Die soziale Marktwirtschaft: Alles, was Sie über den Neoliberalismus wissen sollten
Von Karen Horn
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Über dieses E-Book
Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise hat der Kapitalismus an Akzeptanz verloren. Eine fundamentale Systemdebatte brach los. Viele erklärten den Neoliberalismus zur Ursache allen Übels und forderten eine Rückbesinnung auf die Soziale Marktwirtschaft. So heißt das berühmte Nachkriegs-Erfolgsmodell einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, dem Deutschland viel verdankt, nicht zuletzt das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre.
Die Soziale Marktwirtschaft ist ein Symbol für soziale Harmonie und gesamtwirtschaftlichen Erfolg. Und sie ist ein deutsches Markenzeichen.Was eine "social market economy" sein soll, muss man den Engländern genauso erst einmal erklären wie den Franzosen die "économie sociale de marché". Doch auch in Deutschland kann kaum jemand genau beantworten, was der Begriff "Soziale Marktwirtschaft" bedeutet und wo er herkommt. Und dass gerade die Soziale Marktwirtschaft nichts anderes ist als ein neoliberales Konzept, gehört auch nicht zum Allgemeinwissen.
Karen Horn erklärt alles, was man über den Neoliberalismus und die Soziale Marktwirtschaft wissen muss, um mitreden und sich ein eigenes Urteil bilden zu können. Dass man dabei gleichzeitig etwas über deutsche Geschichte, Institutionen und wirtschaftliche Hintergründe erfährt, ist eine weitere Stärke des kurzweilig geschriebenen Buches.
Alles, was Sie über den Neoliberalismus wissen sollten!
Karen Horn
KAREN HORN is a historian and an author. Her first book, In Enemy Hands: South Africa’s POWs in WWII, was nominated for the Alan Paton Sunday Times non-fiction award in 2016. Horn is a research fellow at the International Studies Group at the University of the Free State. In her work, she investigates individuals’ experiences on the home front and the battlefront, looking for humanity in the fog of war. In her spare time, she observes her husband’s gastronomic skills and has long conversations with her two collies. She lives in Somerset
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Buchvorschau
Die soziale Marktwirtschaft - Karen Horn
Neoliberalismus.
I. DER NEOLIBERALISMUS
1 Das wissenschaftliche und politische Projekt
Eine Zeitreise in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts
Die Soziale Marktwirtschaft, ein neoliberales Konzept? Im Ernst? Ausgerechnet? Wie kann das sein? Um diese auf den ersten Blick und nach eingeübten Verständnisgewohnheiten vielleicht schockierende Behauptung zu belegen, ist ein historischer Rückblick nötig. Ein Rückblick, der auch den Neoliberalismus im eigentlichen Wortsinne wieder ins Zentrum rückt – und zwar als das Projekt, das einen gesellschaftlichen Ordnungsrahmen dafür schafft, die Grundwerte der Freiheit und der Gerechtigkeit, der Verantwortung und der Solidarität harmonisch zu verbinden.
Dieser Rückblick führt zurück in die dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Neoliberalismus entstand in den dreißiger Jahren, ebenso seine deutsche Ausprägung, der Ordoliberalismus. Das ordoliberale Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wiederum ist ein Geschöpf der vierziger Jahre.
Freiburg als Keimzelle des deutschen Neoliberalismus
Wesentliche konzeptionelle Bestandteile der später in Deutschland so erfolgreichen Sozialen Marktwirtschaft wurden in Freiburg entwickelt. Man spricht deshalb auch vom „Freiburger Imperativ. Freiburg war eines der internationalen Entstehungszentren des Neoliberalismus, die anderen Keimzellen waren London, Chicago und Wien. Die gedanklichen Vorarbeiten zur Sozialen Marktwirtschaft fanden hier schon während des „Dritten Reichs
statt, zum großen Teil heimlich, unter bisweilen dramatischen Umständen und häufig in höchster Gefahr für die beteiligten Personen und ihre Familien. Eine führende Rolle hatte hier eine Gruppe von religiös motivierten Wissenschaftlern der Albert-Ludwigs-Universität inne, die in akademischen Widerstandskreisen engagiert war.
