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Der Gesuchte: Kriminalroman
Der Gesuchte: Kriminalroman
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eBook433 Seiten5 Stunden

Der Gesuchte: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Rokka jagt einen alten Freund

Kriminalinspektor Johan Rokka wird nach Stockholm abgeordert, um dort im Dezernat für Schwerverbrechen auszuhelfen. Die Stockholmer Polizei sucht einen Juwelendieb. Viktor Berger, ein Jugendfreund von Rokka, ist aus dem Gefängnis geflohen und wird verdächtigt. Der Ermittler hat ein Problem: Viktor war ein Jugendfreund von ihm, der ihm das Leben gerettet hat, als sie noch Kinder waren. Er muss Viktor finden, bevor die Polizei es tut.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Okt. 2022
ISBN9783749905126
Der Gesuchte: Kriminalroman
Autor

Gabriella Ullberg Westin

Gabriella Ullberg Westin stammt aus der nordschwedischen Stadt Hudiksvall, wo auch ihre Protagonisten leben. Sie studierte Modedesign und Kommunikation und arbeitete für eine der größten Telefongesellschaften Schwedens, bevor sie sich vollzeit dem Schreiben widmete. Sie lebt heute in Stockholm, ist verheiratet mit einem Polizisten und Mutter von zwei Kindern.

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    Buchvorschau

    Der Gesuchte - Gabriella Ullberg Westin

    Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

    Förrädaren bei HarperCollins Nordic AB, Stockholm.

    © 2019 by Gabriella Ullberg Westin

    Deutsche Erstausgabe

    © 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

    by HarperCollins in der

    Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

    Published by arrangement with

    Enberg Agency

    Covergestaltung von zero-media.net, München

    Coverabbildung von Des Panteva / Arcangel, FinePic®, München

    E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783749905126

    www.harpercollins.de

    Widmung

    Für Johan Viktor

    für all das, was du gegeben hast

    1

    Vielleicht hätte ich doch jemandem von dem Paket erzählen sollen, denkt Linus Antonsson und schaltet die Scheibenwischer ein. Aber bei der Arbeit hätte mir sowieso keiner geglaubt, die hätten gedacht, ich bin durchgeknallt. Sogar Mama hätte gemeint, dass ich mich getäuscht habe, so krank war das.

    Die nassen Schneeflocken verschmieren den Dreck auf der Windschutzscheibe des Lasters, und Linus starrt auf die einsame Autobahn. Das Licht der Scheinwerfer trifft auf den dichten, dunklen Wald dahinter. Es ist jetzt Mitte Dezember, und noch nicht einmal in Norrland ist es richtig Winter geworden.

    Normalerweise macht er Kurierfahrten in Stockholm, doch auf diese Fernstrecke hat Linus sich gefreut. Hier in seinem Laster ist er ganz ungestört und kann seinen Gedanken nachhängen. Ist nicht ständig im Kundenkontakt. Small Talk ist überhaupt nicht sein Ding. Sobald er einem wildfremden Menschen Auge in Auge gegenübersteht, bringt er kein Wort mehr heraus und wird puterrot. Mitunter sind Kunden auch sehr unangenehm, einige jagen ihm sogar Angst ein. Wie der letzte Typ, bei dem er ein Paket abgegeben hat. Okay, das Paket war beschädigt, aber das war ja nicht Linus’ Schuld.

    Er lässt sich tief in den Sitz sinken und lauscht dem monotonen Geräusch der Scheibenwischer. Wirft einen Blick auf das Navi. Es geht auf einundzwanzig Uhr zu, er hat nur noch ein paar Minuten Fahrzeit, dann muss er die Nachtpause beginnen. Im Rückspiegel blenden ihn zwei Scheinwerfer. Seit er Gävle hinter sich gelassen hat, ist der Verkehr dünn geworden, und auf den letzten Kilometern ist der Wagen hinter ihm der einzige, der in dieselbe Richtung unterwegs ist.

    Es zischt, als Linus den Lastwagen abbremst und zum Parkplatz auf Höhe von Hudiksvall abbiegt. Ein Kollege hat ihm diesen Platz zum Übernachten empfohlen. Er hat gesagt, dass viele Fahrer hier ihre Pausen machen. Jetzt kann Linus nicht einen einzigen entdecken, und der kleine Laden an der Tankstelle ist auch schon zu. Linus zieht die Handbremse, löst den Sicherheitsgurt und blickt müde hinaus in die dunkle Nacht.

    Dann tauchen die Scheinwerfer eines PKW die Umgebung in helles Licht. Wahrscheinlich will der Fahrer, der jetzt auf dem Parkplatz hält, tanken. Linus lehnt sich zurück, gähnt und spürt, wie sein Körper sich langsam entspannt. Doch bevor er Feierabend macht, muss er noch pinkeln. Er steigt aus. Eine Windböe erfasst ihn, und fast wäre er auf dem vereisten Asphalt ausgerutscht. Er streckt die Arme über den Kopf, dehnt und reckt sich. Hinter der Tankstelle erkennt er ein paar Industrieanlagen, auf der anderen Seite ist nur dichter, entlaubter Wald. Hudiksvall, denkt er. So weit im Norden bin ich noch nie gewesen.

