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Hamburg - Deine Morde. Der Lippennäher: Harald Hansens 2. Fall
Hamburg - Deine Morde. Der Lippennäher: Harald Hansens 2. Fall
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eBook349 Seiten4 Stunden

Hamburg - Deine Morde. Der Lippennäher: Harald Hansens 2. Fall

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Über dieses E-Book

Hamburg, Frühsommer 2008: Die Menschen verbringen ihre Zeit in den grünen Parkanlagen der Hansestadt. Doch die Leiche einer Frau, deren Lippen zugenäht wurden, raubt der Idylle ihren Charme. Bald darauf wird im Öjendorfer Park eine weitere Frauenleiche gefunden und Hamburgs Einwohner bekommen Panik. Harald Hansen, Kommissar der Mordkommission, vermutet, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben. Er und seine Kollegen arbeiten unter ständig wachsendem Druck: die Medien fordern Antworten, ein weiterer Mord soll verhindert werden. Der Täter aber mordet schneller als die Polizei ermitteln kann. Hansen sucht fieberhaft weiter und findet eine neue Spur. Doch damit bringt er nicht nur sich, sondern auch seine Kollegen in große Gefahr. Der 2. Fall des bärbeißigen Hamburger Kommissars bietet wieder Krimigenuss vom Feinsten. Die grausame Mordserie führt Ermittler und Leser auf eine spannende Jagd durch die Hamburger Parkanlagen östlich der Alster - und sicherlich wird nicht nur den Einwohnern der Stadtteile Barmbek, Bramfeld und Horn ein Schauer über den Rücken laufen, wenn sie - bisher ahnungslos - an den Schauplätzen der Serienmorde vorübergehen.
SpracheDeutsch
Herausgeberacabus Verlag
Erscheinungsdatum1. Sept. 2011
ISBN9783862821105
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    Buchvorschau

    Hamburg - Deine Morde. Der Lippennäher - Andreas Behm

    Prolog

    Endlich war der Tag gekommen, auf den ich so lange hingearbeitet hatte. Ja, ich gebe es zu, der erste Mord war alles andere als ein Vergnügen, es war harte Arbeit. Ich wartete etwa eine Stunde in einer schmalen Gasse, die auf ihrem Heimweg lag. Ich war sehr nervös und dachte mehrmals daran, die Sache abzubrechen. Ich wollte meinen ersten Mord begehen und ich zweifelte, ob ich es schaffen würde. In meinem Kopf kämpften zwei Stimmen.

    Hör auf, noch ist nichts passiert, sagte die eine.

    Wenn du es heute nicht schaffst, wirst du es nie schaffen. Zieh es durch, oder bereue es den Rest deines Lebens, hielt die andere dagegen.

    Im Rückspiegel meines Lieferwagens sah ich sie näher kommen. Komplett eingehüllt in den Schutzanzug, den ich über meiner normalen Kleidung trug, war ich mittlerweile schweißgebadet. Es gab kein Zurück mehr. Ich stieg aus, öffnete auf der Beifahrerseite die breite Schiebetür und beugte mich in das Wageninnere, scheinbar etwas suchend. Sie war fünf Meter entfernt, als ich mich aufrichtete und sie ansprach.

    »Entschuldigen Sie, ich glaube, ich habe mich verfahren. Könnten Sie mir helfen?«

    Die Frage musste ihr plausibel erscheinen, da ich mein Fahrzeug mit einem auswärtigen Kennzeichen versehen hatte. Sie beachtete weder das Kennzeichen noch meine ungewöhnliche Kleidung und antwortete alles andere als freundlich.

    »Nein, kann ich nicht und will ich nicht. Ich muss meinen Bus kriegen«, blaffte sie mich an und ging an mir vorbei.

