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Becquerelsche Träume
Becquerelsche Träume
Becquerelsche Träume
eBook389 Seiten4 Stunden

Becquerelsche Träume

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Über dieses E-Book

Der verstrahlte Planet Becquerel ist das Ziel der Träume verschiedenster Interessensgruppen.
Für die einen ist er eine unerschöpfliche Quelle an Energie und Rohstoffen.
Manche sehen in ihm ein ideales Testgelände für eine neue Waffe.
Andere sehnen sich nach Rache für einen verlorenen Krieg.
Für den gezeichneten Viktor Steiner aber ist Becquerel lediglich der Ort, an dem seine Albträume wohnen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum31. Jan. 2022
ISBN9783347461895
Becquerelsche Träume
Autor

Joachim Angerer

Joachim Angerer ist österreichischer Science-Fiction-Autor. Sein erstes Werk "Becquerelsche Träume" erschien ursprünglich im September 2017. Weitere Werke des Autors sind: "Die maschinellen Technokraten" (Juli 2020), "Gestaltete Wirklichkeit" (Juli 2021) und "Becquerelsche Ränke" (Oktober 2021).

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    Buchvorschau

    Becquerelsche Träume - Joachim Angerer

    Kapitel 1

    Von der Ferne drang ein Heulen an mein Ohr und rüttelte mich wach.

    »Wir werden angegriffen!«, dröhnte ein Gedanke.

    Ich drehte hektisch meinen Kopf in alle Richtungen.

    Kein Angriff.

    Ich war allein.

    Erleichtert seufzend ließ ich mein Haupt zurück auf das Polster sinken. Der schmutzstarrenden Matratze entströmte zwar ein schwach modriger Geruch, aber ich sog das muffige Aroma dennoch ein - war es doch der Beweis, dass ich mich tatsächlich auf der Erde befand. Viel würde mir dieser Tag nicht bieten, da schien Weiterschlafen noch die beste Option. Tief durchatmend schloss ich die Augen.

    Doch - wie so oft - hegte irgendjemand andere Pläne für mich. Ein zweites Mal drang dieser unangenehme Heulton an mein Ohr. Er stammte nicht von einer Alarmsirene – zumindest darüber herrschte Klarheit. Ob dies die Situation allerdings verbesserte, würde sich noch zeigen müssen …

    Verdrossen hievte ich mich schwerfällig von meinem Lager und schlurfte in Richtung Esstisch. Zum Telefon - dem einzig funktionierenden Elektrogerät in der Wohnung.

    Nun, das entsprach nicht ganz den Tatsachen, denn könnte ich die Stromrechnung begleichen, wären auch die anderen Gerätschaften wieder in Betrieb.

    Aber angesichts der aktuellen Strompreise war ich bei weitem nicht der einzige, der nachts ein paar Kerzen anzündete, wenn er Licht brauchte. Das Telefon dagegen besaß eine eigene Energiequelle. Tief in seinem Inneren ruhte - sorgsam isoliert – ein radioaktiver Kern, dessen Strahlung in Elektrizität umgewandelt wurde.

    Bis die Reserven des zerfallenden Herzens verbraucht wären, würde das Gerät schon längst defekt sein. Oder zumindest völlig veraltet.

    Bevor die Energiekrise die Preise in die Höhe trieb, war für die meisten Menschen beides ein gleichwertiger Kaufgrund. Ich dagegen hätte den Apparat schon längst liebend gern eingetauscht, aber leider gehörte er meinem Arbeitgeber. Und der verlangte permanente Erreichbarkeit.

    Ein Ausschalten war nicht möglich. Nicht einmal versehentlich verlegen ließ sich das Teil – zumindest nicht, ohne dass sein Eigentümer es bemerkte. Irgendein verdammter Sensor schien meine Anwesenheit zu registrieren, denn bis heute erfolgte keine Nachricht während meiner Abwesenheit.

    Nun gut, irgendwie schuldete ich dem Anrufer – sozusagen als Gegenleistung – ein wenig Aufmerksamkeit, denn seine unerwartete Kontaktaufnahme befreite mich aus einem lästigen Traum. Sobald es nichts zu erledigen gab, und Langeweile einsetzte, begannen meine Gedanken in schöner Regelmäßigkeit um längst vergangenes Grauen zu kreisen. Für heute aber reichte es mir mit den Träumereien …

    Murrend griff ich nach dem lästigen Gerät. Kaum näherte sich meine Hand bis auf wenige Zentimeter, aktivierte sich das Telefon. Seine sensible Einstellung registrierte meine ausreichende Nähe zur Entgegennahme des Anrufs.

