Ein Fall von Ferien
Von Sabine Kulinski
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Er fühlt sich abgeschoben und richtet sich lustlos auf die vermeintlich langweiligsten zwei Wochen seines Lebens ein, bis ein Unfall mit Fahrerflucht alles ändert und seine Ferien zu einem echten Abenteuerurlaub werden.
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Ein Fall von Ferien - Sabine Kulinski
Ein Fall von Ferien
Die Vorbereitungen
„Herrje, Junge, hast du etwa noch immer nicht gepackt?, warf Brigitte im Vorbeilaufen ihrem siebzehnjährigen Filius nervös an den Kopf, während dieser sich zusehends bemühte, dieses Level seines Computerspiels nicht schon wieder von vorn beginnen zu müssen. Der Versuch, seine Zimmertür einfach zu schließen und so zu tun, als hätte er mit der ganzen Packerei seiner Mutter nichts zu tun, war schon einige Male daran gescheitert, dass sie ihn zu oft gebeten hatte ihr beim Suchen diverser Dinge zu helfen. Nach kurzer Zeit hatten sie sich von selbst aber wieder angefunden, worauf sie erfreut feststellte: „Alles in Ordnung, Kilian, ich hab‘s gefunden!
Resigniert ließ er seither die Zimmertür offenstehen und hoffte, dass sie ihn im ganzen Trubel einfach vergessen würde.
Sein Vater war im Umgang mit der Mutter erfolgreicher. Hanno Schliemann hatte es immer schon gut verstanden seine Interessen Brigitte so zu verkaufen, dass diese unbemerkt die Richtung einschlug, die für Hanno die angenehmste war. Allerdings musste er dafür auch manchmal Opfer bringen, damit sie ihm nicht auf die Schliche kam.
Mit der Begründung noch ein paar Akten für den bevorstehenden Kongress sichten zu müssen, schaffte er es also von Brigittes „Packeifer" unbehelligt zu bleiben; seine Tür blieb verschlossen.
Dieser Kongress in Italien war auch der Grund für diese Hektik, die sich im Hause Schliemann ausbreitete. Denn Mutter Brigitte war, genau wie die Gattinnen der anderen Teilnehmer, in diesem Jahr nämlich auch zum Kongress eingeladen worden. Die Firma, für die Kilians Vater arbeitete, wollte sich auf diesem Wege bei den Frauen ihrer leitenden Angestellten bedanken, „weil sie ihren Männern so erfolgreich den Rücken stärken." So stand es tatsächlich auf der Einladung!
Brigitte, sonst eher Hobbyfeministin, die zum Beispiel schon bei der Eheschließung auf einen Doppelnamen bestanden hatte und meistens sehr sensibel auf Formulierungen, die als frauenfeindlich ausgelegt werden konnten reagierte, verdrängte diesen nun eher lästigen Gedanken und freute sich auf den organisierten Tapetenwechsel mit Programm. Außerdem bestand sie darauf, gemeinsam mit Hanno anschließend noch für eine weitere Woche nach Rom zu reisen, denn es lag ja nur zwei Autostunden vom Ort des Kongresses entfernt. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr durch die vielen Überstunden, die er nun mal machen musste, diesen Wunsch nicht abschlagen konnte – so viel zu Hannos Opferbereitschaft. Zum Glück hatte Kilian Ferien, sodass sich Brigitte ihrer mütterlichen Pflichten auch relativ leichten Herzens entledigen konnte.
Beim Vorübereilen warf sie im Flur schnell noch einen prüfenden Blick in den Spiegel. Die neue Kurzhaarfrisur, die sie sich extra für diese Reise zugelegt hatte, um auch bei eventuell schlechtem Wetter gut auszusehen, verlieh ihr eine betont sportliche Note. Brigitte war zwar Mitglied im Tennisclub, doch erstreckten sich ihre Ambitionen dort eher auf die Reduzierung des Gewichts durch Aufnahme gesunder, vitaminreicher Getränke, auf Saunabesuche und die soziale Kontaktpflege mit ihren Freundinnen – anstatt auf körperliche Ertüchtigungen.
Sie strich mit der Hand den Rock in der Bauchgegend – ihrer Problemzone – noch einmal glatt und ging ins Schlafzimmer, wo sie sich der vielen leeren Taschen annahm, die darauf warteten, mit etlichen und teils überflüssigen Dingen gefüllt zu werden.