    Ich hatte nichts anderes von ihr erwartet. Ich drehte mich zu ihr um, befand mich nun hinter ihr, setzte den Elektroschocker auf ihre rechte Schulter und drückte den Auslöseknopf. Mit einem leisen Stöhnen sank sie zu Boden. Ich handelte so, wie ich es mir hundert Mal in meiner Phantasie ausgemalt hatte. Ich steckte das Gerät in meine Jackentasche, nahm das Klebeband, legte ihre Hände auf den Rücken, fesselte sie, wickelte Klebeband um die Fußgelenke und stopfte ihr einen Knebel in den Mund. Ich sah mich um und war erleichtert. Keine Zeugen weit und breit, gut so. Ich kletterte in das Wageninnere und zog sie hinter mir her. Das ging einfacher als gedacht. Dann schnell die Schiebetür zugezogen, hinter das Steuer des Wagens gesetzt und losgefahren.

    Das Ziel war meine Garage im Industriegebiet. Ich schnaufte atemlos, mein Puls hämmerte in den Ohren und die Beinmuskeln fühlten sich wie Wackelpudding an.

    Leise sprach ich mit mir selbst, forderte mich auf, konzentriert zu bleiben, mahnte mich zur Ruhe. Die Fahrt verlief ohne Probleme, abgesehen davon, dass mein Abendessen ständig nach oben strebte.

    Nachdem ich das Garagentor von innen verschlossen hatte, wich die Anspannung. Ich musste mich hinsetzen und ein paar Mal tief durchatmen. Den schwierigsten Teil meiner ersten Mission hatte ich geschafft. Zumindest glaubte ich das. Aus dem Wageninneren hörte ich ein leises Scharren. Sie versuchte anscheinend, sich aus den Fesseln zu befreien. Keine Chance!

    Später, nachdem ich sie entkleidet und die Plastiktüte über ihren Kopf gezogen hatte, geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Was ich sah, fühlte sich anders als erhofft an. Das Zusehen beim Sterben quälte mich unerwartet heftig. Fast hätte ich ihr die Plastiktüte wieder vom Kopf gerissen. Ich tat es nicht, ich ließ den Dingen ihren Lauf. Als es beendet war, spürte ich kein Triumphgefühl. Ich spürte gar nichts mehr. Ich funktionierte wie eine programmierte Maschine exakt nach Plan. Ich transportierte die Leiche zum Stadtpark, platzierte sie am Wegesrand, arrangierte die Details, brachte den Lieferwagen zurück in die Garage, fuhr nach Hause und legte mich schlafen. Es war unglaublich! Ich schlief so gut wie lange nicht mehr.

    Erst am nächsten Morgen begriff ich, was ich vollbracht hatte und mit jeder Stunde, die verging, schwoll das Glücksgefühl in mir an. Ich hatte mich gewehrt, zum ersten Mal in meinem langen Leben!

    Dienstag, 17. Juni 2008

    Harald Hansens Gehirn wehrte sich lange gegen den penetranten Piepston und gab endlich doch den Aufwachbefehl. Seine rechte Hand suchte in gewohnter Weise tastend nach dem Handy auf dem Nachttisch, erfühlte aber nur eine warme Schulter. Es dauerte drei weitere Piepstöne, bis Hansen klar wurde, dass er nicht zu Hause, sondern bei Nadja im Bett lag, weshalb sich sein Handy nicht auf der rechten, sondern auf der linken Seite des Bettes befand. Die linke Hand war nun wach genug, um das nervige Gerät zu finden. Wenn er Bereitschaftsdienst hatte, übernachtete Hansen in der eigenen Wohnung in Hamburg-Alsterdorf. In dieser Nacht war er nicht dran und lag deshalb im Bett seiner Freundin in Rahlstedt. Das stockdunkle Schlafzimmer signalisierte ihm, dass es mitten in der Nacht war. Wer, zum Teufel, rief ihn jetzt an?

    »Ja, verdammt!«, meldete er sich flüsternd.