    Vor einem Busch am Rande des Rastplatzes öffnet er den Hosenstall, stellt sich breitbeinig hin und erschauert, als der Druck nachlässt. Er hofft, dass er hier gut schlafen kann. Seit der letzten Kurierfahrt ist ihm das schwergefallen. Das Paket hat ungefähr vier Kilo gewogen, und als er den beschädigten Karton überreichte, fiel er fast auseinander. Er konnte sogar ein bisschen vom Inhalt erkennen, langes blondes Haar kam zwischen der zerrissenen Pappe zum Vorschein. Dann ging alles ganz schnell. Der Kunde riss das Paket wütend an sich und schimpfte. Linus konnte nicht richtig sehen, was darin war, aber das, was ihm unter die Augen gekommen war, hatte seiner Meinung nach wie ein … wie ein menschlicher Kopf ausgesehen?

    Bei der Erinnerung bekommt er eine Gänsehaut und versucht, dieses Bild schnell wieder zu verdrängen. Er knöpft seine Hose zu und schlittert so schnell wie möglich über den spiegelglatten Boden zurück zu seinem Fahrzeug. Das Gewicht des Pakets entsprach sogar ungefähr dem eines Kopfes, denkt er, als er die Fahrertür zuzieht.

    Aber wenn es wirklich der Kopf eines Menschen gewesen ist, dann hätte er doch auch eine Menge Blut und andere Körperflüssigkeiten bemerken müssen?

    Danach hatte Linus seinen Chef gebeten, keine weiteren Kurierdienste mehr übernehmen zu müssen.

    Der Schneefall hat kurz vor Hudiksvall zugenommen. Linus schaut hinüber zu dem PKW. Wenn er sich nicht täuscht, ist das ein BMW. Ein kühles, blaues Licht erhellt das Coupé, vermutlich von einem Smartphone, und der Fahrer hat seinen Sitz nach hinten gekippt. Wenigstens ist außer mir noch einer hier, der Pause macht, denkt Linus.

    In seiner Fahrerkabine knipst Linus nun die Leselampe über der Pritsche an und zieht alle Vorhänge zu. Der Wind frischt auf und pfeift, als er am Fahrzeug vorbeiweht. Linus zieht sich eine Jogginghose an und krabbelt unter die Decke. Er setzt Kopfhörer auf und klickt sein Hörbuch an. Eine Liebesgeschichte. Niemals würde er zugeben, dass ihn so was interessiert. Er macht das Licht aus. Starrt in die Dunkelheit um sich herum. Die angenehme Frauenstimme versetzt ihn unmittelbar in eine andere Welt, doch die Müdigkeit ist trotzdem stärker. Er drückt auf Pause und setzt die Kopfhörer wieder ab, sein Körper fühlt sich immer schwerer an.

    Er hat noch nicht lange geschlafen, da weckt ihn ein lautes Geräusch. Hat er das nur geträumt? Sein Körper steht unmittelbar unter Hochspannung. Das Geräusch ertönt wieder, ein ungeduldiges, kräftiges Klopfen. Es kommt von der Beifahrerseite. Linus steht auf und versucht leicht taumelnd, nach vorn zwischen die Sitze zu klettern. Da draußen erkennt er einen Mann. Ob das der Fahrer des BMWs ist? Vielleicht braucht er Hilfe?

    Linus tastet nach dem Türgriff und macht auf. »Ja?«, sagt er und fährt sich durchs verstrubbelte Haar. Doch der dunkel gekleidete Mann vor ihm antwortet nicht. Er macht nur eine Armbewegung, und Linus ist wie gelähmt, als der Mann plötzlich eine Waffe auf ihn richtet.

    So wollte ich nicht sterben, denkt Linus noch, da knallt es auch schon. Er spürt einen unfassbaren Druck im Brustkorb. Etwas Heißes, das explodiert. Dann fällt er auf den Fahrersitz und rutscht nach unten. Sinkt immer tiefer.

    2

    Es spannt und wird eng in der Luftröhre. Mit jeder Sekunde nimmt der Druck an den Schläfen zu. Als er jung war, konnte Kriminalinspektor Johan Rokka noch mehrere Minuten lang unter Wasser bleiben. Doch seitdem sind ein paar Jährchen vergangen.

    Er hockt unten auf dem Boden des Beckens. Sieht die Abendbeleuchtung des Hudiksvaller Schwimmbads gebrochen durch die Wasseroberfläche. Die Sekunden werden zu einer weiteren Minute. In seinem Kopf beginnt es zu dröhnen, sodass er schließlich hochschießt und dabei eine Fontäne von Wassermassen hochkatapultiert.

    »Was machst du denn da?« Seine Kollegin Janna Weissmann krault auf ihn zu.

    »Ich halte mich für dich in Form«, sagt er und grinst.

