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Rousseaus Traum
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eBook339 Seiten5 Stunden

Rousseaus Traum

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Über dieses E-Book

Dieser Roman erzählt von einem Trauma, seinen verstörenden Folgen und dem Versuch ihrer Bewältigung. Klara und Johan, glücklich verheiratet, leben in New York. Eines Abends wird Johan bei einem brutalen Überfall schwer verletzt. Das verändert ihn auf erschreckende Weise. Während einer Reise nach Kapstadt begegnet er Louma, für die er sein bisheriges Leben aufgeben will. In dieser Krise nimmt Klara einen inneren Dialog mit ihrem früheren Analytiker auf. Sie erzählt von ihrem täglichen Leben, von ihrer Hoffnung und Verzweiflung, ihren Erinnerungen und Erfahrungen, ihren Fantasien und Träumen und von Johan, den sie in Gedanken auf seinen Reisen nach Südafrika begleitet.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum17. Juni 2019
ISBN9783748299516
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    Buchvorschau

    Rousseaus Traum - Cordelia Schmidt-Hellerau

    1

    Nur flüchtig fragte ich mich an diesem Tag, als ich durch die hohen Fenster unserer Veranda in den Garten hinausschaute, wie es wohl wäre, wenn jetzt – gerade jetzt – ein Tiger dort vorüberginge: langsam, gelassen, stark und mysteriös, sein Fell hell leuchtend in der Abendsonne, gelb, schwarz, orange – da, nur für einen Augenblick, und dann fort, hinter den Büschen verschwunden. Ein Tiger, ein Phantom – schrecklich und schön! Ich mag was-wäre-wenn-Gedanken. Sie kommen und gehen. Nur dieser eine kam immer wieder – ein Tiger in meinem Garten …

    2

    Die Kleine im Nachbarhaus brüllt. Eine Wilde stört meine Träume. Hast Du vorhergesehen, dass ich mich eines Tages wieder auf Deine Couch legen würde? Als wir übereinkamen, meine Analyse zu beenden, sagtest Du, sie sei kurz gewesen, aber ich könne ja, wenn nötig, wiederkommen. Es war ein gutes Ende, einfach und offen. Es ging mir gut. Jetzt komme ich zurück. Es geht mir nicht gut, aber daran möchte ich jetzt nicht denken. Ich möchte nur wieder hier sein … Dieses Licht in Deinem Raum – am Nachmittag scheint die Sonne durch das Fenster hinter Deinem Sessel und erreicht die Couch, die immer noch dieselbe ist: bezogen mit einem hellgrünen Wollstoff, der straff um die Matratze gespannt ist, solide und fest, klar und geradeaus. Rousseaus Traum hängt immer noch an der Wand gegenüber. Was für ein stiller Ort das ist! Manchmal, wenn ich mich kurz vor dem Ende meiner Stunde aufsetzte, konnte ich einen Blick auf Dich erhaschen, wie Du da in Deinem schwarzen Eames Sessel saßest, ruhig, wie in einer sicheren Höhle. Dann fragte ich mich, was Du wohl dachtest, nachdem Du mir eine ganze Stunde lang zugehört hattest. Ich vermisse Dich. Manchmal hast Du lange geschwiegen, und doch wusste ich, dass Du bei mir warst.

    Nach unserer Stunde verließ ich Deine Praxis und ging durch diese stille Straße zu meinem Café. Die Kellnerin brachte mir unaufgefordert meinen Espresso. Im Sommer saß ich dort draußen auf den niedrigen Korbstühlen im lichten Schatten der Akazien. Oft habe ich dann, vielleicht ähnlich wie jetzt, in Gedanken noch ein wenig mit Dir weitergesprochen … Und nun erinnere ich mich an eine Sommernacht, eine Bootsfahrt, von der ich aufschaute, in den dunklen Nachthimmel hinein, und dachte: wenn ich jetzt eine Sternschnuppe sehe, wünsche ich mir, dass wir eines Tages zusammen sein werden. Ich wusste, das war nicht möglich, und es gab keine Sternschnuppen in dieser Nacht. Wir alle haben unsere Träume, aber dieser Traum sollte nicht erfüllt werden. Jedenfalls nicht von Dir. Von wem träumte ich nur? Später dachte ich, es war ein Traum von Johan. Dann verlor ich ihn. Sternschnuppen sind schön, ein Aufleuchten im All, und schon sind sie erloschen und lassen uns zurück mit dem Wissen um einen Wunsch – ein Sehnen, das eines Tages erfüllt werden soll.

