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Duale Ökonomie und historische Eigentumsformen: Band 1
Duale Ökonomie und historische Eigentumsformen: Band 1
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eBook614 Seiten8 Stunden

Duale Ökonomie und historische Eigentumsformen: Band 1

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Über dieses E-Book

Martin Seelos macht in diesem Buch auf knapp 1.000 Seiten (Band 1 und Band 2) den Begriff der dualen Ökonomie für die Wirtschaftsgeschichte fruchtbar. Das Konzept der "Dualökonomie" wurde bislang hauptsächlich in der Ethnologie oder der Entwicklungssoziologie verwendet, um die Gleichzeitigkeit von einem modernen mit einem vormodernen Wirtschaftssektor zu umreißen.

Dieser begrenzte Fokus wird hier überwunden. Erstens, weil die "Modernität" konkret zu bestimmen ist, um sie historisch einzuordnen. Und zweitens findet sich die duale Ökonomie in der Globalgeschichte immer wieder als dynamisches Element: Die Dualität umreißt den Konflikt zwischen unterschiedlichen Eigentumsformen, der jede neue Produktionsweise begleitet.

Der Autor, der bereits mehrere Bücher zur Eigentumstheorie und -geschichte veröffentlicht hat, führt zu verschiedenen "Stationen" der historischen Entwicklung, um die Logik einer dualen Ökonomie aufzuspüren: Neolithikum vs. Mesolithikum in Mitteleuropa, Hellenismus vs. altorientalische Produktionsweise, Spätantike vs. Feudalismus, frühneuzeitliches Europa vs. altamerikanisches und altafrikanisches Eigentum, Französische Revolution & Bauernbefreiung in Kontinentaleuropa, sowjetische Industrie vs. kleinbürgerliche Agrarproduktion.

Bei all diesen Konstellationen geht es auch um die Frage, nach welchen Kalkülen so unterschiedliche Gesellschaften miteinander in Kontakt treten, mit welchen Methoden und mit welchen Folgen: Aus dem Nebeneinander wird ein Nacheinander. In dieser Hinsicht kann von einer globalgeschichtlichen Relevanz jeder Dualökonomie gesprochen werden.

Das vorliegende Werk ist originär, kenntnisreich verfasst und spannend zu lesen. Die Untersuchung liegt im Schnittpunkt der Geschichtsforschung und der politischen Ökonomie. Konkrete Berührungspunkte zu der Wirtschaftsanthropologie fehlen nicht. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat sowie ein Literaturverzeichnis (Band 2) machen die Textbelege nachvollziehbar.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Okt. 2021
ISBN9783347023901
Duale Ökonomie und historische Eigentumsformen: Band 1
Autor

Martin Seelos

Martin Seelos (Jahrgang 1965) beschäftigt sich seit Beginn der 2000er Jahre mit dem Forschungsdesign bei Karl Marx. Seit 2017 Herausgeber und Autor der Buchreihe „Beiträge zur Kulturgeschichte“ mit dem Schwerpunkt „Theorie des Eigentums“. Bisher erschienen: Negation des Eigentums (2016), Akkumulation ohne Kapital (2017), Franz Kafka und das feudale Prinzip (2017), 1917 und 1789: Aspekte der politischen Geographie (2017), Das antike Eigentum (2019), Duale Ökonomie und historische Eigentumsformen, 2 Teilbände (2021), Bürgerliches Eigentum und globaler Süden (2023). Martin Seelos lebt und arbeitet in Wien.

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    Buchvorschau

    Duale Ökonomie und historische Eigentumsformen - Martin Seelos

    VORWORT

    Die vorliegende Arbeit versucht, den Begriff Dualökonomie für die Wirtschaftsgeschichte nutzbar zu machen. Der Begriff „Dualökonomie" wurde bislang hauptsächlich in der Ethnologie oder der Entwicklungssoziologie verwendet, um die Gleichzeitigkeit von einem modernen mit einem vormodernen Wirtschaftssektor zu umreißen.

    Dieser begrenzte Fokus wird hier überwunden. Erstens, weil die „Modernität" konkret zu bestimmen ist, um sie historisch einzuordnen. Und zweitens findet sich die duale Ökonomie in der Globalgeschichte immer wieder als dynamisches Element: Die Dualität umreißt den Konflikt zwischen unterschiedlichen Eigentumsformen, der jede neue Produktionsweise begleitet. Somit muss eine Analyse der dualen Ökonomie en passant auch alte Eigentumsformen bestimmen. Das Thema ist in der Schnittmenge zwischen Wirtschaftswissenschaft und Geschichtsschreibung angesiedelt.

    Das zweibändige Buch bietet keine systematische, aber eine exemplarische Aufarbeitung. Verweilt wird an folgenden „Stationen": Neolithikum vs. Mesolithikum in Mitteleuropa, Hellenismus vs. altorientalische Produktionsweise, Spätantike vs. Feudalismus, Feudalismus vs. frühneuzeitlicher Kapitalismus, frühneuzeitliches Europa vs. altamerikanisches und altafrikanisches Eigentum, Französische Revolution & Bauernbefreiung in Kontinentaleuropa, sowjetische Industrie vs. kleinbürgerliche Agrarproduktion.

    Bei all diesen recht verschieden gelagerten Konstellationen geht es auch immer um die Frage, nach welchen Kalkülen gegensätzliche Gesellschaften miteinander in Kontakt treten, mit welchen Methoden und mit welchen Folgen: Aus dem Nebeneinander wird ein Nacheinander. Hier zeigt sich die globalgeschichtliche Relevanz jeder dualen Ökonomie.

    ***

    Im Fokus des vorliegenden ersten Bandes dieses Buches steht die Wechselwirkung zwischen dem frühneuzeitlichen Europa und Afrika sowie den Antillen.

    Der inhaltliche Schwerpunkt von Band 2 liegt in der dualen Ökonomie der Sowjetunion sowie in der Dialektik der historischen Entwicklung seit der Antike.

    WAS ALLES IST DUALE ÖKONOMIE?

    Ein Wirtschaftslexikon führt unter dem Suchbegriff „Dualwirtschaft" aus:

    „In der Wirtschaftssoziologie: dual economy, Modellvorstellung zur Erklärung der Gleichzeitigkeit von gesamtgesellschaftlicher Unterentwicklung und sektoralem wirtschaftlichen Wachstum in Ländern der Dritten Welt, die auf der getrennten Existenz eines subsistenzwirtschaftlichen (traditionellen, stagnierenden) und eines kapitalistischen (modernen, dynamischen) warenproduzierenden Sektors beruhen soll. Die Anhänger der sog. Dualismustheorie erwarten eine Ausdehnung des ‚modernen Sektors‘ in die ‚traditionellen‘ Bereiche und damit langfristig eine Homogenisierung der Strukturen. Gegen diese Vorstellung wird u.a. auf die funktionelle Unterordnung der Subsistenzproduktion unter die kapitalistische Warenproduktion, ihre Verschränkungen in der Reproduktion der Arbeitskräfte hingewiesen."¹