    »Neuer Auftrag. Entlohnung 150 Millionen. Ferndistanz. Sie haben 10 Minuten zur Entscheidung«, erklärte mir eine sanfte Frauenstimme. Damit endete der Anruf.

    Söldneragenturen besaßen bekanntlich nicht den besten Ruf. Weder im Hinblick auf ihre Mitarbeiter, noch ihre Aufträge. Zumindest Letzteres hoffte die Agentur, durch Einsatz einer solch unschuldig klingenden Sprecherin aufzuwerten.

    150 Millionen klangen allerdings alles andere als … unschuldig. Mit dem Telefonapparat in der Hand trottete ich zu meiner Pritsche und ließ mich wieder auf die Matratze fallen. Es galt jetzt gründlich zu überlegen.

    Die Agentur würde mich nicht zur Annahme des Auftrags zwingen. Es erwies sich zwar als unratsam, mehrere Angebote in Folge zu ignorieren, aber da ich erst vor einer Woche einen Auftrag erledigte, eröffnete sich mir in dieser Hinsicht etwas Spielraum. Sicher, es existierten genügend rationale Gründe, um abzulehnen:

    Einerseits natürlich die Tatsache, dass hohe Prämien zumeist gleichzeitig erheblichen Ärger und/oder Lebensgefahr in Aussicht stellten. Dann war da die Gewissheit, dass das Wörtchen »Ferndistanz« irgendeinen Ort im Nirgendwo andeutete.

    Die Bezahlung, so hoch sie war, überzeugte nicht wirklich. Sicher, ich könnte mit dem Geld meine Stromrechnung zahlen. Ein funktionierender Kühlschrank, der mehr als nur ein improvisiertes Regal war, hätte was.

    Von dem Rest ließen sich meine Mietschulden begleichen, denn ich war mit dieser Rechnung - wie mit so vielen - schon wieder etwas im Rückstand.

    Nur, wer war das nicht in dieser Armensiedlung?

    Wenn der Vermieter mich wegen meiner Schulden rauswarf, müsste er den halben Block mit auf die Straße setzen. Einen solchen Unruheherd würde er nicht riskieren – dafür war mein Rückstand nicht hoch genug.

    Aber selbst wenn es doch so wäre, würde ich dieser Wohnung keine Träne nachweinen. Da lag ich nun auf meiner Pritsche, mit einer Liste von Ablehnungsgründen.

    Ich hob das Telefon und starrte es an. Tja, es stand mir frei »Nein« zu sagen …

    Dennoch steuerte mein Finger zielstrebig auf »Bestätigen« zu.

    Tatsächlich war ich alles andere als »frei«. Die einzige Alternative zu diesem Auftrag bestand in unerträglicher …Langeweile. Mein Bedarf an Schlaf, Albträumen und Nichtstun war inzwischen aber mehr als gedeckt. Wie gefährlich der Auftrag auch sein würde – er verschaffte mir zumindest dringend erforderliche Abwechslung.

    So stimmte ich also zu. Nicht des Geldes wegen, sondern um zu fliehen. Vor einem … Traum.

    Na gut, rationale Gründe klangen vermutlich anders.

    Aber nur als Beweis persönlicher Freiheit abzulehnen, schien mir irgendwie auch nicht vernünftiger. Der Anflug eines Grinsens umspielte meine Mundwinkel, als ich mir das Telefon auf die Brust legte und mit hinter dem Kopf verschränkten Händen zur Decke starrte. Schon so manches Mal hatte mich der Sensenmann knapp verfehlt. Würde es mir wieder gelingen, Gevatter Tod ein Schnippchen zu schlagen?

    Von der Zimmerdecke schweifte mein Blick durch das Zimmer.

    Voraussichtlich würde ich für längere Zeit nicht zurückkehren. Vielleicht überhaupt nicht. Wäre wahrscheinlich sogar besser. Womöglich würde ich am Ende sonst noch anfangen, mich in diesem Loch zuhause zu fühlen.

