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Die maschinellen Technokraten
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eBook470 Seiten5 Stunden

Die maschinellen Technokraten

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Über dieses E-Book

Die Welt ist effizient wie nie. Jeder Mensch trägt von Geburt an ein Ino-Implantat in seinem Kopf. Wozu früher Handarbeit notwendig war, reicht inzwischen ein bloßer Gedanke. Der ehemalige Polizist Siegfried Tegethoff ist einer der letzten, der den Rückzug menschlicher Arbeit noch beklagt. Da taucht ein Mann auf, den es nicht mehr geben dürfte. Ausgestattet mit den Worten alter Meister und einer Brutalität, wie aus längst vergessenen Zeiten, erklärt er der Welt den Krieg.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Dez. 2022
ISBN9783347521544
Die maschinellen Technokraten
Autor

Joachim Angerer

Joachim Angerer ist österreichischer Science-Fiction-Autor. Sein erstes Werk "Becquerelsche Träume" erschien ursprünglich im September 2017. Weitere Werke des Autors sind: "Die maschinellen Technokraten" (Juli 2020), "Gestaltete Wirklichkeit" (Juli 2021) und "Becquerelsche Ränke" (Oktober 2021).

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    Buchvorschau

    Die maschinellen Technokraten - Joachim Angerer

    Kapitel 1

    »Ich wusste gar nicht, dass solche Dinger überhaupt noch verwendet werden.«

    Juliettes Stimme klang ehrlich erstaunt, als sie mit erhobenen Augenbrauen auf das antiquierte Handy starrte. An derartige Reaktionen gewöhnt, zuckte Siegfried mit den Schultern und fuhr sich durch das ergraute Haar.

    »Tja, ich bin da wohl etwas … altmodisch.«

    Ein funktionierendes Mobiltelefon bot inzwischen tatsächlich einen äußerst seltenen Anblick. Wie viele dieser Exemplare existierten heute wohl noch – außerhalb von Museen?

    Auf dem Revier benutzte nur noch Siegfried eines dieser Geräte. Gemäß der geltenden Vorschrift hatten seine Kollegen ihre nicht mehr zeitgemäßen Diensthandys längst abgegeben – sofern sie zuvor überhaupt mit ihnen ausgestattet worden waren. Laut allgemeiner Dienstvorschrift hätte auch er sein Gerät gar nicht mehr besitzen dürfen. Doch ab einer gewissen Anzahl abgeleisteter Dienstjahre genoss man eben den Vorteil einer stillschweigenden Toleranz im Hinblick auf kleinere Beugungen der Regeln. Nur fraglich, ob dieser Sonderstatus als Privileg oder Brandmarkung verstanden werden sollte ...

    Nun, ab dem heutigen Tag erübrigte sich diese Frage ohnehin: Keine Nachschärfung der Verhaltensregeln, sondern allein Siegfrieds Dienstalter veranlasste ihn, sich von seinem liebgewonnenen Mobiltelefon zu trennen.

    Mit wehmütigem Blick sah er zu, wie Juliette es auf Nimmerwiedersehen in einer Schachtel verstaute. Warum nur wurde er das Gefühl nicht los, das Ende einer Ära zu erleben? Der Gedanke entlockte ihm einen Seufzer.

    »Was hast du?« Juliette klang irritiert.

    »Ach … nichts«, winkte Siegfried ab. »Ich habe jetzt alle meine dienstlichen Gegenstände abgeliefert, glaube ich zumindest. Oder fehlt noch etwas?«

    Für einen Augenblick schienen Juliettes Augen wie abwesend in die Ferne zu wandern. »Nein, alles erledigt«, erklärte sie dann. »Der Rest läuft über I know everything. Sobald du das Gebäude verlässt, wird deine Datenbank entsprechend aktualisiert.«

    I know everything lautete der Slogan, unter dem vor Jahrzehnten die ersten »Interaktiven-Neuronalen-Omnischnittstellen«, - kurz »I-N-O-Implantate«, oder einfach »Ino« – angepriesen wurden.

    I know everything.

    I know everywhere.

    I know everytime.

    Dieser Werbetext aus seiner Kindheit war Siegfried gut in Erinnerung. Man wurde zu jener Zeit derart permanent mit dieser Werbung penetriert, dass man sie nie wieder vergaß. Es gab buchstäblich kein Entrinnen: Weder innerhalb eines Gebäudes – wo nahezu an jeder Wand ein für Ino werbender Bildschirm prangte – noch auf den Straßen, wo im Abstand nur weniger Meter jeweils ein anpreisendes Werbebanner lauerte.

    Heute dagegen suchte man nach Plakaten wie Bildschirmen gleichermaßen vergebens. Ino benötigte seit Jahrzehnten keine Werbung mehr. Siegfried fragte sich, ob unter den damaligen Organisatoren der Marketingkampagne Klarheit darüber herrschte, dass die Technologie, der sie da zum Durchbruch verhalfen, nur kurze Zeit später sämtliche vormals gängigen Werbemittel verdrängen würde. Unterschätzten sie womöglich die Konsequenzen ihres eigenen Erfolgs? Oder fanden sie sich mit der Unaufhaltbarkeit des Fortschritts ab? Vielleicht erkannten die Marketingexperten damals nur die Zeichen der Zeit – und wollten ein letztes Mal kräftig abkassieren.