    Bereits die letzten beiden Sätze haben es in sich, denn es gibt genau genommen beide Phänomene synchron: die Verdrängung und die Unterordnung. Doch davon handelt dieses Buch nicht. Und andererseits wieder doch. Doch, weil es in diesem Buch um die Gleichzeitigkeit verschiedener Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsformationen geht. Nicht, weil es hier nicht nur und nicht hauptsächlich um die Gleichzeitigkeit von Kapitalismus und Subsistenzwirtschaft geht. An dieser Stelle müssen wir auch gleich einmal nachhaken, was unter „Subsistenzwirtschaft zu verstehen ist. Ursprünglich war damit Produktion zur Selbstversorgung gemeint. Aber was bedeutet „Selbstversorgung? Man stellte sich eine Bauerngemeinde vor, die nur für den Eigenbedarf, und nicht für den Markt produziert. Das bedeutet aber dreierlei: eine (relative) Isolation – am schönsten wäre es für die Ökonomen, wenn ein Betrieb von Wald oder Wüste umgeben wäre, um nicht in den Sog einer Arbeitsteilung hineinzugeraten. Zweitens müsste es sich um einen Agrarbetrieb handeln, denn Nahrungsmittel brauchen die Menschen ja in jedem Fall und an allererster Stelle. Ohne Arbeitsteilung zu überleben, bedeutet: Nahrungsmittel selbst herzustellen. Aber dann, drittens: Selbstversorgung bedeutet auch etwas ganz anderes, nämlich, dass die Produzenten – hier etwa die Bauern – nur für sich arbeiten, und nicht für andere. Es müsste nach dieser Prämisse ausschließlich notwendige Arbeit und es dürfte überhaupt keine Mehrarbeit geleistet werden – um auch die dazu passenden marxistischen Begriffe zu erwähnen. Vice versa bedeutet der Begriff „Überschuss nicht, dass etwas über den eigenen Bedarf produziert wird, sondern dass den Produzenten ein Teil ihres Produktes abgenommen wird und damit Nichtproduzenten versorgt werden. Polemisch formuliert: „Überschuss zu haben, bedeutet nicht, satt zu sein, sondern teilen zu müssen. „Überschuss" ist ein politisches Phänomen.

    Diese Art der Subsistenzwirtschaft – also ohne Markt und ohne Mehrarbeit – ist jedenfalls in der Geschichte nicht allzu häufig anzutreffen. Um nicht zu sagen: fast nie und nur in Randgebieten. Ein wenig schwingt hier das Modell der „Robinsonade mit, eine beliebte Modellvorstellung der frühen bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft. In der theoretischen ökonomischen Literatur wird unter Subsistenzwirtschaft tatsächlich auch so etwas wie „Robinson auf seiner Insel verstanden – freilich ohne, dass dabei die Konsequenz dieser Konstellation, also das Fehlen von Mehrarbeit, ausgesprochen wird. In der historischen und sozialreformerischen Literatur hingegen wird in der Subsistenzwirtschaft bloß die Absenz von Marktproduktion gesehen und der „Überschuss" als Mittel zum episodischen Tauschhandel, dessen Erträge die selbst hergestellten Güter des Eigenbedarfs ergänzen. Mitunter wird der „Überschuss als Steuer missverstanden, um Zivilisation zu ermöglichen. In der historischen Wirklichkeit konnte der Staat aber auch den „Überschuss an andere Gemeinden verkaufen und somit zur Ware machen.

    Einige Autoren sehen hingegen ganz richtig den „Überschuss als erzwungene Abgabe an. Das Paradebeispiel: Die Fellachen des ptolemäischen Ägyptens produzierten für keinen Markt, aber sie mussten einen guten Teil der Ernte an den Staat abliefern. Ganz analog zu den Bauern im Feudalismus, die an die Herrschaft Arbeitsdienste oder Zehnten leisten mussten. Das war keine Steuer für die Gemeinschaft, wie es etwas euphemistisch heißt, sondern schlicht Mehrarbeit. Aber eben abseits der Warenproduktion. So gesehen unterscheidet sich „Subsistenzwirtschaft nicht notwendigerweise von der Warenwirtschaft im Ausmaß der Technologie, der Produktivität, des Reichtums an Gebrauchswerten. An Hand des Beispiels der altägyptischen oder mesopotamischen Ökonomie sehen wir, dass diese Art der Naturalwirtschaft sehr wohl auch Arbeitsteilung beinhalten konnte – zumindest zwischen dem Staat, der in Infrastruktur investierte, und den Bauern, die das dazu notwendige Mehrprodukt herstellten. Theoretisch kann sich die Arbeitsteilung auch horizontal ausbreiten und dennoch nicht auf Warenwirtschaft, sondern auf Naturalwirtschaft basieren – aber das ist aus bestimmten Gründen historisch kaum geschehen. Umgekehrt stimmt dieser Satz aber wiederum nicht: Wenn in der reformerischen Literatur der Abkehr von der Subsistenzwirtschaft und der Entwicklung der Arbeitsteilung der Ausweg aus der Unterentwicklung zugesprochen wird oder umgekehrt die Subsistenzwirtschaft als Ausweg aus der Abhängigkeit vom Weltmarkt der reichen Länder angepriesen wird … dann sind beide Ansätze genauso politisch utopisch wie ökonomisch idealistisch. Arbeitsteilung ist nicht willkürlich machbar, sie entwickelt sich von selbst. Und sie steht in keinem Widerspruch zur Subsistenzwirtschaft.

    Genug, Subsistenzproduktion ist hier einfach nur der logische Gegensatz zur Warenproduktion – und auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht, soll der Begriff hier vorerst verwendet werden. Aber es stimmt, es gäbe ein Thema für eine eigene Untersuchung ab: Der Begriff „Subsistenzwirtschaft oder „Subsistenzproduktion mutet so harmlos an, ist in Wirklichkeit aber voller Tücken.² Und je nachdem, was unter Subsistenzwirtschaft verstanden wird, wird auch der Begriff Dualökonomie mehr oder weniger stringent oder locker verwendet. Wir verwenden den Begriff stringent: als Wirtschaftsform einer ganzen Gesellschaft und nicht als Subsistenzproduktion eines isolierten Bauernhofes. Oder anders gesagt: Für uns ist dies ein Begriff der Gesellschaftsformation und nicht ein Begriff der Betriebswirtschaftslehre. Konsequenterweise gehen wir auch mit dem Begriff Dualökonomie vorsichtig und sparsam um.

    Kommen wir nach dieser Begriffsbestimmung auf den oben zitierten Passus aus einem Wirtschaftslexikon zurück:

    „Die Anhänger der sog. Dualismustheorie erwarten eine Ausdehnung des ‚modernen Sektors‘ in die ‚traditionellen‘ Bereiche und damit langfristig eine Homogenisierung der Strukturen. Gegen diese Vorstellung wird u.a. auf die funktionelle Unterordnung der Subsistenzproduktion unter die kapitalistische Warenproduktion, ihre Verschränkungen in der Reproduktion der Arbeitskräfte hingewiesen."³

    Immerhin kommt in der zitierten Passage ganz richtig zum Ausdruck, dass es keinen politisch gewollten Idealzustand und keine Harmonie des Nebeneinanders gibt, sondern eine Ausdehnung der einen Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsformation auf Kosten der anderen. Oder aber: Dort, wo beide Pole quantitativ zueinander unverändert bleiben, macht die eine Formation sich die andere dienstbar. All das ist kaum politisch steuerbar; es handelt sich um strukturelle und langfristig wirksame Gegebenheiten einer dualen Ökonomie. Eine Produktionsweise bestimmt das Geschehen, nicht das Bewusstsein der Beteiligten.

    In diesem Buch geht es daher nicht um die Frage, ob nun eine Dualwirtschaft gut oder schlecht sei, sondern nur darum, dass sie Realität wird, sobald sich zwei „Systeme gegenübertreten. Und das tun sie immer, da auch in der bisherigen Geschichte eine Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsformation nie von einem Tag auf den anderen von „der nächsten ersetzt wurde. Wir werden auf die Problematik des Begriffs der „Nächsten" in diesem Zusammenhang noch zurückkommen. Jedenfalls: Selbst der industrielle Kapitalismus ersetzte in seiner doch recht rasanten und dynamischen Geschichte nicht alle vorkapitalistischen Inseln, Reste und Zonen. Einige überlebten unbeachtet an den Rändern. Die meisten wurden funktionell überformt.