Sich über diese besondere Konstellation im Klaren zu sein, ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens, weil die Bedrängnis der Beteiligten in der damaligen Zeit möglicherweise die eine oder andere Lücke im theoretischen Konzept erklärt und man einer solchen dann mit entsprechender Nachsicht begegnen darf. Und zweitens, weil es verdeutlicht, dass es sich hier keineswegs um intellektuelle Spielereien handelte, die man auf die leichte Schulter nehmen könnte, sondern um sehr sorgsam durchdachte Antworten auf wahrhaft existentielle Fragen. Mutige Menschen riskierten ihr Leben im Ringen um diese Zukunftsentwürfe im Interesse des Gemeinwohls.
Freiburger Schule und Ordoliberalismus
Die Begründer der Freiburger Schule
Zu den berühmtesten Köpfen der Freiburger Schule gehörten der Ökonom Walter Eucken sowie die Rechtswissenschaftler Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth. Diese drei Begründer der Freiburger Schule fanden 1933/1934 zusammen, als sie im Wintersemester ihr erstes „wirtschaftsrechtliches und wirtschaftspolitisches Proseminar für Juristen und Nationalökonomen" abhielten.
Die Begründer der Freiburger Schule
Walter Eucken (1891–1950) war der Sohn des Jenaer Philosophen und Literaturnobelpreisträgers Rudolph Eucken und seiner Frau Irene, einer Malerin. Er studierte Geschichte, Staatswissenschaften, Nationalökonomie und Jura in Kiel, Bonn und Jena. Er schrieb 1913 an der Universität Berlin seine Dissertation; 1920 habilitierte er sich mit einer Arbeit über die Stickstoffversorgung der Welt. Seine erste Professur erhielt er 1925 in Tübingen, bevor er 1927 einem Ruf nach Freiburg folgte, wo er zeitlebens blieb. Seinen wissenschaftlichen Rang hat sich Eucken, der noch als Vertreter der Historischen Schule der Nationalökonomie begann, mit der Entwicklung der Ordnungstheorie erarbeitet. Mit seinen Einsichten in die Funktionsbedingungen einer freiheitlichen Wirtschafts- und Sozialordnung schuf er die Grundlage für die Soziale Marktwirtschaft. In Freiburg war er schon früh ein Widersacher des damaligen Rektors der Freiburger Universität, des Philosophen Martin Heidegger, der die Judenverfolgung in der akademischen Welt unterstützte. Euckens Frau Edith Erdsiek war jüdischer Abstammung. Eucken engagierte sich in den Freiburger Kreisen, die dem akademischen Widerstand zuzurechnen sind und die schon früh eine Nachkriegsordnung entwarfen. Nach dem Krieg zählte Eucken zu den Beratern der französischen und der amerikanischen Besatzungsmächte in Deutschland. Er war Gründungsmitglied der Mont-Pèlerin-Gesellschaft.
Franz Böhm (1895–1977) wuchs als Sohn eines Konstanzer Staatsanwalts und späteren badischen Kultusministers auf. Er studierte ebenfalls Rechts- und Staatswissenschaften, in Freiburg. Nach einigen Jahren als Referent in der Kartellabteilung des Reichswirtschaftsministeriums in Berlin kehrte er nach Freiburg zurück; 1932 wurde er promoviert, 1933 habilitierte er sich. Sein Werk kreist um die Denkfigur der marktwirtschaftlichen Privatrechtsordnung und um die säuberliche Unterscheidung zwischen Regelebene und Handeln, zwischen Spielregeln und Spielzügen. Böhm war mit Marietta Ceconi, einer Tochter der Dichterin Ricarda Huch verheiratet. Böhms Engagement gegen die Diskriminierung von Juden verhinderte, dass ihm in Freiburg ein Lehrstuhl angeboten wurde. Immerhin konnte er einem Ruf auf eine Vertretungsprofessur nach Jena folgen, bis ihm wegen regimekritischer Äußerungen die Lehrbefugnis entzogen wurde. Nach dem Krieg wurde er in Freiburg dann aber doch zum Rechtsprofessor und Prorektor bestellt, bevor er an die Universität Frankfurt wechselte. Böhm, der später Bundestagsabgeordneter wurde und sich stets in der Politikberatung einbrachte, engagierte sich im neu eingerichteten Wissenschaftlichen Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft in der Bizone (der amerikanischen und britischen Besatzungszone) sowie anschließend beim Bundeswirtschaftsminister. Er fungierte sogar kurz, wie einst sein Vater, als Kultusminister (in Hessen). Von 1952 an leitete er die deutsche Delegation in den Wie-dergutmachungsverhandlungen mit dem Staat Israel und den jüdischen Weltverbänden. Nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Arbeiten rund um das Thema Kartelle gilt Böhm als der Vater der deutschen Kartellgesetzgebung. Er war es auch, der innerhalb der Union 1957 einen Kompromissvorschlag einbrachte, der in schon fast aussichtsloser politischer Lage dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit seinem grundsätzlichen Kartellverbot doch noch den Weg bahnte.