    Der einzige Ort, an dem mir das in der Vergangenheit tatsächlich zumindest ansatzweise gelang, war ein gewisser fremder Planet …

    Verdammt, da waren sie wieder: Diese elenden Erinnerungen, denen ich endlich entfliehen wollte! Hoffentlich meldete sich die Agentur bald.

    Als verstehe es die Aufforderung, aktivierte sich das Telefon.

    »Wir gratulieren zu Ihrem Auftrag, Herr Steiner. Der Kunde wird in 10 Minuten bei Ihnen sein«, verkündete die viel zu freundliche Stimme.

    Hausbesuch? In 10 Minuten? Dass die Agentur aber auch immer Wert darauf legen musste, sich als möglichst unberechenbar zu erweisen!

    Befürchtete man, dass ich mich quasi in letzter Minute absetze? Wohin denn?

    Manch naiver Möchtegern-Söldner mochte vielleicht kurz vor Beginn einer Mission in Panik geraten.

    Aber derart ahnungslos war ich alter Hase schon lange nicht mehr. Wer sich mit der Agentur einließ, den ließ sie nicht ohne ihren Anteil ziehen. Bei diesem Glücksspiel fuhren nicht alle schlecht – sofern man nicht vergaß, wer die Bank war …

    Der Gedanke, dass mich in wenigen Minuten irgendein reicher Geldsack besuchen würde, besaß etwas Amüsantes. Falls der hier Luxus erwartete, musste er eine herbe Enttäuschung hinnehmen:

    Der Kühlschrank in der Kochnische war leer, und im Schrank gegenüber der Pritsche hing mein letztes sauberes Hemd.

    Nicht, dass ich Grund hätte, mich für den Kunden herauszuputzen. Wer immer es war, würde kaum davon ausgehen, auf einen elegant gekleideten Edelmann zu treffen.

    Aber wem würde ich in wenigen Minuten wohl gegenüberstehen? Einem reichen Pinkel, der mit angewiderter Miene auf der Schwelle verharrte? Einem seiner geleckten Lakaien?

    Letzteres erschien wahrscheinlicher. Sogenannte »feine Herren« ließen sich zwar durchaus häufig mit Söldnern ein, aber nur selten mit ihnen blicken. Man achtete sorgsam auf die sprichwörtlich »weiße Weste« – und meine war weder im übertragenen, noch im wörtlichen Sinne sauber.

    Das Geräusch schwerer Schritte im Treppenhaus drang vom Flur her durch die Tür. Die stampfenden Tritte verrieten mir, dass sie nicht von meinen Nachbarn stammten. Dazu waren sie zu ordentlich, zumindest was Lärm betraf. Ein Blick auf die Uhr des Telefons zeigte, dass die 10 Minuten inzwischen verstrichen waren. Es könnte sich somit um den angekündigten Kunden handeln.

    Allerdings kam auch eine Reihe anderer Möglichkeiten in Betracht: Als Söldner verfügte man über verhältnismäßig wenige Freunde, dafür aber naturgemäß über ein ansehnliches Arsenal an Feinden.

    Die Schrittgeräusche näherten sich. Knapp vor meiner Tür verstummten sie.

    Kurz darauf klopfte es. Ein zurückhaltendes, höfliches Klopfen. Kein energisches Hämmern. Das und der Lärm im Stiegenhaus verrieten schon einiges über meinen Besucher. Ein Attentäter hätte sich nicht durch Krach verraten. Zumindest keiner, der Ahnung von seinem Job hatte. Natürlich gab es eine ausreichend große Anzahl von Schwachköpfen, die diesem Beruf aufgrund einer Mischung aus Gier, Verzweiflung und Selbstüberschätzung nachgingen.

    Mit Sicherheit war die Person vor der Tür kein Geldeintreiber - weder Möchtegern, noch Profi. Beide Vertreter dieser Gattung klopften nicht sanft an, sondern fielen mit der Tür ins Haus. Ihre Devise hieß »Einschüchterung«. Wäre aber seltsam, einen dieser raffgierigen Schläger ausgerechnet vor meiner Tür zu sehen. Jeder von denen mit zumindest minimalem Grips wusste doch, dass hier nichts zu holen war.

