Land kann man nicht essen
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Stephan kehrt wieder in die Realität zurück und muss feststellen, dass sein Geschäftspartner ihn inzwischen betrogen hat. Doch auch hier wendet sich durch die Fähigkeit der Vergebung alles zum Guten.
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Buchvorschau
Land kann man nicht essen - Edeltraud-Inga Karrer
Wer die Hoheit über die Ängste hat, hat die Macht über die Menschen
1. Kapitel
Außer Atem und mit letzter Kraft versucht Steph, das hohe Portal hinter sich zuzudrücken. Es lässt sich nur sehr schwer bewegen. Laut knarzt es über den dunklen Parkettboden, der schon tiefe Riefen an den Schleifstellen hat.
Endlich ist es geschafft. Mit einem satten Geräusch fällt die Tür ins Schloss.
Er lehnt sich aufatmend dagegen. Gott sei Dank! Er ist noch einmal davongekommen. Langsam lässt er sich an dem alten Holz heruntergleiten, bis er mit angezogenen Knien auf dem teilweise von den Sonnenstrahlen ausgeblichenen Fußboden sitzt, die durch das große Fenster fallen.
Müde schließt er die Augen.
Seine zugegeben zu langen braunen Locken, deretwegen er oft gehänselt wird, bedecken sein rundes kindliches Gesicht. Er spürt sein schweißnasses Hemd an seinem Rücken kleben.
Nach einer kurzen Verschnaufpause steht er auf und schaut in den großen Spiegel, der vom Boden bis unter die Decke reicht. Was er sieht, kann er nicht glauben! Ein etwa vierzehnjähriger Junge schaut ihn an. Er hat sich vor einiger Zeit alte Bilder angeschaut. Da sah er genauso aus, die kurze Hose, Socken, Sandalen und ein weißes Hemd. Hält ihn eine Erscheinung zum Narren? War die Angst vor seinem Verfolger so groß, dass sie seine Sinne verwirrt hat?
Er ist ein Mann von dreißig Jahren, ein angesehener Anwalt in seiner Stadt. Und nun steht vor ihm ein kleiner Junge. Er wuschelt sich durch das Haar, der Junge gegenüber macht das auch. Er springt hoch, sein Spiegelbild verhält sich ebenso. Das kann doch alles nicht sein!
Er ist froh, dass er der Gefahr, die ihn draußen bedroht hatte, entronnen ist. Doch hat er dafür sein wahres Alter eingetauscht?
Langsam bewegt er sich durch die hohen weiten Gänge. Er kennt dieses Schloss – die Erinnerung daran scheint weit zurückzuliegen – und in seinen Träumen tauchte es immer wieder auf. Rechts und links hängen Gemälde seiner Ahnen. Mit Datum und Namen versehen, geben sie Aufschluss über die lange Reihe seiner Vorfahren. Als er ungefähr in der Mitte der Bildergalerie angekommen ist, fällt ihm ein Bild besonders ins Auge. Er liest: Joseph. Was ihm so besonders auffällt, ist die frappierende Ähnlichkeit mit ihm, dem dreißigjährigen Steph. Er trägt zwar eine weiße Perücke, aber die Übereinstimmung der Gesichtszüge ist unübersehbar. Mit einem etwas spöttischen Lächeln scheint er den Maler des Porträts zu betrachten.
Als Steph sich seinen Urahn genauer anschaut, bemerkt er, dass er ihm zuzwinkert. Dann gibt er ihm zu verstehen, hinter sich zu schauen. Er dreht sich um und sieht direkt in die rotglühenden hassenden Augen des Drachen. Augenblicklich verwischt das Bild und ein alter Mann rückt in Stephs Blickwinkel. Ein eisgrauer Greis mit hartem Blick aus grauen Augen, die ein feiner heller Schleier überzieht, sitzt da auf einem Thron. Eine schwere goldene Krone, mit vielen Diamanten besetzt, drückt fast seinen Kopf ein wenig herunter.
Er starrt in Stephs Richtung. Da ertönt seine donnernde krächzende Stimme: »Stephan Wellington, tritt herzu!«
Automatisch setzt sich der Junge in Richtung des alten Mannes in Bewegung. Als er vor den drei Stufen, die zum Thron hinaufführen, stehen bleibt, hallt die unangenehme Stimme erneut durch die Schlosshalle: »Ich bin Voros Lante. Lange schon habe ich auf dich gewartet. Aber nun hat dich mein Diener endlich hierhergebracht. Vieles ist sonderbar in diesem Gemäuer, das wird dir schon aufgefallen sein. Aber ich kann hier bei mir keinen dreißigjährigen Advokat gebrauchen. Du wirst bald verstehen, was ich damit sagen will.«
Während seine Stimme gefährlich drohend durch die Räume hallt, bewegt sich, außer dem schmallippigen Mund, kein Muskel in dem faltigen Gesicht, das wie aus Marmor gemeißelt scheint. Die starren Augen blicken noch immer irgendwohin hinter Steph in die Ferne.