    3

    Es tut gut, wieder hier zu sein. So viel ist geschehen, seit ich vor fünfzehn Jahren von Dir fortgegangen bin. Ich habe Markus nicht geheiratet. Etwa ein Jahr nachdem wir die Analyse beendet hatten, habe ich mich von ihm getrennt. Ich habe ihn geliebt, und ich glaube, er liebte mich auch. Aber er hatte dieses riesige Bauprojekt in Abu Dhabi, wo sein Architekturbüro einen Teil des Campus mit Institutsgebäuden und Wohnanlagen für die Professoren und Studenten der Universität in kurzer Zeit aus dem Boden stampfen sollte, und diesem Projekt stellte er alles hintan. Sein Entwurf hatte den Wettbewerb gewonnen, und ich verstand, dass diese Arbeit für ihn ungeheuer wichtig war. Wochenlang war er fort. Und dann wollte er, dass wir dorthin ziehen, weil da in den kommenden Jahren noch viel zu bauen wäre. Ich konnte mir das überhaupt nicht vorstellen. Er fand mich engstirnig. Ich schlug vor, ein Jahr lang hin- und herzupendeln, um auszuprobieren, wie sich ein Leben dort anfühlen würde. Das lehnte er ab. Ich bin kein Zigeuner, sagte er, und außerdem will ich Kinder, und das erfordert ein stabiles Zuhause. Und ich will nicht, dass meine Kinder in Abu Dhabi aufwachsen, hielt ich ihm entgegen. So ging das hin und her. In den wenigen Stunden, die er noch für mich erübrigen konnte, stritten wir uns. Er war gereizt, und ich war deprimiert. Und dann kamen auch noch alte Geschichten auf den Tisch, von denen ich gedacht hatte, dass wir sie schon längst vergessen hätten. Es gab nur noch Probleme. Wir konnten uns nicht mehr aneinander freuen. Wären wir zusammengeblieben, wenn ich mit ihm nach Abu Dhabi gezogen wäre? Wie hätte mein Leben dann ausgesehen, und was wäre beruflich aus mir geworden? Das dauernde Kämpfen erschöpfte mich. Ich beschloss, ihn zu verlassen. Zögernd willigte er ein. Es tat uns beiden weh. Trotzdem half er mir. So war er, großzügig und eigensinnig. Damals dachte ich zum ersten Mal daran, mich wieder auf Deine Couch zu legen. Aber ich wollte allein meinen Weg finden …

    Diese vielen Abschiede! Nach unserer letzten Stunde verließ ich Deine Praxis und ging die sonnige Straße entlang, und alles schien mir überdeutlich und wie verfremdet. Ich dachte: das ist es, ich habe es beendet, es ist getan, und jetzt gehe ich, von hier aus immer weiter, immer weiter. Als ich mich dann von Markus trennte, war der Schmerz viel größer, vielleicht weil ich ihm nicht auf Wiedersehen sagen konnte. Er hatte sich dem schrecklichen Moment entzogen. Du warst da. Wir gaben uns die Hände, wir sahen uns an und lächelten. Du würdest für mich da sein, wann immer ich Dich brauchen würde. Markus war nach Abu Dhabi geflogen, bevor ich auszog. Allein packte ich meine Sachen. Als der Umzugswagen abgefahren war, ruhte ich mich noch eine Weile im Garten aus, dort, wo wir – er und ich – in den vergangenen Jahren so oft gesessen hatten …

