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Der Gejagte
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eBook419 Seiten5 Stunden

Der Gejagte

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Über dieses E-Book

Der vierte Band um den ehemals kriminellen Kommissar Johan Rokka:
Oktober in Hudiksvall, Nordschweden: Die Elchjagdsaison beginnt. Eine Gruppe von sechs Jägern bricht zur Jagd auf. Kurz darauf hängt im Kühlhaus neben dem gehäuteten Elch eine aufgeschlitzte menschliche Leiche. Es handelt sich um einen der Jäger, eingeritzt in seine Haut ist die Ziffer 6. Johan Rokka beginnt zu ermitteln, doch auch er kann nicht verhindern, dass kurze Zeit später ein weiterer Kopf an einer Sennhütte hängt, daneben die Zahl 5. Die Verbindung zwischen den Verbrechen ist klar, doch wer macht Jagd auf die Schützen? Kann Rokka den Täter stellen, bevor er auch die verbliebenen vier Jäger umbringt?

SpracheDeutsch
HerausgeberHarperCollins
Erscheinungsdatum24. Aug. 2021
ISBN9783959675963
Der Gejagte
Autor

Gabriella Ullberg Westin

Gabriella Ullberg Westin stammt aus der nordschwedischen Stadt Hudiksvall, wo auch ihre Protagonisten leben. Sie studierte Modedesign und Kommunikation und arbeitete für eine der größten Telefongesellschaften Schwedens, bevor sie sich vollzeit dem Schreiben widmete. Sie lebt heute in Stockholm, ist verheiratet mit einem Polizisten und Mutter von zwei Kindern.

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    Buchvorschau

    Der Gejagte - Gabriella Ullberg Westin

    Copyright © 2021 by MIRA Taschenbuch

    in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

    © 2020 by Gabriella Ullberg Westin

    Deutsche Erstausgabe

    © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe

    by HarperCollins

    in der HarperCollins Germany GmbH

    Covergestaltung: zero-media.net, München (Wolfgang Staisch)

    Coverabbildung: Petr Baumann / shutterstock

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783959675963

    www.harpercollins.de

    Für meine lieben Geschwister: Patrick & Margareta

    1

    Tag 1

    »Er war ein Junkie, und Junkies nehmen schon mal ’ne Überdosis.«

    Stina Olsdotter starrt die Frau, die ihr mit rot unterlaufenen Augen gegenübersitzt, an. »Das haben sie also gesagt?«

    Die Frau nickt und schließt die Augen.

    Vor ihnen auf dem Tisch liegt Stinas Handy, das jeden Atemzug, jedes Zögern während ihres Gesprächs aufzeichnet. Sie spürt Wut in sich aufsteigen, ist kurz davor zu explodieren, doch sie zwingt sich, Ruhe zu bewahren.

    »Wissen Sie eigentlich, wozu diese Männer in der Lage sind?« Die Frau schluckt und sieht Stina direkt in die Augen.

    »Möchten Sie es mir erzählen?«

    Die Hände im Schoß zu Fäusten geballt, holt die Frau einmal tief Luft. »Das erste Mal geschah es an einem Tag, als ich freihatte. Es war erst kurz nach dem Mittagessen, aber draußen war es schon ziemlich dunkel. Ein schwarzer BMW mit getönten Scheiben hielt vor unserem Haus. Die hintere Tür sprang auf, und ein Mann schubste Agnes und Ida aus dem Wagen.«

    »Die haben Ihre Kinder einfach aus dem Kindergarten abgeholt?«

    Die Frau nickt. »Die Mädchen wachen nachts immer noch auf und weinen, obwohl es jetzt schon ein halbes Jahr her ist«, sagt sie, und ihre verquollenen Augen füllen sich mit Tränen.

    »Ist sonst noch was passiert?«

    Mit zitternden Fingern sucht die Frau nach einem Bild auf ihrem Handy und hält es Stina hin. Stina starrt fassungslos auf das Foto, ein Würgereiz macht sich bemerkbar. Auf dem Bild sind leuchtend rote Hautfetzen und verklebte Fellbüschel zu sehen. Nur ein dünnes Stück Haut hält den Kopf noch am restlichen Körper der Katze.

    »Goldie lag auf der Veranda«, stammelt die Frau, und jetzt laufen ihr die Tränen unaufhaltsam über die Wangen, sie wehrt sich nicht mehr dagegen. »Sie haben … sie haben sie richtig geschlachtet!«

    Stina schlägt sich die Hand vor den Mund und wendet den Blick ab. »Haben Sie Anzeige erstattet?«

    »Gegen die kann man nicht gewinnen.« Die Frau vergräbt das Gesicht in den Händen und schüttelt den Kopf. »Wir mussten umziehen, noch mal ganz von vorn anfangen … Hier war eine Stelle als Bezirkskrankenschwester frei, also sind wir hierhergezogen.«