    Vorsichtshalber langte ich nach der kleinen Strahlenpistole in dem Halfter unter meinem Hemd. Es gab Söldner, die ihre Waffe offen trugen, um sie notfalls schneller ziehen zu können. Aber mir war dieses Relikt aus der Zeit im Wächterkorps hierfür bislang nicht nützlich genug gewesen. So trug ich es lieber verdeckt. Wie auch meine Albträume … Auf manche Dinge wollte man nicht angesprochen werden, auch wenn man sie ständig mit sich trug.

    Nachdem das Korps seine letzte Niederlage erlitten hatte, und wir der Rückkehr zur Erde entgegenblickten, steckte man jedem von uns eine dieser Strahlenpistolen aus Restbeständen zu.

    Niemand wusste, was uns auf der Erde erwarten würde, aber eine Reihe finsterer Gerüchte machte die Runde.

    »Jeder Zehnte wird gehängt. Damit die anderen Neun nicht auf die Idee kommen über den Krieg zu reden«, raunte einer der Wächter.

    »Schwachsinn«, widersprach ein Zweiter. »Die ersten Neun lassen sie über die Klinge springen. Den Zehnten sperren sie für immer hinter Gitter, damit sie ihn notfalls verhören können.«

    Im Nachhinein erwies sich alles als Blödsinn. Das Wächterkorps wurde zwar offiziell zur verbrecherischen Organisation erklärt, aber dennoch kam keines seiner Mitglieder hinter Gitter - oder an den Galgen.

    Die Sache war mehr als Drohung zu verstehen: Haltet die Klappe und erzählt nichts über das Korps, dann lassen wir euch in Ruhe. An mich zumindest war dieses Angebot verschwendet. Ich hatte ohnehin wenig Lust, über die Vergangenheit zu reden. Die Gedanken reichten mir.

    Ich entsicherte meine Waffe. Außer im Dienst hatte ich noch nie jemanden erschossen. Die Vorstellung, mit dieser Tradition nun womöglich zu brechen, widerte mich an.

    Auf leisen Sohlen schlich ich zur Tür und riskierte einen Blick durch den Spion.

    Verglichen mit dem Anblick im Stiegenhaus schien selbst der Gedanke an einen Geldeintreiber mit einem Mal gar nicht mehr so absurd. Der dort geduldig wartende Dickwanst wirkte weder wie der Bedienstete eines Billiardärs, noch wie ein potentieller Gewalttäter.

    Vor meiner Tür stand ein schwer atmender, korpulenter Mann, der optisch wie ein Mittfünfziger wirkte, auch wenn eine solche Schätzung in Zeiten von Verjüngungstherapien unsicher war. Die Zähne, sichtbar durch den geöffneten und heftig Luft einsaugenden Mund, deuteten jedoch darauf hin, dass ihr Besitzer keinem gesteigerten Schönheitsideal nacheiferte.

    Auf seinem grauen Jackett zeichneten sich dunkle Schweißflecken ab. Die Stufen, nicht gerade wenige – immerhin wohnte ich im obersten, dem 10. Stock – hatten ihn wohl jeglicher Kraft beraubt.

    Grinsend steckte ich die Strahlenpistole wieder ein und öffnete die Tür.

    »Falls Sie gekommen sind, um mich umzubringen, lassen Sie mich vorher zu Ihrer großartigen Tarnung gratulieren.«

    »Bitt-he?«

    Er riss den Mund noch weiter auf, aber ihm fehlte die Luft, um zu antworten. Stattdessen sah er mich halb fragend, halb entgeistert an.

    »Nur ein kleiner Scherz. Sie sehen nicht wie der harte Cowboy aus, den man erwarten würde.«

    Ich trat zurück und wies ihm mit ausgestrecktem Arm den Weg in die Wohnung. Wortlos dankend nickte er, griff schwer atmend in die Innentasche seines Sakkos und reichte mir ein kleines Kärtchen.

    »Vielen … Dank, dass Sie … mich empfangen. Hier … meine Karte.«

    Mit aufgerissenen Augen starrte ich verblüfft auf das Stück Papier in seiner Hand.

    Julius Vasalle – Soldatengewerkschaft

    Soldatengewerkschaft!?

    Schweigend deutete ich zum Tisch mit den beiden Sesseln. Wieder bedankte er sich stumm nickend und stapfte durch den Raum.

    Mit einem Schnaufen, das klang, als steche man einen Reifen ab, ließ er sich auf den Sessel fallen.

    Das Möbelstück protestierte ächzend.