    Die Interaktion unterschiedlicher Wirtschaftsweisen findet irgendwie immer statt, sie stand nur nicht so recht im Fokus der Ökonomen, die jeweils eine Produktionsweise zum Thema der Untersuchung machten. Mitunter sind die Mediävisten und Historiker der alten Geschichte besser auf dieses Thema eingestimmt, war doch die Verschränkung – zum Beispiel der antiken Sklavenarbeit mit der Subsistenzwirtschaft und der darauf basierenden Staatsintervention in den altorientalischen Reichen – in den Wirtschaftsweisen vor dem Aufkommen des im Vergleich dazu recht homogenen Kapitalismus gang und gäbe.⁴

    Aus der Perspektive der Planwirtschaft bzw. des Sozialismus wird die duale Ökonomie meist mit dem Begriff „Übergangsgesellschaft" gleichgesetzt – was nur zu einem Teil stimmig ist, denn eine duale Ökonomie könnte auch im Sozialismus auftreten. Und umgekehrt: Auch ohne duale Ökonomie könnte eine Planwirtschaft noch in den Zwängen einer Übergangsgesellschaft verfangen sein. Der begriffliche Gegensatz Übergangsgesellschaft und Sozialismus betrifft ja „nur die Frage, ob die Arbeitsproduktivität und die darauf aufbauende Zivilisation der Planwirtschaft bereits jene des Kapitalismus übertrifft und es daher keinen Sog in Richtung Restauration des Letzteren gibt.⁵ Insofern dies nicht der Fall ist, ist jeder Arbeiterstaat in den Usancen einer Übergangsgesellschaft verfangen. Der Begriff „Übergangsgesellschaft hat aus der Sicht des Sozialismus eine politische Bedeutung, insofern es darum geht, dem Sog in Richtung Restauration auszuweichen.

    Der Begriff „duale Ökonomie hat diese politische Komponente nicht. Das bedeutet aber keineswegs, dass es keine Politik der dualen Ökonomie geben kann. Aber es bedeutet, dass „duale Ökonomie alleine auf der ökonomischen Ebene erklärbar ist. Dass unterschiedliche Produktionsweisen auf der Erde existieren, ist an sich nicht ungewöhnlich. Und dass es eine ökonomische Interaktion zwischen diesen gibt, ist es genauso wenig. Somit können wir uns Gedanken machen, wie die Verbindung von den ökonomischen Polen, die an sich inkompatibel sind, auf den Begriff gebracht werden kann.

    Kommen wir vorerst noch einmal auf das Thema Übergangsgesellschaft zurück. In der sozialistischen Literatur wird davon ausgegangen, dass es sich bei dieser bloß um ein Zwischenstadium handle, bevor daraus ein Sozialismus entstehen könne. Diese Vorstellung ignoriert aber die bisherigen Erfahrungen mit der langlebigen Existenz von dualer Ökonomie. Nicht nur das. In der recht umfangreichen Literatur zur „Übergangsgesellschaft dominieren politische und im engeren Sinne programmatische Fragen. Das hängt mit der oben angeführten Tatsache zusammen, dass der Begriff „Übergangsgesellschaft sowohl eine politische als auch eine ökonomische Dimension hat. Oder genauer: Die politische ist Folge der ökonomischen – aber meist wird der Unterschied am politischen Terrain festgemacht. Das ist noch legitim, aber unvollständig. Und es verführte zu dem falschen, weil letztlich idealistischen Schluss, dass die ökonomische Frage in der politischen zur Gänze aufginge. Also: dass die richtige Wirtschaftspolitik aus den Zwängen der Übergangsgesellschaft herausführen könne – meist, indem ebenfalls auf Zwang gesetzt wird, etwa der Arbeit, der Industrialisierung und der Akkumulation. Damit verharren wir aber in einem Gegensatz und lösen keinen Widerspruch.

    Und dann: Unserer Ansicht nach hat die Diskussion von politischen Fragen zum Thema „Übergangsgesellschaft" nur dann Sinn, wenn es sich um eine konkrete Planwirtschaft handelt. Da diese heute nirgends anzutreffen ist, macht es eher Sinn, die Fragestellung umzudrehen. Es geht nicht mehr um die Frage, was richtig oder falsch in Relation für ein bestimmtes Ziel sei, sondern um die Frage: Welche Eigenheiten zeigt jede duale Ökonomie?

    Genau hier sind wir an einem spannenden Punkt. Wenn zwei verschiedene Wirtschaftssysteme miteinander in Kontakt geraten und miteinander interagieren: Nach wessen Spielregeln? Nach den Spielregeln der alten oder der neuen, der kleinen oder der großen, der dynamischen oder der statischen und so weiter. Dieses Thema treffen wir in der europäischen Antike an, etwa bei Kontakt, Krieg und Handel zwischen der griechischen und der persischen Welt 500–494, 490, 480/79 und 449/48 v. Chr. Komplexer wird das Thema bei dem Versuch Alexanders III. von Makedonien, von 334 an die griechische Sklavenhalter-Polis mit der asiatischen Produktionsweise zwischen Susa, Memphis, Persepolis und Ekbatana zu verschmelzen: Welches Wirtschaftssystem hat sich nun gegen welches durchgesetzt? Oder entstand im Hellenismus ein neues? Wir werden im Kapitel „Dialektik der dualen Ökonomie" (Band 2) darauf eingehen.⁶

    Nur so viel: Dass durch einen Prozess wie der Anabasis Alexanders neue politische Einheiten mit neu zusammengesetzten kulturellen Elementen und Eigenheiten entstanden, ist naheliegend. Die hier gestellte Frage ist jedoch, ob dabei eine neue Produktionsweise aufkam, die mehr war als die mosaikartige Kombination der griechischen Warenproduktion, basierend auf Sklavenarbeit, einerseits und der asiatischen Produktionsweise – zentralstaatliche Verwendung eines kollektiv-bäuerlichen Mehrproduktes – andererseits. Die Frage kann verneint werden. Es entstanden keine neuen Gesellschaftsklassen, die über das hinausgingen, was in Ost und West dieser Region bereits vorhanden war. Selbst die Fachhistoriker des Hellenismus behaupten nicht, es wäre im vierten Jahrhundert eine gänzlich neue, sozusagen hellenistische Produktionsweise entstanden. Und was das besagte Mosaik betrifft, so widerspricht es weder der antiken noch der asiatischen Produktionsweise, Einsprengsel von dem jeweiligen Counterpart im eigenen ökonomischen Körper aufzuweisen. Wie immer entscheidet letztlich, wer das große Ganze, also die Metastruktur zwischen zwei Produktionsweisen bestimmt. Das ist eine sehr vielschichtige Frage, denn zuerst entzog die griechische Soldateska Mesopotamien, Ägypten und Persien Gold und machte Sklaven – hier scheint die antike Produktionsweise die Spielregeln bestimmt zu haben. Aber unter dieser Oberfläche bewies sich die altorientalische Produktionsweise des Bewässerungsfeldbaus als unerwartet zäh. Sie war einfach sehr produktiv und die soziale Ordnung an die natürlichen Ressourcen seit Jahrhunderten angepasst. Der Wirtschaftshistoriker Moses I. Finley berichtet, dass weder die Makedonen, noch die Griechen und später die Römer dieses „System", das für die hohen Getreideüberschüsse Ägyptens verantwortlich war, ernsthaft antasten wollten.⁷

    Ein anderes Beispiel: Wenn Bonaparte bei der militärischen Verteidigung der sozialen Umwälzung der französischen Revolution 1812 und 1813 seinen Heereszug in jenes Russland einbringt, das von einer Befreiung von der Leibeigenschaft noch weit entfernt war, welche Wirtschafts- bzw. Gesellschaftsformationen ringen hier miteinander und welchen Input hat die Antwort auf die Frage, wer sich kurz- und wer sich langfristig durchsetzen konnte? Leo Tolstoi verarbeitete in seinem berühmten Roman „Krieg und Frieden" (1868) diese Episode, wenngleich er den Konflikt ganz anders interpretierte. Aber immerhin erwähnt er die Flugblätter, die die französische Armee im ländlichen Russland im Umlauf brachte und in denen die Franzosen im Falle eines militärischen Sieges die Befreiung der Bauern von feudalen Pflichten versprachen. Bekanntlich ging diese Rechnung nicht auf.

