Lebensbruch: Nimm ihn an. Und verändere dein Leben
Von Kai Romhardt
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Über dieses E-Book
Dieses Buch liefert diese Alternativen, es liefert diese Geschichten und es zeigt: auch mit kleinen Lebensbrüchen, mit kleinen Entscheidungen, können wir unserem Leben jederzeit Sinn verleihen. Wir können jederzeit neu anfangen, ein erfülltes Leben zu führen.
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Buchvorschau
Lebensbruch - Kai Romhardt
Kai Romhardt
Lebensbruch
Nimm ihn an. Und verändere dein Leben
560.png© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal
Umschlagmotiv: © Alvin Teo – Dreamstime.com
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN (E-Book) 978-3-451-80996-5
ISBN (Buch) 978-3-451-31459-9
Nur ein Schritt
von Kai Romhardt
Am Anfang war es nur ein Schritt,
der durch mein altes Leben hallte,
und alle Zellen wollten mit,
»Dies ist der Weg, weich nicht zurück!«
ins Alte.
Und nun,
nach hunderttausend Schritten
auf stillen Pfaden und inmitten der Zeit,
die rast und uns verspeist,
die maßlos strebend Herzen eist
und trennt
und trennend einsam macht,
da braucht es meine ganze Kraft,
ich halte
inne
und das Alte
weicht,
es senkt sich in die Weite,
deren Wellen ich begleite.
Am Ende ist es nur ein Schritt,
der uns so mühelos verbindet,
auf diesem Weg zum stillen Glück,
der unser Leiden überwindet,
der nicht mehr sucht
und lächelnd findet.
Inhalt
Einführung – wer wollen wir sein?
Zusammenstürzende Gewissheiten
Von Krisen, Lebens(um)brüchen, Rissen – und dem Licht, das hindurchstrahlt
Eine unerwartete Reise
Kapitel 1: Lebensbruch oder unfreiwillige Klarheit
Wie es McKinsey in meinen Kopf schaffte
Hineinwachsen in die Hochleistungswelt
Ein unerwarteter Krieg • Gebt mir Ziele! Mein Einstieg • Gipfelerlebnisse
»Geile Krise!«
Im zarten, brüchigen Kreis • Zwei Welten
Ein neues Leben zeigt sich
Begegnung mit Thich Nhat Hanh • Abschied und Aufbruch ins Ungewisse • Sitzkissenschock • Ein Gehirn entspannt sich • Den Affengeist zähmen • Flitterwochen und entscheidungslose Entscheidung
Kapitel 2: Kontinuierlich weiter Wachwerden – zwanzig Monate im Kloster
Zurück in die Gegenwart
Das Wunder der Achtsamkeit • Die Freude des Aufwachens
Das Jetzt ist kostbar
Wo fließt unsere Energie hin? • Der unsichtbare Countdown • Was füllt meine Tage?
Von der Wiederentdeckung des Körpers
Die vier Würden • Der Tanz der Vier Würden
Frei denken statt gedacht werden
Das eigene Denken • Dauerdenker • Das Wunder des Nicht-(mehr-ganz-so-viel-)Denkens
Gemütszustände wahrnehmen
Die fliegende Kamera • Eine geistige Grundgestimmtheit wählen • Zeitsprung – wenn Studenten meditieren lernen
Klärung der eigenen Wahrnehmung – bin ich mir sicher?