Ja, und wie sah es nun mit Kilian aus? Auf die Kinder der leitenden Angestellten, denen durch die langen Arbeitstage ihrer Väter eine problematische Vater-Kind-Beziehung bescheinigt wurde und die unter Umständen auf der Couch eines Psychotherapeuten landen würden, hatte die Firma leider keine Rücksicht genommen und somit auch kein Programm im Angebot. So wurde entschieden, dass Kilian die nächsten zwei Wochen bei Oma Martha, Brigittes Mutter, verbringen sollte. Kilian hatte nicht nur keine Lust zu seiner Oma zu fahren, er fühlte sich von seinen Eltern regelrecht abgeschoben. Zuletzt war er bei seiner Oma mit acht Jahren gewesen. Seit der Zeit waren sich Brigitte und ihre Mutter erfolgreich aus dem Weg gegangen. Warum – das wusste er nicht. Er hatte auch nicht danach gefragt, denn er wollte dort ja auch gar nicht mehr hin.
Leider gab es auch keine anderen Verwandten, denn sowohl Brigitte, wie auch Hanno waren Einzelkinder. Hannos Eltern waren beide schon verstorben, da blieb eben nur noch Oma Martha übrig. Kilian hoffte insgeheim, dass sie vielleicht krank werden würde, oder vielleicht noch Schlimmeres. Er wollte ums Verrecken dort nicht hin. Darum hatte er auch nicht gepackt.
„Also Kilian, wenn du jetzt nicht packst, dann packe ich für dich!", drohte Brigitte nun ernsthaft.
„Was soll ich denn bei Oma Martha? Kann ich nicht einfach hier zu Hause bleiben und Blumen gießen?, fragte er resigniert. „Darüber haben wir doch schon gesprochen
, winkte Brigitte ab. „Nur Pizza und Computer, das ist nicht drin. „Die Oma freut sich doch schon auf dich
, setzte sie wenig überzeugend hinzu. „Die hat bestimmt noch nicht mal WLAN, versuchte er es noch mal. „Es kann bestimmt nicht schaden, wenn du mal nicht Computer spielen kannst, sondern dich auf andere Dinge konzentrierst.
„Worauf soll ich mich denn konzentrieren? Ich habe doch Ferien, erwiderte er trotzig. „Nächstes Jahr bin ich achtzehn, dann kannst du mich nicht mehr zu Oma verfrachten!
, brach es ärgerlich aus ihm heraus. „Ja, erwiderte Brigitte um Haltung ringend, „nächstes Jahr!
„Ich habe jetzt weder Lust noch Zeit, mich mit dir zu streiten", beendete sie mit einer hilflosen Geste die Konversation. Sie hatte noch so viel zu tun; auch die Auswahl der Schuhe musste sie noch treffen, die sie mitnehmen wollte.
Kilian holte widerstrebend seinen Wanderrucksack aus dem Kleiderschrank und nahm ein paar T-Shirts und Socken aus dem Schrank. Wenn die glauben, dass ich da geschniegelt auftauche, dann haben die sich aber getäuscht, dachte er. Unterhosen und zwei Jeans landeten noch im Rucksack, und ließen noch genügend Platz für die wichtigsten Computerspiele und seinen Laptop. Da Jugendliche in Kilians Alter bekanntermaßen nicht besonders viel Wert auf das regelmäßige Wechseln von Kleidung, geschweige denn auf zeitaufwendige Körperpflege legen, war der Rucksack schnell gepackt. Gerade, als Brigitte wieder ins Zimmer stürmen und ihn ermahnen wollte, sah sie das fertige Endprodukt neben dem Bett stehen. „Hast du auch noch Platz für deine Kulturtasche gelassen?, fragte sie. „Klar, und wenn nicht, dann packe ich die Sachen eben einzeln ein – da, wo Platz ist.
Brigitte nickte zufrieden und entschwand. Kilian legte sich auf sein Bett, verschränkte trotzig die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke.
Ich werde genügend Geld mitnehmen, damit ich zur Not nach Hause fahren kann, überlegte er. Vielleicht konnte er ja auch mit Oma Martha einen Deal machen. Wenn er ihr nur gehörig auf die Nerven fallen würde, wäre sie vielleicht ganz froh, ihn wieder los zu sein. Die Eltern brauchten ja nichts davon zu erfahren. Mit einem überlegenen Lächeln streckte er sich wohlig auf dem Bett aus „Oma, ich komme!"