    4

    Manchmal denke ich: es ist nicht wahr! Ich muß nur nach Hause gehen, und da sitzt Johan in seinem Lieblingssessel und liest die Zeitung. Hallo, sagt er und deutet an, daß er eine Überraschung für mich hat. Hallo, sage auch ich, was ist? Er lächelt und wartet, bis ich mir den Mantel ausgezogen habe und neben ihm sitze. Dann sagt er: Am Sonntag haben wir unseren elften Hochzeitstag. Mein Seminar ist abgeschlossen. Ich habe in Deine Agenda geschaut und gesehen, dass Du in den nächsten Tagen frei bist. Also dachte ich, wir machen etwas Besonderes: wir überqueren den Atlantik auf der Queen Mary, von New York via Southampton nach Hamburg. Wir bleiben ein paar Tage in Hamburg, und dann fliegen wir zurück nach New York. Was hältst Du davon? Ich bin total überrascht. Nie hätte ich daran gedacht, eine Kreuzfahrt zu machen – das ist fantastisch! Ja, sage ich, ja! Aber das ist unmöglich! Ich kann sehen, wie Johann sich freut, dass seine Überraschung gelungen ist. Ich habe heute morgen angerufen und ein Last-Minute-Ticket bekommen, eine Kabine auf dem oberen Deck für einen stark reduzierten Preis. Was sagst Du jetzt? Unglaublich! Wir werfen ein paar Jeans und Pullover und für den Abend etwas Elegantes in einen Rucksack und los geht’s mit dem Taxis direkt vor die Queen Mary. Wie aufregend! Der weiße Ozeanriese ragt hoch hinauf in den Himmel meiner schönsten Träume, ein schwimmender Eisberg, der nur mit zwei dünnen Fäden leichthin an den Pollern festgehalten wird. Interessant, all die Leute zu beobachten, die hier am Hafen herumwuseln. Fang bitte nicht an, über all das hier zu schreiben, sagt Johan. Für diese nächsten Tage bist Du keine Journalistin, Du bist ganz privat, meine transatlantische Liebe. Nebeneinander lehnen wir an der Reling auf dem obersten Deck und beobachten, was da unten an der Anlegestelle vor sich geht. Ich habe Lust auf Austern, sage ich und Johan sagt: Ich auch. Willst Du meine Frau werden? Wir lachen. Ja, ich will, ich will! Wir essen sonst nie Austern, aber heute, heute essen wir Austern! Wir haben Glück und bekommen einen Tisch am Fenster, sodass wir ungehindert auf die See hinausschauen und nach der anderen Seite hin auch alles beobachten können, was im Board-Restaurant vor sich geht – aber letztlich wollen wir uns ja doch nur tief in die Augen schauen.

    So ein schöner Kitsch! In Hamburg haben wir uns kennengelernt. Johan hielt den Eröffnungsvortrag für ein neues Kulturzentrum. Gescheit, humorvoll und auf charmante Weise bescheiden hatte er aus der Perspektive des Jahres 2090 einen Rückblick auf seine hundertjährige Geschichte präsentiert. Was für eine wunderbare Idee, dachte ich, er kann träumen, über die Realität hinausdenken – er kann fliegen! An diesem Abend sprachen wir lange miteinander. Wir verstanden uns. Später setzten wir unsere Gespräche am Telefon fort, jeden Abend. Schließlich merkte ich, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Er wusste es schon die ganze Zeit, wie er mir später sagte. Dann besuchte er mich in Heidelberg, in meiner Wohnung gegenüber dem Schloss. Könntest Du Dir vorstellen, dass ich hier mit Dir zusammen leben würde? fragte er mich, als wir bei unserem ersten Frühstück auf meinem Küchenbalkon saßen. Zu meiner eigenen Überraschung sagte ich: das würde mir gefallen. Also bewarb sich Johan an der Philosophischen Fakultät und hatte Erfolg. Ein Jahr später heirateten wir. So schnell ging das! Johan unterrichtete zeitgenössische Literatur, und ich machte meine Reportagen. Was für schöne Jahre das waren!

    Auf einer Vortragsreise nach New York erhielt er ein Angebot von der Columbia Universität. Johan war begeistert. Für mich war die Vorstellung, nach New York zu ziehen, nicht leicht; trotzdem stimmte ich zu. Irgendwie war alles, was wir zusammen unternahmen, möglich und spannend. Ich diskutierte mit ihm seine Aufsätze und Seminare, und er interessierte sich für die Themen, an denen ich gerade arbeitete. Jetzt ist er nicht mehr an mir interessiert. Er fragt mich nichts, er will nichts mehr wissen, und wenn ich trotzdem etwas sage, wendet er sich ab. Sag mir, warum? schreie ich ihn an, wenn ich es nicht mehr aushalten kann. Ich weiß es nicht, sagt er dann und geht. Ich kann einfach nicht verstehen, warum alles zu Ende ist, ohne Vorwarnung, ohne Grund. Darum bin zu Dir ich zurückgekommen.