    »Harry, hier ist Thomas. Habe ich dich geweckt?«

    »Blöde Frage, nachts um …«, Hansen schaute auf die rot leuchtenden Ziffern des Digitalweckers, »… 4 Uhr!«

    »’Tschuldigung, ich weiß, unser Team ist eigentlich nicht dran. Aber ich glaube, du solltest herkommen und dir das anschauen.«

    »Was anschauen?«

    »Die Leiche. Ein Kollege des Bereitschaftsdienstes hatte mich angerufen. Er meinte, es könnte sich um unseren Täter von gestern handeln und fragte, ob wir den Fall übernehmen wollen. Nachdem ich mir den Fundort angesehen habe, denke ich, er hat Recht. Alles sieht genauso aus wie gestern. Ich fürchte, wir haben es mit einem Serienmörder zu tun!«

    »Ach du Scheiße! Okay, wohin muss ich kommen?«

    Hansen schlich in der Dunkelheit mit nach vorn ausgestreckten Armen in Richtung Schlafzimmertür, fand nach einigem Herumtasten die Klinke und konnte endlich auf dem Flur das Licht einschalten. Er warf einen Blick zurück auf Nadja, die friedlich schlief. Dann schaute er an sich herab. Der neue Schlafanzug, den Nadja ihm geschenkt hatte und der seinem vorgewölbten Bauch schmeichelte, war wirklich schick – aber absolut ungeeignet, um darin einen Tatort aufzusuchen. Er fluchte, ging zurück ins Schlafzimmer und holte seine alten Lieblingsklamotten, die Nadja schon zweimal in den Müll schmeißen wollte. Er verzichtete auf den Gang ins Bad, beschränkte die Morgentoilette darauf, sich mit den Fingern durch den grauen Haarwust zu streichen und zog sich an. Auf leisen Sohlen schlich er in die Küche, denn er wollte Nadja und vor allem ihre kleine Tochter Mareike auf keinen Fall wecken.

    Was hätte er der Lütten denn sagen sollen, warum er mitten in der Nacht wegging? Ich muss mal wieder eine Leiche begutachten, da läuft so ein Irrer rum, der Menschen tötet. Und Onkel Harry muss den Kerl kriegen. Er zog es vor, unbemerkt zu verschwinden.

    Er schrieb eine kurze Nachricht auf einen von diesen kleinen, gelben Notizzetteln mit dem Klebestreifen, bappte ihn an die Kühlschranktür und verließ die Wohnung.

    Er brauchte zwanzig Minuten, um den Fundort am Rande des Öjendorfer Parks zu erreichen. Der Öjendorfer Park! Hier hatte schon mal eine üble Geschichte begonnen. Drei Flutlichtstrahler, die von den Kollegen der Spurensicherung aufgebaut worden waren und einen Teil des Geländes grell erleuchteten, wiesen ihm den Weg. Schon von Weitem konnte er den Rotschopf seines hoch gewachsenen Kollegen erkennen. Zu Oberkommissar Thomas Bernstein hatte Hansen seit der gemeinsamen Arbeit am Fall Ryschkow ein besonderes Verhältnis, das man fast als Freundschaft bezeichnen konnte. In der Regel bevorzugte Hansen eine seiner Meinung nach angemessene Distanz zu seinen Kollegen. In der für ihn typischen, gemächlichen Art schlurfte er dem Schauplatz entgegen.

    Bernstein zuckte erschreckt zusammen, als Hansen ihm von hinten auf die Schulter tippte.

    »Oh, du warst aber schnell!«

    »Ich war bei Nadja«, erwiderte Hansen. »Von Rahlstedt aus ist es nicht weit. Das gleiche Muster wie gestern?«

    »Exakt. Eine Frau, nackt, liegt da mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen, der Spiegel … Naja, sieh es dir selber an.«

    Hansen näherte sich. Der Rechtsmediziner Heinrich Peters, ein kleiner Mann mit Glatze und rahmenloser Brille, kniete neben der Leiche.

    »Moin, Harry.«

    Peters beschränkte sich in der Regel auf das Notwendige. Hansen mochte genau das an ihm. Peters war der einzige echte und langjährige Freund, den Hansen hatte.

    »Moin, Heinrich. Nummer zwei?«

    »Eindeutig Nummer zwei.« Er hielt mit seiner mit einem Gummihandschuh bekleideten Hand einen Spiegel hoch, der etwa die Größe eines DIN-A5-Blattes hatte, ein billiges Teil mit einem Plastikrahmen und einem ausklappbaren Metallständer auf der Rückseite.