    Ein weiteres Beispiel: In Französisch-Guayana wurden nach Ende des Indochinakrieges 1977 einige hundert Familien der Hmong angesiedelt – heute zählen sie dort in zwei Dörfern ca. 2.000 Menschen. Sie wirtschafteten zuerst tatsächlich wie auf einer Insel. So wie die antike griechische Polis ihre Sozialstruktur in ihre Kolonien und Kleruchien mitnahm, nahmen die Hmong zuerst einmal ihre archaische Sozialstruktur nach Lateinamerika mit. Es gab im Dorf namens Cacao kein Privateigentum, sondern die alte Form des bäuerlichen Kollektiveigentums. Clans organisierten die Arbeitseinsätze (Waldrodung, Obst- und Gemüseanbau) und die „Clan-Ältesten fungierten als oberste Instanz in allen Fragen des Zusammenlebens. Die ersten zwei Jahre unterstützte die Regierung die Ansiedlung, offensichtlich aus politischen Gründen. Später war diese Art von Kommune ökonomisch autark, vier Jahre nach der Ansiedlung erwirtschaftete sie einen Überschuss, der in der „Außenwelt (Cayenne) verkauft und somit zur Ware wurde. Mittlerweile produzieren die beiden Hmong-Dörfer einen guten Teil des in Französisch-Guyana insgesamt verwendeten Obstes und Gemüses. Der Warenverkehr von außen zersetzte schließlich die Subsistenzwirtschaft im Inneren, die Kinderzahl pro Familie ging zurück, die Jungen wanderten in die „Außenwelt ab oder nahmen als Bauern Geldkapital auf und setzten zunehmend Maschinen ein.⁸ Vermutlich werden sie bald gänzlich im Kapitalismus aufgehen und sich als Besonderheit auflösen. Die Geschichte dieses Dorfes, das wie das literarische „Macondo im Regenwald zuerst einmal bei der „Stunde Null" anfing und doch einfach nur in einer anderen Umgebung das Alte fortsetzte, erzählt im Zeitraffer die historische Genesis der Warenwirtschaft.⁹

    Hier ist das Modell klar: Durch den Handel wird die präkapitalistische Insel in die Welt der Warenwirtschaft hineingezogen und löst sich binnen weniger Generationen darin auf. Hier kann der kleine Teil dieser dualen Ökonomie nichts für sich aushandeln. Sobald duale Ökonomie eintritt, bedeutet dies den Beginn des Endes des Winzlings, der letztlich ein Relikt der alten Produktionsweise Indochinas war. Die Alternative wäre die totale Abschottung gewesen und dies ist auf Dauer weder realistisch noch ein Ziel an sich. Andere Formen einer dualen Ökonomie sind dauerhafter als die Lebensspanne einiger Generationen. Aber vor allem dann stellt sich die Frage, wie und nach welchen ökonomischen Mechanismen sie miteinander in Verbindung treten und zu welchem Ende.

    Diese Fragestellung tauchte in den 1920er Jahren im damals noch jungen Sowjetrussland auf. Als Folge der Revolution von 1917 war – eher Schritt für Schritt nach vorne tastend als nach einem Masterplan – eine „sozialistische Industrie ohne Privatkapital entstanden. Die Eigenheiten der kapitalistischen Ökonomie waren hier passé. Aber diese Industrie stand nicht isoliert da, sondern in Interaktion einerseits mit den „privaten Bauern und Händlern in Russland und andererseits mit dem Weltmarkt – Bühne und Terrain des Kapitalismus. Nach welchen Spielregeln interagieren nun diese drei „Wirtschaftsräume" miteinander?

    Die Besonderheit des zuletzt genannten Beispiels besteht indes darin, dass hier erstmals zumindest ein Teil der historischen Akteure versuchte, das Thema „duale Ökonomie zu reflektieren und in einer Theorie zu verarbeiten. Also „wissenschaftlich zu ergründen, worin sie sich durch die Laune der Weltgeschichte gerade eben praktisch verstrickt hatten … etwas, was die sich bloß politisch artikulierenden Akteure Themistokles, Perikles, Ptolemäus oder Bonaparte nicht versucht hatten – um bei einigen unserer, im Grunde willkürlichen, Beispiele von aktiven Zeitzeugen einer dualen Ökonomie zu bleiben. 1924 brach innerhalb der Kommunistischen Partei Russlands eine heftig und erbittert geführte Debatte zu der Frage aus, wie private Bauernwirtschaft und sozialistische Industrie sich verzahnen könnten. Durch Verbilligung der Industrieprodukte als Ergebnis einer sozialistischen Akkumulation oder durch mehr Marktautonomie der Agrarproduzenten samt deren Zwischenhändlern? So formuliert ist diese Debatte sehr vereinfacht auf den Punkt gebracht. Es ist ja auch nicht unser Ziel, diese Debatte an sich ins Zentrum zu rücken oder gar aufzuarbeiten. Sie wurde bereits damals verschriftlicht und die Beiträge dazu füllten viele Bände, die naheliegenderweise auch sehr dicht am damals Konkreten haften blieben.¹⁰ Die Relevanz des politischen Inhalts der Debatte – hier „Linke Opposition" um Trotzki und Preobrazenskij, dort Stalin und Bucharin – ist heute verblasst, bezog sie sich doch auf die mittlerweile längst vergangene Planwirtschaft der Sowjetunion.

    Verallgemeinern lässt sich nur der ökonomische Inhalt. Und das soll im Band 2 dieses Buches versucht werden. In dem vermutlich bekanntesten Werk Preobrazenskijs, „Die Neue Ökonomik" aus dem Jahre 1926, findet sich ein für uns sehr interessanter Hinweis. Preobrazenskij berichtet hier von den Argumenten und Gegenargumenten einer neuen Wirtschaftspolitik, die die Industrieproduktion verbilligen sollte. Dabei ging es auch um die Frage, welche Rolle eine Wirtschaftspolitik gegenüber der sozialistischen Produktionsweise überhaupt spielen könne. Wie kann Erstere Letztere voranbringen? Sein Opponent, Nikolai Bucharin – damals Herausgeber der Partei- und Staatszeitung Pravda – verwarf nicht nur die konkrete Antwort der Linken Opposition auf diese Frage, sondern wischte auch gleich die Frage selbst vom Tisch:

    „Wenn man von der Wirtschaftspolitik des proletarischen Staates abstrahiert, bedeutet das, daß man die Grenze der Übergangsperiode außerhalb ihrer historischen Charakteristika, außerhalb der Entwicklung vom ‚Spontanen‘ zum ‚Bewußten‘ betrachtet (…) dass es absurd ist, von der Wirtschaftspolitik der proletarischen Staatsmacht zu abstrahieren, da dies eine Abstraktion vom gesamten Prinzip der Planung bedeuten würde."¹¹