    Sie schnaubt, setzt die Hände auf den Beckenrand und schwingt sich mit einer einzigen Bewegung hinauf. »Ich habe ernsthaft geglaubt, du ertrinkst!«

    Rokka legt sich im Wasser auf den Rücken und sieht ihr zu, wie sie sich das Handtuch umwickelt. Seit sie zusammenarbeiten, hegt er Gefühle für Janna, aber was sie empfindet, ist ihm ein Rätsel. Einige Male ist sie aus der Deckung gekommen, und er hat sogar geglaubt, sie würde seine Gefühle erwidern, doch dann kam alles ganz anders.

    Sie hatten gerade anstrengende Ermittlungen in einem Mordfall hinter sich, als er ihrem Drängeln nachgab und anfing, mit ihr gemeinsam Sport zu machen. Er würde es niemals zugeben, aber er war nun über vierzig Jahre alt und begriff langsam, dass er sich auf der Kraft und der Schnelligkeit, die er von Natur aus besaß, nicht mehr länger ausruhen konnte. Janna hatte vorgeschlagen, ein paar Abende in der Woche nach der Arbeit joggen zu gehen. Aber schon aus Prinzip rennt Rokka nur, wenn er Verbrecher verfolgt. Deshalb schob er den Winter in Hälsingland vor, schließlich konnten sie hier, wenn es hart auf hart kam, bis zu minus dreißig Grad haben. Gleichzeitig führte er an, dass die Wassertemperatur in einem Hallenbad konstant bei fünfundzwanzig Grad liege. Die Wahrheit war, dass Schwimmen als einzige Sportart übrig blieb, bei der Janna ihm nicht haushoch überlegen ist.

    Der Typ, der die Schwimmhalle verwaltet, ist ein alter Klassenkamerad von ihm, und deshalb hat Rokka ihn überreden können, ihm eine exklusive Trainingszeit außerhalb der regulären Öffnungszeiten einzuräumen. Nach intensiven Diskussionen erklärte sich Janna zu diesem Kompromiss bereit. Bis zum Frühjahr, hat sie gesagt.

    Rokka bewegt seinen fast zwei Meter langen Körper mit ein paar Zügen zum Beckenrand, dann klettert er die Leiter hoch. Eine Weile sitzen sie beide auf ihren Kunststoffstühlen in der Halle. Rokkas Puls powert noch von der Anstrengung. Auf seinem rasierten Schädel bricht Schweiß aus und vermischt sich mit den restlichen Chlorwassertropfen.

    »Was hast du da gemacht?«, fragt Janna und zeigt auf Rokkas Hüfte.

    Rokka fährt sich über die zehn Zentimeter lange Narbe direkt über dem Hüftknochen. »Als ich klein war, bin ich mal unter einen Badesteg getaucht. Ich bin mit der Badehose an einer Schraube hängen geblieben und nicht mehr losgekommen. Damals wäre ich wirklich fast ertrunken.«

    Janna sieht ihm ins Gesicht, zwischen ihren dunklen Augenbrauen bildet sich eine Falte. »Mein Gott, was für ein Glück, dass du überlebt hast.«

    »Ja, mein Freund hat mich gerettet.«

    »Ein wahrer Freund«, sagt Janna, und Rokka denkt, wie recht sie hat. Genau genommen wäre er ohne ihn nicht mehr am Leben.

    Er wirft einen Blick auf die Wanduhr, es ist halb zehn. Heute Nacht wird er schlafen wie ein Murmeltier. Aus seiner Sporttasche holt er ein Handtuch und trocknet sich ab. Sein Blick bleibt an dem gelb-blauen Polizeiabzeichen mit den drei Kronen hängen. Es erinnert ihn daran, wie sein Leben sich dadurch verändert hat. Johan Rokka, Polizist. Was für ein langer Weg es bis dahin gewesen ist. Von einer schwierigen Kindheit in Hudiksvall zu einem noch wilderen Leben in Stockholm. Bis er eines Tages die Entscheidung traf, sich an der Polizeiakademie zu bewerben.

    Ein Wagen fährt vorbei, und das Licht seiner Scheinwerfer dringt durch das Betonglas, das die Hallenwand zur Kungsgata hin schmückt. Um diese Tageszeit tauchen hier gerade mal ein paar Autos pro Stunde auf. Kleines Hudik, denkt er und legt sich das Handtuch über den Nacken. Vor vier Jahren ist er in seine Heimatstadt zurückgezogen. Hat er schon wieder genug von ihr?

    »Du grübelst«, sagt Janna und streicht sich das schwarze nasse Haar hinter die Schultern.

    »Stimmt«, sagt er und zwinkert ihr zu.

    Sie werden jäh unterbrochen, als in Jannas Tasche das Handy klingelt und gleichzeitig aufdringlich vibriert. Sie nimmt das Gespräch an und lauscht, während sie Rokka ansieht. Ihre schönen braunen Augen mit den dichten Wimpern verändern ihren Ausdruck, der vertrauensvolle und warme Blick wird mit einem Mal der einer knallharten Kriminaltechnikerin.

