Hamburg 4.0 - Die Bezirksmorde: Yilmaz' zweiter Fall
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Über dieses E-Book
Hamburg, Frühsommer 2045: Der Bergedorfer Bezirksamtsleiter wird im Schlosspark erwürgt. Weiteren Amtsleiter*innen wird per Mail mit dem Tod gedroht, wenn sie ihre Bezirke nicht wieder zu unabhängigen Städten erklären. Schon erwischt es den Altonaer Kollegen!
Kommissar Yilmaz‘ zweiter Fall steht unter keinem guten Stern: Die durch den osttürkischen Geheimdienst zu ihrem Schutz erfolgte Trennung von seiner Frau, treibt ihn zunehmend in den Alkoholismus.
Während Yilmaz der Lösung seines Falls näher kommt, wächst weltpolitisch die Gefahr eines Atomkriegs ...
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Buchvorschau
Hamburg 4.0 - Die Bezirksmorde - Jan Christoph Nerger
Prolog
Prolog
Die alte Dame schaut traurig in die Sitzreihen. Nicht einmal die Hälfte der Stühle ist besetzt. Seufzend beendet Gerda Westerholt ihr Referat, die verbrauchte Luft beschert ihr leichte Übelkeit: „Ich bedanke und freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind, meine Damen und Herren. Kommen Sie gut nach Hause."
Jedes Mal dasselbe höfliche Klatschen. Die Menschen aus der ersten Reihe beeilen sich, an ihr vorbei zu kommen, manche nicken wenigstens kurz. Aber weshalb waren sie hier? Eine kurze Neugier nur, die nicht befriedigt werden konnte? Oder wissen sie einfach nichts mit ihrer Zeit anzufangen?
„Hat es Ihnen gefallen?", stoppt sie einen kräftigeren Herren aus vollem Lauf, so um die vierzig.
„Ähem … Doch, schon! Irgendwie ..."
„Was denn genau?"
„Na, ja …?"
„Kommen Sie! Nehmen Sie einen Moment Platz."
„Also, eigentlich muss ich jetzt ..."
„Na, ein paar Minuten werden Sie doch sicher für eine alte Dame erübrigen können, oder?"
„Ja, also … Klar." Er lässt sich auf einen Stuhl der ersten Reihe plumpsen und schaut sich missmutig um.
Sie lächelt triumphierend und blickt ihm tief in die Augen. Einer Seniorin, noch dazu in einem antiquierten, elektrischen Rollstuhl sitzend, schlägt man eben keine Bitte ab. „Haben Ihnen die Kekse geschmeckt?"
„Öh, doch, ja."
„Dachte ich mir, Sie haben eine ordentliche Menge davon verputzt."
„Oh, tut mir leid, wenn ich zu gierig war."
„Aber nein, es freut mich doch, wenn es Ihnen schmeckt. Waren schließlich selbst gebacken. Wissen Sie, ich komme aus einer Zeit, wo die Menschen noch lange nicht solche Gesundheitsfanatiker waren und zudem die Krankenkassen nicht jeden Atemzug von uns registrierten und sanktionierten."
„Mir scheint, dass Sie außerdem auf manchen technischen Fortschritt verzichten, wagt er sich vor. „Warum nutzen sie keinen Hilfskörper?
„Ach wissen Sie, antwortet sie mit einer wegwerfenden Handbewegung, „ich gehe nun auch ohne so einen neumodischen Kram auf die Hundertzehn zu. Reicht das nicht?
„Natürlich, ja. Aber sagen Sie …? Was kann ich denn nun eigentlich hier und heute noch für Sie tun?"
Sie räuspert sich und richtet ihren wässrigen Blick auf ihn. „Schauen Sie mir mal ganz tief in die Augen, junger Mann. Glauben Sie mir, es lohnt sich. Diese Augen haben viel gesehen. Jahrgang 1935! Nicht schlecht, hm?"
„Sicher, aber ..."
„Schschscht! Hören Sie mir einfach ein paar Minuten zu, das ist alles was ich mir wünschen würde."
„Ja, gut."
Sie summt leicht. „Hören Sie einfach nur zu. Hören Sie mir zu, was meine Ohren zu hören bekommen haben, von Menschen, die noch älter sind als ich: Meinen Eltern, Großeltern und auch noch meinen Urgroßeltern. Von einer Zeit, in der Hamburg umgeben war von Städten. Städte, die nie verschwunden sind. Städte, deren Mauern bis heute stehen. Deren Straßen nach wie vor existieren, deren Bahnhöfe und Rathäuser ..."