    »Der lag auf ihrem Gesicht, befestigt mit Klebeband, genau wie bei der anderen. Und darunter …«

    Peters zeigte mit der anderen Hand auf den Mund des Opfers. Hansen wühlte in seiner Jackentasche, holte eine Lesebrille heraus, setzte sie auf und beugte sich über das Gesicht der Toten. Es war genau wie gestern. Nach über dreißig Jahren Polizeidienst, in denen er immer davon verschont geblieben war, erwischte es ihn doch noch. Er musste einen Serienmörder finden.

    Der Mund der toten Frau war sorgfältig mit einem durchgehenden Faden zugenäht worden. Linksseitig an der Unterlippe hatte der Mörder begonnen und das Fadenende mit einem Knoten gesichert. Anschließend führte der Faden durch die Oberlippe, dann diagonal wieder hinab zur Unterlippe und weiter nach oben. Es war eine saubere Arbeit, die insgesamt sieben Einstiche waren in gleichmäßigen Abständen gesetzt. Trotzdem sah es nicht aus, als hätte ein Chirurg eine Wunde vernäht. Blutungen waren nicht zu erkennen. Was hatte Bernstein gesagt? »Exakt.« So war es.

    »Kannst du schon was sagen, Heinrich?«, fragte Hansen.

    Peters wiegte bedächtig seinen kahlen Kopf. »Fundort ist nicht gleich Tatort. Das ist immerhin klar. Beim Todeszeitpunkt wird es schon schwieriger. Wir wissen ja nicht, wie lange und bei welchen Temperaturverhältnissen die Leiche gelagert wurde, bevor der Mörder sie hier abgelegt hat. Einige Faktoren kann ich erst bestimmen, wenn ich weitere Untersuchungen vorgenommen habe.«

    »Und was schätzt du?«

    »Grob geschätzt hat sie etwa vier Stunden hier gelegen, wurde also zwischen Mitternacht und ein Uhr hergebracht. Zu der Zeit hatte die Leichenstarre noch nicht eingesetzt. Ich schätze, sie starb zwischen 22 und 23 Uhr, plus minus eine Stunde, wenn sie vor dem Transport bei einer normalen Zimmertemperatur gelagert wurde. Die Todesursache dürfte allem Anschein nach Sauerstoffmangel sein, sprich Tod durch Ersticken. Keine Würgemale, ich tippe auf eine Plastiktüte oder ein ähnliches Hilfsmittel.«

    »Ist dir sonst noch was aufgefallen, das uns weiterhelfen könnte?«

    »Ja, sie muss vor Kurzem eine Diät gemacht und dabei deutlich abgespeckt haben. Sieh dir die Haut am Bauch und an den Oberschenkeln an. Die konnte sich dem neuen Umfang nicht mehr anpassen.«

    »Danke, Heinrich, das hilft uns echt weiter.«

    Hansen ging ein paar Schritte rückwärts, ohne die Tote dabei aus den Augen zu lassen, wie ein Fotograf, der den Bildausschnitt seiner Kamera vergrößern möchte. Die Frau lag auf der Wiese, als hätte der Mörder sie zur Schau stellen wollen. Sie lag nicht abseits irgendwo versteckt im Gebüsch, sondern auf dem Rasen direkt neben dem Weg, der vom Parkplatz in den Park hineinführte, wenige Meter neben dem Stamm eines mächtigen Baumes, dessen ausladende Äste wie ein hohes Dach über sie ragten. Hansen kannte sich mit Bäumen nicht aus. Er tippte auf eine Kastanie. Die Frau lag so, dass jedem zufälligen Passanten ihr Intimbereich präsentiert worden wäre. Ihre großen Brüste hingen seitlich am Oberkörper herab. Die Arme lagen ausgestreckt im rechten Winkel zum Körper, wie bei einer Gekreuzigten, der Mund zugenäht, die Augenlider geschlossen. Der kühle Nachtwind wehte eine Haarsträhne auf ihr Gesicht, das mit den heruntergezogenen Mundwinkeln und den zahlreichen Falten, die eindeutig keine Lachfalten waren, auf Hansen einen verbitterten Eindruck machte.