    »I know everything, hm? Schon seit Kindertagen habe ich diesen Satz nicht mehr gehört«, merkte Siegfried an. »Heute schwimmt man doch mit Ino im Datenstrom.«

    »Schwimmen im Datenstrom? Das sagt man noch weit länger nicht mehr.« Juliette unterdrückte ein Kichern. »Inoline heißt es heute. Ich bin Inoline, nicht: ich schwimme im Datenstrom.«

    »Ja, schon gut, ich bin eben alt«, winkte Siegfried ab. »Aber ich bleibe trotzdem bei Datenstrom.«

    »Zugegeben, diese antiquierte Wortwahl hat irgendwie … Charme … «, sinnierte Juliette mit treuherzigem Augenaufschlag.

    »Danke.« Siegfried nickte schwach lächelnd. »Du bist zu jung, um altmodisch wirken zu dürfen.«

    »Wieso eigentlich altmodisch?«, erboste sich Juliette. »Etwa nur, weil du Begriffe benutzt, die heute kaum noch jemand kennt? Oder weil du weißt, wie man ein Telefon benutzt? Wer, außer dir, kann mit solch einem Ding überhaupt noch umgehen? Ich würde es nicht als altmodisch bezeichnen, etwas zu können, wozu die Mehrheit gar nicht mehr imstande ist.«

    »Tja, ist wohl alles eine Frage der Perspektive.« Resigniert zuckte Siegfried mit den Schultern.

    Juliette musterte ihn halb tadelnd, halb treuherzig. »Kaffee?«, erkundigte sie sich, als sei die Angelegenheit damit beendet.

    »Ja, gerne«, log Siegfried, obwohl seine Kollegin im Vorfeld dafür gesorgt hatte, dass sein täglicher Koffeinbedarf mehr als gestillt war. Fast jedem, der sich mit ihr unterhielt, bot sie obligatorisch Kaffee an. Aus verständlichen Gründen erfolgte dies eher aus Langeweile, denn aus Höflichkeit, weil Gespräche von Angesicht zu Angesicht selbst unter Kollegen nur selten stattfanden. Dank Ino setzten die meisten Menschen ihre Münder im Wesentlichen nur noch zum Essen und Atmen ein. Auch in dieser Beziehung erwies sich Siegfried als eine Art ewig Gestriger. Aber das war ihm nur recht. Eine Überdosis Koffein konnte als kleiner Preis einer – zumindest in seinen Augen – vernünftigen Kommunikationsform gelten. Selbst wenn diese nur mit einer Kollegin erfolgte.

    »Bitte sehr, der Herr«, wisperte Juliette in gespielt devotem Tonfall, reichte ihm eine Tasse und setzte sich hinter ihren Schreibtisch. Mit einer einladenden Handbewegung bat sie Siegfried, ebenfalls Platz zu nehmen.

    »Tja, es ist die reine Ironie«, murmelte Siegfried, ließ sich auf den vor dem Schreibtisch platzierten Stuhl sinken und nippte an seinem Kaffee. »Frühere Generationen von Sekretärinnen empfanden das Aufbrühen von Kaffee für Kollegen als entwürdigend.«

    »Ach, wirklich?« Mit großen Augen starrte Juliette ihn an. »War Ino damals bereits so weit entwickelt wie heute?«

    Sich rückerinnernd wiegte Siegfried den Kopf.

    »Es gab zumindest weniger Anwendungsmöglichkeiten. Damals sprachen die Menschen einfach noch mehr miteinander.« Nachdenklich kratzte er sich am Kopf. »Sagt man heute noch Ohrenstimme?«

    »Ja.« Juliette lächelte. »Ohren- und Inostimme. Wenn man das zweite meint, kann man es auch Inotransfer nennen. Für Ohrenstimme fällt mir allerdings kein zweiter Ausdruck ein ...« Mit schräggelegtem Kopf legte sie eine kurze Pause ein, als denke sie angestrengt nach. »Vielleicht stirbt dieses Wort auch bald aus. Hast du schon von Inodive gehört?« Siegfried verneinte.

    »Ino übernimmt den gesamten Körper, also nicht nur die Stimme, sondern auch die Gesten. Man muss sich also nur noch auf die eigenen Gedanken konzentrieren …«

    »Bitte! Hör lieber auf«, stöhnte Siegfried. »Ich komme ja sowieso schon nicht mehr mit. Zu meiner Zeit schwamm man nur im Datenstrom. Jetzt taucht man also schon, als ob ...« Unvermittelt unterbrach er sich. Wieder hatte er den Begriff Datenstrom benutzt! Egal, mit dieser Gewohnheit würde er nicht mehr brechen.

    »Bitte, sprich doch weiter«, drängte Juliette, beugte sich vor und stützte ihre Ellbogen auf die Tischplatte. »Wie war es denn damals?«

    »Ach, naja, die Inoimplantate selbst unterschieden sich schon damals nicht wirklich von den heutigen. Sie wären auch schwer zu aktualisieren gewesen.« Er tippte sich an den Hinterkopf. »Allerdings gab es noch Leute, die keines trugen.«

    Nachdenklich legte Juliette die Stirn in Falten.

    »Ah, meinst Du den alten Pirow?«

    »Was, du kanntest ihn?«

    Erstaunt hob Siegfried die Augenbrauen, denn Fjodor Pirow war seit vielen Jahren tot – und vor seinem Ableben, schon seit noch längerem Zeitraum pensioniert! Neugierig musterten seine braunen Augen Juliette.

