIUS’ GEHEIMNIS

    21. RAYAN

    22. GESPRÄCHE

    23. FREE-TIME-DAY

    24. ANNÄHERUNGEN

    25. CARLAS KAFFEEKRÄNZCHEN

    26. GEFANGEN

    27. DIE JACKE

    28. ZWEISAMKEIT

    29. DIE FLUCHT

    30. DER ABSCHIED

    31. DAS PORTAL

    TEIL 2: DIE PROFILLOSEN

    1. DRAUßEN

    2. DIE WÜSTE

    3. DIE NACHRICHT

    4. SARAYAS BOTSCHAFT

    5. WÜSTENBEWOHNER

    6. DER RETTER

    7. DIE HÖHLE

    8. DIE PROFILLOSEN

    9. WIEDERSEHEN

    10. LAYLANI

    11. GEHEIME ORTE

    12. DIE HEILGROTTE

    13. DER MONDBERG

    14. DIE ZEREMONIE

    15. DIE BLUTMOND NACHT

    16. DER BLUTMOND MORGEN

    17. DER GROßE TAG

    18. FLUG UND FALL

    19. CHAOS

    20. ZURÜCK

    21. ALAYA

    22. DER WEIßE RAUM

    23. STRIPES

    24. NEUE HEIMAT

    25. DIE KOLONIE

    26. WIEDER VEREINIGUNG

    27. MOLAS WAHRHEIT

    28. ALAYA

    29. ERWACHEN

    30. DAS FEST

    31. ALAYA

    32. DER VORHANG FÄLLT

    33. DIE ENTSCHEIDUNG

    34. ABSCHIED VON ELYSION

    TEIL I

    ELYSION

    1. DAS ENDE DER

    KINDHEIT

    Nanna blickt am Tage ihrer Geburt nicht in das Licht der Sonne, sondern in das des Mondes. Er scheint hell in dieser Nacht, so unwirklich hell, als hätte er den Glanz der Sterne in sich aufgesogen. Schwer und kugelrund sinkt er tiefer als je zuvor und küsst das kleine Mädchen mit seinem Schimmer. Es hebt das Köpfchen, blinzelt gen Himmel und die Mutter erschrickt über den Glanz, der sich in den gerade zum Leben erwachten Pupillen spiegelt. Als wäre all das Silber der Nacht in das kleine Geschöpf geflossen. Es strahlt von innen heraus, unwirklich und schmerzhaft schön. Und so bekommt das Kind seinen Namen − Nanna Mondtochter. Es ist eine schicksalhafte Nacht, der Mond ist der Erde nie zuvor so nah gewesen. Man könnte beinahe glauben, er selbst hätte Nanna ihrer Mutter in die Arme gelegt.

    Siebzehn Jahre später

    Sie konnte ihn von ihrem Zimmer aus sehen. Er schwebte dort oben wie die Glaskugel eines Magiers, fast dachte sie, zwei Hände zu erkennen, die den Mond umschlossen. Das silberne Licht hüllte den Himmel in einen surrealen Glanz und ließ die Welt wie ein Theater wirken.

    Der Knoten in Nannas Brust schnürte ihr die Luft ab, das Atmen fiel ihr schwer. Nicht mal der Vollmond vermochte es heute, sie zu beruhigen. Es waren nur noch drei Wochen. Nur noch drei grausame Wochen, dann wäre ihre Kindheit endgültig vorbei.

    Der Kamm glitt durch ihr Haar, zuerst angenehm kitzelnd, dann durchfuhr sie ein kurzer Schmerz. »Autsch!«, quietschte sie, als Saraya mit den Zinken in einem Knoten hängen blieb.

    Saraya seufzte und ließ Nannas Haare los. »Ich hatte sowieso gerade vor, sie dir abzuschneiden. Warum tu ich mir das eigentlich an? Der Neid zerfrisst mich noch.«

    Schnipp Schnapp, ertönte hinter Nanna das Geräusch einer Schere. Sie würde doch wohl nicht im Ernst …

    »Saraya!«, rief Nanna und fuhr herum. Immer dieses Drama um ihre Haare, vielleicht war es wirklich das Beste, sie abzuschneiden.