    5

    Neulich habe ich eine Geschichte gelesen, an die ich immer wieder denken muss. Der Autor, ein Journalist, reist durch die Welt und berichtet über die Menschen, denen er begegnet. Er setzt sich zu ihnen, fragt sie, hört zu, und dann schreibt er seine Porträts. Die Geschichte, die mir nicht aus dem Kopf geht, handelt von Robert G. einem amerikanischen Produzenten von Sportartikeln. Er hatte eine kleine Firma in Albany, er hatte eine Frau, drei Kinder, ein Haus und einen Hund. Er sagte, er hatte ein glückliches Leben. Sein Geschäft lief nicht gerade hervorragend, aber es warf doch ein anständiges Einkommen ab. Leider blieb es nicht aus, dass die größeren Firmen ihm seine Kunden stahlen, seine Absatzmärkte einschränkten und sein Ein- und Auskommen beschnitten. Darum war er eines Tages nach Brasilien gereist, um nach Möglichkeiten für eine billigere Produktion seiner Sportbekleidung zu suchen. Er flog nach Rio de Janeiro, mietete ein Auto, fuhr nordostwärts ins Land, und hielt Ausschau nach einem kleinen Betrieb, der sauber, sparsam und verlässlich seine Produktion betreiben könnte.

    Nach einer Woche entdeckte er in Ponto Novo eine ordentlich geführte Baumwollspinnerei. Die Eigentümerin dieses Betriebs, Juanita C., war eine junge Witwe, deren Mann vor nicht langer Zeit von aufgebrachten Farmern erschlagen worden war, weil sie die geringe Entlohnung ihrer Ernte nicht mehr hinnehmen wollten. Juanita erklärte, dass die Löhne in dieser Gegend niedrig seien, und dass ihr Mann sogar etwas mehr als den ortsüblichen Preis für die Baumwolle gezahlt hatte. Sie bot Robert weiße und gefärbte Baumwolle zu ungeheuer niedrigen Preisen und sehr günstigen Bedingungen an. Robert telefonierte nach Hause und sagte seiner Frau, dass er einen Betrieb für seine T-Shirt-Produktion gefunden habe; er müsse noch etwas bleiben, um die Sache in Gang zu bringen.

    Selbstverständlich gab es in dem Dorf – wenn man diese Ansammlung von fünfzehn Häusern überhaupt ein Dorf nennen wollte – kein Hotel, weshalb Robert ein Gästezimmer im Haus der Betriebsbesitzerin akzeptierte. Sie war nicht besonders schön, sagte er, und doch habe er sich eigentümlich angezogen gefühlt von ihrer lasziven Ruhe, der Langsamkeit ihrer Bewegungen und ihrer dunkelsingenden Stimme, die ihn so unglaublich entspannte. Er habe sich mit ihr so frei gefühlt, sagte er, so frei wie nie zuvor. Am Morgen besprachen sie die Details der neuen Produktion. Sie konnte nur schlecht Englisch sprechen, und sein Portugiesisch war auch nicht besser, aber sie verstanden sich. Zu Mittag aßen sie in Juanitas offener, winddurchstreifter Küche, was die Haushälterin für sie gekochte hatte: Hühnchen mit einem süßen Kartoffelkuchen. Dazu tranken sie Bier. Es war heiß, und die Arbeiterinnen würden eh nicht vor dem späten Nachmittag zurückkehren. Juanita schlug vor, dass er sich einen Mittagsschlaf in ihrer Hängematte genehmigte. Robert schlief augenblicklich ein und schlief einen Schlaf, so tief und schwer, wie er ihn noch nie geschlafen hatte. Es war heiß. Am nächsten Tag legte sich Juanita zu ihm in die Hängematte. Was soll’s, dachte Robert, und weit weg von Zuhause war er auch. So begann seine Affäre mit Juanita.