    »Zwei Tote auf dem Rastplatz an der E4«, teilt sie mit, während sie das Smartphone wieder in der Tasche verschwinden lässt.

    »Gleich zwei? Scheiße.«

    »Wir müssen sofort los.«

    ***

    Die weißen Kristalle schmelzen im Topf und verbinden sich zu einer dickflüssigen Masse, die nach und nach eine braune Farbe annimmt. Der süße Duft des Zuckers dringt Viktor Berger in die Nase, als er in der Kochzeile der Abteilung B von Hall steht, einer Haftanstalt am Rande von Södertälje. Im Topf daneben kocht das Wasser jetzt, und Viktor zieht reflexartig die Hand zurück, als sie von heißen Spritzern getroffen wird.

    Auf seiner Stirn bilden sich immer mehr Schweißperlen. Jetzt laufen sie ihm die Schläfen hinab. Krampfhaft hält er den Topf fest, bis die Knöchel ganz weiß werden. Er atmet durch die Nase ein und lässt die Luft zwischen den Zähnen der aufeinandergepressten Kiefer wieder ausströmen.

    »Darf ich bitten?«, fragt Domingo, ein großer Argentinier, der bald entlassen wird, nachdem er schon neun Jahre wegen schweren Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz einsitzt. Viktor wirft Domingo einen kurzen Blick zu und nickt.

    Die Uhr auf der Mikrowelle zeigt Viertel vor zehn. Stene schläft um diese Zeit immer, daher ist der Zeitpunkt gut. Viktor nimmt den Wassertopf in die eine Hand und den mit dem köchelnden Zucker in die andere. Er schielt hinüber zum Dienstzimmer. Im Moment ist da nur ein Wärter, und der ist schon eine ganze Weile mit seinem Handy beschäftigt.

    »Ich leg los«, sagt Domingo und geht ein paar Schritte über den grauen Linoleumboden zu Stenes Zelle. Viktor folgt ihm mit weichen Knien. Domingo lässt die Türen offen stehen, um dem Wachmann im Dienstzimmer die Sicht zu nehmen. Der wird sich zwar fragen, ob da irgendetwas läuft, doch da er allein im Zimmer ist, wird er es nicht verlassen, bevor Verstärkung da ist.

    Domingo hat ein paar der Jungs von der Abteilung mit Schokolade in ihre Zellen gelockt.

    Stenes Zelle ist die vierte von rechts. Die Geräusche aus dem Fernsehzimmer am Ende des Flurs werden immer lauter, je näher sie kommen. Viktor geht an der zweiten Tür vorbei. Es dampft aus beiden Töpfen.

    Viktor und Stene verbindet eine gemeinsame Geschichte, sie sind sich von einer Haftanstalt in die andere gefolgt. Viktor muss an ihre Gespräche denken, an freundschaftliche Handschläge und mitfühlende Blicke. Erst in Kumla, dann in Tidaholm. Viktor kam dann nach Hall, und Stene blieb noch, doch er wurde ein paar Monate später auch in die Anstalt bei Södertälje verlegt, sogar in Viktors Abteilung. Die anderen Häftlinge waren skeptisch, als sie davon hörten, sie kannten Stene wohl noch von früher. Viktor hat ein gutes Wort für ihn eingelegt, doch jetzt hat Stene es gründlich versaut. Einer hat ihn provoziert, und dann hat er im Fitnessraum mit Hanteln zugeschlagen, sodass jetzt keiner von ihnen mehr reindarf, eine ganze Woche lang. Das war unverzeihlich. Stene muss seine Strafe bekommen, und Viktor ist dafür zuständig. Wenn nicht, wird er selbst bestraft.

    Dritte Tür. Zuerst muss er ihn mit dem Wasser überschütten, dann mit dem Zucker. Das kochend heiße Wasser wird die Haut verbrühen, aber abperlen. Die hundertdreißig Grad heiße Zuckermasse hingegen wird an der Haut festkleben, sich von einer Schicht zur nächsten brennen, bis der Schmerz keine Grenzen mehr kennt.

    Die vierte Tür ist in Sicht. Viktor spürt, dass seine Beine fast nachgeben. Domingo geht weiter zum Fernsehraum, aber Viktor bleibt stehen und schluckt, ihm ist speiübel. In der Zelle gibt es keine Überwachungskameras, und die auf dem Flur werden nur die geöffnete Zellentür filmen. Keiner wird mit Sicherheit sagen können, dass Viktor der Täter war, und jetzt muss er es hinter sich bringen. Es gibt kein Zurück mehr.

    Stenes lautes Schnarchen ist durch die angelehnte Tür zu hören. Sein kräftiger Rücken hebt und senkt sich im Takt seiner Atemzüge. Viktor schluckt, immer wieder. Muss an Stenes fröhliches Lachen denken, wie er den Kopf in den Nacken wirft und sich ausgelassen auf die Oberschenkel schlägt, wenn etwas zum Umwerfen komisch ist.