    »Ah, echtes Holz! Eine Seltenheit heutzutage, Herr Steiner.«

    »Hab ihn auf einem Flohmarkt ergattert.«

    Ich setzte mich meinem seltsamen Besucher gegenüber an den Tisch. Als sei sie aus den kostbarsten Materialien, betastete seine linke Hand die Armlehne. Auf seinem Gesicht erschien ein wehmütiges Lächeln.

    »Ja, in Geschäften werden nur noch Kunststoffmöbel angeboten. Das Diktat der Kosteneffizienz.«

    »Also, teuer war er nicht, falls Sie das meinen.«

    Mit einer Hand wies ich auf die kärgliche Einrichtung.

    »Hier ist alles billig. So billig, dass man auch den Strom für den Aufzug abgedreht hat. Aber … «, ich deutete vielsagend auf sein verschwitztes Jackett,» … das haben Sie wohl schon bemerkt.«

    »Ja, durchaus.«

    Aus der Innentasche seines Sakkos zog er umständlich ein Stofftaschentuch hervor und wischte sich Schweißperlen von der Stirn.

    »Ihr Vermieter besticht leider nicht durch Großzügigkeit.«

    »Tja. Er dreht dem Aufzug den Strom ab, dafür zahle ich keine Miete … würde sagen, wir sind quitt.«

    Fein säuberlich faltete er sein Taschentuch zusammen und schob es zurück in die Innentasche, während ich ihn schweigend dabei beobachtete.

    »Sie passen noch weniger in diese Welt als ich.«

    Fragend blickte er mich nur an, als müsse er seinen knappen Atem für Wichtigeres aufsparen.

    »Sie benutzen ein Stofftaschentuch, ließen sich kein Teenagergebiss verpassen, Ihr Anzug entspricht auch nicht mehr dem neuesten Trend - und außerdem verwenden Sie … Visitenkarten.«

    Um die Reaktion meines Gegenübers abzuschätzen, legte ich eine Pause ein. Doch als er mit keinem Muskel zuckte, setzte ich erneut an.

    »Was sind Sie? So etwas wie der letzte Gentleman?«

    Der Kunde schwieg weiterhin, doch sein Gesicht schien aufzuwachen. Auf seiner Stirn bildeten sich einige zusätzliche Falten.

    »Heutzutage glaubt man, alles mit dem Stigma »alt« Belastete ablegen zu müssen«, sagte er schließlich. »Dabei muss doch selbst das neuzeitlichste Gebäude auf einem bewährten Fundament ruhen. Tja, alles hat zunehmend moderner, kostengünstiger und effizienter zu werden. Für dieses oberflächliche Ziel wird das Original geopfert – und jeweils durch ein Zerrbild ersetzt. Und eines Tages müssen wir uns schließlich selbst ersetzen, weil wir als Menschen dann nicht mehr in diese Welt passen.«

    Eine seltsame Traurigkeit schwang in seinen letzten Worten mit.

    »Sie wissen, was Leute wie ich so tun, Vasalle. Philosophieren gehört nicht wirklich dazu.«

    »Natürlich, verzeihen Sie.« Entschuldigend hob er die Hände. »Doch Sie werden feststellen, dass ich tatsächlich gar nicht weit vom Thema abgewichen bin.«

    Jetzt war ich es, der ihn fragend ansah.

    Vasalle fuhr unbeirrt fort: »Nun, was meinen Sie? Wie lange wird es angesichts all der von Maschinen übernommenen Tätigkeiten noch dauern, bis sie den Menschen völlig ersetzen?«

    »Was denn, Sie gehören doch nicht etwa zu denen, die in Angst vor einer Maschinenwelt leben? Dieser Zukunftsalbtraum hat schon eine Menge Staub angesetzt.«

    »Verzeihung, aber Sie wissen nicht, was Sie da reden, Herr Steiner.«

    »Dann sollten wir besser zur Sache kommen. Oder bin ich der bestbezahlte Zuhörer im Sonnensystem?«

    »Nun, ob Sie es glauben oder nicht: Wir sind bereits zur entscheidenden Kernfrage vorgedrungen.«

    Vasalle ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, als verstreiche für ihn die Zeit langsamer.

    »Wie gut kennen Sie sich mit Humandrohnen aus?«

    Erwartungsvoll schaute er mich an.

    »Ist das die Kernfrage?«

    Mein Gegenüber nickte stumm.