Geisterfahrer • Single-Sensing • Die merkwürdige Frisur • Die Vergangenheit ändert sich – Begegnung mit einem Feind
Meister der Zeit werden
Mußetage • Verpönter Leerlauf • Wahre Pausen erlernen und Zeitinseln erschaffen • Slow down your life • Entschleunigung • Von der Wiederentdeckung der Stille
Jenseits des Wettbewerbs
Der große Karottenschneidewettkampf • Fußballspielen, einmal anders
Einen Kompass wählen
Alles durchdringt sich • Achtsamkeitsübung als Freund • Die Botschaft der Wespe • Eine Ethik, die glücklich macht
Kapitel 3: Wachwerden in der Welt
Rückkehr in die Welt
Neustart • Die irritierten Professoren
Die Rüstung ablegen
Experimentieren • Das Messer im Hals • Türen schließen sich, Türen öffnen sich
Weggefährten finden
Sangha Zehlendorf • Das Netzwerk Achtsame Wirtschaft entsteht
Kapitel 4: Wachwerden für wahres Glück
Unerwartete Freuden – Glücksstrategien revisited
Blumenstrauß • Die vielen Ideen vom Glück • Jeden Tag ein Knaller! • Das Glück liegt nicht in der Zukunft
Vom Umgang mit Vorteilen
Ausgenutzt werden • Andere ausnutzen • Der feine Grat zwischen Plan und Instrumentalisierung • Vorteile aufgeben • Meine Lehrer, die Schnecken
Akzeptanz des Unangenehmen
Die erste Wasserkochermeditation meines Lebens • Ja, das ist mein Leben
Jenseits des Perfektionismus
Die perfekte Terrasse • Beschwerde oder Dankbarkeit • Erwartung und Anspruch • Loslassen
Die Kunst zu lächeln
Eine Glücksformel • Einfach lächeln • Be nice or go away • Meditationen zum Lächeln
Kapitel 5: Feld des Wachwerdens – materieller und geistiger Konsum
Was brauche ich wirklich?
Meditierend über den Kurfürstendamm • Die Armani-Hypnose • Warum stehe ich schon wieder vor dem Kühlschrank? • Ist es nie genug?
Mein Maß finden
Welche Schale passt zu mir? • Der Großer-Teller-Fehler • Ich will mehr Sachen! • Unser Wollen im Auge behalten • Darf es auch etwas weniger sein? – die Freude des Fastens • Ein Zustand des Wohlseins • Im unendlichen Strom des Fernschreibers • Der Umgang mit dem Unendlichen
Die Idee der Exklusivität aufgeben
Teilen schafft Wohlstand • Wider die Ressourcenverschwendung • Unsere Nutzungsgrade analysieren
Von den Freuden der Einfachheit
Eine gut gefüllte Speisekammer • Die wichtigste Liste aller Zeiten
Brauchen wir Schulden? – Das süße Gefängnis
Das kannst du auch! • Das Ende der Freiheit
Impulse
Nicht einsteigen, bitte! • Das Anerkennen der Gewohnheit • Befreiung im Kaufhaus
Die Tränen der Hoteliers
Einfach nur essen • Die Tränen der Hoteliers • Fünfzig Prozent weniger • Yodas Apfelmeditation • Wachwerden im Konsum
Kapitel 6: Feld des Wachwerdens – Arbeit
Unsere Arbeit als Spiegel
Arbeitsmeditation • Frei genug für die Freiheit? • Das störrische Flipchart • Ein Sandhaufen als Lehrmeister
Die Sechs Freunde des Achtsamen Arbeitens
Atmen – Lächeln – Innehalten • Der Weg von ALI in die Welt • Bewusste Übergänge und Pausen – Transition • Ein Lob dem Singletasking • Extralosigkeit • Wie halte ich einen Geisterfahrer an? • Impulsdistanz • Wirkweise von Impulsen verstehen • Die acht Mühlsteine in meinem Kopf • Anfängergeist • Jenseits des inneren Parallelvortrags • Tiefes Zuhören • Achtsame Kommunikation
Mindful Co-Working
Gemeinsam üben • Kontemplationen für Beschäftigte
Jenseits von Lob und Tadel
Alles steht auf dem Spiel! • Dem inneren Richter zulächeln • Das eigene Urteilen mäßigen
Sich vom Dauervergleich befreien
More human? • Jenseits des Wettbewerbsdenkens gelangen • Auf zum Metta Walk
Den eigenen Erfolgsmaßstab klären
Was mache ich mit meinem Talent? • Achtsamkeit in Organisationen bringen • Samen der Achtsamkeit säen
Kapitel 7: Wachbleiben – nicht wieder einschlafen bitte
Dem inneren Stern folgen
Ein Tor öffnet sich • Leuchtende Augen
Einsicht ist nur ein erster Schritt – Übung und Wiederholung
Der Frühling ist da! • Von der Verkörperung der Einsicht • Mit Augen der Vergänglichkeit schauen • Nach dem Gipfelerlebnis • Heute leider keine Zeit für Meditation …
Die Lampe annehmen oder in Unvollkommenheit vorangehen
Das Einsichts-Gatha • Umgang mit Unzulänglichkeit • Don’t fool yourself
Uns dem eigenen Leiden stellen
Die ungegossene Glocke • Die Wiederkehr des Dunklen • Edle Probleme
Wo suchen wir Hilfe?