    Also auf den Punkt gebracht: Man könne nicht analytisch zwischen Wirtschaftspolitik und sozialistischer Produktionsweise unterscheiden, da beides eins sei. Die Kritik der Linken Opposition an der Wirtschaftspolitik Bucharins und Stalins – sie helfe der sozialistischen Produktionsweise nicht, auf die Beine zu kommen, weil sie nicht von ihrem theoretisch möglichen Potential ausgehe – sei deshalb nicht nur sachlich falsch, sondern vor allen anderen Dingen auch unsinnig. In der Planwirtschaft seien, im Gegensatz zum Kapitalismus, wie Bucharin selbstverständlich betonte, Politik und ökonomische Struktur eine Identität. Hingegen sein Kontrahent:

    „Unsere Sowjetwirtschaft ist in staatliche und private Sektoren geteilt. Die staatliche Wirtschaft hat ihre eigenen Entwicklungsgesetzmäßigkeiten, die private auch. Beide aber treten in den vereinigten Organismus der gesamten Wirtschaft der Sowjetunion als Ganzes ein. Für eine theoretische Analyse muß man aus methodischen Gründen jede dieser beiden Gesetzmäßigkeiten getrennt untersuchen, und dann erklären, wie man die Resultate, die wir im wirklichen Leben kennen, erhält. Die Entwicklungstendenzen der Staatswirtschaft müssen aber in ihrer reinen Form untersucht werden, d. h. sie müssen analysiert werden, als ob die Staatswirtschaft sich entwickeln würde, ohne auf den Widerstand der Privatwirtschaft zu stoßen; man muß die Gesetzmäßigkeit des Optimums betrachten. Das ist die einzig richtige Methode, die uns von Marx hinterlassen wurde."¹²

    Auf den Punkt gebracht: Politik und ökonomische Struktur sind keine Identität. Es geht bei der methodischen Streitfrage eigentlich nicht nur um den Unterschied zwischen staatlichem und privatem Sektor – das ist nur der Anlass der Debatte – sondern darum, ob jede Ökonomie sowohl eine objektive Entwicklungstendenz hat, die nur mittels Abstraktion erklärbar ist, als auch eine empirische Ebene, die nur mittels Messen und dem Sammeln von Daten beschreibbar ist.

    Wenn wir an dieser Stelle innehalten und nicht weiter recherchieren, mutet diese Debatte aus den 1920er Jahren vielleicht wie eine sinnlose Haarspalterei an, ähnlich jener des 3. und 4. Jahrhunderts, ob der Gott der Christenheit aus drei Personen (Gottvater, Gottsohn und Heiliger Geist) bestehe oder nur aus einer (Gottvater); ob Jesus mit den genannten Herren wesensgleich, wesensähnlich (homoioúsios) oder nur irgendwie zufällig verwandt sei. Und doch organisierte diese Streitfrage in der Spätantike nicht wenige staatspolitische und – wie meist – gewaltsam geführte Auseinandersetzungen. Noch heute spiegelt sich im apostolischen Glaubensbekenntnis „Ich glaube an Gott, den Vater (…) und im „Credo in unum Deum (…) des Nicäno-Konstantinopolitanum dieser Konflikt wider. Ja, diese Gebete sind eigentlich eine einzige große Beschwörungsformel gegen den Antitrinitarismus der Homöer und des Arianismus, dessen Ablegung durch König Chlodwig im 6. Jahrhundert den Vorsprung des Frankenreichs gegenüber den anderen germanischen Staaten eingeleitet haben soll, indem die Assimilation der germanischen Kriegerkaste mit den römischen Einrichtungen erleichtert wurde. Vielleicht landete dieses Frankenreich gerade deswegen dreihundert Jahre später so punktgenau bei reinen feudalen Produktionsverhältnissen. Der Begriff reine Produktionsverhältnisse bedeutet jedenfalls, dass die Abstraktion und die Empirie derselben nicht allzu weit auseinander liegen.

    Gleichwie! Die Haarspalterei ist letztlich Ausdruck des Aufspaltens von realen Zusammenhängen, deren Ausdruck sie wiederum sind. Also nochmals, im zweiten Anlauf:

    „(…) dass es absurd ist, von der Wirtschaftspolitik der proletarischen Staatsmacht zu abstrahieren, da dies eine Abstraktion vom gesamten Prinzip der Planung bedeuten würde."¹³

    All das war eigentlich nur als schnelllebige Polemik formuliert und deswegen bald wieder vergessen. Und die beiden Kontrahenten – Evgenij Preobrazenskij und Nikolai Bucharin – wurden Ende der 1930er Jahre durch die Stalinisten physisch liquidiert, auch um das lebende Gedächtnis dieser und ähnlicher Streitfragen auszulöschen. Im Nachhinein können wir jedenfalls Bucharin dankbar sein, seinen (inhaltlich falschen) Standpunkt so pointiert formuliert zu haben, denn erst dadurch formt sich vor unseren Augen die große Analogie: Wenn im Kapitalismus die Wirtschaftspolitik an der ökonomischen Grammatik des Kapitalismus nichts ändern kann, dann kann die Wirtschaftspolitik eines Arbeiterstaates an der ökonomischen Grammatik der Planwirtschaft ebenfalls nichts ändern. Oder doch? Und in welchem Ausmaß? Jedenfalls ist dies der relevante Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Ökonomie der Planwirtschaft. Oder noch allgemeiner, auf alle Wirtschaftssysteme bezogen: Was kann Wirtschaftspolitik überhaupt und was nicht?

    Wenn der Kapitalismus sich selbst reguliert, wenn sich die unzähligen Unternehmerentscheidungen gegenseitig auf einen mittleren Wert austarieren, sodass etwa die Preise den Werten ungefähr entsprechen, wenn die periodisch auftretenden Wirtschaftskrisen Fehlentscheidungen und Überbewertungen – „Blasen im Jargon der Wirtschaftsjournalistik – korrigieren … dann hat eine Wirtschaftspolitik eine bescheidene Rolle. Die Wirtschaftspolitik bezieht sich somit auf sozial abfedernde Maßnahmen („Sozialpolitik), Verstärkung der vom autonomen Markt bereits gesetzten Branchenschwerpunkte und auf einige wenig wirksame konterzyklische Konjunkturinstrumente, wie dies mittels der Leitzinssenkungen der Notenbanken im Windschatten der Weltwirtschaftskrise 2009 deutlich wurde.

    An dieser Stelle ein kurzer Hinweis: Im Gegensatz zu der ökonomischen Reformliteratur und im Gegensatz zur Betrachtungsweise des Reformismus ist hier keineswegs der Punkt, ob die bürgerliche Wirtschaftspolitik 2009 falsch und eine bessere möglich gewesen wäre – gleichwie: Irgendwelche Unterschiede zeitigen unterschiedliche Wirtschaftspolitiken natürlich schon, sonst gäbe es sie ja nicht als Unterscheidbares. Aber auch eine andere Wirtschaftspolitik hätte an der Struktur des Kapitalismus – und zu dieser Struktur gehören die Existenz von Krisen, die frappanten Einkommensunterschiede und die ökologischen Kosten – nichts geändert. Was die konterzyklische Konjunkturpolitik betrifft, ob monetärer oder fiskalischer Natur, ob nach dem Paradigma eines Friedman oder nach dem Paradigma eines Keynes: Umso vehementer sie die Krise abzufangen sucht und umso erfolgreicher sie bei diesem Unterfangen ist, um so eher scheitert sie langfristig.