    »Es ist sehr mutig von Ihnen, mir all das zu erzählen.«

    »Ich habe keine Wahl«, sagt sie schluchzend. »Sonst würde auch ich diese Jugendlichen im Stich lassen.«

    »Haben Sie das …« Stina presst die Kiefer aufeinander, sie bringt die Worte nicht über die Lippen. Die Frau reckt sich nach ihrer Handtasche, holt ein zerknülltes Stück Papier heraus und überreicht es Stina Olsdotter. Mit zittrigen Händen greift Stina zu und faltet es auseinander, starrt auf den Text. Es dauert eine Weile, bis sie den Kopf wieder heben und der Frau ins Gesicht sehen kann. »Sind das Ihre Worte?«

    »Ja«, antwortet die Frau, und ihr steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. »Das habe ich geschrieben.«

    Die Trauer löst nun die Wut ab, als Stina das Papier wieder zu einem Ball zusammenknüllt und in ihre Tasche steckt. »Ich verstehe«, sagt sie und verdrängt alle anderen Gefühle, um dem Platz einzuräumen, was jetzt in ihr wächst. »Ich weiß genau, wozu diese Männer in der Lage sind.«

    ***

    Kriminalinspektor Johan Rokka hängt seinen Helm ans Lenkrad seiner Harley-Davidson und fährt sich über den rasierten Schädel. Er ist in Norrbo, nicht weit von Hudiksvall. Der gekieste Hof vor ihm ist von buntem Herbstlaub bedeckt, und an der einen Seite steht ein rotes Holzhaus mit weißen Sprossenfenstern. Über der Eingangstür hängt ein Schild mit grünen Buchstaben. Nordicura steht darauf. Eins der sieben Häuser des norrländischen Konzerns, in denen Menschen zu Therapiemaßnahmen, Pflege und Reha untergebracht sind. Auf der anderen Seite des Hofes liegen die Zimmer, und links befindet sich ein Stall. Den sucht er.

    Die Scharniere der Stalltür knarren, als er sie aufschiebt, und ihm fährt der Geruch von Sägespänen und Mist in die Nase. Rokka holt einmal tief Luft und kommt zu dem Schluss, dass es hier gut riecht.

    Weiter hinten ist jemand vollauf damit beschäftigt, den Gang zu fegen, doch mit einem Mal steht der Besen still, und Eddie Martinsson dreht sich um.

    »Hey, was geht?« Er kommt Rokka mit dem Besen in der Hand entgegen und begrüßt ihn mit einem Faustcheck.

    Eddie hat einen Lebenslauf, von dem jeder Sozialarbeiter Albträume bekommt. Mit neun verübte er den ersten Einbruch, und dann nahm seine Karriere ihren Lauf, von kleinen Diebstählen bis zu unerlaubtem Waffenbesitz und Dealen von Haschisch, Kokain, Amphetaminen. In den vergangenen Jahren liefen Rokka und er sich immer wieder über den Weg. Mit siebzehn war Eddie schon fast Mitglied in einer kriminellen Bande, kam dann aber wieder mit Rokka in Kontakt, der in einem Mordfall ermittelte. Obwohl sie eigentlich Gegner waren, hatten sie voreinander Respekt, und Rokka fährt immer wieder in die Therapieeinrichtung, um Eddie zu besuchen.

    »Du magst den Stall, stimmt’s?«, fragt Rokka. »Sicher wegen der Mädels.«

    Eddie sieht ihn scharf an und schnaubt. »Hier gibt es nur zwei Mädels, und die mögen keine Pferde.«

    »Und keine von beiden ist was für dich?«

    Eddie schmunzelt, dann schüttelt er den Kopf.

    »Und selbst, wie läuft’s mit den Frauen?«

    Rokka seufzt. »Läuft gar nicht.«

    Die Stalltür schlägt zu, und der Heimleiter kommt herein. Nach Rokkas Auffassung ist Anders genau richtig auf dieser Stelle, denn er kennt den ständigen Kampf, den diese Jungs hier mit sich selbst ausfechten. Vor zehn Jahren hatte er selbst eine Strafe wegen Raubüberfalls und Drogenbesitzes verbüßt und dann beschlossen, aus seinen Erfahrungen das Beste zu machen. Schon am ersten Tag nach seiner Entlassung begann er, jungen Kriminellen zu helfen, aus der Szene auszusteigen, und als er die Ausbildung zum Sozialarbeiter abgeschlossen hatte, übernahm er diesen Job im Therapieheim.

    Anders sieht gestresst aus und begrüßt Rokka nur flüchtig. Dann knallt er die Tür hinter sich zu und ist wieder weg.

    Eddie fährt fort, die Sägespäne vom Gang zu fegen.

    »Wie lange wirst du noch hierbleiben?«, fragt Rokka ihn.