    »Ich weiß, wie man sie behandeln muss, damit sie möglichst schnell kaputt gehen.«

    »Gut, wobei ich zuversichtliche Hoffnung hege, dass dies nicht nötig sein wird.« Wie um Spannung zu erzeugen, legte er eine Pause ein, bevor er weitersprach.

    »Es geht darum, Humandrohnen von Menschen zu unterscheiden.«

    »Und das soll Ihnen 150 Millionen wert sein?«

    »Nun, nicht direkt mir. Aber den Herstellern dieser Drohne. Um ehrlich zu sein, hat mich die hohe Summe selbst überrascht. Aber daran erkennt man wohl, wie bitter ernst es denen ist. Die neueste Generation der Humandrohnen soll äußerlich unmöglich von Menschen zu unterscheiden sein.« Vasalle beugte sich vor und fixierte mich eindringlich.

    »Wir brauchen jemanden mit Ihrer Erfahrung. Jemand, der sich mit Humandrohnen in Extremsituationen befand – und daher all ihre Schwächen kennt.«

    Ich glaubte nicht an das Schicksal. Eigentlich glaubte ich an gar nichts. Doch in diesem Moment schien es mir, als würde mich irgendeine Macht furchtbar verarschen und sich dabei totlachen.

    »Wenn ich Sie richtig verstehe, Vasalle, wollen Sie also, dass ich in meiner Erinnerungskiste ein bisschen nach der Zeit im Wächterkorps stöbere, richtig?«

    »Ich weiß, es muss schwer für Sie sein. Aber es ist notwendig.«

    »Gar nichts wissen Sie!«

    »Ob Sie es mir glauben oder nicht. Ich … war auch in der Armee.«

    Der Fettsack? Soldat? Unwillkürlich starrte ich auf seinen beträchtlichen Bauchumfang.

    Scheinbar war die Verpflegung in der Armee doch besser als ihr Ruf. Wahrscheinlich hatte der Dicke nur irgendeinen Bürojob innegehabt. Mitglieder der Fronttruppe sahen anders aus.

    Aber selbst wenn Vasalle tatsächlich ein Ex-Elitesoldat war und sich seine Zusatzpfunde erst später angefuttert hatte, spielte dies keine Rolle.

    »Ja, gut, ich gebe zu, in den letzten Jahren etwas zugenommen zu haben.« Vasalle wiegte verlegen den Kopf. Meine Blicke deutete er richtig, die Gedanken jedoch falsch.

    »Ist mir egal, was Sie einmal waren, Vasalle. Ich war nie einer Ihrer Kameraden. Darauf hat die Armee doch selbst Wert gelegt. Wie heißt es so schön: Wer mit seinem Leben nichts anzufangen weiß, der geht zur Armee …«

    »… Mit wem die Armee nichts anzufangen weiß, der geht zum Wächterkorps«, vervollständigte er meinen Satz und fuhr in eindringlichem Tonfall fort: »Ja, ich kenne dieses Zitat. Es stimmt, man erkennt dem Wächterkorps immer noch nicht den Status einer regulären Armee zu. Es sind schlimme Dinge passiert. Aber, glauben Sie mir, ich will keinesfalls über Sie urteilen. Ich weiß, was man sich über das Wächterkorps erzählt. Aber ich versichere Ihnen: Ich vertrete weder die Ansicht, dass alle Mitglieder Kriegsverbrecher waren, noch die Auffassung, dass alle diesen Dienst freiwillig leisteten.«

    Sein Blick bekam etwas Flehendes. Wie der eines Speichelleckers, der darum bettelte, nicht als solcher enttarnt zu werden.

    »Bitte! Wir brauchen Sie, Herr Steiner.«

    »Warum hat die Soldatengewerkschaft denn solche Angst vor den Dingern? Die Armee bestückt doch schon seit Jahren ein schweres Kriegsgerät nach dem anderen mit Autopiloten. Jetzt gibt es halt zusätzlich diese neuen Humandrohnen. Kann Ihnen doch recht sein, oder? Dank besserer Ausrüstung sterben weniger Ihrer Mitglieder. Mir wäre es jedenfalls lieber gewesen, wenn man uns damals nicht nur Schrott geschickt hätte. Die Roboter waren für uns gefährlicher, als für den Feind.«

    Vasalle seufzte.