    Die Struktur lässt sich nicht überlisten. Wenn der Markt durch die Politik gehindert wird, in der Krise destruktiv Fehlbewertungen und Fehlproportionen zu bereinigen, so türmen sich später erst recht Konjunkturhindernisse auf. Das ist in etwa so, wie das Aufstauen eines Gewässerlaufes potentielle Energie akkumulieren lässt … bis zu dem Punkt, ab dem diese Energie größer als der Widerstand der Barriere wird. Sie bricht sich als kinetische Energie ihre Bahn und reißt damit mehr Material als sonst mit. Gewiss, das ist bloß eine Analogie. Aber auch in der Wirtschaftspolitik geht es immer nur darum, einen Einfluss auf den Zeitpunkt zu erlangen; aber die Kosten für die Souveränität, den Zeitpunkt der Krisenbereinigung mitzubestimmen, können mitunter hoch sein. Ich weiß, das hört sich ein wenig nach Friedrich von Hayek und den anderen austrians an. Aber auch die Zurückhaltung, mittels Staatsaufträgen konterzyklisch zu intervenieren, oder aber gar zyklisch zu intervenieren, bedeutet ebenfalls, eine Wirtschaftspolitik gegenüber der Struktur zu betreiben und darauf beste Erwartungen zu setzen. Nun haben alle Krisenmanager zumindest in der Dimension ganzer Volkswirtschaften oder gar der Weltwirtschaft etwas von Zauberlehrlingen an sich. Sie können nie wirklich wissen, ob ihr Tun oder ihr Nichtstun überhaupt etwas bringt.

    Hier geht es nicht darum, diese bürgerlichen Politiken zu bewerten, sondern nur zu skizzieren, mit welch bescheidener Rolle sie sich gegenüber dem Selbstlauf des Kapitalismus begnügen müssen. Ja, gerade die Existenz unterschiedlicher Schulen der Wirtschaftspolitik, sowie die ideologische Heftigkeit, mit der sie noch heute aneinandergeraten, demonstriert: Es gibt bis heute keine verallgemeinerbare historische Erfahrung, die Konjunktur nach dem Willen der Politik zu steuern. Ein Zufall?

    Zusammengefasst: Es besteht eine bestimmte Relation zwischen der Rolle der Wirtschaftspolitik und dem Objekt, auf das sie sich bezieht. Wir können nun einen Schritt weitergehen und unter „Wirtschaftspolitik nicht nur ein klassisches Politikfeld des Staates, sondern auch die Summe unendlich vieler subjektiver Politiken der einzelnen Warenproduzenten verstehen. Sie alle, ob Individuum, Kooperation oder gar ganze Volkswirtschaften, können an der Grammatik des Kapitalismus nichts ändern. Sie können der Produktionsweise zwar eine zeitlich und örtlich typische äußere Form geben – „Fordismus, „Postfordismus, „Globalisierung wären die mehr oder weniger treffenden Stichworte –, aber auch dabei sind die Wirtschaftssubjekte nicht souverän, sondern Getriebene des Marktes. Das alles ist nun nicht die „Schuld" des Kapitalismus – auch alle anderen Produktionsweisen entstanden in einem überindividuellen, politisch nicht zu steuernden Prozess. Wir können als Beispiel den Übergang der Antike zum Feudalismus hernehmen. Das Bindeglied war die Substitution der antiken Sklaven durch die spätantiken coloni. Kein römischer Kaiser hatte diese Substitution beschlossen, sondern nur auf deren Existenz Bezug genommen. Ein Beispiel ist die Reichsgesetzessammlung Codex Theodosianus (438 n. Chr.), die 150 alte Gesetze, Sklaven betreffend, umfasste, aber nun eben auch die coloni ansprach.¹⁴ Wenn etwa Kaiser Konstantin verlautbaren ließ …

    „(…) an die Provinzialen: Bei wem auch immer ein Kolone fremden Rechts angetroffen wird, muss nicht nur selbigen an seinen Ursprungsort zurückversetzen, sondern darüber hinaus seine Kopfsteuer für diese Zeit übernehmen."¹⁵

    … dann bedeutet dies, dass die Politik auf den Wandel von Sklavenarbeit zur Kolonen-Arbeit reagierte. Dieser Wandel existierte bereits; weder wurde er von oben her dekretiert, noch war er das Ergebnis einer politischen Revolution. Die Entstehung der Klasse der coloni – unselbstständige Pächter im fundus eines Grundeigentümers – wurde zwar durch die Steuerpolitik des Staates langfristig und indirekt gefördert, indem Bauern zur Aufgabe ihres mit Abgaben und Arbeitspflichten belasteten Hofes gezwungen wurden. Aber niemand plante dies und der Staat zielte eigentlich nur auf die Realisation der bäuerlichen Abgaben ab.

    Was möchte ich damit sagen? Offensichtlich benötigen wir eine Methode, zuerst einmal zwischen der Wirtschaftspolitik des Staates und dem Objekt dieser Politik, der ökonomischen Struktur, zu unterscheiden. Beide müssen als getrennte Gegenstände untersucht werden, um daraufhin die Beziehung zwischen ihnen darstellen zu können. Zuerst geht es darum, die ökonomische Struktur bereinigt von der politischen Ebene zu erfassen. Jedenfalls hatte Karl Marx in den 1850er Jahren den entsprechenden Untersuchungsansatz: Er abstrahierte von der konkreten Form, die die industrielle Produktion gerade in England angenommen hatte, und brachte Kategorien wie „Lohn, Preis und Profit" auf einen zwar historisch-typologischen, aber ökonomisch allgemeinen Begriff.

    Auch die sozialistische Produktionsweise ließe sich abstrakt untersuchen. Und auch hier müssten wir zuerst Fragen beantworten, wie etwa: „Was wird aus der Ware?, „Was wird aus den Preisen?, „Was wird aus dem Lohn und der Lohnarbeit?, „Was wird aus dem Geldkapital?, „Was wird aus dem Profit?, „Was wird aus der Akkumulation? und so weiter und so fort. Und erst dann und erst gegenüber einer konkreten Planwirtschaft könnten wir Fragen der Wirtschaftspolitik behandeln, wie etwa: „Welche Güter sollen produziert werden?, „Wie lange soll die Arbeitszeit dauern?, „Wie soll das Verhältnis zwischen Konsum- und Investitionsgüterindustrie geregelt sein, wie zwischen den einzelnen Branchen?, „Wie soll die Verteilung organisiert werden?, „In welchen Einheiten sollen welche ökonomischen Größen gemessen werden?, „Wie soll kalkuliert werden? und so weiter und so fort. Die zuerst genannten Fragen beziehen sich auf die Grammatik der Produktionsweise, auf ihre Struktur – falls dieser Begriff mehr eingängig ist. Die zuletzt genannten Fragen beziehen sich auf eine Wirtschaftspolitik. Die Antworten auf die zuerst gestellten Fragen können wir mit „wahr oder „falsch charakterisieren, Antworten auf die zuletzt gestellten Fragen nur mit „ist sinnvoll oder „ist nicht sinnvoll. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Ebenen, um zwei Sprachreiche sozusagen.

    Nicht wenige fehlgelaufene Diskussionen zum Thema, wie eine sozialistische Produktionsweise „denn wirklich funktionieren" könnte, basieren darauf, dass beide Sprachreiche miteinander vermengt werden. Oder genauer gesagt: Die Ebene der Wirtschaftspolitik als Ebene der ökonomischen Struktur genommen wird und umgekehrt. Nehmen wir ein Beispiel. Es geht um die Frage, wie ohne Waren und ohne Markt der Wert oder zumindest ein Preis von Produkten ermittelt werden kann. Die einen sagen etwa: Die Arbeitszeitrechnung muss in der Planwirtschaft die Funktion der Warenpreise übernehmen. Es muss jeweils die Stechuhr für jede Produktion laufen und das Messergebnis auf die einzelnen Produkte heruntergebrochen werden. Dank moderner Informationstechnologie ist die Komplexität dieser Aufgabe zu lösen.