    »Anders spricht mal mit dem Sozialamt, dann sehen wir weiter.«

    »Willst du denn wirklich weg?«

    Eddie zuckt mit den Schultern. »Meine Ma hat im letzten Jahr wohl kaum ’ne Million im Lotto gewonnen. Und mit dem Trinken hat sie sicher auch nicht aufgehört.«

    Rokka betrachtet Eddie eingehend. Er ist fast so groß wie er selbst. Dunkler Teint, dunkle Haare. Sein Vater, den Eddie nie kennengelernt hat, stammt aus Lateinamerika. Vom Tag seiner Geburt an hatte Eddie lernen müssen, seine Gefühle zu verdrängen. Freude, Liebe, Angst und Wut. Es war kein Erwachsener für ihn da, der damit hätte umgehen können. Deshalb streifte er alle Gefühle ab, Schicht für Schicht, sodass nur noch ein harter Kern übrig blieb. Und den füllte er mit Verachtung.

    Eddie fährt sich mit der Hand durchs Haar, und Rokka hat den Eindruck, als hätte sich ein grauer Schleier über ihn gelegt, seit er ihn das letzte Mal gesehen hat.

    Sie verlassen den Stall. Eddie redet von den Pferden und vom Kickboxen, das er nebenbei machen darf, und erzählt, dass er das Heim einmal in der Woche putzen muss. Als sie schließlich vor Rokkas Motorrad stehen, sieht Rokka Eddie direkt in die Augen. Irgendwas ist nicht in Ordnung.

    »Jetzt will ich dich mal was fragen.«

    »Fine«, sagt Eddie.

    »Hast du irgendwas genommen, seit du hier bist?«

    »Ich hab nicht gewusst, dass du als Bulle hierherkommst.« Eddie schlägt die Augen nieder.

    Rokka seufzt. Er will für Eddie nicht der Polizist sein, der herumschnüffelt, sondern einfach ein Mensch, der ihn nicht im Stich lässt. Er sieht hinüber zu Anders, der gerade mit zwei übervollen Mülltüten über den Hof läuft. Dann greift er zu seinem Helm und setzt ihn auf, schwingt sich auf die Harley und kickt den Ständer hoch.

    Vom Norden her ziehen dunkle Wolken am Himmel auf, und ein kühler Wind fährt unter Rokkas Lederjacke. Eddie nimmt den Besen und geht zurück in den Stall, stellt ihn an die Wand und bleibt dann gedankenverloren ein paar Sekunden still stehen. Rokka läuft ein Schauer über den Rücken. Eddie zu beobachten ist für ihn, wie sich selbst als Jugendlichem zuzuschauen. Er weiß genau, wie die Rastlosigkeit unter der Haut des Jungen kribbelt, wie tausend Ameisen, die einen Ausgang suchen. Und Rokka sieht ihm an, was in seinem jungen Kopf vor sich geht – diese ständige, nagende Unruhe.

    Keiner sieht mich.

    Ich gehöre nicht dazu.

    Nur mit Drogen halte ich es in dieser Scheißwelt aus.

    Rokka hat sich am Ende für die andere Seite des Gesetzes entschieden. Aber er weiß genau, wie schmal der Grat zwischen Gut und Böse sein kann und dass er bei der nächsten Gelegenheit ein Wörtchen mit dem Einrichtungsleiter reden muss.

    Eddie kommt zurück und schaut Rokka ins Gesicht.

    »Jetzt hab ich eine Frage«, sagt er und lehnt sich an den Türrahmen. »Wann hast du gewusst, dass du Bulle werden willst?«

    Rokka zieht die Augenbrauen hoch. »Willst du etwa Polizist werden?«

    »Nicht direkt«, antwortet Eddie und wird mit einem Mal ernst. »Aber ich will aus dieser Scheiße raus. Ich will was Richtiges tun.«

    Der Deckel der Mülltonne schlägt laut krachend zu. Anders schielt zu ihnen herüber, dann geht er zurück zum Hauptgebäude. Rokka legt Eddie die Hand auf die Schulter.

    »Die Seite zu wechseln ist ziemlich hart«, sagt er. »Aber du würdest es schaffen.«

    ***

    Spärliches Nachmittagslicht fällt durch die Baumkronen hoch über ihm. Die Heidelbeersträucher wachsen hier dicht an dicht, und hin und wieder tauchen graue Steine wie Trolle im Märchen auf. Im Osten erheben sich steile Berghänge.

    Es ist schön hier. Doch die eisige Luft füllt den Hals beim Atmen mit Kälte, und die Jagd, die den ganzen Tag lang andauerte, hat seine Beine müde gemacht. Eigentlich hätte er schon viel früher nach Hause fahren sollen, doch es hat eine Weile gebraucht, bis er den Hund wiedergefunden hatte. Sie haben keinen Elch geschossen, obwohl die Hündin einen Schaufler über mehrere Kilometer verfolgt hat. Jetzt springt sie an der Leine aufgebracht hin und her, trotz der Anstrengung, die hinter ihr liegt.