Hans Großmann-Doerth (1894– 1944) wuchs in Hamburg auf, als Sohn des Leiters der dortigen Seewarte. Er studierte in München und Hamburg, wurde 1923 mit einer strafrechtlichen Arbeit promoviert und arbeitete anschließend als Amtsrichter, bevor er sich 1929 noch mit einer Arbeit über das Recht des Überseekaufs habilitierte. Er lehrte zunächst in Prag und von 1933 an in Freiburg, wo er den Lehrstuhl für Handels-, Wirtschafts-, Arbeits- und Bürgerliches Recht innehatte. Wissenschaftliche Spuren hat Großmann-Doerth allenfalls mit der Unterscheidung zwischen „selbstgeschaffenem und „staatlichem
Recht hinterlassen, womit er spontan „gefundene" Konventionen von Wirtschaft und Gesellschaft der staatlichen Regelsetzung in einer Weise gegenüberstellte, die an Friedrich August von Hayek erinnern mag. 1939 wurde er zum Wehrdienst einberufen. Er starb 1944 als Regimentskommandeur in einem Königsberger Lazarett an einer Verwundung, die er an der Ostfront erlitten hatte.
Als Geburtsstunde der Freiburger Schule kann man das Erscheinen des ersten Hefts der von ihnen herausgegebenen Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft 1937 werten. Unter der programmatischen Überschrift „Unsere Aufgabe
erklären die drei Herausgeber, dass die „Wirtschaftsverfassung als eine Gesamtentscheidung über die Ordnung des nationalen Wirtschaftslebens zu verstehen" und somit „die Rechtsordnung als Wirtschaftsverfassung zu begreifen und zu formen" ist.
Zur Freiburger Schule zählt man außerdem noch Constantin von Dietze (1891–1973), K. Paul Hensel (1907– 1975), Adolf Lampe (1897–1948), Friedrich A. Lutz (1901– 1975), Karl Friedrich Maier (1905–1993), Fritz W. Meyer (1907–1980) und Leonhard Miksch (1901–1950). Zum Ordoliberalismus jenseits der Freiburger Stadttore lassen sich außerdem noch Alfred Müller-Armack (1901–1978), Wilhelm Röpke (1899–1966) und Alexander Rüstow (1885–1963) zählen, auch wenn letztere präziser wohl dem soziologischen Neoliberalismus zuzurechnen wären.
Eine kluge, moralische und zweckmäßige Ordnung der Freiheit
Das vielleicht etwas sperrige Wort „Ordoliberalismus, das übrigens erst in den fünfziger Jahren geprägt wurde, sollte verdeutlichen, dass es den Vertretern dieser Denkrichtung nicht etwa um anarchischen Wildwuchs in Wirtschaft und Gesellschaft ging, sondern um eine klug, moralisch und zweckmäßig sortierte Ordnung der Freiheit, die ein Leben in Verantwortung und Solidarität ermöglicht: mithin um eine ganzheitliche „Ordo
, so genannt nach einem Konzept aus der mittelalterlichen Scholastik. „Ordo nannten Eucken und Böhm auch die 1948 von ihnen aufgelegte wissenschaftliche Zeitschrift, die der früheren, gemeinsam mit Großmann-Doerth verantworteten Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft
nachfolgte und bis heute besteht: „Ordo – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft".
Der Widerstand in den Freiburger Kreisen
„Der Widerstand einiger Mitglieder der Freiburger Schule institutionalisierte sich in den sogenannten Freiburger Kreisen. Der erste, das Freiburger Konzil, wurde 1938 von C. v. Dietze und A. Lampe nach der ‚Reichskristallnacht‘ initiiert. Ihm gehörten sowohl Universitätslehrer als auch Vertreter beider Kirchen an. Im Mittelpunkt der Gespräche standen ‚die Probleme der Obrigkeit, des Widerstandsrechts, der Widerstandspflicht und der Tyrannentötung‘ (…).