»Du wirst bei mir bleiben und mir dienen. Du wirst eine Erziehung genießen, die ihresgleichen sucht. Du wirst entweder ein würdiger Nachfolger oder du zerbrichst. Es liegt bei dir!«
Die krallenartigen, dünnen, langen Finger umklammern während seiner harten Worte die Armlehnen. An dem rechten Mittelfinger befindet sich ein überdimensionaler Ring mit einem Stein, der die beiden danebenliegenden Fingerglieder fast komplett bedeckt.
Er streckt ihm diese knochige Hand entgegen und erwartet offensichtlich, dass der Junge den Ring küsst. Steph läuft es eiskalt über den Rücken. Träumt er? Wird er gleich aus einem schrecklichen Albtraum erwachen?
Der Alte zieht seine Hand wieder zurück, legt sie auf ihren alten Platz und befiehlt ihm, sich zurückzuziehen und in einer Stunde wieder hier zu erscheinen. Der Greis muss nachdenken.
Erleichtert läuft Steph davon. Er eilt zu dem schweren Portal und versucht, es zu öffnen. Es rührt sich keinen Millimeter und das schaurige Lachen des Alten tönt hinter ihm her. Der Junge läuft durch die verzweigten weiten Gänge des riesigen Gebäudes. Er schaut rechts und links, ob nicht eines der schmalen hohen Fenster offensteht – erfolglos. Dann sieht er am Ende einer langgestreckten Halle eine offene Tür, die in einen Park führt. Dorthin lenkt er seine Schritte. Endlich ist er an der frischen Luft. In der Nähe des Greises roch es nach Verwesung. Er weiß nicht, woher er den Geruch kennt, aber er ist sicher, dass er sich nicht irrt.
Zu seiner Enttäuschung wird das weitläufige, parkähnliche Gelände durch eine mindestens vier Meter hohe Mauer umgrenzt. An den Wegen, die sich durch die Anlage schlängeln, laden Bänke zum Ausruhen ein. Alt, aus verknorzelten Ästen hergestellt, bieten sie wahrscheinlich schon Generationen von Menschen einen Platz zum Verweilen. Irgendwie kommt ihm dies alles vertraut vor. Plötzlich schiebt sich ein Bild vor sein geistiges Auge. Er sieht einen kleinen Jungen, vielleicht drei Jahre alt, mit einer Frau hier sitzen. Sie rasten auf einer dieser Bänke, aneinander gelehnt und sehr vertraut. Seine Mutter? Dann kommt ein großer stattlicher Mann, der beide anlächelt, um die Biegung eines Weges. Danach ist das Bild verschwunden.
Schnell schaut er auf seine Uhr. Bloß nicht zu spät kommen! Zögernd und ein wenig ängstlich macht er sich nach ein paar Minuten wieder auf den Rückweg. Dieser alte Mann passt nicht hierher, passt nicht in die Idylle, die er eben wahrgenommen hat.
2. Kapitel
Frau Schneider hat sich über die Akte gebeugt und versucht, die Schrift ihres Chefs zu entziffern. Wie immer fällt es ihr ziemlich schwer, obwohl sie ja schon seit Jahren daran übt.
Nein, es hat keinen Zweck! Sie muss ihn fragen, sonst wird sie mit dem Schriftstück heute nicht mehr fertig und es eilt – wie jedes Mal.
Sie muss den Flur entlanggehen, bis sie endlich bei seiner Tür ankommt. Gerade will sie diese öffnen, als sie seine empörte Stimme hört.
»Was fällt Ihnen ein, hier einfach einzudringen? Sie sind nicht angemeldet. Oder habe ich irgendetwas verpasst?«
Frau Schneider weiß nicht, ob sie einfach anklopfen soll oder besser abwartet. Sie hört noch ein wenig zu. Nein, das ist kein Lauschen, aber sie will eben nicht stören. Dann kann sie die leise Stimme des Besuchers vernehmen, die einen sehr gefährlichen Tonfall hat.
»Sie kennen mich nicht, aber das wird sich bald ändern! Wir haben noch eine offene Rechnung miteinander zu begleichen … Meinem Auftraggeber ist es egal, ob ich Sie tot oder lebendig zu ihm bringe – und mir auch.«
Die Tür wird aufgerissen, die Sekretärin kann gerade noch den Kopf zurückziehen, dann stürmt ihr Chef an ihr vorbei. Sie fährt kurz das Bein aus, da liegt sein Verfolger auf der Nase. Als er sich wieder aufrichtet, wirft er ihr einen so hasserfüllten Blick zu, dass sie richtig Angst bekommt. »Das vergesse ich nicht.«, stößt der Fremde hervor, bevor er die Verfolgung aufnimmt.