    Mensch, Kumpel, verdammt noch mal, denkt Viktor, doch jetzt muss er diese Bilder beiseiteschieben.

    Viktor zählt bis drei und geht in die Zelle. Dann tut er es wirklich. Das Wasser fliegt in hohem Bogen. Dann segelt die Zuckermasse hinab, zähflüssig und schwer landet sie auf Stenes Rücken. Viktor lässt die Töpfe fallen, die laut scheppernd auf dem Boden landen, und rennt zum Fernsehraum. Sein Kopf droht zu platzen. Die folgenden Sekunden kommen ihm wie eine Ewigkeit vor. Das Gebrüll, das nun zu hören ist, übertönt jeden Gedanken.

    Wo sind denn bloß die Wachen?, denkt Viktor.

    Es dauert mindestens zwei Minuten, bis sie kommen. Ein Wachmann rennt in Stenes Zelle hinein und schreit in sein Funkgerät, dass er Verstärkung braucht.

    Stenes Schmerzensschreie hallen von den Wänden wider und verklingen bei Viktor und den anderen, doch in Viktors Innerem hält der Schmerz an. Schneidet durch Mark und Bein.

    »Wer hat das getan, verflucht noch mal?« Einer der Strafvollzugsbeamten stürmt ins Fernsehzimmer, hochrot im Gesicht.

    Totenstille im Raum. Alle starren stur geradeaus.

    »Ihr seid vier Leute«, brüllt er. »Ich weiß genau, dass einer von euch was gesehen hat!«

    Noch immer Schweigen, doch Viktor spürt seinen Herzschlag bis in den Schädel. Domingo sieht ihn kurz an. Keiner wird ein Sterbenswörtchen von sich geben, egal, auf wessen Seite er steht. Jetzt wen zu verpfeifen kann auf lange Sicht böse Folgen haben. Was Stene getan hat, hat Viktor gerächt. Seine Schuld ist damit aus der Welt.

    Die Verstärkung ist inzwischen gekommen, sie nehmen Viktor und die anderen grob in Gewahrsam. Führen sie ab, bringen sie in Isolierzellen.

    Viktor geht als Erster. Er kann die Blicke der anderen auf seinem Rücken spüren. Er hat seinen Teil beigetragen, sich seinen Respekt zurückerkämpft. Doch als die Tür der Einzelzelle hinter ihm zuschlägt, bricht er auf der Pritsche zusammen, lässt alles raus. Die Angst, die Panik, die Einsamkeit. Alle Gefühle kommen jetzt hoch. Doch er gibt keinen Mucks von sich, so viel hat er in fünf Jahren gelernt. Im Gefängnis weint man leise.

    ***

    »Scheiße, was ist denn hier passiert?«

    Rokka schlittert vorsichtig über den vereisten Asphalt vor der Tankstelle auf dem Rastplatz Hudiksvall vorwärts, um nicht auszurutschen. Bis er zu einem Mann kommt, der neben einem Auto in einer Blutlache auf dem Rücken liegt.

    »Überfahren«, sagt der Kollege von der Schutzpolizei, der als Erster vor Ort war. »Die Frau, die an der Tankstelle angehalten hat, weil sie zur Toilette musste, hat zugegeben, dass sie zu schnell gefahren ist und auf dem vereisten Untergrund nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte. Der Typ kam aus dem Nichts, hat sie gesagt.«

    »Wie geht es ihr?«

    »Sie steht unter Schock und ist mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht worden.«

    »Und weiter?«

    »Ein paar Meter entfernt von dem Toten lag eine Waffe«, fährt der Beamte fort. »Vermutlich hat er sie fallen lassen, als er überfahren wurde.«

    »Was für eine Waffe?«

    »Eine MP5.«

    »Okay.«

    Der Polizist schiebt seine Mütze gerade. »Der Typ hat keine Papiere bei sich, nur ein Smartphone.«

    Rokka geht zu dem Lastwagen, an dem Janna bereits steht.

    »Der Fahrer müsste so Mitte zwanzig sein«, sagt sie und dreht sich zu Rokka um. »Er ist noch warm.«

    Rokka wirft einen Blick in die Fahrerkabine des Lastzugs. Der blonde junge Mann hängt zusammengesackt neben der Fahrertür, er trägt ein grünes Polohemd mit dem Logo der Spedition auf der Brust. Er sieht ganz winzig aus in diesem großen Fahrzeug.

    Seine Arme sind blass und schmal und hängen schlaff herunter. Das Einschussloch ist auf seiner Brust erkennbar, und die Scheibe hinter ihm ist über und über rot von dem vielen Blut.

    »Es ist anzunehmen, dass der Typ, der draußen liegt, den Mann im Laster erschossen hat und dann selbst überfahren wurde«, fährt Janna fort.

    Rokka stimmt ihrer Hypothese nickend zu. »Die reinste Hinrichtung«, sagt er und betrachtet das Opfer. »Was hast du angestellt, dass du so was verdienst?«

    Er wendet sich ab und rutscht wieder über den Asphalt zurück zu dem überfahrenen Mann. »Habt ihr den Wagen schon untersucht?«, fragt Rokka und zeigt auf den BMW, der ein Stückchen entfernt von ihnen parkt.