Erste Annäherung
Während der Fahrt drehte sich Brigitte immer wieder unsicher zu Kilian um, der schweigend auf der Rückbank saß. Vielleicht findest du ja in Omas Nachbarschaft ein paar Freunde
, versuchte sie ihn aufzuheitern. Kilian blickte düster vor sich hin. „Von Oma kann man in nur zwanzig Minuten in Kiel sein, versuchte sie es wieder. „Da gibt es Kinos und viele Geschäfte.
Was sollte Kilian in Kiel? Ihm gefiel Bremen sehr gut. Dort hatte er seine Freunde und von zu Hause brauchte er nur fünfzehn Minuten ins Kino. Er sah die graue Landschaft an sich vorüberziehen und beobachtete sein Gesicht in der Fensterscheibe. Er schob die Brille höher auf die Nase seines schmalen Gesichts und versuchte die Haarsträhnen, die eigentlich sein Pony sein sollten, über die von Akne etwas in Mitleidenschaft gezogene Stirn zu ziehen. Leider sprangen sie dank eines Wirbels immer wieder in ihre alte Position zurück, worauf Kilian das Unterfangen mit einem Seufzer beendete. Brigitte deutete Kilians Seufzer als einen Ausdruck seines Selbstmitleids und versuchte dies zu ignorieren, da sie selbst das schlechte Gewissen etwas plagte.
Die Autofahrt dauerte gute zwei Stunden – und da am Sonntag ohnehin meist nur Ausflügler unterwegs waren, kamen sie auch zügig durch den Verkehr. Es regnete leicht und das Wetter spiegelte Kilians Laune wider. Während er gestern Abend noch guter Dinge gewesen war, seine Oma nerven zu werden, dass sie ihn mit Freude nach Hause ziehen lassen würde, kamen ihm langsam erste Zweifel. Was, wenn sie die Verantwortung für ihn so ernst nahm, dass sie ihn nicht gehen lassen würde? Erwachsene nahmen die Sache mit der Verantwortung ja bekanntlich ziemlich ernst. Er konnte sich an Oma Martha gar nicht mehr gut erinnern, nur an ihren Butterkuchen, den sie jeden Samstag buk.
Kurz nach Neumünster rissen die Wolken plötzlich auf und die Sonne meldete ihren Anspruch an. „Na, wenn das kein gutes Zeichen ist!", versuchte Brigitte die Stimmung zu heben – aber Kilian und Hanno blieben stumm.
Nachdem sie von der Autobahn abgebogen waren, ging es noch ein paar Kilometer die Landstraße entlang, bis sie schließlich vor Oma Marthas Haus stoppten.
Kilian hatte das Haus und den Garten viel größer in Erinnerung. Sie blieben alle im Auto sitzen, so als ob sie darauf warteten, dass Oma Martha ihnen, wie ein Hotelangestellter, die Wagentüren öffnen würde. Brigitte atmete tief ein und öffnete als erste die Autotür. In der Haustür erschien Oma Martha nun endlich. Hanno und Kilian stiegen ebenfalls aus und alle drei gingen gemeinsam auf das Haus zu. Kilian hatte Oma Martha auch viel größer in Erinnerung.
„Schön, dass ihr es schon geschafft habt, begrüßte Oma Martha sie alle und gab ihnen die Hand. Brigitte schien etwas unsicher zu sein: „Wir sind auch rechtzeitig losgefahren. Wir müssen ja auch gleich wieder nach Hamburg zum Flughafen
, erklärte sie schnell. „Ach, dann habt ihr wohl gar keine Zeit für eine Tasse Kaffee und ein Stück Butterkuchen?, fragte Oma Martha enttäuscht. „Eine Tasse Kaffee nehmen wir gern
, lenkte Brigitte zögernd mit einem Blick auf Hanno ein. „Na, dann kommt mal rein!", forderte Oma Martha sie auf und ging ihnen voran ins Haus.
Kilian stellte seinen Rucksack in den Flur und sah sich neugierig um. Er entdeckte ein paar Bilder wieder, an die er sich erinnern konnte, auch an die Küchenbank, in der Oma immer die Kehrschaufel und den Besen aufbewahrte.
Oma Martha hatte einen pfiffigen Kurzhaarschnitt, fast wie Brigitte. Sie war kleiner als Kilian und wirkte