    »Sitz«, keucht er und hält die Leine fest, er braucht jetzt einfach eine kurze Pause. Ihm steht der Schweiß auf der Stirn, und doch schlottert er vor Kälte. Ihm ist, als käme die Kälte aus dem feuchten Erdboden gekrochen und würde nach ihm greifen, ihn umschlingen. Er sieht sich um. Es ist noch ein ganzes Stück bis zu dem Waldweg, auf dem er den Wagen geparkt hat, also setzt er sich wieder in Bewegung.

    Als er zu einer Lichtung kommt, ein paar Hundert Meter vom Weg entfernt, hört er ein Geräusch. Eine Art Knacken. Er dreht sich um, kann jedoch nichts erkennen. Vielleicht noch ein Elch, denkt er. Das ist jetzt die Zeit. Das Gewehr hat er dummerweise im Auto gelassen, als er losging, um nach seinem Hund zu suchen.

    Der Hund keucht heiser, als er an der Leine zieht. Sie gehen weiter, doch schon nach einem kurzen Stück ertönt erneut ein Geräusch. Irgendetwas zischt und knurrt. Was um Himmels willen ist das? Es knackt wieder, und nun überkommt ihn die nackte Angst, ein Jagdkamerad hat von Bären in der Gegend erzählt. Nun geht er weiter, läuft schneller über Moos und umgestürzte Bäume. Der Bär fällt Menschen von Natur aus nicht einfach an, zumindest normalerweise nicht. Doch wenn dieses Tier nun verletzt ist?

    Sein linker Stiefel versinkt zwischen zwei Steinen, und plötzlich schlägt er der Länge nach hin. Hört das Tier wieder knurren. Er versucht, so schnell wie möglich auf die Beine zu kommen. Es muss ein richtig großes Tier sein, und es ist nur wenige Meter entfernt.

    Der Stiefel ist stecken geblieben, doch er hat keine Zeit dafür, jetzt ist er sich sicher, dass es sich um einen Bären handeln muss und dass dieser seine Witterung aufgenommen hat. Nach ein paar schnellen Schritten bleibt der Hund mit einem Mal stehen, will sich nicht mehr von der Stelle bewegen. Das Keuchen kommt jetzt ganz aus der Nähe, dann ein zischender Laut, und nun überkommt ihn die Panik. Gleich wird der Bär sich auf ihn stürzen.

    Er wirft sich zu Boden, die Taschenlampe fliegt in die Blaubeersträucher neben ihm. Das Einzige, was er jetzt noch tun kann, ist, sich tot zu stellen. Der Hund springt vor und zurück, verbellt das Tier, und im Lichte der Taschenlampe erkennt er, wie sich ein Schatten nähert, sich vor ihm auftürmt. Er presst sich an den Erdboden, spannt den ganzen Körper an, und die Gedanken, sich tot zu stellen, existieren auf einmal nicht mehr.

    Das ist kein Bär.

    Es ist ein Mann. Er steht da wie ein Höhlenmensch, der aus den hintersten Felsspalten zum Vorschein gekommen ist. Der Mann hebt die Arme hoch, er hält etwas in den Händen. Eine kurze Bewegung, und ihn trifft ein Schlag auf den Kopf.

    Der Schmerz fährt ihm durch den Schädel, er greift sich an den Kopf und kauert sich zusammen. Noch ein Schlag, und ihm wird schwarz vor Augen. Er liegt auf der Seite, kann sich keinen Zentimeter bewegen.

    Heftige, schnelle Atemzüge kommen immer näher, dann sinkt der Höhlenmensch neben ihm auf den Boden. »Ich will wissen, wer dahintersteckt!«, brüllt er. »Alle Namen!«

    Ein erneuter Schlag trifft seinen Kopf, und es fühlt sich an, als sei sein Schädel gespalten.

    »Sprich, sonst schlage ich weiter.« Die Stimme klingt längst nicht mehr menschlich, und in der Dunkelheit ist das Gesicht nur noch ein Schatten. Der Tierische holt etwas aus seiner Tasche, die er über der Schulter trägt. Die Schneide eines Messers blitzt auf.

    Mit einem dumpfen Geräusch setzt sich der Mensch auf ihn, keine Chance mehr zu fliehen. Er reißt die Jacke seines Opfers auf. Fährt mit dem Messer einmal nach unten, bis er das Unterhemd zerschlitzt hat. Die Kälte ist auf der nackten Haut kaum noch zu spüren.

    »Sprich! Ich will alle Namen!« Die Hand, die das Messer hält, wandert nach oben, hält direkt unter den Rippen an, die Klinge presst sich gegen seinen Leib.

    Er schreit auf vor Schmerz, und der Höhlenmensch bekommt seinen Willen, denn jetzt ruft er einen Namen nach dem anderen, bis er sie alle verraten hat. Als er verstummt, schüttelt sein Bezwinger nur den Kopf und fletscht die Zähne. Ihm rinnt der Speichel aus dem Mund.

    »Ihr miesen Geier!« Das Gebrüll hallt zwischen den Bäumen wider.