    Langsam und gemächlich verstrichen die Tage. In Brasilien lässt man sich Zeit, und es gab immer etwas zu tun. Deshalb konnte Robert noch nicht nach Albany zurückkehren. Nach drei Wochen wollte er dann aber doch seine Frau anrufen. Er musste wieder diese dreißig Meilen auf der Schotterstraße nach Vila Sombra fahren, um das nächste Postamt mit internationalen Telefonverbindungen zu erreichen. Zu der Zeit – es war in den frühen siebziger Jahren – war die Telekommunikation noch nicht weit in die ländlichen Teile Brasiliens vorgedrungen. Er teilte seiner Frau mit, dass sein Projekt Fortschritte mache. Wann kommst Du nach Hause, fragte sie. Sobald ich hier unten alles erledigt habe, antwortete Robert und kehrte zu Juanita zurück. Zusammen schmiedeten sie Pläne. Juanita versicherte ihm, dass er mit ihr zusammen groß herauskommen könne. Sie hatte die Idee, mehr Baumwolle zu niedrigeren Preisen von weiter entfernten Baumwollfeldern zu kaufen, billig, sagte sie, ganz billig. Sie schlug vor, die Frauen von den Baumwollfarmern als Näherinnen für die T-Shirt und Sport-Shorts-Produktion anzustellen. Zusammen wollten sie ein neues Label kreieren, das sie in den großen Städten vertreiben könnten. Juanita sagte: Rio de Janeiro! São Paolo! Belo Horizonte! Recife! Porto Alegre! Was für eine magische Welt! Sie machte ihm klar, dass er in diesem Land einen Haufen Geld verdienen könne. Ich helfe dir, und du hilfst mir, es wird gut gehen, versprach sie. Die Idee klang verlockend. Robert dachte an all die Schwierigkeiten, mit denen er in der letzten Zeit in Albany zu kämpfen hatte. Vielleicht lag hier seine Zukunft, genau hier und nirgendwo anders? Und so stellte er sich vor, wie er in Ponto Novo groß und größer werden würde, während er sanft in der Hängematte schaukelte. Die Wochen zogen ins Land, und dann bemerkte er eines Tages, daß er schon eine ganze Weile nicht mehr an Albany gedacht hatte. Robert sagte, er habe nicht eigentlich entschieden, in Brasilien zu bleiben, es habe sich einfach so ergeben. Nach drei weiteren Monaten, als die Bauarbeiten zur Erweiterung der Baumwollfabrik schon voll im Gange waren, fuhr Robert wieder die dreißig Meilen auf dem Schotterweg zum Postamt, um seine Frau anzurufen. Er wollte ihr mitteilen, dass er noch etwas länger bleiben wolle, wie lange, konnte er nicht sagen, also unbestimmt länger, auf jeden Fall aber lange genug, um die Dinge in Brasilien auszuprobieren. Natürlich fühlte er sich ungemütlich in Anbetracht des bevorstehenden Telefonats mit seiner Frau, aber er fand, dass er ihr das schuldete. Nachdem er das Postamt erreicht hatte, lungerte er noch eine Stunde im Schatten des Vordaches herum, bevor er ihre Telefonnummer eingab. Die Verbindung ging auch sogleich durch, aber seine Frau war gerade nicht zu Hause, und als der Anrufbeantworter klickte, legte er auf, weil er ihr diese Nachricht so dann doch nicht zukommen lassen wollte. Er versuchte es danach nicht wieder.

    Mit der Zeit ließen seine Gewissensbisse nach. Er war einfach bei Juanita, und zusammen träumten sie davon, groß rauszukommen. Sie waren auch einigermaßen erfolgreich. Die Produktion wurde gesteigert, obwohl es anfangs nicht leicht war, sie abzusetzen, aber schließlich fanden sie eine Warenhauskette, die ihnen die T-Shirts und Sport-Shorts abkaufte. Robert hatte sich an sein Leben in Ponto Novo gewöhnt. Sie hatten einen kleinen Hausaffen, Pucco genannt. Robert schlief neben Juanita, mochte Mango und Papaya und weißen Rum, und es machte ihm nichts aus, dass sie nicht viel miteinander reden konnten. Seine Tage waren unkompliziert. Und dann, an einem schönen Abend im siebten Jahr seines Brasilianischen Lebens, als Robert von der Fabrik nach Hause kam, lag Juanita zusammen mit einem Brasilianer, einem großen, dunklen Mann, den er nie zuvor gesehen hatte, in der Hängematte. Er wurde wütend, aber Juanita lachte ihn bloß aus. Sie sagte Robert, dass sie nun mit Tiago leben wolle. He speak me, Portugiese, erklärte sie in ihrem schlechten Englisch, he funny, I like Tiago. Das war alles. Robert hatte keine Rechte, er war nicht mit Juanita verheiratet, es war ihre Firma. Juanita wollte ihn loshaben. Sie holte den alten Koffer, mit dem er damals angekommen war, aus der Garage, legte seine wenigen Hemden und Hosen hinein, vergaß auch nicht, ein Foto von sich selbst obenauf zu legen – for Souvenir, sagte sie – gab ihm etwas Geld für die Bus- und Bootsfahrt, und das war’s dann.