*
Feierabend, denkt er und gönnt sich einen kleinen Umweg durch den Schlosspark. Wie gemalt verabschiedet sich die Sonne an diesem Frühsommerabend am Horizont. Paare knutschen auf den Wiesen, Senior*innen flanieren auf den Wegen lächelnd in Hilfskörpern. Meisen zwitschern in den Bäumen und Büschen, leichte Windböen wehen Gerüche von Blüten heran und die sanfte, bittere Kühle eines leichten Windes unterstreicht alles so wunderbar, dass er heulen könnte. Irgendwie fühlt er sich an vergangene Zeiten erinnert, uralte Zeiten, natürlicher, wahrhaftiger, mit Menschen, die sich durch weniger Technik näher waren … Sein summendes Media erscheint ihm hier wie eine Biene, und doch schaut er genervt auf den blinkenden Armreif. Eine Mail. Schon wieder so ein Quatsch! Seufzend tut er es sich an und öffnet sie. Es schmerzt beinahe, wie sich die Worte und Sätze vor seinen Augen in der Parklandschaft aufbauen:
Das ist Ihre letzte Chance! Gehen Sie umgehend ins Rathaus zurück und erklären Sie Bergedorf zur unabhängigen Stadt! Andernfalls werden Sie diesen Abend nicht überleben!
Kopfschüttelnd löscht er die Mail, die anscheinend von so einem vorsintflutlichen Internetcafé abgesendet wurde. Da verkehren heute wohl nur noch verarmte Menschen und Obdachlose. Die blödsinnigen Zeilen verschwinden und seinen Augen gehört wieder allein der sommerliche Park im Juni. Zufrieden richtet er seinen Blick auf den vor ein paar Jahren so gelungen umgebauten CCB-Tower, der mit seiner nüchternen Architektur das Bergedorfer Zentrum seit Jahrzehnten prägt. Nun ist er zwar noch höher, aber auch viel schöner. Und auch die bunten Fassaden des Centerpalastes mit seiner in einen Solarhut eingefassten, mechanischen Uhr sind von hier zu sehen. Allein das noch recht neue Hotel Rundblick, ebenfalls ein Schmuckstück, nordwestlich des Bahnhofs errichtet, kann er hier nicht ausmachen. Doch kann er sich selbst in seinem Stolz schon mal dabei ertappen, Bergedorf wieder als eigene Stadt wahrzunehmen. Trotzdem bleibt es für ihn am Ende albern. Was sind die Leute doch verrückt, denkt er mit Blick auf die Schlossmauern. Am besten zöge man mit der Verwaltung dort hinein: Wie früher, als Burgen und Schlösser noch Regierungssitze waren. Dann würde er sich zum Ritter oder Fürsten erklären und alle Bergedorfer*innen wieder zu Bauern machen.
Er muss lachen und biegt dabei ums Schloss. Er erlaubt sich, das Bauwerk zu umrunden, auch wenn es seinen Weg nach Hause noch einmal verlängert. Nach dieser dämlichen Mail hat er sich das verdient, findet er. Hier auf der Ostseite des Schlosses ist er gerade sogar ganz allein. Perfekt. Und morgen, das nimmt er sich fest vor, wird er deutlich früher Schluss machen …
„Herr Bürgermeister!"
Häh? Er hebt den Kopf.
Ein kräftiger, großer Kerl watschelt mit wedelnden Armen auf ihn zu. „Herr Bürgermeister! Bitte warten Sie!"
Seufzend bleibt er stehen und lacht: „Ich bin Bezirksamtsleiter und kein Bürgermeister."
Der Typ kommt vor ihm zum Stehen. Schnaufend bückt der sich und braucht eine Weile, bis er wieder hochkommt. Die Krankenkassen dürften viel Geld mit ihm verdienen.
„Kein Bürgermeister? Der Mann baut sich in ganzer Größe auf und überragt ihn um mehr als einen Kopf. „Ihr letztes Wort?
, fragt er traurig.
„Wie meinen Sie das denn? Natürlich ist es mein letztes Wort. Ich bin de facto nun mal kein Bürgermeister. Den finden sie im Hamburger Rathaus. Mit Blick aufs Media, wo ihm die Uhrzeit entgegen blinkt, fügt er hinzu: „Aber sicher nicht mehr heute.
Er wendet sich zum Gehen.
„Ein Moment bitte noch!"
„Ich hab Feierabend."
„Ganz kurz nur, wirklich."
„Also schön, was ist d…?"
Die Pranken dieses Ungeheuers schließen sich wie Eisenklauen um seinen Hals. Sein Gegenüber verschwimmt vor seinen Augen. Er ringt nach Luft. „K-keine Sorge, hört er weit weg, „ist gleich vorbei, bestimmt. Gleich haben Sie Feierabend. Für immer.
Das letzte, was er vor seinen Augen erkennt, ist ein roter Warntext:
Zu hoher Puls! Zu wenig Sauerstoff! Suchen Sie umgehend einen Arzt auf!
Irgendwie schafft er es noch, sein Media aus dem Armreif zu bekommen, bevor sein Peiniger es ihm