    Faltenfreies Gesicht, langes und dichtes Haar, glatte Haut an ihren Händen. Kurzum: Sie wirkte viel zu jung, um Fjodor gekannt zu haben.

    Sicher, unter Einsatz entsprechender monetärer Mittel ließ sich heutzutage jedes Alter simulieren – zumindest optisch. Doch reihte Siegfried Juliette nicht in diese Kategorie. Allein schon aus finanziellen Gründen, denn eine Sekretärin wurde nicht sonderlich üppig entlohnt.

    Die junge Frau registrierte Siegfrieds prüfenden Blick, lehnte sich zurück und grinste.

    »Nein, wo denkst Du hin! So alt bin ich nicht«, erklärte sie vorgeblich empört. »Ich habe nur Geschichten über ihn gehört. Pirow gilt irgendwie ein wenig als … Legende. Seltsamerweise findet man mit Ino nur wenig über ihn.«

    »Ja, kein Wunder. Er traute dieser Technik nicht recht.«

    »Stimmt es, dass er sogar noch richtiger Handwerker war?«

    »Naja, wenn Du das so nennen willst.«

    Siegfried faltete die Hände über seinem leichten Bauchansatz und schmunzelte. »Richtiges Handwerk.« Der Ausdruck hatte etwas Amüsantes. Was Fjodor wohl dazu gemeint hätte?

    »Habe ich was Falsches gesagt?«, erkundigte sich Juliette aufgrund seiner belustigten Miene ein wenig pikiert.

    »Nein, nein! Du weißt doch, im Alter schwelgt man einfach gerne in Erinnerungen.«

    »Also los, erzähl schon!«

    Siegfried nickte bedächtig und stellte seine Tasse ab. »Fjodor führte zuhause eine kleine Holzwerkstatt. Eine, in der man noch selbst Hand anlegen musste. Wenn er mich manchmal zu sich einlud, zeigte er mir, wie man Holz schnitzt. Oder vielmehr, wie die Leute früher Holz geschnitzt haben, als es noch Tischler gab.«

    Juliette blinzelte irritiert.

    »Gab es zu Pirows Zeiten etwa noch keine Roboter?«

    »Doch, doch«, versicherte Siegfried. »Auch damals wurden bereits alle Möbel maschinell hergestellt. Der einzig wirkliche Unterschied zu heute besteht darin, dass Maschinen früher nicht von anderen Maschinen, sondern von Menschen bedient wurden.«

    »Aber wieso betrieb Pirow dann diese Werkstatt?«

    »Er nannte es sein Hobby.«

    »Hobby?« Einen Moment lang blickte Juliette ihn ratlos an und wies dann mit ihrem Zeigefinger an den Hinterkopf.

    »Verstehe ich nicht. Wenn man Zerstreuung sucht, findet man sie doch … hier.«

    »Ja, schon. Aber selbst Hand anzulegen, ist einfach etwas … anderes.«

    In Siegfrieds Bewusstsein stieg die Erinnerung daran auf, wie er vor Jahren – nach Fjodors Tod – versucht hatte, seine Besuche in dessen Werkstatt mittels Ino zu rekonstruieren: Die Feile glich dabei eher einem überdimensionierten Skalpell, und die Werkbank präsentierte sich aus Edelstahl.

    Obwohl ihn das recht seltsame Resultat eher erheiterte als verschreckte, nahm er von der Wiederholung derartiger Experimente Abstand. Was sollte auch anderes dabei herauskommen als ein konfuses Zerrbild?

    Sicher, Ino griff natürlich jeweils auf den eigenen Gedächtnisspeicher zurück. Doch erwiesen sich alte Erinnerungen in der Regel als lückenhaft und mussten durch den Datenstrom ergänzend aufgefüllt werden.

    Und so vertrat der damals zuständige Algorithmus die Ansicht, die in den Erinnerungen Siegfrieds fehlenden Werkstattdetails seien korrekterweise durch jene eines Operationssaals zu ersetzen.

    »Echte körperliche Betätigung lässt sich nicht so einfach simulieren«, fasste Siegfried sein Erlebnis zusammen.

    »Du hast es schon lange nicht mehr ausprobiert, richtig?«, bohrte Juliette nach.

    »Nein. Wozu auch?«

    »Die Technik hat sich wirklich stark weiterentwickelt, Siegfried. Viele verbringen beispielsweise ihren Urlaub heutzutage nur noch mit Inomagine. «

    Als Siegfried seine Kollegin lediglich schweigend ansah, fühlte sie sich zu einer näheren Erläuterung aufgefordert.

    »So nennt man die Inopt oder Inoanwendung inzwischen. Man stellt sich den gewünschten Urlaubsort einfach nur vor, und der Datenstrom bringt einen dorthin.«

    Juliette dehnte die Worte Inoanwendung und Datenstrom dermaßen, dass man es fast als Geringschätzung der intellektuellen Fähigkeiten ihres Gegenübers hätte auffassen können. Siegfried wusste aber, dass sie es nicht böse meinte. Nachdenklich blickte er auf seine Hände.

    Auf den Handflächen fanden sich als letztes Überbleibsel seiner handwerklichen Betätigung noch schwach ausgeprägte Narben. Nach Fjodors Tod, damals war Siegfried noch jung und hatte keine Geheimratsecken, veräußerten die Erben zügig sein Haus, sodass Siegfried nun schon seit Jahren kein Werkzeug mehr in Händen gehalten hatte. Und doch erinnerte sich seine Haut. Zumindest dies ließ sich nicht simulieren, oder? Wenn sogar Urlaubsreisen nun der Vergangenheit angehörten – dann Werkzeuge wohl erst recht. Wie eben auch sein Telefon. Gedankenversunken seufzte er leise.