    Der Schmerz, als das Messer seine Haut durchstößt und ihm in den Magen fährt, ist so groß, dass alles um ihn schwarz wird. Aus Panik wird Resignation. Er schreit, aber am Ende dringt nur noch ein röchelnder Laut aus seiner Kehle.

    ***

    Stina Olsdotter sitzt am Esstisch, vor ihr der Laptop. Die Hündin Maja liegt schlafend zu ihren Füßen, und Kent, Stinas Lebensgefährte, sitzt ihr gegenüber und rührt in seiner Kaffeetasse. Der Dielenboden knarrt, als sie den Stuhl näher an den Tisch zieht. Obwohl sie kürzlich noch ein wichtiges Interview geführt hat, geht es mit der Enthüllungsreportage, an der sie arbeitet, nur schleppend voran. Sie hat die Datei noch nicht einmal geöffnet. Vor sechs Monaten hat sie mit ihren Recherchen begonnen. Eine der größten schwedischen Tageszeitungen will die Reportage veröffentlichen. Die Deadline für die Abgabe ist bereits in zehn Tagen.

    Stina starrt das Hintergrundbild ihres Computers an. Das Foto zeigt den See Södra Dellen unterhalb ihres Hauses, mit dem Badesteg. Dort steht Kent, die Hemdsärmel hochgekrempelt, und hält in seiner rechten Hand einen Hecht. Seine knallblauen Augen strahlen direkt in die Kamera. Diese Aufnahme ist gut zwölf Jahre alt.

    Stinas Blick wandert aus dem Fenster, zu den hohen Baumstämmen, die sich da draußen in unendlicher Zahl ins Dunkel ausbreiten, als hätte jemand Geld dafür bekommen, möglichst viele Setzlinge ins grüne Moos zu pflanzen.

    »Was gibt es da draußen zu sehen?«, fragt Kent.

    »Nichts.«

    »Das sagst du oft, einfach: nichts.«

    Der Hund knurrt im Schlaf und wechselt die Stellung.

    »Stimmt«, seufzt Stina und stützt das Kinn auf die Hand. »Ich sehe deinen Wald und muss daran denken, wie groß und fremd er uns trotz allem ist. Voller Leben und Geheimnisse.« Sie fegt eine tote Fliege vom Fensterbrett. »Wir haben nicht die geringste Ahnung, was sich noch alles in ihm verbirgt.«

    Kent beugt sich über den Tisch und hat plötzlich etwas Schelmisches im Blick. »Du meinst Monster und Hexen?« Seine Stimme klingt mit einem Mal tiefer, dramatischer.

    »Wer weiß, wer weiß«, antwortet sie, ebenso theatralisch. »Oder ein versteckter Schatz, den jeder gern finden würde.« Ihre Blicke treffen sich, und für einen Augenblick ist da wieder diese Freude in seinem Gesicht.

    »Das große Unbekannte eben«, sagte er und lehnt sich zurück. »Vielleicht ist es ganz gut, dass wir es nicht wissen.« Der Stuhl knarrt, dann wird es wieder still. Jetzt schweift sein Blick zum Fenster hinaus und bleibt an der Silhouette des Waldes hängen.

    Sie betrachtet Kent, wie er dasitzt. Als sie sich kennengelernt haben, arbeitete sie bei der Lokalzeitung von Hudiksvall. Sie war achtzehn und kam frisch vom Gymnasium. Der erste richtige Auftrag war ein Interview mit einem der größten Waldbesitzer in der Gegend, und er hatte seinen Sohn Kent dabei, der den Betrieb gemeinsam mit ihm führte.

    Damals hatte sie noch nicht ahnen können, dass sie ihr Leben mit ihm teilen würde. Kent sah keinem der Jungs ähnlich, mit denen sie zur Schule ging. Typen, denen sie regelmäßig einen Korb gab, wenn sie sich an sie ranmachten, mit sauber gebügelten Hemden, die ihnen aus den Chinos hingen, und unerträglich betrunken vom selbst gebrannten Schnaps. Kent kam zu diesem Interview in Holzschuhen, Flanellhemd und ausgebeulten Jeans. Er begann, ihr vom Wald zu erzählen, von den verschiedenen Arbeitsphasen im Forstbetrieb, vom Abholzen, vom Lichten und vom Bäumesetzen. Und seine Augen, diese blauen Augen, hatten eine Schärfe und eine Präsenz, die sie neugierig machten, sodass sie wieder Kontakt zu ihm aufnahm.

    Bei ihrer ersten Verabredung machten sie einen Spaziergang durch den Wald, ließen sich dann am Steg am See nieder, hielten die Füße ins sommerwarme Wasser und unterhielten sich stundenlang. Sie erinnert sich daran, wie sehr sie lachen musste, als sie ihre rosa Ballerinas neben seine Holzschuhe hielt. Und wie bedeutsam sie es fanden, als sie feststellten, dass ihre Familiengräber zufällig beide auf demselben Friedhof lagen, in Delsbo. Da war mit einem Mal dieser Mann, der schon so viel mehr vom Leben kannte als sie selbst, der dabei gewesen war, wenn Kühe gekalbt hatten, und der beim Schlachten auf dem Hof geholfen hatte. Er kannte sich mit Leben und Tod schon aus.