Wenn es eng wird • Hebe ich den Müll auf?
Retreat als Chance
Raus aus dem Trott • Retreat als Chance
Geduld und Verkörperung
Der ungeduldige CEO • Jenseits von Missionierung und Ungeduld • Der Weg zur Verkörperung von Wachheit
Uns nicht überholen
Auf die Qualität des Inputs vertrauen • Wir sind keine Macher • Die Macht des Kleinen – Schlange, Prinz, Funke, Mönch • Schmetterlingseffekte • Meine Wand der Inspiration
Nachklang
Literaturverzeichnis
Dank
Anhang
Netzwerk Achtsame Wirtschaft e.V. (NAW)
Über den Autor
Einführung – wer wollen wir sein?
Als Mensch sind wir ein Wunder. Wir haben Wahlmöglichkeiten, die kein anderes Wesen auf unserem Planeten besitzt. Wir können unseren Körper zum Triathleten formen oder ihn mit Junkfood zugrunde richten. Wir können an Gott glauben oder an den Markt. Oder an beides. Oder an gar nichts. Wir sind körperliche und geistige Wesen mit einem großen Potenzial zur Formwandlung. Und gleichzeitig haben wir die Neigung, in Gewohnheit, Normalität und Wiederholung zu erstarren. Uns Glaubenssätze einzuverleiben, die dann lange Jahre zum Kompass unseres Lebens werden. Und deren Substanz wir nicht mehr wirklich hinterfragen. Stimmen unsere Ideen von Glück und Erfolg, von Arbeit und Familie? Wissen wir, was wir wirklich brauchen, und richten wir unser Leben nach diesen Erkenntnissen aus?
Die latente Unzufriedenheit, die unsere Gesellschaft durchweht, ist für mich ein Anzeichen dafür, dass wir trotz unseres ganzen Wohlstandes und so vieler Möglichkeiten unsicher bleiben, was wir wirklich wollen oder wer wir wirklich sind. Auch wenn wir nach klassischen Kriterien in Arbeit, Familie und Freizeit »erfolgreich« sind, wenn wir ausreichend Geld haben und berufliche Anerkennung genießen, fragen wir uns vielleicht dennoch: »War das alles?«
Bronnie Ware, eine Privatpflegerin aus Australien, hat viele Menschen auf ihrem Sterbeweg begleitet. Daraus ist das Buch 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen entstanden. Es sind einfache, elementare Gedanken wie:
– »Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben«
– »Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet«
– »Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken«
– »Ich wünschte mir, ich hätte den Kontakt zu meinen Freunden aufrechterhalten«
– »Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.«
Was machen wir aus unserem Leben? Was machen wir aus unserer Freiheit? Folgen wir kollektiven Erfolgsmaßstäben und Glücksversprechen oder entwickeln wir unsere eigenen Richtlinien? Haben wir die Kraft und Klarheit, uns von scheinbaren Normalitäten zu befreien? In der Arbeit. Im Lebensstil. Im Umgang mit uns selbst und unserer Familie. Was wagen wir? Welchen Ideen und Menschen vertrauen wir uns an?
Zusammenstürzende Gewissheiten
Dieses Buch zeigt auf, dass wir in vielem freier sind, als wir glauben. Es zeigt auf, dass sich unser Leben in vielen Bereichen wendet, wenden kann, wenn wir uns entscheiden, wach zu werden und mit frischem Blick auf alle Bereiche unseres Lebens schauen. Wenn wir uns trauen zu fragen, was wir wirklich brauchen. Wenn wir erkennen, was uns wirklich Freude und Glück schenkt. Und wenn wir verinnerlichen, dass sich unsere Sicht auf die Welt umfassend ändern wird, wenn wir tiefere Verantwortung für unsere Gedanken, Wahrnehmungen und Emotionen übernehmen.