    »Sie … verstehen nicht. Nun, ich kann es Ihnen nicht verdenken. Vielleicht ändern Sie Ihre Meinung, wenn ich Ihnen die ganze Geschichte erzähle. Ich konnte meinen Einfluss nutzen, um Details über Ihre Mission zu erfahren. Wenn Sie den Gesamtzusammenhang erfahren, werden Sie mir zustimmen.«

    Oha! Endlich begann das Gespräch interessant zu werden! Die Agentur setzte für gewöhnlich auf absolute Verschwiegenheit. Zumeist erfuhr ich über den Beginn einer Mission nicht mehr als Ort und Zeitpunkt.

    Wurde nunmehr mit dieser Tradition gebrochen? Verdammt ungewöhnlich. Aber bislang schien alles an diesem Auftrag seltsam. Angefangen von der hohen Bezahlung bis hin zum Hausbesuch dieses Kunden - oder was auch immer dieser Typ sonst sein mochte.

    Wahrscheinlich log er mich nur an. Sollte mir recht sein. Die Nachricht der Agentur war echt. Wenn Sie mir 150 Millionen dafür zahlten einen dummen Zuhörer zu spielen, dann störte mich das nicht.

    »Sie haben Recht, der Einsatz von Drohnen für Militärzwecke stellt nichts Neues dar.«

    Der Kunde setzte zu einem erneuten Monolog an. Ergeben blickte ich zur Zimmerdecke.

    »Der Unterschied im Hinblick auf diesen neuen Prototyp einer Humandrohne besteht jedoch darin, dass er Menschen nicht unterstützen, sondern ersetzen soll. Warum wohl, glauben Sie, soll er von Menschen nicht zu unterscheiden sein? Ginge es allein um Einsätze in Kriegsgebieten, könnte man genausogut eine Riesenspinne oder eine andere Monstrosität kreieren. Nein, der Mensch soll ersetzt werden.

    Historisch betrachtet, war es immer das Militär, auf das neue Erfindungen zuerst losgelassen wurden. Die Atomrakete? Militärisch betrachtet völlig wertlos. Keine Einzige kam jemals in einem Krieg zum Einsatz. Aber die Kernwaffen bildeten den ersten Schritt auf dem Weg ins nukleare Zeitalter.

    Mit diesem Prototyp wird es nicht anders sein. Zuerst verschwinden Soldaten. Dann Polizisten. Am Ende befindet sich die gesamte Staatsgewalt in Händen desjenigen, der die Humandrohnen kontrolliert.

    Menschen besitzen einen Willen. Sie können sich Befehlen widersetzen. Roboter nicht. Unternehmen wir nichts, stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Art von Totalitarismus. Einem, aus dem es kein Entrinnen gibt.«

    Mit verschränkten Armen lehnte ich mich im Sessel zurück.

    »Hm, ich soll also die Welt retten, ja? Ist das meine Mission?«

    »Verzeihen Sie, wenn ich ein wenig abgeschweift bin. Aber ich möchte, dass Sie die Dringlichkeit der Mission verstehen. Was den eigentlichen Auftrag betrifft: Sie sollen ein Team durch ein unbevölkertes Gebiet führen, wobei einer Ihrer Teamkollegen die Humandrohne sein wird.

    Offiziell geht es darum, dieses Gebiet auf seine wirtschaftliche Nutzung hin zu untersuchen. Inoffiziell aber soll der Prototyp getestet werden.

    Als Leiter dieser Unternehmung liegt es an Ihnen, die Leistung der Mitglieder in Form eines Berichts zu bewerten. Von Ihrer Bewertung hängt somit das Schicksal des Humandrohnenprojekts ab. Ich bitte Sie daher, die Humandrohne zu identifizieren und dann negativ zu bewerten.«

    »Wenn die - wer auch immer sie sind - einen Roboter testen wollen, wieso schicken sie dann einen Söldner und keinen Ingenieur mit? Oder ziehen wir direkt in irgendeine Schlacht?«

    »Nein, keine Schlacht. Es ist nur so, das entsprechende Gebiet liegt nicht auf der Erde, sondern auf … Becquerel.«

    Ich hörte das letzte Wort nicht, ich fühlte es. Das Schicksal gab sich nicht damit zufrieden mich zu verarschen. Es trat mir in die Eier.

    Vasalle musterte mich besorgt.