    Wir wissen nach diesen wenigen Seiten bereits: Dieses „muss deutet darauf hin, dass eine wirtschaftspolitische Maßnahme (das Messen von Zeit und das Etikettieren von Zeitzertifikaten) als Struktur genommen wird. Jedenfalls, die Gegenseite macht daraufhin den spiegelverkehrten Fehler, indem sie den „Arbeitszeitfetischisten entgegenhält: Der äquivalente Tausch und die darauf beruhende Arbeitszeitrechnung stellen das alte, kapitalistische Wertgesetz wieder her und somit erledige sich die Planwirtschaft selbst.

    Hätte sich das zuerst genannte Argument auf die Wirtschaftspolitik beschränkt und das „muss durch ein „kann ersetzt, es wäre sachlich nicht falsch, aber vielleicht – da wir keine konkrete Planwirtschaft vor uns haben – irrelevant gewesen. Hätte sich das zuletzt genannte Argument auf die Analyse der Struktur beschränkt und die Wirtschaftspolitik nicht als Struktur genommen, es wäre sachlich nicht falsch gewesen. So aber sind beide Argumente doppelt deplatziert: einmal, indem sie in das jeweils andere Sprachreich nicht hineinpassen und ein weiteres Mal, indem sie beide Sprachreiche miteinander vermengen.¹⁶

    Der Witz besteht nun freilich darin, dass zwischen beiden Sprachreichen ein objektiver Zusammenhang besteht – aber eben keine Identität. Dennoch ist die Frage berechtigt: Worin besteht dieser Zusammenhang? Nehmen wir wieder ein Beispiel: Wenn es keine Mehrarbeit und keinen Profit mehr gibt, wie kann dann überhaupt akkumuliert werden und eine bestimmte Akkumulationsrate bestimmt werden? Wenn es keine Ware und damit keinen Lohn mehr gibt, welchen Sinn hat dann ein Äquivalenzprinzip bei der Bemessung des Konsums? Welche Verteilungsformen sind dann überhaupt möglich?

    Hier besteht zwischen ökonomischer Struktur und Wirtschaftspolitik offensichtlich ein spezifischer Zusammenhang, genauso wie zwischen ökonomischer Struktur und Wirtschaftspolitik im Kapitalismus ein spezifischer Zusammenhang besteht. Aber ist es der gleiche Zusammenhang? Die Struktur gibt die Varianten der Wirtschaftspolitik vor und mehr gibt´s da nicht? Tatsächlich verhält es sich in der Planwirtschaft ein klein wenig anders und das macht es schwierig, das Verhältnis zu verstehen. Anders ist hier, dass die Gesellschaft die gesamte Wirtschaft planmäßig steuern kann – freilich nur auf Basis historisch vorgefundener Größen. Aber immerhin: Dieser Job scheitert im Kapitalismus bereits am Privateigentum.

    Es scheint, als wäre die Struktur der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus weit dichter gewoben als jene der Planwirtschaft und – umgekehrt betrachtet – als habe hier die Wirtschaftspolitik weit weniger Gestaltungsspielraum. Man denke bei der Bedeutung der Struktur im Kapitalismus nur an die Rolle des Wertgesetzes, des Ausgleichs der Profitraten, des tendenziellen Falls der Profitraten, der Bildung der Differentialrente, der Transformation der Marktpreise zu Branchenproduktionswerten und Ähnliches mehr.

    Die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten der Planwirtschaft sind hingegen gering an Menge und wenig stringent. Eigentlich gibt es sie in jeder Ökonomie, in der einerseits arbeitsteilig produziert wird und andererseits kein Überschuss aller Güter auftritt: Gleichgewicht der Branchen, technische Zusammensetzung, Reproduktion, Akkumulation und Ähnliches mehr.¹⁷ Sicher, bei der Analyse steckt der Teufel im Detail, weil viele Grundvoraussetzungen anders als im Kapitalismus gesetzt sind und vor allem die Ware und die Warenform als Ergebnis der Kollektivierung des Eigentums „abhandengekommen sind. Alleine diese Tatsache hat weitreichende Konsequenzen, weil sie die Absenz von Lohnarbeit, Lohn, Geld, Mehrwert, Profit, Zins, Rente und so weiter mit sich bringt. Aber die Schwierigkeit der Darstellung einer postkapitalistischen Ökonomie ändert nichts an der Tatsache der weitaus lockereren Struktur der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Wenn man von der Marxschen Analyse des Kapitalismus ausgeht und zur Planwirtschaft hinüberblickt, verblüfft zuerst einmal das Fehlen der durch „Das Kapital und „Die Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie" bekannt gewordenen Zusammenhänge. Man ist versucht zu fragen: Existieren denn überhaupt irgendwelche ökonomischen Gesetze? Ist die Struktur nicht gerade negativ definiert, als Fehlen der kapitalistischen? Evgenij Preobrazenskij, an dieser Stelle ganz allgemein:

    „Wenn wir Freiheit als das Bewusstsein der Notwendigkeit betrachten, dann existiert die Gesetzmäßigkeit auf dem Gebiet wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Betätigung des Menschen auch hier und verändert nur ihre Form. In einer geplanten Wirtschaft tritt ein ‚Gesetz anders in Erscheinung‘ als in einer unorganisierten Warenwirtschaft. Aber eine Gesetzmäßigkeit gibt es auch hier, wenn es auch angesichts des Unterschieds in der Form nötig sein mag, den Terminus ‚Gesetz‘ durch einen anderen zu ersetzen."¹⁸

    Und:

    „Im Sozialismus und später im Kommunismus werden die Gesetze von Menschen angewendet und benutzt, und in diesem Sinn gewinnt der Mensch die Herrschaft über sie. Aber man kann nur beherrschen, was existiert. Die Dampfkraft beherrschen und die Naturgesetze im Allgemeinen bedeutet nicht, dass man diese Gesetze abschafft. Es bedeutet ausschließlich, dass man ihre Wirkung in die gewünschten Kanäle lenkt."¹⁹

    Im Kapitalismus regulieren die ökonomischen Gesetze die Produktion. Etwa über das Wertgesetz und deren Auswirkungen – zumindest in einem bestimmten Ausmaß, von dem Monopole und der Staatssektor eine Abweichung ermöglichen. Aber eben immerhin eine Abweichung von der Regulation durch das Wertgesetz. Die Abweichung macht das Gesetz, von dem abgewichen wird, nicht unwirksam. Es wirkt über sich langfristig gegenseitig austarierende Abweichungen. In der Planwirtschaft haben die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten nur die Funktion von gesetzten Grenzen, nicht von Regulation. Sie sind somit viel schwächer. Gesetzte Grenzen, von denen es aber andererseits keine Abweichung geben kann. Also etwa: Die Expansion auf der einen Seite bewirkt innerhalb eines gegebenen Standes der Produktivität die Kontraktion auf einer anderen Seite – wenn wir hier zum Beispiel Masse, Gebrauchswert, Qualität, Stückzahl, natürliche Ressourcen, Arbeitsstunden, Arbeitsintensität, Anzahl der Arbeiter, Arbeitsbedürfnisse oder Konsumbedürfnisse einsetzen. Ein anderes Beispiel: Die Proportion zwischen Konsumgüterindustrie und Produktionsmittelindustrie ist nicht endlos willkürlich verschiebbar. Auf den Punkt gebracht: In einem Plan kann geschrieben stehen, was will, er kann die Grenzen an Masse, Zeit, Energie und so weiter nicht überschreiten. Oder aber: Es handelt es sich um Grenzen, die nur auf die jeweils nächste dialektische Ebene verschiebbar sind, aber immerhin um Grenzen. Ein Beispiel: Die Mindestarbeitszeit ist eine Grenze, aber nur in Bezug auf eine bestimmte Menge an Produkten, Konsumbedürfnissen, Arbeitsintensität oder Investition in neue Technologien.²⁰ Im Kapitalismus handelt es sich hingegen um Regulation, die in der Praxis deformiert werden kann, aber immerhin um Regulation.