    Robert sprach mit dem Reporter nicht über seine Gefühle, und vielleicht erinnerte er sich auch nicht mehr an seine Gefühle. Er sagte nur, dass sein Pass und sein Visum längst abgelaufen waren. Natürlich hätte er zu einer amerikanischen Botschaft gehen können, sagte er, und er hätte auch zurück nach Albany gehen können, aber er konnte sich nicht mehr nach Albany zurückdenken. Also ging er nach Rio. Er kannte dort niemanden, außer dem einen Angestellten der Warenhauskette, mit dem er damals den Preis für seine Sport-Artikel verhandelt hatte. Der bot ihm einen Job an. Er stellte ihm einen Handkarren zur Verfügung, mit dem er Juanitas T-Shirts und Shorts an der Copacabana verkaufen konnte. Der Handkarren hatte ein kleines Sonnendach, was ganz hübsch war. Robert verdiente drei Real für das verkaufte Stück, genug für alles, was er brauchte, denn er brauchte nicht viel. Tagsüber war die glänzende Weite der Copacabana sein Wohnraum, nachts bettete er sich auf den weichen, noch warmen Sand, und am Morgen nahm er eine Dusche am Strand bevor die Badelustigen kamen. Also benötigte er nur ein wenig Geld für Kaffee und Wein, etwas zu essen und ein paar Extras. Ein kleiner braun-weiß-gescheckter Hund gesellte sich eines Tages zu ihm und blieb bei ihm, auch wenn Robert ihn nie als sein eigen betrachtete. Mit der Zeit vergaß er Juanita. Ihr vergilbtes Foto klebt immer noch unter dem Sonnendach seines Handkarrens. Er machte keine Freunde, auch nicht unter denen, die täglich seinen Weg kreuzten. Wenn überhaupt, dann war der Zeitungsverkäufer, bei dem Robert jeden Morgen seine Herald Tribune kaufte, sein Freund. Dort entdeckte ihn der Reporter. Er war überrascht, einen Amerikaner zu sehen, der wie einer von Rio wirkte, gebräunt und verwittert, aber doch aristokratisch. Robert war sauber wiewohl unbehaust, artikuliert und dennoch unbeteiligt. Er wusste alles über die New York Yankees, aber es schien ihm völlig gleichgültig zu sein. Der Reporter lud ihn zu Meeresfrüchten und einer Flasche Wein ein, und beide verbrachten einen angenehmen Nachmittag. Bevor sie sich trennten sagte Robert: In gewisser Weise kann ich mich an gar nichts erinnern. Ich habe dir das alles erzählt, als ob es nicht meine Geschichte wäre. Ich habe meine Geschichte vor vielen Jahren verloren. Jetzt habe ich nichts mehr. Ich bin ohne Erinnerung und ohne Wunsch.

    6

    Als ich damals in Hamburg am Abreisetag in die Hotelhalle kam, sah ich Johan draußen in der Nähe der Taxis an einen Pfosten gelehnt telefonieren. Vielleicht sprach er gerade mit seiner Mutter. Zu dem Zeitpunkt hatten wir noch nicht einmal unsere Adressen ausgetauscht. Alles hätte noch dort in Hamburg enden können. Wenn ich ein paar Minuten früher oder später in die Hotelhalle gekommen wäre, hätten wir uns vielleicht nie wieder gesehen, uns nicht ineinander verliebt, nicht geheiratet, und ich wäre nicht nach Amerika gezogen. Das ist so ein was-wäre-wenn-Gedanke. Was wäre, wenn ich an dem Tag verschlafen hätte? Vielleicht hätte ich einen anderen Mann kennengelernt, einen, der Kinder gewollt hätte. Als Johan mir sagte, dass er keine Kinder wolle, akzeptierte ich das. Ich liebte meinen Beruf, das schien mir genug. Ich hätte darüber nachdenken sollen. Meine Kinder wären jetzt Teenager, wir hätten ein ganz normales Leben. Aber vielleicht gibt es das gar nicht, ein ganz normales Leben.