    »Siegfried? Geht es dir nicht gut?«, erkundigte sich Juliette mit besorgtem Gesichtsausdruck.

    »Nein, nein.« Tief durchatmend lehnte er sich zurück und winkte ab. »Mir wurde gerade nur bewusst, dass ich wohl das Ende einer Ära miterlebt habe.«

    Das Ende einer weiteren Ära, fügte er gedanklich hinzu und lachte gedämpft kurz auf.

    »Wird wohl wirklich Zeit, dass ich in Pension gehe.«

    Prüfend musterte Juliette ihn.

    »Hast du schon Pläne?«

    Jemand klopfte in diesem Moment an der Tür und enthob Siegfried einer Antwort. Überrascht wandte er sich um. Durch die halbgeöffnete Tür lugte seine Kollegin Maja in den Raum.

    »Hi, Juliette! Hey, da steckst du also, Siegfried.« Sie klang halb erfreut, halb verärgert. »Wieso bist du nicht rangegangen?«

    Verlegen tippte sich Siegfried an den Hinterkopf.

    »Ach verflixt, Inotransfer. Tut mir leid! Aber jetzt, da ich ja mehr als genug Zeit haben werde, sollte ich mich wohl mal eingehender damit beschäftigen.«

    Maja trat ein und schloss die Tür hinter sich.

    »Meine Eltern stammen auch aus der Omega-Generation. Sie sind fast besser Inoline als ich.«

    Ihre Stimme war so sanft, dass man die unterschwellige Kritik kaum wahrnahm.

    »Tja, die Omegageneration«, murmelte Siegfried.

    Auch dieser Begriff würde wohl bald verschwinden. Er bezeichnete die letzten Menschen, die noch ohne Inoimplantat das Licht der Welt erblickten.

    Der entsprechende medizinische Eingriff musste an einem noch nicht fertig entwickelten Gehirn durchgeführt werden. In Siegfrieds Kindheit war das Tragen eines Implantats zwar bereits verpflichtend, der dazu notwendige Eingriff jedoch nicht in erforderlichem Maße ausgereift. Die Operation konnte noch nicht an Ungeborenen durchgeführt werden. Daher erhielt Siegfried sein Inoimplantat erst im fortgeschrittenen Kindesalter.

    Für die Vertreter seiner Generation blieben ihre Implantate in der Regel zeitlebens Fremdkörper. Er selbst musste es zur Nutzung jeweils bewusst aktivieren – wie eine unsichtbare Armbanduhr, die dem Träger die Uhrzeit nur verriet, wenn er einen gezielten Blick auf sie warf.

    Maja dagegen betrachtete ihr Inoimplantat nicht weniger ihrem Körper zugehörig als Arme oder Beine. Dementsprechend schwer fiel es ihr, Verständnis für die gänzlich andere Situation ihres wesentlich älteren Kollegen aufzubringen. Dankbar, dass sie es dennoch versuchte, schaute Siegfried von seinem Sitzplatz auf und suchte ihren Blick.

    Ihre Augen wirkten seltsam starr, gleichsam als befände sie sich geistig an einem anderen Ort.

    Menschen wie Maja beherrschten Ino buchstäblich blind. Um einen fernen Ort zu bereisen, reichte ein einziger Gedanke. Ein Weiterer brachte sie wunschgemäß zurück.

    In Majas scheinbar leerem Blick lag etwas Forderndes, das Siegfried abermals seufzen ließ. Heute, an seinem letzten Arbeitstag könnte sie doch wirklich ein wenig nachsichtiger mit ihm sein! Nun, zugegebenermaßen war er in wichtigen Lektionen ihr gegenüber auch stets unnachgiebig geblieben. Jetzt avancierte seine Schülerin also zur Lehrerin. Siegfried zuckte ergeben mit den Schultern. Im nächsten Augenblick rollte er mit den Augen, wie er es immer tat, wenn er in den Strom stieg.

    »Na also! Ist doch gar nicht so schwer«, tönte Majas Stimme in seinem Kopf.

    »Für dich vielleicht«, brummte Siegfried.

    »Schon gut. Ich kenne deine Bedenken«, deutete Maja seine Reaktion richtig. »Doch die Technik ist wirklich praktisch. Leute kommunizieren miteinander fast nur noch auf diese Weise. Die Gefahr, dass jemand mithört, ist sehr gering.«

    Siegfried bezweifelte das. Theoretisch konnte jedes kabellose Signal abgefangen werden. Wahrscheinlich war die Verschlüsselung des Inotransfers längst geknackt. Man gab es nur nicht zu. Schließlich würde die Behebung einer solch gravierenden Sicherheitslücke einen gewaltigen Aufwand nach sich ziehen. Maja kicherte angesichts seiner Überlegungen.