    »Wissen wir schon, wer sie ist?«, fragte er Bernstein, ohne den Blick von der Leiche abzuwenden.

    »Alles wie gestern«, antwortete der junge Kollege. »Die Kleidung, der Schmuck, die Handtasche mit Papieren und Geld, alles lag säuberlich zusammengelegt und aufgeschichtet neben ihr. Die Sachen sind schon auf dem Weg ins Labor.« Er klappte seinen Notizblock auf. »Sie heißt Helga Theresa Steinburg, ist achtundfünfzig Jahre alt und wohnt ganz in der Nähe, in der Sterntalerstraße. Ich hab’ das Melderegister anzapfen lassen. Sie ist verheiratet. Ihr Mann heißt Heinz Steinburg.«

    »Wer hat eigentlich die Leiche gefunden, hier, mitten in der Nacht?«

    Bernstein machte eine halbe Drehung und zeigte auf einen alten Mann, der ein wenig entfernt neben einem uniformierten Kollegen stand. Er trug einen gestreiften Schlafanzug und darüber einen dunkelblauen Bademantel.

    »Der da.«

    »Was macht der alte Herr um diese Zeit im Öjendorfer Park?«

    Bernstein grinste. »Seinen Hund ausführen. Naja, genau genommen wollte er gar nicht hierher. Der Hund hatte Durchfall, er saß jammernd vor der Wohnungstür. Also ist der alte Mann widerstrebend im Bademantel mit ihm los, wollte ihn nur kurz vor die Tür lassen. Die beiden wohnen da hinten.«

    Bernstein zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. Hansens Blick folgte der vorgegebenen Richtung und erfasste die beleuchtete Fassade eines Hochhauses, ungefähr einhundert Meter von ihnen entfernt.

    »Aha. Und dann?«

    »Der Hund machte sein Geschäft, hielt danach seine Nase in den Wind und raste los. Der alte Herr rief und brüllte und lief schließlich hinterher. Dann fand er seinen Hund, der an der Leiche schnüffelte.«

    »Na fein, dem Dünnpfiff eines Hundes hab’ ich es also zu verdanken, dass ich mitten in der Nacht aus dem warmen Bett steigen musste!«

    »Du tust mir ja so leid, Chef.«

    Hansen revanchierte sich postwendend. »Weißt du was? Diesmal bist du dran. Du gehst zu dem Ehemann und überbringst die schlechte Nachricht.«

    »Das ist nicht dein Ernst!«, protestierte Bernstein. »Ich war gestern auch schon dabei.«

    »Genau, du warst dabei. Heute machst du es mal allein. Du kannst dich nicht jedes Mal drücken. Wir sehen uns nachher im Büro.«

    Hansen zündete sich eine Zigarette an und schlurfte davon.

    Der neunundzwanzigjährige Oberkommissar Thomas Bernstein war erst seit zehn Monaten bei der Mordkommission. Bisher hatte er es geschafft, sich vor dem unangenehmen Gang zu den Hinterbliebenen eines Opfers zu drücken. Am Montag war er das erste Mal mitgegangen, aber dort hatte Hansen den aktiven Part übernommen. Die Leiche wurde um 7.15 Uhr von einem Jogger im Stadtpark gefunden. Die Frau im Alter von neunundfünfzig Jahren lag nackt, mit ausgebreiteten Armen und gespreizten Beinen neben einem Weg am Rande des Parks. Auf ihrem Gesicht hatte der Mörder einen Schminkspiegel platziert und darunter waren die Lippen zusammengenäht, mit sieben Stichen durch Ober- und Unterlippe. Ihre Kleidung fand man ordentlich zusammengelegt und aufgestapelt einen Meter von ihr entfernt, obenauf die Handtasche. Das erleichterte immerhin die Feststellung der Personalien.