    Johan bot mir an, das Taxi zum Flughafen mit ihm zu teilen. Während der Fahrt sprach er über seine Mutter. Er erzählte mir, dass sie allein in Berlin lebte. Sie hatte ihre Familie bei der Bombardierung Dresdens verloren und die Familie seines Vaters nie kennengelernt. Sein Vater war 1944 in Machatschkala am Kaspischen Meer gestorben, noch bevor Johan geboren wurde. Es wurde nie geklärt, ob er ertrank oder von Russen erschossen wurde. Sein Kollege gab zu Protokoll, dass er aus einiger Entfernung eine Gruppe betrunkener russischer Soldaten gesehen habe, die grölend den Strand entlangtorkelten und seinen Vater anscheinend einfach zum Spaß erschossen, so wie man aus einiger Entfernung auf eine Blechbüchse ballern würde. Dagegen berichtete ein Ortsansässiger, dass er gesehen habe, wie der Mann, den er als seinen Vater beschrieb, ins Wasser gegangen sei, obwohl es zu der Zeit doch eiskalt gewesen war, und wie er kurz darauf untergegangen und verschwunden sei. Johan sagte, dass seine Mutter dennoch unerschütterlich an ihrer Überzeugung festhielt, dass sein Vater wiederkommen würde, dass er eines Tages heimkäme und einfach dastünde, wenn sie die Tür öffnen würde. Noch Jahrzehnte später stellte sie sich ihn vor, genauso wie sie ihn zuletzt am Bahnhof gesehen hatte, unbestimmt jung, nur etwas mehr von der Sonne verbrannt. Immer wieder sagte sie: von der Sonne verbrannt, weißt du, wie nach unserer unglaublich schönen Reise durch die Wüste Marokkos. Dort wurdest du gezeugt – ja, ich habe Dich im Sand der Sahara empfangen. Nie werde ich diese Nacht vergessen. Für seine Mutter war und blieb sein Vater ein Held, ihr Lawrence von Arabien, der aus der Wüste kommen und eines Tages einfach an ihrer Tür läuten würde. Meine Mutter trug meist Khakis, sagte Johan, und ich glaube, das war es, was sie beide in der Sahara trugen, Khakis. Vielleicht trug sie Khakis, weil sie ja für mich Vater und Mutter sein mußte – und das war sie auch für mich.

    7

    Ich sitze auf unserer Terrasse, dort, wo Johan und ich im Sommer immer zusammen das Abendessen eingenommen haben. Heute möchte ich meine analytische Sitzung hier mit Dir auf der Terrasse halten. Eine späte Möwe fliegt schreiend durch den Nachthimmel. Art Tatum spielt mit Ben Webster zum silbernen Schlag der Zikaden. Wenn ich sie höre, fühle ich mich nicht mehr so allein. Ich habe mir Lachssalat zubereitet, dazu ein Glas Chardonnay eingeschenkt, zwei Kerzen angezündet: ein schöner Anblick, dieser gedeckte Tisch, mit dem ich mir das Gefühl gebe, mit mir selbst auszugehen.

    Sarah rief an und fragte mich, wie es mir geht. Sie will morgen vorbeikommen. Sechs Monate sind vergangen, seit Johan mich verlassen hat – oder denkt er, dass ich ihn verlassen habe? Zwei Tage bevor er erstmals nach Kapstadt reiste, musste ich zu meiner Mutter nach Frankfurt fliegen. Da schickte er mir noch eines seiner kleinen liebevollen Emails: Meine liebe Klara, ich vermisse Dich. Du hast mein Leben so bereichert, es ist schwer, auch nur einen Tag ohne Dich zu sein. Aber in meinen Gedanken bist Du ja immer bei mir. Ich liebe Dich. Johan. Nach meiner Ankunft in Frankfurt sprachen wir noch am Telefon, wir sprachen ja jeden Tag miteinander – und jetzt haben wir schon seit Tagen nicht mehr miteinander gesprochen. Dann reiste er ab. Er flog nach Kapstadt und kam nicht mehr zurück – jedenfalls nicht als der, der er gewesen war …

    Das Licht aus dem Haus beleuchtet die Terrasse wie eine in die Dunkelheit vorgeschobene Landzunge. Wie wäre es, wenn jetzt der Tiger käme? Zuerst würde ich ihn gar nicht bemerken. Ich würde hier sitzen, umgeben von all diesen exotischen Blumen, die sich gerade geöffnet haben, erst jetzt im Spätsommer, hier im Dschungel meines New Yorker Gartens, in dem ich vielleicht zwei Löwen entdecken würde, oder meinen Tiger, der mich durch die aufgefächerten Blätter des Buschwerks beobachten würde. Was tun? Einfach hier sitzen bleiben und bewegungslos ausharren? Der Tiger würde mich ansehen, wie bereit zum Sprung aber auch zögernd, so als ob er ein bißchen verwirrt wäre. Können Tiger verwirrt sein? Ich würde riskieren, von diesem Tiger getötet zu werden. Das wäre nicht angenehm. Ich hätte Angst, nicht vor dem Tod, aber vor dem Schmerz.