    Der Polizeibeamte schüttelt den Kopf. »Noch nicht.«

    Der Mann in der Blutlache trägt eine schwarze Lederjacke. Sein Schädel ist rasiert, quer über eine Wange verläuft eine rosafarben schimmernde Narbe, und seine dunklen Augen blicken geradeaus ins Nichts.

    Wer bist du?, denkt Rokka. Und warum warst du hier in Hudiksvall, so spät an einem Winterabend? Denn das hier ist kein zufälliger Mord, kein spontaner Raubüberfall, an diesem Tatort spricht gar nichts für eine Handlung im Affekt. Rokka sinkt neben dem Toten auf die Knie. Fast noch ein Junge, denkt Rokka, als er in die leeren Augen des Opfers blickt. Hattest du mit dem Fahrer noch eine Rechnung offen? Oder hast du für jemand anders getötet?

    3

    Mira Varjala zieht den wollweißen Mantel enger um den Körper, als sie mit ein paar schnellen Schritten die Rolltreppe an der U-Bahn-Station Östermalmstorg hinaufsteigt. Die feuchtkalte Dezemberluft dringt in jede Ritze und bringt ihren Körper zum Frösteln. Lieber Schnee und zehn Grad minus als solch ein Wetter, denkt sie.

    Eine junge Frau mit einem schmuddeligen, ehemals gelben Schal und einer übergroßen Jacke hockt auf dem Gehweg weiter vorn und hält ihr einen Pappbecher hin. Neben ihr liegt ein Stück Pappe, darauf kantige Buchstaben, mit Filzstift geschrieben. Mira überfliegt die falsch geschriebenen Worte, versteht, dass die jüngeren Geschwister der Frau zu Hause in Rumänien auf der Straße leben und dass sie Geld braucht, um ihnen warme Kleider kaufen zu können.

    »Bitte«, fleht die Frau mit heiserer Stimme.

    Mira vermeidet den Blickkontakt zu ihr und geht vorbei, ihre Absätze klackern laut auf dem Asphalt. Sie versucht, den Anblick der Bettlerin zu vergessen. Doch dann stoppt sie abrupt und holt, während sie sich umdreht, ihr Portemonnaie aus der Handtasche, nimmt einen Zweihundertkronenschein heraus und hält ihn der jungen Frau hin. Denn Mira kann den Gedanken nicht ignorieren, dass auch diese Frau eine Geschichte hat, dass in ihrem Leben Dinge geschehen sind, die sie hierher, auf die Straße, auf diese dreckige Decke gebracht haben, und das in einem der vornehmsten Wohnviertel Stockholms.

    »Frohe Weihnachten«, wünscht ihr die Bettlerin in gebrochenem Schwedisch.

    Mira setzt eilig ihren Weg fort, überquert die Birger Jarlsgata und läuft auf dem Bürgersteig weiter, wo ihr gestresste Banker, Mädels mit aufgespritzten Lippen, in der Hand dampfende To-go-Becher, und Börsenmakler in Designerklamotten mit Galoschen über den Lederschuhen entgegenkommen. Alle konzentrieren sich auf ihre Smartphones, auf denen die Kommunikation des Arbeitstages bereits begonnen hat. Aber ein Mann sieht auf, als er ihr begegnet. Er hält inne und blickt ihr bewundernd hinterher.

    Der Weg über die Treppe in den sechsten Stock ist schneller als der Fahrstuhl, und Mira ist außer Atem, als sie die Tür zum Büro hinter sich schließt.

    »Viel Glück heute«, sagt eine Kollegin, die schon auf dem Weg zu ihrem Meeting ist.

    »Oh, vielen Dank, das kann ich brauchen«, erwidert Mira etwas nervös. Mira zieht ihre Schuhe aus und schlüpft in Louboutin-Pumps, streckt den Rücken durch und streicht das hellblonde Haar hinter die Schultern. Den Gedanken, dass nicht jeder mit Glück gesegnet ist, hat sie verdrängt. Jetzt ist sie bereit für ihren Arbeitstag und die Präsentation für den wichtigsten Kunden ihrer Agentur, ein Unternehmen in der Security-Branche.

    Sie kommt an der Wand vorbei, an der die diversen hochkarätigen Marketing-Auszeichnungen der Agentur prangen. In der Mitte, eingerahmt von all den Urkunden, hängt das Bild des Gründers der Agentur, Mikael Strand. Selbstbewusst blickt er direkt in die Kamera. Die schwarze Brillenfassung verleiht ihm den typischen Agentur-Look.