    Hansen und Bernstein fuhren zu der nicht weit entfernten Adresse in Barmbek, die sie dem Personalausweis entnommen hatten. Bernstein bekam einen nervösen Schluckkrampf, als sie vor der Wohnungstür im zweiten Stock standen und Hansen den Klingelknopf drückte. Nach dreimaligem Klingeln wurde die Tür geöffnet. Ein alter Mann mit zerzausten weißen Haaren, bekleidet mit einem Morgenmantel, dessen Farbe von zahlreichen Waschgängen verblasst war, schaute sie fragend an. Er sagte kein Wort.

    »Herr Lehmann?«, fragte Hansen.

    »Äh, ja?«

    Hansen zeigte dem Mann seinen Ausweis.

    »Mein Name ist Hansen und das ist mein Kollege Bernstein. Wir sind von der Kriminalpolizei. Wir müssen mit Ihnen sprechen. Dürfen wir reinkommen?«

    »Äh, ja.«

    Der alte Mann drehte sich um und schlurfte in seinen Filzpantoffeln den Flur entlang. Hansen und Bernstein folgten ihm in das kleine Wohnzimmer, das mit einer wuchtigen Sitzgarnitur, einem großen Tisch und einer mächtigen Schrankwand mehr als ausgefüllt schien. Lehmann ließ sich in einen Sessel fallen.

    »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte er.

    Hansen und Bernstein verneinten dankend und blieben stehen.

    »Das ist gut. Ich hab’ nämlich keinen mehr fertig. Und meine Frau ist nicht da.«

    Hansen räusperte sich. »Ja, deshalb sind wir hier, Herr Lehmann.«

    »Warum? Wegen dem Kaffee?«

    Der Kommissar kam ins Stocken. »Nein, das nicht, also … dass Ihre Frau nicht da ist, das hat leider einen tragischen Grund.«

    »Ach ja?«

    »Sie wird nicht mehr wiederkommen. Sie wurde heute Morgen tot aufgefunden.«

    Immer, wenn er diesen Satz so oder ähnlich herausgebracht hatte, fühlte Hansen sich erleichtert, ohne zu wissen, was nun leichter geworden wäre.

    Lehmanns Reaktion war eher ungewöhnlich.

    »Soso«, sagte er. »Ja, so ist das mit den Frauen. Wenn man sie braucht, sind sie nicht da. Aber wenn man seine Ruhe will, wird man sie nicht los.«

    Hansen und Bernstein wechselten erstaunte Blicke. Hansen versuchte es ein zweites Mal.

    »Herr Lehmann, ich weiß nicht, ob Sie mich richtig verstanden haben. Es tut mir sehr leid. Ihre Frau ist tot. Sie wurde letzte Nacht ermordet. Haben Sie das verstanden?«

    Lehmann nickte bedächtig mit dem Kopf. »Verstanden? Jaja, ich hab’ verstanden … meine Frau … is nich’ da.«

    Bernstein brachte seinen Mund dicht an Hansens Ohr. »Ich glaube, eine weitere Befragung macht keinen Sinn. Der Mann hat einen Schock.«

    »Du hast recht«, flüsterte Hansen. »Wir ziehen uns zurück und rufen einen Arzt.« Laut sagte er: »Wir gehen dann jetzt wieder, Herr Lehmann.«

    Lehmann mühte sich aus dem Sessel.

    »Ja, schade, dass Sie schon wieder gehen müssen. Ich bring’ Sie zur Tür.«

    »Nicht nötig, wir finden allein hinaus.«

    »Na gut.« Lehmann setzte sich wieder. »Gucken Sie mal wieder rein?«

    »Machen wir. Ganz bestimmt.«

    Sie verließen die Wohnung. Hansen achtete darauf, die Tür nicht ganz zu schließen.

    »Ruf einen Notarzt, Thomas.«

    Bernstein suchte in der Jackentasche nach seinem Handy. Dann hörten sie aus der Wohnung ein leises Pfeifen. Kein richtiges Pfeifen, sondern eines, bei dem man die Luft durch die geschlossenen Zahnreihen drückt. Die Melodie war bekannt. »So ein Tag, so wunderschön, wie heute …«

    Hansen und Bernstein starrten einander mit offenen Mündern an. Bernstein wollte gerade »Hat der uns eben verarscht?« fragen, als sich die Tür der gegenüberliegenden Wohnung öffnete und eine mollige Frau mit grauer Dauerwellenfrisur auf sie zukam.