    »Sie sehen aus wie das Mondlicht, wie flüssiges Silber. Unglaublich! Warum kann ich nicht so wundervolle Haare haben? Du bist echt gemein!«, jammerte Saraya und gab dabei Töne von sich, als würde ihr jemand die Finger abhacken.

    »DU bist gemein! Was bitte schön kann ich denn dafür? Seit wann kann man sich seine Haarfarbe aussuchen?« Nanna hatte es satt. Am liebsten würde sie sich einen Müllsack über den Kopf stülpen und nur eine von vielen sein.

    »Nicht aufregen, so war das nicht gemeint, aber sieh dir nur meine Strohhalme an. Grauenvoll, einen Haufen Mist hab ich auf dem Kopf.« Saraya fuhr sich durch die rote Lockenmähne und ihre grünen Augen sprühten Funken. Hitze stieg in ihre Wangen und es fehlte nur noch der Dampf aus ihrer Nase.

    »Ach, mein kleiner Feuerdrache …« Nanna nahm ihre Freundin in die Arme. Ihr Bauch krampfte sich zusammen, als sie an den baldigen Abschied dachte, und die Sorge verscheuchte ihre kurzweilige Freude, aber Saraya bemerkte es zum Glück nicht. »Ich wäre gern so ein Wildfang wie du, ich liebe dein Rot, es ist so lebendig.«

    »Vielleicht können wir ja mal tauschen. Unsere lieben Androiden können doch so gut wie alles, oder was meinst du?« Ein Strahlen überflutete Sarayas Gesicht und das Leben in ihr glühte noch stärker. »Stell dir vor, sie haben sogar Emilias schiefe Nase gerichtet. Jetzt stolziert sie herum wie die Königin höchstpersönlich. Dabei war die Nase nicht mal das Schlimmste.« Sie kicherte wie ein kleines Mädchen.

    Nannas Knoten in der Brust zog sich immer enger, sie kämpfte dagegen an, aber verlor schlussendlich. Sie konnte ihre Maske nicht mehr wahren, sie fiel von ihr ab und Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Ich will nicht weg von dir! Ich will nicht weg von hier! Und ich will noch nicht erwachsen werden!«, schluchzte sie wie ein Kleinkind, dem man das Spielzeug aus den Händen gerissen hatte. Sie stürzte in Sarayas Arme, ihr Körper bebte und sie wollte nie mehr heraus aus dieser Umarmung.

    All die Bilder der unbeschwerten Momente mit ihrer Freundin zogen an ihr vorüber. Ihre Streifzüge durch den Dschungel, Klettertouren auf die Hügel um Pueriton herum, ja sogar die langweiligen Lerneinheiten waren lustig mit Saraya. Die heimlichen Nachrichten, die sie sich dabei schickten, und die Strafen, die es ständig hagelte. Ein Nachmittag nachsitzen bei Marius war kaum der Rede wert. Was sie am meisten fürchtete, waren die Nächte. Wenn die Ängste kamen, die dunklen Schatten und Geister ihrer Albträume … nur Saraya konnte ihr dabei helfen.

    »Ich bleib doch bei dir, meine Mondmaus, in Gedanken bin ich jede Sekunde bei dir.« Saraya streichelte ihren Rücken, der noch immer zuckte. »Du wirst einen wundervollen und lieben Mann bekommen. Dein Strahlen wird ihn um den Verstand bringen und er wird dir jeden Wunsch von den Augen ablesen und schon bald brauchst du mich nicht mehr.«

    Nanna blinzelte durch ihre silbernen Haarsträhnen hervor, ihre Augen brannten. »Und wenn nicht? Was, wenn er merkt, dass mit mir was nicht stimmt? Wer will sich schon mit einem Problemfall herumärgern? Da helfen mir meine Haare auch nicht weiter.« Nanna schniefte und schluckte schwer. »Mein Aussehen ist nur ein Ablenkungsmanöver der Natur. Eine Art Tarnung wie eine giftige Blume und jeder, der mich berührt, wird vergiftet.«

    »Du bist einfach nur doof, das ist absoluter Blödsinn! Vertrau mir! Nächstes Jahr komme ich doch auch und dann sind wir wieder zusammen. Wir werden über die dummen Männer lachen, werden Wetten abschließen, wer von uns beiden eher schwanger sein wird. Wahrscheinlich wird es die fantastischste Zeit unseres Lebens. Keine Schule und keine Langeweile mehr. Wir werden behandelt wie Erwachsene. Wir dürfen doch dann viel mehr als jetzt. Zum Beispiel länger wach bleiben und Alkohol trinken. Und wir bekommen Glückspillen!«

    Doch Nannas Sorgen türmten sich vor ihr auf wie ein unüberwindbares Hindernis. Hier war ihr Zuhause, sie fühlte sich noch nicht bereit für die Ehe. Für einen Mann. Wie auch, sie kannte Männer nur aus Illusionen und Erzählungen. Ohne Saraya war sie verwundbar, nicht überlebensfähig.