    Ihre Gedanken werden unterbrochen, als Kent einen Schluck Kaffee schlürft und die Tasse wieder auf dem Tisch abstellt.

    »Wir müssen eine Entscheidung treffen, was wir mit den Möbeln meiner Eltern anstellen«, sagte er. »Ich will sie nicht mehr im Schuppen rumstehen haben.«

    »Ja«, sagt sie, doch jeder weitere Gedanke daran ist ihr zu viel. Nach nur einem Monat Beziehung waren sie damals in dem kleinen Nebenhaus auf dem Anwesen seiner Eltern zusammengezogen. Sie träumten davon, eines Tages den Hof zu übernehmen. Kent würde auch den Forstbetrieb weiterführen, der mittlerweile modernisiert worden war. Stina würde weiterhin ihren Beruf ausüben, sie war freie Journalistin. Und sie würden die kleine Familie gründen, die sie sich innig wünschten.

    Wieder starrt sie auf ihren Bildschirm. Ihr wird ganz kribbelig zumute. »Ich fahre in die Stadt und arbeite dort weiter«, sagt sie. »Im Büro kann ich besser schreiben, und ich muss endlich vorwärtskommen.« Außerdem hat sie noch einen Termin für ein Interview ausgemacht.

    Kent reckt sich nach einer staubigen Sonnenbrille, die seit dem Sommer auf dem Fensterbrett liegt. Er setzt sie auf und schlägt den Kragen seines Flanellhemdes hoch. »Du tust ja ziemlich geheimnisvoll«, sagt er und spielt ungehalten. »Kannst du nicht einfach erzählen, worüber du schreibst?«

    »Das kann ich leider nicht«, erwidert sie und steht auf, ohne seine Bemühungen, witzig zu sein, zu kommentieren. In seinem Gesicht steht die Enttäuschung geschrieben, er legt die Sonnenbrille aufs Fensterbrett zurück.

    »Ich hätte gern mit dir zusammen gegessen«, sagt er und seufzt. »Und ich hatte gehofft, du würdest heute mal zu Hause übernachten.«

    Sie sieht, wie Kent die Kaffeetasse fixiert. Dann wirft sie einen Blick auf das Hintergrundbild ihres Computers, auf Kents fröhliche blaue Augen, klappt den Laptop zu und geht.

    ***

    Der Bürostuhl knarrt, als Rokka sich zurücklehnt und die Füße auf den Schreibtisch legt. Er muss wieder an seinen Besuch im Therapieheim denken. Die Häuser dieses Betreibers genießen im ganzen Land einen hervorragenden Ruf, die Therapien dort sollen äußerst erfolgreich sein. Zumindest war das vor ein paar Jahren noch so. Dennoch greift Rokka zu seinem Handy und sucht die Telefonnummer des Leiters heraus, um ihn zu fragen, wie die Lage ist und wann Eddie zuletzt Urinproben abgegeben hat. Ein Klingeln nach dem anderen ertönt, doch niemand nimmt ab. Rokka spielt kurz mit dem Gedanken, eine Nachricht zu hinterlassen, doch dann beschließt er, es lieber etwas später noch einmal zu versuchen.

    Es klopft an der Tür, und kurz darauf steht Janna Weissmann da. Sie trägt eine dunkle Jeans und ein hellblaues Polo-Shirt, das ihre durchtrainierten Arme entblößt. Doch die Kollegin sieht blasser aus als gewohnt, sie hat sogar dunkle Ringe unter den Augen.

    »Wie läuft’s?« Rokka verschränkt die Arme im Nacken und rückt die Füße auf dem Schreibtisch zurecht.

    »Ich bin mit der Dokumentation fertig und hatte vor, jetzt nach Hause zu gehen.«

    In den vergangenen acht Wochen waren sie mit einem Fall von Betrug befasst, bei dem ein paar junge Männer einen Computer in eine Wohnung gestellt und übers Internet von einem Unternehmen Geld abgezweigt haben. Wäre Janna nicht so ein IT-Spürhund, würden sie die Täter immer noch suchen, und jetzt hat Carl Linderoth, der Chef der Abteilung für Schwerverbrechen, ihnen beiden Urlaub verordnet.

    »Setz dich«, sagt Rokka. »Komm mal ein paar Minuten runter, nicht dass du auf dem Heimweg einen Herzinfarkt bekommst.«

    Sie schüttelt den Kopf über ihn.

    Janna ist die kompetenteste Mitarbeiterin der Polizeiwache, findet Rokka. Sie ist Kriminaltechnikerin und auch IT-Forensikerin, und am liebsten arbeitet sie eng mit den Ermittlern zusammen, weil sie weiß, dass das ihren Blick für den Fall erweitert. Manchmal bewegt sie sich weit außerhalb ihres eigentlichen Aufgabengebietes.