    »Du meinst also, in ein paar Jahren müssen alle mit einem Kabel am Hinterkopf durch die Gegend laufen?«

    Siegfried murrte. »Würdest du bitte nicht meine Gedanken lesen?«

    »Sorry, aber du hast sie mitgeschickt. Man kann sortieren, was man teilen möchte, und was nicht. Du weißt doch, dass man Gedanken nicht einfach so lesen kann.«

    »Schätze, ich bin wohl auch hierfür zu alt.«

    »Ach was! Meine Ausreden hast du auch nie gelten lassen. Erinnerst du dich noch, wie ich mich anfangs bei den Leibesübungen angestellt habe? Dank deiner Hartnäckigkeit ist dann doch eine ziemlich fitte Polizistin aus mir geworden.«

    Er versuchte, sich Maja bildlich vorzustellen. Mit Ino ließen sich mühelos Bilder ins Bewusstsein projizieren – sofern man wusste wie. Für Siegfried aber bedeutete schon der Austausch von Wörtern per Ino eine Qual. Da benutzte er lieber sein Gedächtnis – wohlgemerkt das echte Gedächtnis.

    »Schau, hier hast du ein aktuelles Bild von mir.«

    Maja in Sportkleidung erschien plötzlich vor seinem geistigen Auge.

    »Ich habe wieder meine Gedanken mitgeschickt, nicht wahr?«

    Majas Bild lächelte gutmütig.

    Siegfried betrachtete Majas inzwischen kräftige Schultern. Augenscheinlich hatte sie seine Anweisungen tatsächlich artig befolgt.

    Auf körperliche Fitness wurde in der allgemeinen Dienstvorschrift inzwischen nur wenig Wert gelegt. Dank Einsatz moderner Technik erwiesen sich Außeneinsätze nur selten als erforderlich. Kleinkriminelle ergaben sich zumeist freiwillig, sobald sie von der Polizei dazu aufgefordert wurden. Geriet man in den Kreis der Verdächtigen, erwies sich Untertauchen als unmöglich, da sich jedes Inoimplantat anhand seiner Signatur mühelos orten ließ. Nach der Identifizierung eines Täters bestimmte man seinen aktuellen Aufenthalt einfach vom Büro aus. Natürlich hielten selbst die extrem geringen Erfolgssausichten nicht jeden von Gesetzesbrüchen ab, aber die Aufklärungsrate lag konstant bei 100%.

    »Ja, Du bist wirklich gut in Form, Maja«, lobte Siegfried.

    »Danke. Ich habe deinen Rat übrigens an meinen Lehrling weitergegeben.«

    »Oh, stimmt ja, inzwischen bist du selbst Ausbilderin! Wie macht er sich?«

    »Gut. Ist sehr diszipliniert und ehrgeizig.«

    Nur mit Mühe gelang es Siegfried, einen zynischen Kommentar zurückzuhalten. Can mochte zwar ehrgeizig sein, aber nach Ansicht Siegfrieds mangelte es diesem Anwärter entschieden an anderen wünschenswerten Qualitäten.

    Unmut regte sich in ihm, als er sich unwillkürlich an sein erstes Zusammentreffen mit diesem jungen Kollegen erinnerte.

    In bester Absicht streckte er ihm damals zur Begrüßung freundlich die Hand entgegen – und erntete eine Belehrung: Händeschütteln sei heutzutage nicht mehr üblich. Man nicke sich stattdessen nur kurz zu.

    Ob es inzwischen ebenfalls unüblich sei, Dienstälteren mit Respekt zu begegnen, lautete Siegfrieds schroffe Antwort.

    Zeitgeist hin oder her! Siegfrieds Auffassung nach schuldete ein Neuling seinen Kollegen ein gewisses Maß an Höflichkeit – und dieser Grundsatz durfte wohl als zeitlos betrachtet werden.

    Majas Lehrling aber entschuldigte sich nach der Zurechtweisung nicht, sondern starrte Siegfried zunächst nur stumm an.

    »Fürchte, wir haben uns auf dem falschen Fuß getroffen«, kam ihm schlussendlich ohne die geringste Spur Einsicht oder Bedauern über die Lippen.

    »Ich weiß, du und Can habt da so eure … Differenzen«, meldete sich Majas Stimme. Siegfried schrak zusammen und räusperte sich.

    »Diesmal habe ich meine Gedanken aber nicht mitgesendet, oder?«

    »Nein. War nicht notwendig.«

    »Nun … gut. Ich muss ja nicht mit ihm auskommen. Du bist seine Ausbilderin. Hoffe nur, er kostet dich nicht zu viele Nerven.«

    »Hast du für heute schon alles Notwendige erledigt?«, wechselte Maja das Thema.

    »Jawohl, habe alle meine dienstlichen Sachen abgegeben.«

    »Okay, kommst du dann in die Küche?«

    »Muss nur noch kurz meinen Schreibtisch überprüfen.«

    »Schön. Bis gleich.«

    Siegfried verließ Ino und blinzelte. Nach Verlassen des Stroms ließ seine Sehschärfe zunächst immer zu wünschen übrig, obwohl er bislang im Alltag noch keine Brille benötigte.

    Majas abwesender Blick bewies, dass sie weiterhin Inoline blieb. Mit ausdrucksloser Miene winkte sie Juliette verabschiedend zu und verließ das Büro. Siegfried erhob sich, nickte Juliette zu und verharrte kopfschüttelnd im Türrahmen, während er Maja nachblickte.

    Ino beinhaltete ein schier endloses Repertoire von Anwendungsmöglichkeiten. Eine davon bestand in einer Art interaktivem Navigationssystem, durch das sich der Benutzer durch den Datenstrom wortwörtlich leiten lassen konnte, solange sich seine Umgebung nicht veränderte. Siegfried schien das zu riskant, daher verließ er sich lieber auf seine Augen. Maja hingegen schien diese Bedenken nicht zu teilen. Als sei dies die natürlichste Art der Fortbewegung, schlenderte sie lässig, wenngleich leeren Blickes, den Gang entlang.