    »Du weißt genau, dass ich ohne dich verloren bin, nur du kennst meine Probleme. Und damit meine ich nicht die Wehwehchen wie bei den anderen Mädchen, ihr Gejammer um Belanglosigkeiten. Erinnere dich an mein Abschlussfest, am Ende habt ihr ohne mich gefeiert und ich lag im Krankenzimmer. Für die anderen bin ich ein Alien, nur du kennst mich wirklich.«

    Saraya strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, sie lächelte, als wäre alles in bester Ordnung. »Alles wird gut! Ich bin mir sicher, du wirst Hilfe bekommen, Marius wird nicht zulassen, dass dir jemand schadet. Und ich werde immer wieder fragen, mich versichern, dass es dir gut geht. Irgendwie werden wir es schaffen, in Kontakt zu bleiben. Kopf hoch!«

    Es musste einen anderen Weg geben, Saraya musste mit ihr kommen oder sie auf den Mond beamen, oder was auch immer. Nanna konnte keine Ehefrau werden, das war so unmöglich wie Frösche, die vom Himmel regneten. Wer würde ihr denn helfen in Maternita? Dort sollte sie selbst Verantwortung übernehmen. Für sie, für ihren Mann und noch schlimmer – für ein Kind!

    Panik kroch ihre Kehle empor, doch Nanna schwieg. Saraya sollte sich um sie keine Sorgen machen. Es reichte schon, dass sie ihrer Freundin die Ohren vollheulte. Erbärmlich. Einfach nur grauenvoll. Schlimmstenfalls musste sie Marius bitten, ihr Leben auf würdevolle Weise ein Ende zu setzen.

    Dann drückte Nanna Sarayas Hände ganz fest. Sie blickte ihr tief in die Augen. Verlor sich für einen Moment in dem Grün, als würde sie im Gras versinken. Sie roch Wiese und Blumen und Leben. Was sah Saraya in Nannas Augen? Kälte, Trauer und Leid? Sah ihre Freundin, was in ihr drin war? Wie eisig ihre Seele geworden war? Erstarrt und erfroren von all den vielen Sorgen und Ängsten. Von all den Vorahnungen und Visionen, die sie jede Nacht plagten. Hoffentlich sah sie es ihr nicht an. Nanna wollte ihr Inneres für sich behalten. Saraya lächelte. Und Nanna lächelte ebenso. Saraya zuliebe schluckte sie den Eisklumpen hinunter und schwieg.

    2. THEATER OHNE

    ZUSCHAUER

    »Du hast nicht gut geschlafen, hab ich recht?« Marius’ Stimme drang wie durch Watte zu Nanna hindurch. Sie blinzelte, denn das Sonnenlicht, das durch die Fensterfront hineinströmte, stach wie Nadeln in ihre Augen.

    »Nein, nicht besonders gut«, antwortete sie und wusste kurz nachdem die Worte verklungen waren, schon nicht mehr, ob sie wirklich gesprochen oder nur gedacht waren. Sie war so dermaßen neben der Spur und die Unruhe kroch an ihr hoch wie eine Spinne. Sie versuchte, sie abzuschütteln, doch es gelang ihr nicht. Ihre Kehle war rau wie Sand und sie konnte sich einfach nicht überwinden, zu schlucken. Wie ein Fisch auf dem Trockenen schnappte sie nach Luft.

    »Konzentriere dich bitte für diesen Moment, es ist sehr wichtig für dich, für deine Zukunft. Du willst doch bestmöglich zugeteilt werden, oder? Du schaffst das!«

    Marius saß ihr gegenüber. Auf dem Tisch die vielen Linien, Graphen und Tabellen. Daneben ein Bild von Nanna. Ihr vollständiges Profil, offen und erbarmungslos.