    Vor Jahren habe ich in einer Zeitung gelesen, dass eine Frau, die allein durch den Wald joggte, von einem Puma getötet wurde. Leise hatte er sich von hinten an sie herangepirscht. Sie rannte einfach aus Freude an der Bewegung und war natürlich ganz unvorbereitet auf so einen Überfall gewesen. Hatte sie noch realisiert, was ihr geschah? Es heißt, dass Pumas und Tiger auf kluge Weise töten; mit einem Biss brechen sie dem Beutetier den Hals, sodass es gleich tot ist. Wahrscheinlich hat die Natur sie gelehrt, dass es effizienter ist, wenn das Opfer nicht erst noch um sein Leben strampelt. Der Puma zog die Joggerin in die Büsche. Er suchte Deckung während er den Körper sorgfältig zerlegte. Einige Teile verschlang er sofort, den Rest verscharrte er an einem Platz, der ihm als Speisekammer diente. Ein paar Tage später, als er wieder hungrig war, kehrte er dorthin zurück, um das Verbliebene zu verzehren. Sie haben ihm da aufgelauert um ihn zu töten.

    Eigentlich stelle ich mir einen magischen Dialog mit dem Tiger vor. Er würde mich anblicken, und ich würde zurückblicken. Da ich keine Angst hätte, wäre ich ganz ruhig, und darum wäre auch er ganz ruhig. Zu meiner Überraschung würde er sich in einiger Entfernung von mir niederlegen. In dieser Stellung würden wir lange verharren. Wie groß er ist! Ich sehe wie sich die Streifen auf seinem Fell beim Atmen auf und ab bewegen. Er schaut mich an. Denkt er etwas? Ich habe meinen Laptop auf den Knien und schreibe, während ich ihn ansehe. Ich bewege meine Finger beim Schreiben, ich stelle mich nicht tot. Dann habe ich einen komischen Einfall: der Tiger würde gähnen. Und als ob er sich schämte, sein Bedürfnis nach einer gemütlichen Kuschelecke offenbart zu haben, würde er sich erheben, sich umdrehen und weggehen. Und ich würde immer noch hier sitzen und auf die Stelle starren, wo er einen Augenblick zuvor noch gelegen hatte, und wo jetzt nichts mehr ist, nicht einmal ein feuchter Fleck, nicht eine Spur seines scharfen Geruchs, nichts, gar nichts …

    Die Musik ist verklungen. Es ist still geworden auf der Terrasse.

    8

    Übers Wochenende war ich nach Frankfurt geflogen. Meine Mutter war an der Hüfte operiert worden. Sie lag im Bett, eine Fusion auf der einen Seite, die Drainage auf der anderen, und lächelte. Wie fühlst Du Dich? fragte ich sie. Gut, antwortete sie, hast Du schon den Vater gesehen? Ja, wir haben zusammen gegessen. Er wird Dich später besuchen kommen. Die Hand meiner Mutter wanderte über die Bettdecke, so als suche sie etwas. Sie haben mir hier so einen kleinen Apparat gegeben, erklärte sie mir, mit dem ich mir per Knopfdruck eine Portion Morphin verpassen kann; aber ich brauche das nicht, ich kann Schmerzen aushalten. Eine Schwester, die im Hintergrund gearbeitet hatte, schaltete sich ein und erklärte, dass es wichtig sei, das Morphin zu nutzen, damit sich keine Schmerzzyklen bilden könnten, die man, wenn sie sich erst einmal etabliert hätten, kaum noch auflösen könne. Meine Mutter nickte, aber sie würde dem Rat nicht folgen. Sie lässt sich nicht gern von anderen überzeugen. Vor vielen Jahren hat sich in ihr so etwas wie ein seelischer Schmerzzyklus etabliert. Vielleicht geschah das schon ganz früh, damals als ihre Eltern mit ihrer Schwester und ihren zwei großen Brüdern verreisten, während sie, die Vierjährige, wegen ihrer Windpocken allein mit der Großmutter daheim bleiben musste. Wie sie uns immer wieder erzählte, hatte sie lange am Gartenzaun gestanden und den Fortreisenden nachgeschaut. Vielleicht hatte sie zuerst geschaut, ob sie sich umbesinnen, zurückkommen und sie doch noch mitnehmen würden; und nachdem das nicht geschah, hatte sie vielleicht einfach die leere Straße entlanggeschaut, träumerisch und traurig, und sich im Stich gelassen gefühlt.

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