    »Hast du jetzt, wenn du freibekommst, vor, mit dem Training anzufangen?«, fragt sie und zwinkert. »Du musst schließlich schneller sein als die bösen Buben.«

    Rokka schnaubt nur. »Das Wichtigste ist …«, sagt er und fährt sich über die geschwollene Brust, »eine gewisse Substanz mitzubringen.«

    Und die beträgt genauer gesagt 120 Kilo, gut verteilt auf hundertsiebenundneunzig Zentimeter. Sein letzter Besuch im Fitnessstudio ist etwa ein Jahr her. Er kann sich bei der Genlotterie nur für seine Kraft bedanken, und auf Kurzstrecken knackt ihn von den Kollegen keiner, zumindest nicht über dreißig Meter.

    Janna legt den Kopf schräg, und als er ihr hübsches Lächeln sieht, kommt wieder das Gefühl in ihm hoch, das er im Frühjahr hatte. Sie hatten gerade einen komplizierten Fall abgeschlossen, und es sah so aus, als seien sie sich nähergekommen, und zwar auf eine Art und Weise, gegen die er überhaupt nichts einzuwenden hätte. Ihre Gesprächsthemen hatten sich plötzlich nicht mehr um DNS-Analysen und die neuesten Erkenntnisse aus der IT-Forensik gedreht. Es war sogar schon so weit gewesen, dass er darüber nachgedacht hatte, wie er den ersten entscheidenden Schritt machen könnte. Aber seitdem war nichts mehr zwischen ihnen geschehen.

    Eigentlich war es völlig lächerlich – zum einen, dass er sich überhaupt vorstellte, dass es mit ihnen zweien etwas werden könnte, zum anderen, dass er nicht einfach aufhörte, daran zu denken. Er sollte die Tatsachen besser akzeptieren: Sie geht am liebsten mit Frauen ins Bett, und über Gefühle zu reden, fällt ihr schwer.

    Als wäre er selbst ein Held, wenn es um den Umgang mit Emotionen ging.

    Jannas schöne braune Augen schauen ihn an, und er verschränkt die Arme und reckt sich. Aber sein Skelett fühlt sich an wie ein Schokoladenkuchen, der ein bisschen zu lange in der Sonne gelegen hat. Was ist denn verdammt noch mal mit ihm los? Macht es ihn so an, dass sie nicht zu kriegen ist, fühlt er sich deshalb von ihr so dermaßen angezogen?

    Janna hat die Hand schon wieder an der Türklinke, dann dreht sie sich zu Rokka um.

    »Willst du nachher mit mir zu Abend essen?«, fragt sie. »Zum letzten Mal vor dem Urlaub?«

    Er weiß nicht, ob er zusagen soll oder sie zum Teufel jagen, damit er nicht wieder daran erinnert wird, dass aus ihnen beiden nie etwas werden wird.

    »Okay«, sagt er. »Wenn wir nicht in deinen schrecklichen Raw-Food-Laden gehen.«

    Sie hält den Daumen hoch und verlässt sein Büro.

    ***

    Der See Södra Dellen ist stürmisch, der Waldbesitzer Kent Wik kann die Wellen erkennen, die sich unterhalb der steil abfallenden Wiese aufbäumen, wie immer, wenn die ersten Herbststürme darüberziehen. Auf der anderen Uferseite breitet sich ein Laubwald aus, der aussieht, als habe ihn jemand mit roten und gelben Farben angemalt.

    Kent setzt sich auf die Treppe vor der Haustür und schiebt die Cap gerade. Maja sitzt neben ihm, auf der obersten Stufe, und sieht ihn mit ihren braunen, ein bisschen traurigen Augen an. Er krault das Tier am Kopf und an der Brust. Die Hündin ist jetzt vierzehn Jahre alt, sie hat bereits seinem Vater gehört. Maja kann nicht mehr gut laufen, der Tierarzt hat bei der Untersuchung im Sommer festgestellt, dass sie Schmerzen in den Hüftgelenken hat. Kent hat es bislang nicht übers Herz gebracht, sie einschläfern zu lassen, obwohl es für das Tier vermutlich das Beste wäre. Doch sie ist die letzte Verbindung zu seinem Vater.

    Die Tür springt auf, und Stinas Vater kommt mit einer Thermoskanne in der einen Hand und einer Kaffeetasse in der anderen heraus. Seit zehn Jahren hilft Olle ihm auf dem Hof und bei den Arbeiten im Wald, und er hat sich seitdem nicht verändert, immer dasselbe graue, zerzauste Haar und die zerrissene Arbeitshose.

    »Hier, für dich«, sagt er und hält ihm die Tasse hin. Sie ist mit einem Aufdruck verziert – einer Fichte. »Die habe ich kürzlich in Stockholm entdeckt, da musste ich gleich an dich denken.«

    »Wie nett, danke«, sagt Kent und macht Platz.