    »Was wollen Sie denn von Herrn Lehmann?«, fragte sie neugierig.

    Hansen zeigte seinen Dienstausweis.

    »Polizei. Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie das angeht?«

    »Man wird ja wohl mal fragen dürfen«, entrüstete sich die Frau. »Ich konnte ja nicht wissen, dass Sie von der Polizei sind. Ich wollte nur verhindern, dass ein alter, seniler Mann womöglich von irgendwelchem Gesindel um sein Hab und Gut gebracht wird.«

    »Da haben Sie natürlich Recht, Frau …«

    »Siems, Erna Siems, Herr Kommissar.«

    »Frau Siems, sagten Sie eben ›senil‹?«

    »Ja, wissen Sie das denn nicht? Der Herr Lehmann leidet doch an fortschreitender – wie heißt das noch? – Demenz, genau! Der weiß doch kaum noch, welchen Tag wir heute haben!«

    »Oh! Danke, Frau Siems, Sie haben uns sehr geholfen. Nun können Sie wieder in Ihre Wohnung zurückkehren. Wir kümmern uns um alles Weitere.«

    Frau Siems schnappte nach Luft. »Ja aber, was ist denn eigentlich los? Das muss ich doch wissen!«

    »Wir haben alles im Griff, keine Sorge. Es kommt gleich ein Notarzt, der wird sich um Herrn Lehmann kümmern. Tschüss, Frau Siems!«

    Mit sanfter Gewalt schob Hansen die Frau in ihre Wohnung zurück.

    »Aber …«, protestierte sie zaghaft.

    Hansen schloss ihre Tür. Bernstein rief einen Rettungswagen, dann setzten sich beide auf eine Treppenstufe.

    »Puuh, und ich dachte einen Moment lang, dass wir den Täter schon haben, als die Melodie ertönte.«

    »Man soll nie voreilige Schlüsse ziehen«, antwortete Hansen grinsend. »Wir hätten uns bis auf die Knochen blamiert, wenn wir den Lehmann verhaftet hätten.«

    »Oh ja«, bestätigte Bernstein, »und die ganze Abteilung hätte uns jahrelang damit aufgezogen.«

    Lehmann wurde vorübergehend in ein Krankenhaus gebracht, bis man einen Platz in einem Pflegeheim für ihn gefunden hatte.

    Bernstein grübelte, ob er den unangenehmen Gang zum Ehemann des Opfers sofort erledigen oder noch warten sollte. Es war vor 5 Uhr in der Früh, womöglich würde er den Mann aus dem Schlaf klingeln.

    »Das ist eine billige Ausrede«, sprach er halblaut zu sich selbst, »wer schläft denn schon, wenn die eigene Ehefrau in der Nacht verschwunden ist? Du willst es nur aufschieben, aber das macht es auch nicht leichter.«

    Er gab dem Team der Kriminaltechniker ein paar Anweisungen, bestieg seinen alten VW-Bus und fuhr los.

    Die Sterntalerstraße gehörte zu einer kleinen Siedlung in Hamburg-Billstedt, die wegen der den Märchen der Gebrüder Grimm entlehnten Straßennamen im Volksmund die Märchensiedlung genannt wurde. Die Bebauung bestand hauptsächlich aus Einzel- und Doppelhäusern mit sehr kleinen Grundstücken. Viele Häuser stammten bereits aus den fünfziger Jahren. Die Straßen waren schmal und ohne Gehwege angelegt.