Für mich begann mein neuer Weg mit einem »Lebensbruch«. Mit Anfang dreißig gerieten meine Überzeugungen und Gewissheiten in nahezu allen Bereichen ins Wanken und stürzten in sich zusammen. Durch die buddhistische Achtsamkeitspraxis fand ich einen Weg, mein Leben neu zu verstehen und ihm eine neue Richtung zu geben.
Mein Meditationslehrer Thich Nhat Hanh fragte immer wieder: »Are you the King of your own Kingdom?« Bist du der Herrscher über dein eigenes Königreich? Und er meinte damit meinen Körper, meine Wahrnehmung, meine Gefühle, meine Geisteszustände und mein Bewusstsein. Mir wurde klar, dass ich mein Königsreich nur sehr wenig kannte und dass dies ein echtes Problem darstellte. Für mich und mein Umfeld. Je mehr ich mich selbst erforschte und besser verstand, desto klarer wurde mir auch, was wirklich wesentlich für mein Leben ist.
Manchmal muss eine alte Gewissheit in sich zusammenstürzen, damit neues Verstehen in uns wachsen kann. Solche Wendepunkte fühlen sich häufig erst einmal wie harte Brüche an. Doch sie können unserem gesamten Leben eine neue Richtung geben. Oder uns die Augen in einem Teilbereich unseres Lebens öffnen. Vielleicht gewinnen wir Klarheit über unser Verhältnis zum Geld, unsere Art zu sprechen oder unseren Umgang mit Nahrung. Je tiefer die Einsicht desto größer die Möglichkeit, etwas zum Positiven zu wenden.
Von Krisen, Lebens(um)brüchen, Rissen – und dem Licht, das hindurchstrahlt
Im Alltag nehmen wir uns häufig zu wenig Zeit, unsere grundlegenden Überzeugungen und Gewissheiten zu hinterfragen, Wesentliches zu betrachten, gerade dann, wenn alles scheinbar glatt läuft – wenn die Ampeln des Lebens auf grün stehen. Gesundheit = grün. Arbeit = grün. Beziehung/Ehe = grün. Kinder = grün. Eltern = grün. Finanzielle Situation = grün. Doch was, wenn eine oder mehrere Ampeln umspringen? Wenn wir den Job verlieren oder der Tod anklopft? Wenn unsere Ehe in die Krise gerät oder die Eltern zum Pflegefall werden? Wenn die Ampeln umspringen, zeigt sich, ob wir auf einer tieferen Ebene bereit sind für das Auf und Ab des Lebens.
2014 bin ich wieder einmal mit einem Seminar zu Gast auf der Trauneralm, die, auf 1530 Höhenmeter gelegen, einen beliebten Zwischenhalt auf Wanderungen zum Großglockner darstellt. Das große Gasthaus wurde bereits 1890 erbaut. Schon vor dieser Zeit hatte man einen großen Kuhstall errichtet, in dessen mächtige Mauern zentnerschwere Gesteinsbrocken verbaut worden waren. Als wir den Stall besichtigen, bewundern wir die Solidität dieser Konstruktion. Wir fühlen uns völlig sicher. Am folgenden Tag beobachtet ein Seminarteilnehmer, wie die vordere Stallmauer in einer großen Staubwolke in sich zusammengebrach. Nach 140 Jahren. Eben noch haben wir ihre Solidität und Unerschütterlichkeit bewundert. Jetzt liegt die Mauer in Trümmern. Die Kühe waren am Tag zuvor ins Tal getrieben worden. Niemand kam zu Schaden. Was für eine Lektion in Vergänglichkeit.
Dieses Buch trägt den Titel Lebensbruch, was vielleicht etwas paradox und dramatisch klingt. Das Leben ist ein steter Umformungsprozess, der vor nichts und niemandem Halt macht. Es ist nicht starr und kann daher eigentlich auch nicht brechen. Was zerbrechen kann, sind unsere Ideen über das Leben, unsere Vorstellungen, Hoffnungen, Erwartungen oder Träume. Oder unsere Gewissheiten – vieles, was wir für selbstverständlich oder gegeben halten, ist es nicht. Unser Bild von uns selbst kann erschüttert werden. Und das kann sich sehr dramatisch anfühlen und uns in die Krise stürzen. Jede feste Vorstellung und jedes Festhalten an einer Idee trägt den zukünftigen Bruch bereits in sich. Manchmal braucht es einen Knall, damit wir unsere scheinbaren Gewissheiten loslassen. Einige Ampeln müssen erst auf rot springen, bevor wir uns eingestehen, dass unsere Antworten nicht korrekt sind. Ein Zusammenbruch kann uns darauf hinweisen, dass unser Kurs nicht mehr stimmt oder dass wir vielleicht gar einen neuen Kompass brauchen. Unsere Ideen über uns selbst und die Welt mögen nicht mehr zur Realität oder aktuellen Lebenssituation passen. Etwas trägt nicht mehr, passt nicht mehr, und uns ist es nicht mehr möglich, ausreichend Energie zu mobilisieren, um dieser Wahrheit auszuweichen.