    »Du weißt ja, was ich immer sage«, meint Olle und setzt sich. »Nette Menschen kommen immer durch.«

    »Da hast du sicher recht.«

    »Brauchst du sonst noch irgendwo Hilfe?« Sein Schwiegervater stützt die Hände auf die Knie. Ansonsten würde ich den Zaun am See unten weiter abmontieren.«

    »Die zwanzig Hektar bei den Hansehäusern müssen bald komplett abgeholzt sein«, antwortet Kent. »Der Käufer hat sich schon gemeldet.«

    »Hundert Jahre alte Kiefern, etwa sechstausend Kubik«, erwidert Olle schnell. »Ein Geschäft in Höhe von zweieinhalb Millionen Kronen.«

    Kent nickt zögerlich. Obwohl er mit der Forstwirtschaft aufgewachsen ist, befällt ihn noch immer eine gewisse Unsicherheit, wenn es um Geschäfte mit dem Holz geht. Er sieht Olle an, seine viele Erfahrung mit der Arbeit im Wald, unter der grünen Mütze mit den zotteligen Ohrenklappen verborgen. »Könntest du bei den Verhandlungen mit den Käufern vielleicht dabei sein?«

    »Nein«, antwortet Olle. »Ich weiß, dass dein Vater sagen würde, ich soll dir einen Tritt in den Hintern geben, damit du das alleine hinkriegst. Früher oder später musst du da sowieso ran.«

    Kent lässt den Blick über den Kuhstall schweifen. Er hatte nie vorgehabt, den Betrieb im Alter von fünfunddreißig allein weiterzuführen. Fünfunddreißig Jahre und der größte Grundbesitzer im Bezirk Gävleborg. Vor ein paar Jahren war sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben und damit seiner Frau ins Familiengrab gefolgt. Und jetzt muss Kent zum allerersten Mal so ein großes Geschäft ohne ihn abwickeln.

    Er beobachtet Olle, der Maja über den Kopf streichelt und leise mit ihr spricht, als sei der Hund ein kleines Kind.

    Wir brauchen das Geld, denkt Kent. Im letzten Jahr hat er mehr ausgegeben als geplant, und glücklicherweise weiß keiner, wie er die Kohle investiert hat.

    Er sieht hinauf zum Himmel, betrachtet die dunklen Wolken, die sich in verschiedenen Schichten schnell fortbewegen.

    Du fehlst mir, Papa, denkt er.

    »Bis später«, sagt Olle und stiefelt in Richtung Traktor.

    Kent sieht dem untersetzten Mann hinterher. Sein Schwiegerpapa. So nennt er Olle immer, obwohl Stina nicht seine Ehefrau ist.

    Er hat Glück, dass Olle ihm auf dem Hof und im Wald zur Hand geht. Aber vor allem ist es ein Glück, dass er diese Lebenspartnerin hat. Von dem Tag an, als sie ihm über den Weg lief, war es, als würde nichts mehr gelten, was er bis dahin über Liebe gewusst hatte. Als sie sich gegenübersaßen, füllte sich sein Herz mit einer pulsierenden Wärme, die mit jeder Sekunde wuchs. Er liebte es, wie sie ihn ansah, wie sie lächelte und blinzelte, als wolle sie ihn noch klarer erkennen. Die neugierigen Fragen aus ihrem Mund, das interessierte Nachhaken. Sie nickte und begriff, sie kitzelte die Freude aus ihm heraus, und ihm war, als habe er vorher niemals richtig von Herzen gelacht.

    Er seufzt und schaut hinaus auf den Dellen. Sein Herz füllt sich immer noch mit dieser glutheißen Wärme, wenn er sie anblickt. Doch in der letzten Zeit ist das Lachen weniger geworden. Die neugierigen Fragen sind verstummt, und die hübschen Augen sind müde und traurig geworden. Stina hat etwas auf dem Herzen, doch sie will nicht darüber sprechen. Und wenn er sie darauf anspricht, ist es, als würde etwas mit ihr passieren, so wie man eine Schraube zu fest anzieht. Kent bekommt Magenschmerzen, wenn Stina so traurig ist, er kann damit nicht umgehen.

    »Wenn sie nicht darüber reden will, dann braucht sie das auch nicht«, sagt er und krault den Hund hinter dem Ohr. »Hauptsache, sie verlässt uns nicht.«

    Das Geräusch vom Traktor, der angefahren kommt, reißt ihn aus seinen Gedanken. Olle, der am Steuer sitzt, hält an und öffnet Maja die Tür zum Fahrerhäuschen. Mit einem Satz springt sie hinauf. Sie ist immer gern auf dem Traktor mitgefahren. Und sie hat Olle auch schon immer gemocht.

    »So ein Mist«, schimpft sein Schwiegervater in Richtung eines BMW X5, der so

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