    Marius hatte gut reden, von menschlichen Gefühlen wusste er nur in der Theorie. Vorprogrammiertes Wissen.

    Im Grunde konnte er sie unmöglich verstehen und schon gar nicht ihre Gefühle. Niemand konnte sie verstehen. Niemand hier fühlte wie sie, soviel war sicher. Na gut, dann Augen zu und durch, auch wenn es in einer Katastrophe enden würde. Nanna atmete bewusst ruhig und blickte Marius in die Augen.

    Es vergingen einige Minuten, in denen der Rechner surrend die Endauswertung bearbeitete. Minuten, die über ihr Leben entschieden. Minuten, die sie ins Verderben werfen könnten. Oder ins Glück? Nanna wagte nicht, zu hoffen.

    Ein Piepsen ertönte und Marius nickte, sah dann auf das Display am Tisch und fuhr mit dem Finger darüber. Neue Linien, Grafiken und Muster erschienen. Das Gesicht des Androiden leuchtete im Schein des Lichtes. Jede Pore war wie in Marmor gemeißelt. Sein Gesicht so anmutig wie eine Statue. Immer und jederzeit perfekt. So schön, dass er Blicke auf sich lenkte wie ein Magnet. Man haftete an seinen Lippen und Augen wie eine Motte am Licht.

    In seiner Gegenwart fühlte sich Nanna selbst irgendwie unvollständig. Unperfekt und fehlerhaft. Ihre Mundwinkel zuckten oft unkontrolliert. Oder ihre Wangen legten die Unsicherheit offen, wenn sie sich röteten. Blicke, die unbeholfen von einem zum anderen Objekt huschten, nervöse Finger, die nicht wussten, wohin sie greifen sollten. Tippelnde Füße auf dem Boden, verräterische Zuckungen. Die Nervosität bahnte sich jederzeit einen Weg in die Freiheit, heraus aus dem Gefängnis.

    Manchmal wünschte sie, einer von ihnen zu sein. Makellos und perfekt. Programmiert, seelenlos, emotionslos. Einfach nur existieren, ohne nachdenken zu müssen. Doch schon verwarf sie ihren Gedanken wieder, als ihr Bilder von Saraya in den Kopf schossen.

    Lachen.

    Umarmungen, Tränen.

    Nein, die Freundschaft und die damit verbundenen Gefühle waren die Qualen doch wert.

    »Gut, ich habe jetzt klare Daten. Sehr gut gemacht, Nanna.« Marius lächelte sie an und beendete die Analyse. »Du kannst dich jetzt kurz ausruhen, dann zeig ich dir dein zukünftiges Zuhause.« Nanna nickte und erhob sich.

    »Du hast sechzig Minuten Zeit. Wir treffen uns an der Tür. Du weißt, was noch zu tun ist und kommst allein zurecht?«

    Nanna nickte erneut, ihre Kehle brannte und sie sparte sich ihre Worte. Sie würden nur noch mehr Schmerzen in ihrem Bewusstsein verursachen. Tausend kleine Funken sprühten durch ihren Körper. Ihre Zeit hier war nun wirklich vorüber. Schon bald würde sie sich ihr Zimmer mit einem Mann teilen müssen. Mit einem aus Fleisch und Blut. Die Scheu davor war so stark, als würde man von ihr verlangen, vom Dach zu springen.

    Sie vermisste Saraya schon jetzt. Ein Jahr war schrecklich lange, ein Jahr konnte die Hölle bedeuten.

    »Du musst deine Gefühle etwas mehr unter Kontrolle bekommen, mein Herzchen«, sagte Marius und nahm ihre Hand. Sein Blick verursachte ihr Gänsehaut, so durchdringend wie Röntgenstrahlen. »Glaub mir, das wird dir sonst noch zum Verhängnis. Brauchst du etwas? Beruhigungstropfen, Relax-Einheiten oder etwas in die Richtung?«

    Nanna seufzte und drückte die Hand des Androiden. »Danke, das ist lieb, aber ich bekomme es schon hin. Eine Tasse Tee wäre vielleicht ganz gut, wenn es möglich ist.« Sie versuchte, die Spinnen im Körper zu ignorieren und rang sich ein Lächeln ab.