Doch jeder Bruch ist vor allem auch die Chance, unser Leben mit frischen Augen zu betrachten. Bricht etwas zusammen, entsteht Raum für Neues. Pema Chödrön hat hierzu das Buch Wenn alles zusammenbricht geschrieben. Sie beschreibt den Schrecken und zugleich den Segen von Krisen und Zusammenbrüchen. Leonard Cohen segnet den Bruch und die Krise ebenfalls, wenn er schreibt: »There is a crack in everything. That’s how the light gets in.« In allen Dingen ist ein Riss, nur so kann das Licht hineinstrahlen.
Wenn wir akzeptieren, dass sich eine Lebensphase dem Ende zuneigt und eine neue beginnt – beginnen muss –, kämpfen wir nicht länger gegen etwas Unvermeidliches an und beginnen Abschied von alten Gewissheiten, Selbstbildern, Zielsystemen und Glaubenssätzen zu nehmen. Manche von uns kämpfen dabei so lange, bis sie die Wahrheit einfach nicht mehr leugnen können. Ein wohlhabender Geschäftsmann, der mir vor Kurzem von seinem Lebensbruch berichtete, drückte es so aus: »Ich war schon lange krank, doch diesmal war die Situation lebensbedrohlich. Alle meine Erfolge zogen noch einmal vor meinem inneren Auge vorbei, mein ganzes Leben. Doch in diesem schweren Moment erkannte ich gleichzeitig, dass ich mein Leben umfassend ändern musste – meine Prioritäten verschieben. Und dass es keinen Sinn macht, der reichste Mann auf dem Friedhof zu werden.«
Eine unerwartete Reise
Brüche machen Angst. Sie tun weh und zeigen uns unsere Verletzlichkeit. Und dennoch sind sie es, die unser Leben wieder lebendig werden lassen können. Nicht jeder Schicksalsschlag oder jede innere oder äußere Krise hat dieses Potenzial – aber manche. Diese sind ein Aufruf zum Aufbruch; ein Aufruf, wach zu werden. Sie bieten uns die Möglichkeit, all das loszulassen, was uns starr und unlebendig gemacht hat. Oder müde und teilnahmslos.
Ich konzentriere mich in diesem Buch auf das große Potenzial, das ein solcher Lebensbruch beinhaltet. Auf die Chancen, die in ihm stecken und wie wir ihn zum Ausgangspunkt einer inneren Reise machen können, die uns schrittweise zu mehr Klarheit über unser Leben führt. Je wacher wir werden, desto mehr erkennen wir die universellen Prinzipien, die alle Menschen miteinander verbinden. Unsere individuellen Prägungen bleiben bedeutend, treten aber immer weiter zurück im Angesicht universeller Einsichten und Wirkprinzipien, die uns alle bewegen und durchdringen. Das ganze Buch ist daher eine Reise, die uns aus individueller Brüchigkeit, Enge und Verstrickung in sich weitende, sich klärende Landschaften führen möchte.
Um dem Leser zu verdeutlichen, wie meine Reise begonnen hat, springe ich direkt hinein ins Thema – in meinen eigenen Lebensbruch, welcher für mich der Ausgangspunkt für eine unerwartete Reise und Expedition in innere und äußere Welten werden sollte.
Kapitel 1
Lebensbruch oder unfreiwillige Klarheit
Wie ich mein altes Leben hinter mir ließ und mich auf die Suche nach dem Wesentlichen begab.