    Mira arbeitet seit einem halben Jahr für Dacton, eine der erfolgreichsten PR-Agenturen der Branche. Die Boni, die einmal jährlich gezahlt werden, bewegen sich auf einem Level, von dem sie niemals zu träumen gewagt hätte. Voraussetzung ist, dass sie liefert. Bei dem Gedanken, wie sie an den Job gekommen ist, fliegt ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie hatte an einem Fenstertisch in einem Café am Odenplan gesessen und eine Wirtschaftszeitung gelesen. Sie war so vertieft in den Artikel gewesen, dass sie überhaupt nicht bemerkt hatte, wie jemand auf der anderen Seite der Glasscheibe stehen blieb. Als sie den Mann schließlich wahrnahm, erkannte sie ihn gar nicht auf Anhieb. Seit der Zeit auf der Wirtschaftshochschule, wo sie beide denselben Kurs belegt hatten, waren fünfzehn Jahre vergangen. Als ihr klar wurde, dass das Mikael Strand war, der ihr von draußen zuwinkte, war sie so überrascht, dass sie aus Versehen ihren Latte macchiato umkippte und ihre Zeitung ertränkte.

    »Jetzt schulde ich dir einen neuen Kaffee«, sagte er, nachdem er hineingekommen war. Er gab dem Barista ein Zeichen, der kurz darauf mit einem zweiten Becher an ihrem Tisch erschien. Dann unterhielten sie sich ganze zwei Stunden lang. Erst später am Abend, als sie längst zu Hause war, fiel ihr auf, dass er vermutlich eine Kieferumstellung hatte vornehmen lassen. Denn sein deutlicher Unterbiss war kaum mehr erkennbar.

    Mira hatte ihm erzählt, dass sie seit Jahren zu ihrer Arbeitsstelle nach Genf pendelte. Er wiederum war von New York nach Stockholm zurückgekehrt, um Dacton zu kaufen, und nun prahlte er damit, dass sich die Bonuszahlungen verdoppelt hatten, seit er die Firma übernommen hatte.

    So hatte sie ihn von der Wirtschaftshochschule gar nicht in Erinnerung – als erfolgreichen Unternehmertypen. Doch nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, erkannte sie die Chance: Mit einem Mal bot sich ein Weg direkt in die Agentur. Sie erzählte ihm, dass sie sich durchaus vorstellen könne, den Ort zu wechseln, wenn der richtige Job auftauchte.

    Da hatte er gegrinst und sie eindringlich angesehen. »Du hast exakt das Profil, das ich suche«, hatte er gesagt und sie gefragt, ob sie Interesse an einer Stelle als Key Account Managerin bei ihm habe.

    Das Bewerbungsverfahren dauerte einen Monat. Langwierige, verhörartige Vorstellungsgespräche. Drei Persönlichkeitstests, bei denen dieselben Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven gestellt wurden, um jeder Schummelei vorzubeugen. Alles verlief strikt nach Dactons Personalpolitik und wurde von den Personalberatern der Agentur, die vorher beim Nachrichtendienst gewesen waren, abgewickelt. Aber glücklicherweise bekam sie den Job.

    »Oh là là!« Die Stimme holt sie zurück in die Gegenwart. Ihr Kollege Peter, der sie von oben bis unten mustert. »Manchmal wünschte ich, ich wäre hetero.« Mira bricht in Lachen aus und drückt ihn herzlich. Sie mag Copy-Peter, wie er scherzend genannt wird, er ist eine der tragenden Säulen in der Agentur und ihrer Meinung nach der beste Copywriter in der ganzen Stadt.

    Sie zieht ihr Kleid gerade, das top aussieht, sich aber nicht gerade angenehm trägt, und setzt sich an ihren Schreibtisch. Sie hat gerade erst ihren Computer hochgefahren, da hört sie schon vom Eingangsbereich die wohlbekannte tiefe, energiegeladene Stimme herüberdringen. Ihr ganzer Körper kribbelt vor Nervosität.

    »Sie ist jetzt da«, sagt der Assistent der Geschäftsleitung, Douglas, ein Typ Mitte zwanzig mit Hornbrille und einem T-Shirt, das vermutlich ein Vermögen gekostet hat. »Ich bringe sie schon mal zum Konferenzraum.«

    Die Marketingleiterin von Scandsec ist in Miras Alter und lacht viel zu oft und dies viel zu laut. Emmanuelle Pira. Eine blasse, kurvige Blondine, die noch höhere Absätze trägt als Mira selbst. Mira zieht einen Kosmetikspiegel aus der Handtasche, frischt ihren Lipgloss auf und presst die Lippen kurz aufeinander. Ihr steht die erste große Präsentation für einen Kunden bevor, jetzt muss sie sich beweisen. Sie setzt ein professionelles Lächeln auf, geht hinüber zum Konferenzzimmer und schiebt die Tür auf.

    »Frau Varjala«, sagt Emmanuelle Pira, erhebt sich und kommt auf sie zu. »Was für ein großartiges Kleid, ist das Max Mara?« Dann folgen die Luftküsschen rechts und links, und Mira wird in eine Dunstwolke aus exklusivem Parfüm getaucht.