    »Natürlich, Kleines, ich wusste, dass du stark sein kannst. Du brauchst diese Hilfsmittel nicht. Ich schicke dir jemanden hoch. Du hast genügend Zeit.«

    Zeit, was verstand er schon von Zeit? Nanna ließ seine kalte Hand los, lächelte ihm artig zu und verließ den Raum.

    Jetzt, wo sie nicht mehr lange hier sein würde, nahm sie alles intensiver wahr. Wie vertraut ihr jeder Zentimeter dieses Gebäudes war. Das Mosaik der Fliesen über die sie schlich. Jede einzelne Pflanze, die in ihrem Blumentopf steckte und die Blätter nach ihr ausstreckte, als wollte sie sagen: »Bleib hier, mein Kind, hier ist dein Zuhause, hier gehörst du hin.«

    Sie könnte die Augen schließen und würde jedes Bild, jede Skulptur und jede Zimmernummer mit Bewohner nennen können. Die Kleinen im unteren Bereich, die Großen oben. Die Labore, Lehrräume, Sportsäle, Kunsträume und die Bibliothek. Ja, die würde sie am meisten vermissen. Jahrhunderte alte Bücher. Ferne Welten aus längst vergangenen Zeiten. Wie schön musste das Leben einst gewesen sein? Magisch und lebendig. Ihr eigenes Leben war ein Witz, ein Theater ohne Zuschauer.

    Was würde sie in ihrem neuen Leben erwarten? Sie hatte absolut keine Vorstellung und niemand sagte irgendetwas. Wie konnte das sein? Wie, verdammt nochmal, sollte sie sich beruhigen können? Wie konnten sich alle anderen darauf freuen? Es fühlte sich an, wie mit verbundenen Augen über die Seilbrücke im Dschungel zu spazieren. Man fühlt das geflochtene Tau unter den Füßen, wie es hin und her schwingt, das Knarzen und den kalten Wind an den Füßen und man weiß, wie tief und reißerisch der Fluss darunter ist. Wie konnte man sich auf so etwas freuen? Es war ein Albtraum!

    Nanna stellte sich auf den Kreis am Boden und drückte auf ihr Implantat am Arm. Der Lichtkegel erschien und sie kniff die Augen zusammen. Ein Rauschen und Surren, dann stand sie oben, vor ihrem Zimmer.

    Stille.

    Saraya war im Unterricht, die Glückliche. Wie gern würde Nanna die Zeit zurückdrehen oder wenigstens anhalten. Kein Wunsch war in diesem Moment größer. Außer der Wunsch, der Beamer würde sie bis zum Mond hinaufbefördern.

    3. ERINNERUNGEN

    Das Wasser der Dusche hüllte Nanna ein wie die Umarmung eines geliebten Menschen. Ihrer Mutter? Ihres Vaters? Sie konnte sich nicht erinnern, nur schemenhafte Gesichter blitzten manchmal auf. Ein Lächeln, vertraute Blicke, Augen, die sagten:

    »Ich bin bei dir, für immer!«

    Lüge.

    Nicht für immer, denn keiner von ihnen hier in Pueriton hatte noch Eltern − zumindest nicht auf diesem Planeten.

    Doch niemand schien ein Problem damit zu haben. Natürlich nicht, denn sie besaßen keine Erinnerungen und ihre Emotionen waren zu schwach. Alle, außer Nanna. Sie hatte zwar genauso wenig Erinnerungen, doch umso mehr Träume und Visionen. Und Emotionen zur Genüge. Doch sie behielt diese Wahrheit fest verschlossen, keiner durfte davon erfahren.

    Einmal hatte Nanna Saraya gefragt, ob sie ihre Eltern vermisse, ob sie irgendwen vermisse. Saraya hatte nur gelacht. »Nö, wieso?«, war die Antwort gewesen. Unbekümmert hatte Saraya auf einer Kakaoschote herumgekaut und mit den Schultern gezuckt. »Ich erinnere mich an gar nichts, warum sollte ich sie vermissen? Du etwa?« Nanna schluckte die Wahrheit herunter. Die Wahrheit über ihre Sehnsüchte, ihre Wünsche und ihre erbarmungslose Unruhe. Saraya sollte sich nicht um sie sorgen und wenn Nanna all ihre Gedanken ausspräche, so bekämen die Gefühle nur noch mehr Gewicht.