    Bernstein hielt vor dem Haus der Steinburgs. Nicht weit entfernt konnte er das Rauschen fahrender Autos auf der Autobahn A24 hören. Hinter einem der Fenster nahm er einen schwachen Lichtschein wahr. Er ging durch den schmalen Vorgarten auf das weiß gestrichene, kleine einstöckige Haus mit Spitzdach zu. Mit jedem Schritt wurde er langsamer. Er zupfte nervös an seiner Jacke und spürte die feuchte Kühle der Frühsommernacht. Zögerlich betätigte er den Klingelknopf. Nach wenigen Sekunden wurde die Tür geöffnet. Vor Bernstein stand ein Mann von etwa sechzig Jahren mit einem runden Gesicht, einer auffällig breiten Nase und einem spärlichen Haarkranz. Der Mann trug eine dunkelbraune Cordhose und ein weißes Hemd mit blauem Karomuster, unter dem sich ein kräftiger Oberkörper abzeichnete. Er sah aus, als hätte er längere Zeit nicht geschlafen.

    Bernstein räusperte sich. »Herr Steinburg?«

    »Ja, der bin ich«, antwortete der Mann. »Sind Sie von der Polizei? Kommen Sie wegen meiner Frau? Was ist mit ihr?«

    »Oberkommissar Bernstein, guten Morgen.« Er zeigte seinen Dienstausweis. »Darf ich reinkommen?«

    »Ja, natürlich.«

    Durch einen schmalen, fensterlosen Flur führte Steinburg ihn geradewegs in das Wohnzimmer. Bernstein merkte, wie Erinnerungen aus seiner Kinderzeit wachgerufen wurden. Er war selbst in so einem Siedlungshaus aus den fünfziger Jahren aufgewachsen. Eng, mit viel zu kleinen Räumen, wenig Tageslicht und steilen Treppen. Er hatte sich nie wohl darin gefühlt. Der Anlass, der ihn hierherführte, machte es noch bedrückender.

    Steinburg räumte hastig eine Tagesdecke beiseite und setzte sich auf die lindgrüne Couch. Bernstein nahm in einem Sessel gegenüber Platz.

    »Haben Sie Neuigkeiten für mich? Wie geht es meiner Frau?«

    »Ich komme leider mit einer schlechten Nachricht. Ihre Frau wurde tot im Öjendorfer Park aufgefunden.«

    »Tot? Im Öjendorfer Park? Was hat sie da gemacht? Wurde sie … ermordet?«

    Bernstein versuchte, den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken.

    »Ja, sie wurde ermordet.«

    »Im Öjendorfer Park? Was wollte sie da?«

    »Sie wurde nicht dort ermordet. Wir wissen bis jetzt nicht, wo es geschah.«

    »Und … wie?«

    »Sie wurde erstickt.«

    Steinburg senkte den Kopf und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Er schluchzte und seine Schultern bebten. Bernstein ließ ihm Zeit und schwieg. Er sah sich im Wohnzimmer um. Es war blitzsauber und aufgeräumt. Alle Möbel und Gegenstände standen akkurat ausgerichtet, es gab fast nur rechte Winkel. Von der zerwühlten Tagesdecke abgesehen, existierte keine Unordnung. Keine halb gelesene Zeitung, kein leeres Glas, nichts. Der Raum wirkte steril. Das einzig Ungewöhnliche waren einige sehr schöne Holzmodelle von historischen Segelschiffen, die in einer Glasvitrine standen.

    Steinburg hörte auf zu schluchzen. Das einzige Geräusch im Raum war nun das Ticken der Wanduhr, die genau in der Mitte oberhalb des Sofas an der Wand hing. Bernstein starrte gedankenverloren auf den goldfarbenen Sekundenzeiger. Dann wurde ihm bewusst, dass Steinburg ihn fragend ansah.

    »Herr Steinburg, fühlen Sie sich, ich meine, sind Sie in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?«

    Steinburg nickte.

    »Danke, das ist sehr wichtig für uns. Sie hatten hier im Wohnzimmer auf die Rückkehr Ihrer Frau gewartet?« Bernstein deutete auf die Decke am Rand der Couch.

    »Ja, das stimmt. Ich hatte auch schon mit dem Polizeirevier telefoniert, aber dort meinte man, es gäbe keine Meldung über meine Frau, von wegen Unfall oder so. Ich sollte bis zum Morgen warten, ob sie nach Hause kommt und dann zur Wache kommen, wegen der Vermisstenanzeige. Die

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