    Mikael kommt hereingeschlendert, umarmt Emmanuelle Pira flüchtig, und dann nehmen sie Platz. Er zieht an den Ärmeln seines Oberhemdes, um die Manschetten zurechtzuzupfen, und Mira bemerkt, dass es ihm schwerfällt, den Blick vom Dekolleté der Blondine abzuwenden.

    »Jetzt wollen wir dir gern unser Konzept vorstellen«, beginnt er.

    Unser ist gut, denkt Mira säuerlich. Für diese Präsentation hat Mikael keinen Finger krumm gemacht, Tatsache ist, dass sie sich schon manches Mal gefragt hat, was er eigentlich den ganzen Tag lang treibt. Er delegiert fast alles. Aber dafür wird sie auch sehr gut bezahlt und erhält viele Zusatzleistungen, daher kann sie sich nicht beschweren.

    Douglas stellt den Laptop auf den Tisch und ruft die Präsentation auf, dann reicht er Mira die Fernbedienung. Sie tritt an die Leinwand. Scandsec bietet Privatpersonen mit hohen Ansprüchen Alarmanlagen und Überwachungssysteme auf dem neuesten Stand der Technik an. Im kommenden Jahr soll ein Premiumprodukt auf den Markt kommen, und die Agentur stellt nun die Kommunikationsstrategie für die Lancierung vor. Der Kunde ist äußerst anspruchsvoll. Miras Vorgängerin hatte nicht ohne Grund einen Burn-out.

    »Du bist die Einzige, die ich auf diesen Etat setzen kann«, hatte Mikael sich ausgedrückt, als er sie gefragt hatte, ob sie den Kunden übernehmen wolle. »Hier gilt nur hop oder top.« Mira fühlte sich geschmeichelt, aber spürte gleichzeitig den enormen Druck, immerhin wusste sie, wie wichtig Scandsec als Kunde für Dacton war. Nachdem Mikael Strand Mira der Marketingleiterin vorgestellt hatte, war diese bereit, Dacton noch eine Chance zu geben.

    Als Mira begonnen hatte, auf dem Etat zu arbeiten, hatte sie sich eine ganze Woche Zeit genommen, sich in die Hintergrundinformationen des Unternehmens einzulesen, und das Einzige, woran sie hakte, war, dass dieses neue Premiumprodukt bei der Kameraüberwachung einen Fehler in der Programmierung hatte: dass die Synchronisation zwischen App und Serverdaten noch nicht einwandfrei funktionierte. Sie hatte Mikael sofort in Kenntnis gesetzt, und der hatte behauptet, dass der Bug in dieser Phase noch keine Rolle spiele.

    Ein nervöses Kribbeln durchfährt ihren Körper. Jetzt ist es so weit.

    »Okay«, sagt sie und sammelt sich. »Dann legen wir mal los.« Alle Anwesenden lauschen gespannt, als Mira ihre Präsentation beginnt. Sie erklärt, motiviert und argumentiert. Ihr Hals wird trocken, es fällt ihr schwer, konzentriert zu bleiben. Sie nickt Douglas zu, der ihr ein Glas Wasser einschenkt.

    Emmanuelle Pira hat sich auf ihrem Stuhl zurückgelehnt, die Arme verschränkt und lauscht nun aufmerksam. Ihre eine Augenbraue ist hochgezogen. Ihre Lippen sind zusammengepresst. Hin und wieder sucht Mira Blickkontakt zu ihr, um so abzulesen, ob ihr das Konzept zusagt, doch ihr Pokerface verrät rein gar nichts.

    »Vielen Dank«, sagt Emmanuelle Pira knapp, als Mira fertig ist, dann wendet sie sich an Mikael. »Können wir uns unter vier Augen unterhalten?«

    ***

    Es donnert rhythmisch in Viktor Bergers Zelle, als er zehn tiefe Strecksprünge macht. Keuchend setzt er sich auf den Boden, fixiert die Wand vor sich und macht noch schnell zwanzig Sit-ups hinterher.

    »Komm schon«, redet er sich selbst gut zu. »Vergiss, was war. Nur nach vorn schauen zählt.« Er atmet jetzt schnell, sein Puls schlägt auf einem ordentlichen Niveau. Mit den Fingern an der Halsschlagader zählt er die Sekunden und stellt fest, dass er so gut in Form ist wie lange nicht. Langsam gelingt es ihm, die Bilder von dem kochenden Wasser und der flüssigen Zuckermasse zu verdrängen, Stenes Schmerzensschreie, die bislang hartnäckig in seinen Sinneszellen abgespeichert waren, auszublenden. Dieses Ereignis muss er auf das reduzieren, was es wirklich war. Er hat nur die Regeln befolgt, die innerhalb der Gefängnismauern gelten. Mit Leichtigkeit springt er auf, schüttelt Arme und Beine aus. Einen Tag in Isolierhaft hat er noch vor sich. Die Gefängnisleitung wird eine Untersuchung anstellen, doch sie wird ergebnislos bleiben. Danach wird alles wieder sein wie zuvor. Er schließt die Augen und holt einmal durch die Nase tief Luft.

    Eins, zwei, drei, vier. Eine Minute lang läuft er auf

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