    »Nein, natürlich nicht, ich frag mich nur manchmal, was sie dort oben so machen, ob sie an mich denken oder ob ihre Erinnerungen auch verschwunden sind«, sagte Nanna, obwohl sie am liebsten geschrien hätte. Die Sehnsucht nach ihren Eltern und einer anderen Welt, einem anderen Leben, raubte ihr tagtäglich den Verstand. Wie sollte sie das nur länger ertragen?

    Die Zeitschaltuhr beendete den Duschvorgang und Nanna stand halb eingeseift im Trockenen. Ganze zehn Minuten war sie im Tagtraum gefangen gewesen, wie so oft.

    Sie trat heraus und stellte sich zwischen Farngräser und Palmen. Warme Luft umströmte und trocknete ihren Körper. Sie schloss die Augen und spürte die Wärme der Lampe von oben und die Fönluft von der Seite.

    Wieso könnte sie nicht einfach für immer in diesem Badezimmer bleiben? Umgeben von Pflanzen und Wärme. Die Welt außerhalb dieses Raumes war kalt und leer. Die Zeit sollte jetzt auf der Stelle stehenbleiben. Doch auch der Timer des Trockners endete nach kurzer Zeit und Nanna stellte sich vor den Spiegel.

    Ein Geist stand vor ihr, durchsichtig und gestaltlos. Die Leute sagten, sie wäre etwas Besonderes, aber Nanna wünschte sich lieber, normal zu sein. Nicht aufzufallen. Ihre Augen verrieten zu viel von ihrer Seele. Das machte alles nur noch komplizierter.

    Sie drehte sich herum und die Strahlenschutzhülle wurde angelegt. Nanna sträubte sich dagegen, sie würde sich nie an diesen Fremdkörper gewöhnen, obwohl sie ihn schon ihr Leben lang trug. Vor allem nach dem Duschen würde sie das Mistding am liebsten in der Luft zerfetzen. Was sie tatsächlich schon mal getan hatte, da war sie etwa acht Jahre alt gewesen. Marius war schockiert bis in die Haarspitzen, seinen Blick würde sie niemals vergessen.

    Sie schmunzelte, als sie ihn auch jetzt vor sich sah. Der Arme, wie verzweifelt er versucht hatte, Nanna begreiflich zu machen, dass diese zweite Haut ihr Leben schützte. Nanna hatte es nicht glauben wollen, löcherte den Androiden tagelang mit Fragen. Erst als ihr Marius einige Videos präsentierte, was mit den Menschen geschehen war, bevor sie diese Schutzkleidung getragen hatten, ließ sie sich umstimmen. Die Verbrennungen auf der Haut waren noch das kleinere Übel. Lähmungen bis hin zum Herzstillstand und epileptische Anfälle waren die eigentliche Norm gewesen. Das sei eben der stolze Preis für High-Tech und unser paradiesisches Leben in Elysion.

    Nanna beobachtete, wie ihre Haare zurecht gemacht wurden. Der Beauty-Robot drehte sie zu Zöpfen und wickelte sie wie einen Kranz um ihren Kopf. Dann steckte er blaue Blumen dazwischen. Die Hand des Roboters war beinahe so silbern wie Nannas Haare.

    Dann wurde sie geschminkt und verwandelte sich binnen Minuten in ein ganz gewöhnliches Mädchen. Das Make-up entzog ihr Anderssein und brachte Nanna in die gewünschte Form. Nun fühlte sie sich etwas geschützter. Wie hinter Mauern.

    Langsam entspannte sie sich. Es würde schon alles irgendwie weitergehen. Und vielleicht käme wirklich alles so, wie Saraya gesagt hatte. Besser und aufregender. Nanna musste sich zwingen, daran zu glauben. Sie musste einfach.

    Sie verließ das Badezimmer und stellte sich auf die Ankleideposition. Ihr Blick fiel auf Sarayas und ihr eigenes Bett. Sie selbst hatte die blaue Bettdecke zurückgeschlagen und ordentlich gefaltet. Sarayas Decke hingegen lag auf dem Boden und ihr Bett war übersät mit Perlen.

    Saraya liebte es, Perlenbänder zu knüpfen. Für die gesamte Bevölkerung. Alle trugen Sarayas Armbänder. Nanna würde sie so sehr vermissen. Das Leben, das sie versprühte, ihr Chaos, ihre Unordentlichkeit. Ihre Stärke.