    Was, so ging Siegfried durch den Kopf, wenn sich unvorhergesehen plötzlich ein Hindernis im Flur befand? Das Navigationssystem von Ino aktualisierte sich gewiss nicht schnell genug, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

    Während er zu seinem Schreibtisch stapfte, spähte Siegfried prüfend den Korridor entlang. Im Zeitraffer ließ er Erinnerungseindrücke des Revierflures aus den letzten Jahren in seinem Kopf erscheinen. Nein, tatsächlich! Hier hatte es in all der Zeit keine Veränderungen gegeben.

    Erstaunt hob er eine Augenbraue. Nicht einmal ein neues Bild an der Wand! Scheinbar bildete dieser Gang die einzig stabile Konstante auf der Welt. Alles andere veränderte sich und verdrängte seine Vorgänger, so wie Majas Lehrling nun Siegfried ablöste. Sicher, rein technisch betrachtet rückte ja Maja – allerdings bugsiert durch Can – in der Hierarchie eine Stufe höher. Sie würde bald Siegfrieds Posten übernehmen. Dieser Ablauf entsprach somit völlig dem normalen Lauf der Dinge.

    Und doch erfüllte ihn der Gedanke mit Unbehagen, dass ein ungehobelter Schnösel wie dieser Can eines Tages seine Aufgabe übernehmen würde. Siegfried, nun alter und ausgedienter Polizist, versuchte diese unangenehme Anwandlung von Negativität abzuschütteln.

    »Freuen sollte ich mich«, murmelte er sich leise zu, »jetzt habe ich endlich Zeit. Nur für mich. Hab mir vorgenommen, mich intensiver mit dieser neuartigen Realität von Ino zu beschäftigen – stattdessen stehe ich da und blicke melancholisch zurück.«

    Siegfried schmunzelte ob seiner eigenen Worte. Es stimmte: Vergangenem nachzutrauern war nicht weniger töricht, als es zu verleugnen. Es war an der Zeit, stattdessen an die Zukunft zu denken!

    In seinem Büro trat er hinter den Schreibtisch, griff in die oberste Lade und holte einen hölzernen Würfel hervor. Gedankenverloren drehte er das Schnitzwerk in der Hand.

    Das Ding hatte ihn dereinst einige blutige Blasen gekostet. Unwillkürlich wanderte Siegfrieds Blick zu dem Abfallkorb neben seinem Schreibtisch. Dieser Würfel verkörperte einen weiteren Teil jener Vergangenheit, mit der er jetzt abzuschließen gedachte.

    Nachdenklich hob er das Holzstück vor sein Gesicht und betrachtete es aus der Nähe. Wegwerfen? Eigentlich zu schade. Er könnte es verschenken. Möglicherweise würde sich Juliette darüber freuen. Zumindest wäre sie erstaunt. Wenn sein altes Diensthandy sie schon derart entzückte …

    Nein!, entschied er entschlossen und schob den Würfel in seine Jackentasche. Mit diesem Holzteil verbanden sich zu viele positive Erinnerungen. Außerdem symbolisierte es eine Art letztes Andenken an Fjodor. Ja, er musste versuchen mit der Zeit zu gehen. Aber deshalb die Vergangenheit gleich einer alten Haut radikal abstreifen? Nein!

    Ein letztes Mal ließ Siegfried einen prüfenden Blick über seinen Schreibtisch gleiten. Nun, da alle Habseligkeiten von ihm entfernt waren, spiegelten sich die Lichtreflexe der Deckenlampe auf der Schreibfläche. Die Putzroboter leisteten ganze Arbeit.

    Nicht, dass die Platte jemals sonderlich belegt gewesen wäre. Heutzutage hielt sich ja der Bedarf an Büromaterialien in äußerst engen Grenzen. Auf Fjodors Schreibtisch thronten damals noch Bildschirm und Tastatur. Nicht länger notwendig: Siegfrieds Computer präsentierte sich extrem reduziert als kleiner Kasten, dort neben dem Abfallkübel. Ino ermöglichte die Eingabe von Befehlen mittels Gedanken. Statt mit einem Ein- oder Ausgabegerät, verband sich der Rechner direkt mit dem Gehirn des Anwenders. Alles, was der Computer an Bildern oder Text generierte, wurde hinter die Netzhaut projiziert.

    Nachdenklich starrte Siegfried das annähernd quadratische Kästchen an. Wie lange würde es dauern, bis es ebenfalls wegrationalisiert wurde?

    Computer waren Relikte aus einer Zeit, als der Datenstrom noch keine ausreichende Informationsdichte besaß. Inzwischen aber war Ino allwissend. Es gab einige wenige Inopts, die die Ressourcen eines normalen Zugriffsrechtes überstiegen. Zwar schwamm jeder im Strom, doch durchaus nicht mit gleichen Rechten …

    Die Geschwindigkeit, mit der ein gewöhnlicher Inozugang Daten verarbeitete, erwies sich für manche Anwendungen als zu gering. Externe Computer mit zusätzlicher Rechenleistung schufen hier Abhilfe. Allerdings handelte es sich hierbei eher um eine Notlösung. Für spezielle Aufgaben erlaubte Ino den Zugriff auf Großrechner, die jede noch so gewaltige Datenmenge in kürzester Zeit verarbeiteten. Nur deren geringer Zahl verdankte der klassische Computer seine heutige Daseinsberechtigung, denn zumeist blockierte jemand mit höherer Prioritätsstufe den Zugriff auf einen der Großrechner. Eines Tages freilich, würde Ino so hochentwickelt sein, dass es selbst unter voller Auslastung nicht mehr zu längeren Wartezeiten kommen würde.