Zu den Freiburger Kreisen zählt auch die Arbeitsgemeinschaft v. Beckerath, obwohl ihr Ursprung nicht in Freiburg liegt. Ausgangspunkt war die ‚Klasse IV der Akademie für deutsches Recht‘ unter dem Vorsitz des Berliner Nationalökonomen Jens Jessen (1895–1944). Innerhalb der ‚Klasse IV‘ wurden mehrere Arbeitskreise gebildet, so auch die ‚Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre‘, die der Bonner Ökonom Erwin v. Beckerath (1889–1964) leitete. Die Arbeit der übergeordneten ‚Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre‘ wurde Anfang März 1943 als ‚nicht kriegswichtig‘ eingestellt. Die Diskussionen wurden aber im privaten Rahmen weitergeführt, wobei Freiburg zum Mittelpunkt der Arbeitsgemeinschaft wurde. Von den Gutachten und Protokollen sind über vierzig erhalten und veröffentlicht worden.
Aufgrund einer Anfrage des Berliner Pfarrers Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) im Auftrag der ‚Vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche‘ bildete sich 1942 der Freiburger Bonhoeffer-Kreis. Er sollte eine Programmschrift für eine auf christlichen Grundsätzen beruhende Außen- und Innenpolitik erarbeiten, die als Beratungsgrundlage für eine Weltkirchenkonferenz nach dem Krieg gedacht war. Unter dem Titel ‚Politische Gemeinschaftsordnung‘ enthielt sie u.a. eine Abhandlung von Dietze, Eucken und Lampe zur ‚Wirtschaftsund Sozialordnung‘. In ihr wurde bereits viel von dem benannt, was später die Grundideen des ordoliberalen Programms ausmachen sollte.
Nach dem misslungenen Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 gelangten Teile der Denkschrift in die Hände der Gestapo, woraufhin einige, die an ihr mitgearbeitet hatten, verhaftet wurden – auch wegen ihrer Kenntnis von den Umsturzplänen. Von den Freiburgern waren dies Dietze, Lampe und später auch der Historiker Gerhard Ritter (1888–1967). Eucken wurde schweren Verhören ausgesetzt. Dietze, Lampe und Ritter wurden später von den Alliierten in Berlin aus der Haft befreit. Lampe erlag den gesundheitlichen Schäden, die er während der Inhaftierung erlitten hatte."
(Quelle: Gerold Blümle/Nils Goldschmidt: Walter Eucken – Vordenker einer freiheitlichen Ordnung. In WISU-KOMPAKT, WISU 6/03, S. 749)
Nach dem Freiburger Imperativ gehören die wirtschaftliche, die gesellschaftliche und die politische Ordnung logisch zusammen. Walter Eucken sprach von der „Interdependenz der Ordnungen", von der gegenseitigen Abhängigkeit der Ordnungen in verschiedenen Bereichen des Lebens in der Gemeinschaft. Das logische Pendant zur Demokratie und zur Bürgergesellschaft ist eben die Marktwirtschaft: Sie ist dezentral, freiwillig, herrschaftsfrei. „Die Gesamtordnung sollte so sein, dass sie den Menschen das Leben nach ethischen Prinzipien ermöglicht", schrieb Eucken. Jede Zusammenballung von Macht müsse vermieden werden, private genauso wie staatliche.
Übermäßige staatliche Macht ist stets ein Übel
Übermäßige staatliche Macht ist stets ein Übel – denn eine totalitäre Planwirtschaft, wie sie der Nationalsozialismus ebenso mit sich gebracht hatte wie später der real existierende Sozialismus der DDR, führt die Menschen auf Abwege. Sie setzt sie förmlich auf ein Gleis, das sie zur bewussten Umgehung der Gesetze, zur Korruption und zur Ausbeutung anderer Bürger nötigt. Den Ordoliberalen hingegen schwebte ein System vor, das es bewusst vermeidet, die Menschen in Versuchung zu führen.