    Der BR schwirrte um Nanna herum und kleidete sie ein. Weiße Leggings, blaues Kleid, etwas Schmuck. Schwarze Stiefel wurden vor sie geschoben und Nanna schlüpfte hinein. Der Roboter zupfte alles zurecht und legte ihr zum Schluss einen dunkelblauen Seidenmantel an.

    Dann betrachtete sich Nanna im Spiegel. Sie sah einigermaßen normal aus. Lediglich ihre Haarfarbe war noch andersartig. Aber ansonsten ganz passabel, Saraya würde natürlich umwerfend sagen. Nanna hörte sie geradezu kreischen und sich die Hände vor den Mund schlagen.

    Ein Piepsen ertönte und die Service-Klappe öffnete sich. Dampf trat aus der Luke heraus und Nanna ging hinüber, um den Tee zu entnehmen. Sie setze sich damit aufs Bett und versuchte, die letzten Minuten in Frieden zu genießen. Der Duft von Lavendel benebelte ihre Sinne und sie legte den Kopf in den Nacken. Über ihr drang das Sonnenlicht herein und brach sich in dem Mosaik des Fensters. Tausende Formen tanzten auf ihrem Gesicht. Sie spürte jede einzelne.

    4. MATERNITA

    »So, da wären wir. Ist es nicht fantastisch?« Marius bemühte sich um einen heiteren Tonfall, doch das beunruhigte Nanna nur noch mehr. Den Weg hierher, durch den Dschungel von Elysion, den Pfad entlang des Tahita-Baches, hatte Nanna ziemlich zu kämpfen gehabt. Nicht etwa gegen Insekten oder Ungeziefer, die es hier draußen in Massen gab, sondern gegen ihre eigenen Insekten. Die Käfer, die ihren Hals emporkrochen.

    Die Fliegenschwärme in ihrer Brust und die Feuerameisen in ihren Füßen. Der Kampf zehrte an Nannas Nerven und sie war nicht mehr in der Lage zu sprechen.

    In drei Wochen würde sie den Weg durch den Dschungel nicht mehr zurückgehen, so wie heute. Diese Erkenntnis überstieg ihre Vorstellungskraft. Die Bilder der Zukunft waren nicht zu greifen, sie waren wie Sternschnuppen am Himmel − unerreichbar.

    »Nun komm! Du schaffst das, Kleines, nur Mut. Wenn du erst mal drin bist, ist die Aufregung weg, wirst schon sehen.«

    Marius’ Aura sollte eigentlich beruhigend auf Nanna wirken, er verströmte Entspannung und Harmonie. Doch selbst die Technik eines Androiden konnte nichts gegen Nannas Gefühlswelt ausrichten. Ihr Inneres war isoliert und unantastbar, genau wie Elysion durch eine Kuppel geschützt war. Nichts drang hindurch, nicht der kleinste Windhauch.

    Nanna blickte tief in Marius’ eisblaue Computeraugen. Sie sah seine Programmierung und die Leere hinter seinen Augen. Und doch kannte sie ihn, seit sie denken konnte. Er war Vater und Mutter in einer Person. Sie nickte ihm zu, vertraute ihm, und tat einen Schritt auf das Gebäude zu. Hier war es also – Maternita, ihr neues Zuhause. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um bis ganz nach oben blicken zu können. Strahlend blauer Himmel im Hintergrund und die weiße Pyramide im Vordergrund. Das Sonnenlicht reflektierte die Oberfläche und Nanna musste ihre Augen abschirmen. Es war nicht viel anders als Pueriton. Äußerlich zumindest.

    Rundherum herrschte Wildnis, wie überall innerhalb der Kuppel. Das Krächzen und Kreischen der Vögel durchbrach die Stille und Insekten zirpten und surrten von allen Seiten heran. Nannas Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Ihre rechte Augenbraue zuckte unaufhörlich.

    Marius nahm ihre Hand und steuerte die schwarze Eingangstür an. Er hielt seinen Unterarm an die Wand und sprach das Erkennungszeichen. Dann schob sich die Öffnung lautlos zur Seite und beide traten ein. Sie wurden von zwei Androiden empfangen. Sie alle verbeugten sich, stellten sich vor und Nanna folgte den drei

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