Wie es McKinsey in meinen Kopf schaffte
Ein Bruch, wie ich ihn erfahren habe, fällt nicht vom Himmel. Er hat sich langsam und stetig angenähert: Ich bin in meinem Leben lange Zeit auf der berühmten Überholspur unterwegs gewesen. Symbolisch hierfür steht meine Beziehung zu McKinsey&Company, einem Beratungsunternehmen. Der folgende Text entstand fünfzehn Jahre nach meinem Ausscheiden aus dieser Firma. Eines Morgens stand ich auf und schrieb nieder, was mir über diese langjährige und komplexe Beziehung klar geworden war. Ich schrieb es mir von der Seele.
Nach dem vierten Semester meines BWL-Studiums bewarb ich mich für ein Praktikum bei McKinsey&Company und wurde angenommen. Dies sollte der Ausgangspunkt einer unheilvollen und tiefen Identifikation mit einer Organisation werden, die mich faszinierte und mir ein besseres Leben versprach. Ich heuerte in Düsseldorf an. Als Praktikanten wurden wir verwöhnt und gefordert. Mit meinen Co-Praktikanten zog ich im schicken Anzug los, um eine Studie über die Zukunft Bonns zu verfassen. Bonn hatte gerade in einer spektakulären Abstimmung seine Hauptstadtfunktion an Berlin verloren, wir hatten den Auftrag, für den Oberbürgermeister der Stadt ein Konzeptpapier zu erstellen, das Vorschläge für eine strategische Neuausrichtung der Stadt präsentierte. Wir arbeiteten dabei weitgehend selbstständig mit wöchentlichen Feedback-Runden im Kreise eines erfahrenen Beraterteams. Abends feierten wir uns und unser Tun.
Was mir in dieser Zeit entging, war, dass ich anfing, mich tief mit der Kultur der vielleicht erfolgreichsten und mächtigsten Unternehmensberatung der Welt zu identifizieren. Ich erhielt ein exzellentes Abschlusszeugnis mit dem Hinweis, dass man mich sehr gern wiedersehen würde. Nach meinem Wechsel an die Universität St. Gallen hielt ich den Kontakt und wurde regelmäßig eingeladen, ja, eingeflogen: Zum Skifahren ins Tiroler Kühtai oder zum Treffen der Automobilexperten irgendwo in Deutschland. In mir formte sich der Satz: »Ich will McKinsey sein«. Aus dem immer mehr ein »Ich bin McKinsey« wurde. Diese Sätze nutzte ich in Phasen der inneren Orientierungslosigkeit und Angst, um mich meiner selbst zu vergewissern. Mit jedem Schritt auf diesem Weg der schleichenden Fremd-Identifikation verlor ich ein Stück Freiheit und nährte so eine subtile Abhängigkeit von einem äußeren Beurteilungsmaßstab. McKinsey wurde zu einem Teil meiner Identität, ohne dass ich für die Firma arbeitete. Aber all das merkte ich nicht.
Und so schrieb ich schließlich auch meine Diplomarbeit in der Firma und sollte hierbei die stressigste Phase meines Lebens durchmachen. Ich hatte mich völlig überfordert. Mit dem Thema (»zu breit«), dem Professor (»Top oder Flop«), dem McKinsey-Umfeld (»Angst zu Versagen«, »extrem hohe Erwartungen«), der Logistik (»Wien, Düsseldorf, Frankfurt, St. Gallen«), der Technik (»Wechsel von Windows auf Apple«), dem Zeitrahmen (»sechs Wochen – sehr kurz«), dem betreuenden McKinsey Direktor (»uninteressiert und kalt«) und meiner persönlichen Notenerwartung (»1,0«). Ich verzweifelte an der Aufgabe, verlor deutlich Gewicht, hatte extreme Schlafstörungen, übergab mich in der Früh und kämpfte mich doch unter Aufbietung meiner letzten Kräfte und der Hilfe von Familie und eines Freundes über die Ziellinie. Mehrere Wochen brauchte ich, um mich zu erholen.
Heute weiß ich, dass der größte Stressor von allen meine Versagensangst war. Und dass diese durch meine fortgeschrittene Identifikation mit McKinsey wuchs. Ich erinnerte mich an das blasse Gesicht eines Ex-McKinsey-Beraters.