    »Wie fühlen Sie sich, Herr Steiner?«, fragte er naiv.

    »Na, wie wohl!«, fuhr ich ihn an. »Warum wollen die mich zurückschicken in dieses verfluchte … Höllenloch?«

    »Schauen Sie auf Ihre Stromrechnung, dann wissen Sie es. Seit der Entdeckung der Radiovoltaik ist die Weltwirtschaft von radioaktiven Erzen abhängig. Auf der Erde gehen die Ressourcen zur Neige. Auf Becquerel werden sie das nie.«

    »Labern Sie mich nicht voll!« Erbost erhob ich die Stimme.

    »Ich weiß, was es in diesem Drecksloch gibt! Der ganze verdammte Planet ist ein einziges Stück Atommüll. Ich war schon einmal dort, um die Versorgung mit Rohstoffen zu sichern. Jeder Eingeborene, der sich einzumischen versuchte, wurde von uns Wächtern abgefackelt. Bis sie dann zurückschlugen. Die Menschheit scheiterte schon einmal an Becquerel. Was ich von Ihnen wissen will ist, wieso dieses eine Mal nicht ausreicht!«

    »Reichtum, Macht, Wirtschaftswachstum … Suchen Sie es sich aus«, antwortete Vasalle ruhig, ohne dabei seine Stimme zu heben.

    »Die Reichen und Mächtigen dieser Welt strichen nie Becquerel von ihrer Liste, sondern nur die Soldaten, die den Preis dafür zahlen mussten.«

    »Verdammt! Zum letzten Mal, Vasalle: Kommen Sie mir nicht mit den Soldaten! Keiner von denen traute sich nach Becquerel. Stattdessen stampfte man unsere kleine „Elitetruppe" aus dem Boden – um sie dann zur verbrecherischen Organisation zu erklären!«

    »Bitte, Herr Steiner«, bat Vasalle. »Ich sagte doch schon: Ich verurteile niemanden.«

    Als brauche er mein Einverständnis, um fortfahren zu dürfen, schaute er mir bittend in die Augen.

    »Ach, zur Hölle! Reden Sie schon weiter, Vasalle.«

    »Danke. Sie haben Recht. Der letzte Krieg ging verloren. Daraufhin verbannten die siegreichen Bewohner Becquerels uns von ihrem Planeten.

    Selbstverständlich riss die Kommunikation zwischen beiden Seiten niemals vollständig ab. Seitens der Erde erfolgten immer wieder zaghafte Verhandlungsversuche. Wie diese sich im Detail darstellten, kann ich nicht sagen.

    Soweit ich informiert bin, spielen Humandrohnen dabei jedoch eine Rolle. Die Minenbetreiber weigern sich, ungeschützt nach Becquerel zu reisen. Dadurch wären sie den Eingeborenen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

    Die wiederum weigern sich, bewaffnete Menschen auf ihrem Planeten zu akzeptieren.

    Die Lösung: Als Wächter eingesetzte Humandrohnen.

    Mit einigen wenigen Robotern könnten sich die Eingeborenen abfinden. So hat man es mir jedenfalls erzählt. Zur besseren Kontrolle würden auch zumindest kurzfristig ein paar Menschen auf Becquerel stationiert werden. Scheinbar wenden die Eingeborenen dagegen nichts ein. Aber all diese Pläne setzen voraus, dass der Prototyp seinen Anforderungen gerecht wird.

    Somit fiel die Wahl auf Sie, Herr Steiner: Sie besitzen die notwendigen Ortskenntnisse und haben während des Kriegs Erfahrungen mit den damaligen Humandrohnen gesammelt. Verstehen Sie die Sachlage jetzt besser?«

    Er pausierte.

    Ich verstand sogar verdammt gut. Im Gegensatz zu Vasalle.

    »Da Sie wissen, dass ich dort war, müssten Sie auch wissen, dass ich nicht unbedingt dorthin zurückkehren will.«

    »Ja.« Vasalles Miene nahm einen Anflug vorgeblicher Traurigkeit an. »Ja, ich weiß, wie Sie sich bei dieser Aussicht fühlen müssen. Aber es gibt einen Aspekt der Sache, der Sie vielleicht motiviert: Entlarven und kritisieren Sie die Humandrohne, wirft dies kein gutes Licht auf das Projekt. Vermutlich wird man es dann sogar streichen.«

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