    Diese sehr abstrakten Betrachtungen lassen wir bald hinter uns und steigen dann in das Konkrete ein. Nur so viel noch: Wenn auch Struktur und Wirtschaftspolitik in der Planwirtschaft zwei unterschiedliche Dinge sind, so beeinflusst die Wirtschaftspolitik die Struktur doch mehr als im Kapitalismus. Letzterer besteht aus unzähligen spontanen Einzelentscheidungen und ist gerade deswegen gegenüber dem Spontanen ziemlich unempfindlich. Selbst glücklose Unternehmer, mediokre Staatslenker und korrupte Notenbanker können den Kapitalismus nicht ruinieren. Die Struktur bleibt bestehen, es ändert sich nur die Performance. Genau das ist in der sozialistischen Produktionsweise anders. Diese ist störungsanfälliger und kann durch Fehler aus der Bahn geworfen werden. Respektive: Wenn wir uns noch nicht im Zustand des Sozialismus befinden, sondern noch in einer Übergangsgesellschaft, also in einer Ökonomie mit einer nachhaltig geringeren Arbeitsproduktivität als im historisch höchsten Stand des Kapitalismus.

    Und so kommen wir zum Ausgangspunkt zurück. Es gibt offensichtlich eine Metastruktur zwischen der Struktur und der darauf basierenden Wirtschaftspolitik. Genauso, wie es auch eine Metastruktur zwischen zwei unterschiedlichen Produktionsweisen gibt. Preobrazenskij hatte 1926 recht, dass diese Metastrukturen auch für die Planwirtschaft anzutreffen wären. Aber sie sind irgendwie anders als im Kapitalismus. In dieser Hinsicht war der Hinweis Bucharins von der geänderten Rolle der Spontanität erhellend, wenngleich Bucharin die richtige Erkenntnis in einem Ausmaß überzog, dass dabei aus Sinn Unsinn wurde.

    Kurzum: Es hat nicht nur historiographischen, sondern auch wirtschaftswissenschaftlichen und allgemein philosophischen Wert, auf die Debatte der 1920er Jahre zurückzublicken. Dabei können wir getrost den polemischen und verbitterten Charakter einer parteiinternen Auseinandersetzung außer Acht lassen, denn dieser Aspekt hat schlechterdings keine Relevanz mehr. Wir können somit gleich auf den Kern zu sprechen kommen: auf die Charakteristika einer dualen Ökonomie, auf die Notwendigkeit und die Logik einer ursprünglichen sozialistischen Akkumulation, auf den Unterschied dieser zu einer „normalen" sozialistischen Akkumulation und damit nebenbei auf die Frage, was eine Übergangsgesellschaft ökonomisch von einem Sozialismus unterscheidet.

    Wir können auch die Perspektive wechseln und untersuchen, wie sich mittlerweile historische Produktionsweisen zu der Frage der Dualität und zu dem Verhältnis von Wirtschaftspolitik und Struktur verhielten. Das theoretische Modell der Metastruktur, das wir anlässlich der Debatte aus den 1920er Jahren entwickeln konnten, lässt sich auch auf andere Epochen anwenden. Welche Metastruktur wir in der Geschichte antreffen, ist auch eine ökonomische Frage. Hier wenden wir dieses Modell beispielhaft auf die Periode der Neolithischen Revolution, des Hellenismus und der Spätantike, sowie auf die Periode der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation der frühen Neuzeit an.

    Bevor wir dazu kommen, müssen wir den Begriff „duale Ökonomie" kurz noch negativ abgrenzen. Also: Was alles ist duale Ökonomie nicht?

    WAS ALLES IST DUALE ÖKONOMIE NICHT?

    Das Thema „duale Ökonomie" ist verführerisch. Gerne sehen wir – nach einer Einführung in Begriff und Modell – Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung von Gesellschaften als Beispiele einer Dualökonomie an. Keine Ökonomie ist in sich völlig homogen, es gibt überall Beimengungen von etwas anderem. Die methodische Herausforderung besteht darin, Inhomogenitäten in einem theoretischen Modell aufzulösen: Bestehen sie zufällig, aus lokalen Besonderheiten? Bestehen sie, weil die Produktionsweise, auf die sich die Beobachtung der Inhomogenität bezieht, erst im Werden begriffen ist? Handelt es sich um eine Inhomogenität, die innerhalb der Usancen einer bestimmten Produktion angesiedelt ist? Oder handelt es sich tatsächlich um duale Ökonomie, die sich auch in den aufgelisteten Varianten ausdrücken kann?

    Wenn wir etwa das Kastenwesen Indiens hernehmen, so handelt es sich um eine Struktur einer vorkapitalistischen Ökonomie. Aber diese Ökonomie gibt es nicht mehr, das Kastenwesen jedoch nach wie vor. Es ist in den indischen Kapitalismus inkorporiert worden. Oder präziser gesagt: Es wurde von diesem instrumentalisiert, wenngleich die ökonomischen Auswirkungen vermutlich schwer zu quantifizieren sind. Aber wir können annehmen, dass die Mehrwertrate der unteren Kasten auf einem hohen Niveau gehalten werden kann und dass das Kastenwesen einer Vereinheitlichung des Arbeitsmarktes entgegensteht.

    Man könnte somit annehmen, es hat auch Vorteile für das indische Kapital. Andererseits weist es vorbürgerliche Aspekte auf, die der Akkumulation auch entgegenstehen können: Es nimmt den Menschen etwas an Individualität, die mit dem Eigentum, und sei es auch nur Eigentum an der eigenen Arbeitskraft, einhergeht. Es gibt ihnen etwas von persönlichen Bindungen und Verpflichtungen innerhalb der eigenen Kaste. Insofern kommt hier ein feudales Prinzip zum Ausdruck, das dem bürgerlichen Prinzip entgegenwirkt.²¹

    Aber handelt es sich trotz dieses Antagonismus um eine duale Ökonomie: Kastenwesen versus Kapitalismus? Es fließen vermutlich Ressourcen zwischen den Kasten und dem Kapitalismus hin und her. Aber das notwendige Kriterium für eine duale Ökonomie ist, dass diese zwischen zwei Eigentumsformen hin und her fließt. Auf der einen Seite steht das bürgerliche Eigentum und auf der anderen Seite steht was? Genau diese Frage ist schwer zu beantworten. Der Eigentumsbegriff bei Marx fängt nicht bei einem Rechtstitel an, sondern endet bei diesem. Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Kann ich mich als etwas anderes reproduzieren als Arbeiter, Kapitalist oder Kleinbürger? Und ist die ökonomische Handlung meiner Klasse in eine eigene Produktionsweise eingebunden? Selbst wenn ich in Indien weder Arbeiter noch Kapitalist werden kann, sondern Kleineigentümer, so arbeite ich dennoch für den und im Umfeld des kapitalistischen Marktes. All das spricht für die Existenz des bürgerlichen Eigentums.

    Nun könnte man doch darlegen, dass gerade der Eigentumsbegriff

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