Ein Gemeinwesen nach den zehn Geboten
Der stark ausgeprägte moralische Impetus der Freiburger trat besonders deutlich zutage in der Anlage 4 des unter lebensbedrohlichen Umständen verfassten Manifests des übrigens erst im Nachhinein so genannten Bonhoeffer-Kreises. Für diese Anlage 4 mit dem Titel „Wirtschaftsund Sozialordnung" zeichneten Constantin von Dietze, Walter Eucken und Adolf Lampe verantwortlich. Ihr gemeinsames Grundanliegen ist die Menschenwürde, die individuelle Freiheit, die mitmenschliche Solidarität und die soziale Gerechtigkeit in einem christlich begründeten Gemeinwesen – nach den zehn Geboten.
Aus der Denkschrift des Bonhoeffer-Kreises
„Unsere Arbeit gilt in erster Linie der Gesamtordnung des Wirtschaftslebens … (Es ist) eine besonders dringende Aufgabe, die Grundlagen der Sozial-Wirtschaftsethik christlich zu begründen (…). Worauf es uns ankommen muss, ist: eine Wirtschaftsordnung vorzuschlagen, die (…) den denkbar stärksten Widerstand gegen die Macht der Sünde ermöglicht (…) und es den Wirtschaftenden nicht unmöglich gemacht oder systematisch erschwert wird, ein Leben evangelischer Christen zu führen. (…) Die Gebote des Herren richten sich nicht nur an die einzelnen Menschen, denen sie die Nächstenliebe, die Betätigung in einem ordentlichen Berufe, die Achtung vor fremdem Eigentum, die Wahrung der Ehrlichkeit und Rechtlichkeit im Geschäftsleben aufgeben. Sie gelten auch für Gemeinschaften des Lebens und Schaffens, für den Inhalt der sie bestimmenden Ordnungen. Die Kirche muss daher auch zur Wirtschaftsordnung Stellung nehmen. (…) Sie weiß, dass keine Wirtschaftsordnung die Macht des Bösen in der Welt beseitigen kann, muss aber von jeder Wirtschaftsordnung verlangen, dass sie dem Ziele dient, dieser Macht zu widerstehen. (…) Die Wirtschaftsordnung muss darauf angelegt sein, dass die Erfüllung der ersten drei Gebote nicht beeinträchtigt wird … (Du sollst keine anderen Götter haben neben mir, Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen, Du sollst den Feiertag heiligen). Jede Wirtschaftsordnung muss das fünfte Gebot achten (Du sollst nicht töten). (…) Auch aus dem 7. (Du sollst nicht stehlen), 9. (Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib) und 10. (Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Hab und Gut) Gebot folgt, dass eine Wirtschaft bestehen muss, in welcher ein Wirtschaftender der Nächste des anderen sein kann, also echte Gemeinschaft möglich ist. Die Wirtschaftsordnung darf nicht darauf hinauslaufen, dass die Menschen von der Erfüllung des 4. (Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren) und 6. (Du sollst nicht ehebre-chen) Gebotes abgehalten werden, muss vielmehr darauf hinwirken, dass ihre inneren Bindungen an die natürlichen und gebotenen Gemeinschaften, besonders an Familie und Volk, erhalten und gefestigt werden."
(Quelle: Bonhoeffer-Kreis 1979)
Das Colloque Walter Lippmann 1938 in Paris
Der existenti-elle Schock der Weltwirt-schaftskrise
Die Ordoliberalen knüpften an die Überlegungen und Diskussionen einer Gruppe von Wissenschaftlern an, die sich selbst schlicht „Neoliberale genannt hatten. Der Ordoliberalismus ist somit eine Ausformung des Neoliberalismus – eine von mehreren. Die Neoliberalen hatten sich in den dreißiger Jahren unter dem schweren, ja existentiellen Schock der Weltwirtschaftskrise zu einem internationalen Kolloquium in Frankreich zusammengefunden, um die Thesen des amerikanischen Publizisten Walter Lippmann über die damalige Krise des Liberalismus zu erörtern. Ihm zu Ehren wurde das Zusammentreffen „Colloque Walter Lippmann
genannt. Es ging um eine Erneuerung des freiheitlichen Denkens angesichts der Nöte der Zeit und angesichts der antikapitalistischen Anfeindungen, denen sich der für die Weltwirtschaftskrise haftbar gemachte Liberalismus ausgesetzt sah. Man fühlte sich marginalisiert. Man ahnte und fürchtete das Vordringen der sozialistischen Ideologie und die Ausbreitung totalitärer Herrschaftsformen. Gegen sie galt es die Freiheit zu