    Siegfried betrachtete das kleine Kästchen mitleidig. Wie viel Zeit blieb dem Gerät wohl noch?

    Mit einer gewissen Wehmut schaute der alte Polizist ein letztes Mal in seinem Büro um sich. Was würde in ein paar Jahren verschwunden sein? Der Schreibtisch? Oder gar sein Besitzer? Irgendwann würde schließlich auch die Polizei ihre Arbeit zur Gänze auslagern. Unzählige Firmen gingen schon voran. Sicher, einige Polizisten würden als Notreserve übrigbleiben – aber nicht viele.

    Bereits jetzt wurde ursprüngliche Polizeiarbeit von Inoscannern erledigt – jenen Überwachungsgeräten, die automatisch jeden Passanten anhand des Implantats identifizierten. In den letzten Jahrzehnten verdrängten sie die zuvor schier allgegenwärtigen Kameras. Ließ sich damals die Identität noch durch geschickte Maskierung verbergen, so erwies sich nun jede Form von Versteckspiel als sinnlos. Verdächtige aufzuspüren stellte selbst in Siegfrieds jungen Dienstjahren keine Tätigkeit mehr dar, die Polizisten erfordert hätte.

    Ein metallisches Scheppern ließ ihn aus seinen Grübeleien hochfahren. Einer der kleinen Putzroboter entleerte seinen Staubbeutel in den Abfallkübel auf dem Gang.

    Siegfried schmunzelte. Pure Ironie, dass Technik zwar menschliche Reinigungskräfte ersetzt hatte, jedoch die Existenz der simplen Abfallbehälter nicht gefährdete. Diese schlichten Metalldosen würden überdauern. Gleichgültig wie fortschrittlich sich eine Gesellschaft präsentierte: Müll produzierte sie trotzdem.

    Gemessenen Schrittes umrundete Siegfried den Schreibtisch.

    In der Ecke stand ein weiteres Gerät, das die Digitalisierung so schnell nicht wegrationalisieren würde, da sich auch in Zukunft Lebensmittel – zumindest aller Wahrscheinlichkeit nach – nicht eigenständig kühlen würden.

    Seufzend öffnete Siegfried den kleinen Kühlschrank und nahm den dort deponierten Kuchen heraus. Schokoladenaroma stieg ihm in die Nase. Die Kuchenform vorsichtig balancierend, schritt Siegfried durch den Flur Richtung Kaffeeküche. Dort angekommen hielt er überrascht im Türrahmen inne. Erstaunt und ehrlich erfreut ließ er seinen Blick über die Anwesenden schweifen.

    »Wie schön, dass ihr alle gekommen seid!«

    »Ist doch wohl selbstverständlich«, sagte Maja.

    Ja, für dich ist es das wirklich, dachte er, trat ein und stellte den Kuchen auf den Tisch.

    Can nickte ihm wortlos zu. Maja hatte ihn wohl her geschleift. Siegfrieds Blick wanderte weiter.

    »Freut mich, dass du gekommen bist«, wandte er sich an Tess. Die Frau, die der einmeterachzig große Siegfried um mehr als einen Kopf überragte, hob den ihren nicht. Ohne eine Miene zu verziehen, sah sie durch ihren bald ehemaligen Kollegen hindurch. Offensichtlich wieder im Strom, dachte Siegfried und lächelte milde. Nun, immerhin schenkte sie ihm zumindest körperliche Präsenz. Nur sehr selten traf er sie Inoffline an.

    Als diensthabende Analytikerin fungierte Tess quasi als eine Art Bindeglied zwischen dem Revier und dem Datenstrom. Sie gehörte zum privilegierten Kreis jener mit dem Vorrecht eines permanenten Zugriffs auf Karthago – so der Name des lokalen Großrechners.

    Natürlich forderte jedes Privileg seinen Preis: Alle komplexen Anfragen liefen über ihre Person. Sie personifizierte somit quasi eine Art moderner Seherin. Sozusagen ein Medium in ewigem Kontakt zu der höheren Intelligenz im Strom.

    »Na, altes Haus. Glückwunsch! Der erste Fuß ins Grab ist immer der schwerste!«

    Grinsend klopfte ein Kollege Siegfried auf die Schulter. Der grinste zurück. Sean. Einer der Liebenswertesten – trotz oder vielleicht gerade wegen seines schwarzen Humors.

    »Naja, so lange dauert es in deinem Fall auch nicht mehr.«

    Beide trennten nur fünf Jahre. Wohl der wahre Grund, weshalb sich Siegfried ihm am ehesten verbunden fühlte. Sie stammten eben aus der alten Zeit. Auch wenn Sean im Vergleich zu Siegfried besser mit der Jetzigen zurechtzukommen schien. Ein wenig beneidete ihn Siegfried darum.

    »Ach, ich fühle mich ganz fit. Ein Weilchen werde ich schon noch durchhalten.«

    Der Tod – ein häufiges Gesprächsthema für Sean. Leichen zu begutachten bildete nur einen Teilbereich seines Aufgabenfeldes, gleichzeitig aber die Quelle seines Humors. Tatsächlich verkörperte er einen Alleskönner: Neben seiner Tätigkeit als Gerichtsmediziner betätigte er sich auch noch als Labortechniker und Spurensicherer. Chemie, Biologie, Medizin – Sean mischte überall mit. Die Technik erlaubte dies. Von Fjodor wusste Siegfried, dass in früherer Zeit pro Arbeitsgebiet je ein Experte erforderlich war. Inzwischen kam man ohne diesen Personalschlüssel aus, sogar Sean war im Grunde nur Laie auf seinen Betätigungsgebieten.

    Laut eigener Aussage hatte er selbst noch keinen Körper obduziert. Sezierroboter übernahmen diese Aufgabe. Die Spurensicherung verlief ähnlich automatisiert. Seans eigentliches Tätigkeitsfeld beschränkte sich auf die Auswertung der Untersuchungsergebnisse.

    »Hoffe nur, dass ich nicht eines Tages auf deinem Tisch lande«, raunte Siegfried seinem Kollegen zu.

    »Keine Sorge. Ich lasse dich selbstverständlich nur von meinem besten Roboter untersuchen«, antwortete dieser trocken und Siegfried fiel wieder ein, wieso Sean und er sich zwar gut verstanden, ihre Beziehung aber nie zu einer engen Freundschaft reifte: Seans speziellen Humor ertrug man nur in kleinen Dosen.

    »Herr Tegethoff!« Ferrera, Siegfrieds Vorgesetzter, streckte ihm jovial die Hand entgegen. »Auch wenn ich mich für Sie freue, so bedaure ich es doch, Sie gehen zu sehen.«

    Lächelnd erwiderte Siegfried den festen Händedruck – mit nicht weniger gekünstelter Höflichkeit.

    Allein schon die Tatsache, dass Ferrera ihn nicht – wie die übrigen Kollegen mit Ausnahme Cans – duzte, signalisierte eine gewisse Distanz zwischen beiden, die jedoch keinesfalls in Feindschaft gipfelte. Im Gegenteil: Siegfried empfand seinem Chef gegenüber durchaus Dankbarkeit für dessen kühle Freundlichkeit. Schließlich nahm er die Position seines Vorgesetzten ein. Dem Empfinden Siegfrieds nach verhielt sich Ferrera von allen Beschäftigten im Revier ihm gegenüber am respektvollsten – und sogar am aufrichtigsten. Es zeigte sich jetzt gerade in der Art seines Händedrucks: Kurz und kräftig.

    »Junge, Junge! Sie haben reiflich Kraft«, scherzte Ferrera. »Packen Sie die Dinge in Ihrem Ruhestand lieber nicht zu hart an.«

    Siegfried schaltete sein Lächeln auf Autopilot. Sein Chef vermochte zwar Höflichkeit glaubhaft vorzutäuschen, seine Versuche auf dem Gebiet des Humors verliefen jeweils weniger erfolgreich.

    Als Siegfried sich seinem nächsten Kollegen zuwandte, stellte er durchaus erfreut fest, dass dieser nicht im Strom schwamm. Doch auch wenn Cans Augen nicht verräterisch ins Leere starrten, so richteten sie sich dennoch nicht auf seinen scheidenden Kollegen, sondern auf Siegfrieds Kuchen.

    »Was ist … das?«

    »Ein Kuchen. Zum Abschied«, erklärte Siegfried verschnupft. An diesen rüden Umgangston würde er sich nie gewöhnen! Dann bemerkte er, dass nicht nur Cans Augen, sondern die Augen aller auf seinen Kuchen starrten. Innerlich stöhnend wechselte er verärgert in den Strom.

    »Also ich habe keinen Anbieter ausfindig machen können, der Derartiges produzieren würde«, vernahm er Tess‘ Stimme. »Meine Güte! Das würde keiner Qualitätskontrolle auch nur annähernd genügen. Die Dicke der Glasur schwankt um mehr als 100%. Die Teigzusammensetzung scheint mir zudem nicht vollständig homogen zu sein. Zur genaueren Analyse müsste man das Sean ins Labor schicken.«

    »Ich glaube, wer das verbrochen hat, liegt auf der Hand«, scherzte der Forensiker. »Nicht wahr, Siegfried?«

    »Was? Sie backen noch selbst?«, entfuhr es Can.

    »Ach? Nun, höchst … ungewöhnlich«, kommentierte Tess.

    »Freut mich, dass mein Backwerk solche Begeisterung auslöst«, quittierte Siegfried in sarkastischem Tonfall.

    »Schon gut! Damit Du glücklich bist, nehme ich ein Stück. Ist ja Dein letzter Tag. Vielleicht dann auch meiner …«, spöttelte Sean.

    »Ach Leute, jetzt seid nicht so! Siegfried hat ja noch einen zweiten mitgebracht«, mischte sich nun Maja zu Siegfrieds Überraschung ein. Verwirrt ging er Inoffline.

    Seine zukünftige Nachfolgerin, noch Inoline, trat mit leerem Blick zum Kühlschrank und entnahm ihm ein Tablett.

    Eine Sachertorte kam zum Vorschein.

    Mit spiegelglatt glänzender Glasur.

    Wortlos fixierte Siegfried das perfekte Kunstwerk und beschloss, für den Rest des Tages nicht mehr Inoline zu

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