Er ist bewaffnet. Dadurch wird auch die Flucht ihres Chefs begründet gewesen sein. Er hat ein blinkendes Messer in seiner Hand und ihr ist klar, dass sie eben haarscharf am Tod vorbeigeschrammt ist.
Sie schaut zum Fenster hinaus. Beide sind nicht mehr zu sehen.
Ihr Herz schlägt noch immer in einem unregelmäßigen lauten Rhythmus. Sie muss sich erst einmal setzen und tief durchatmen. Nun hofft sie inbrünstig, dass ihr Chef sich vor diesem Verrückten retten kann.
Endlich greift sie zum Hörer und ruft die Polizei. Sie schildert kurz, was sich hier eben ereignet hat. Man wird eine Streife losschicken. Große Hoffnung auf Hilfe können ihr die Beamten jedoch nicht geben.
Seit drei Jahren ist Frau Schneider inzwischen bei ihm beschäftigt. Mit siebenundzwanzig Jahren hat er seine eigene Kanzlei eröffnet, indem er einen Rechtsanwalt beerbte, bei dem er schon zuvor sein Referendariat absolvierte. Sie war die erste und im Moment einzige Mitarbeiterin des fleißigen und unermüdlichen Herrn Wellington. Am Anfang lief es noch nicht so gut. Einige der Mandanten seines Vorgängers konnte er übernehmen. Doch im Laufe der Zeit kamen immer mehr neue Klienten dazu. Er war beliebt und erfolgreich. Seine klugen Schachzüge verschafften vielen Menschen ihr Recht. Vielleicht, so sagte er neulich zu ihr, waren auch hier und da mal welche dabei, die besser hinter Gittern gelandet wären. Aber seine Aufgabe bestand darin, jeden, ohne Ansehen der Person, fair zu verteidigen.
Er kniete sich in die Fälle, er forschte und recherchierte und es kam niemals vor, dass er unvorbereitet zu einem Gerichtstermin gegangen wäre.
Es ergab sich bei einem Seminar, zu dem sich einmal im Jahr mehrere Juristen trafen, dass jemand sich gerade mit dem Gedanken befasste, eine Kanzlei einzurichten. Er schreckte allerdings vor den relativ hohen Kosten zurück, die er zunächst aufbringen musste, ehe er Mandanten und damit ein Einkommen hatte. Stephan Wellington hörte ihm eine Weile zu und sprach ihn an, ob er sich vorstellen könne, zunächst einmal in seiner Kanzlei Partner zu werden.
Herr Sonthofen, ein junger Mann in Stephans Alter, fand diese Idee sehr gut, und so wurden die beiden Anwälte schnell handelseinig.
Während sich Frau Schneider von dem Schreck erholt, gehen ihre Gedanken wieder zu ihm - ihren freundlichen und zuverlässigen Chef. Er hat immer noch etwas Jungenhaftes. Seine braunen Locken wollen sich manchmal nicht bändigen lassen, aber er kann sich auch nicht dazu entschließen, sie so sehr kürzen zu lassen, dass nichts Lockiges mehr zu sehen ist.
Seine hellblauen Augen stehen in einem hübschen Kontrast zu der dunklen Haarpracht. Sobald der große schmale Mann ins Büro kommt, scheint die Sonne aufzugehen, so kommt es ihr vor. Er strahlt wirklich über das ganze Gesicht, wenn er sie sieht. Freundlich scherzt er mit ihr, ehe sie ihm und sich einen Kaffee einschenkt und sie kurz das Pensum des Tages miteinander besprechen. Sie liebt ihn, so, wie man einen Sohn liebt.
Niemals hat sie ihn je wütend oder genervt erlebt und schon gar nicht panisch. Was heute geschehen ist, passt überhaupt nicht zu ihm. Sie wünscht ihm, dass sich alles aufklärt, oder die Polizei diesen Irren verhaften kann. Es wird siebzehn Uhr. Sie wartet bereits eine halbe Stunde über den Feierabend hinaus. Nun ist er schon seit drei Stunden fort. Wenn ihm sonst irgendetwas dazwischenkommt und er nicht pünktlich zurück sein kann, ruft er an. Er lässt sie nie im Ungewissen. Sie weiß auch nicht, was sie jetzt tun soll. Er hat morgen einige Termine. Gott sei Dank ist kein Verhandlungstag vor Gericht vorgesehen. Soll sie die Termine absagen? Sie entschließt sich, es nicht zu tun, das Büro abzuschließen und nach Hause zu gehen. Herr Sonthofen ist bereits seit einer halben Stunde weg und seine Sekretärin ging pünktlich um sechzehn Uhr, wie an jedem Tag. Herr Wellington hat Frau Schneiders Privatnummer, kann sie also auch außerdienstlich erreichen.
3. Kapitel
Der Junge beeilt sich, um nicht zu spät zu kommen. Er ahnt, dass der Alte es ihn spüren lässt, wenn er sich nicht ganz genau an dessen Anordnungen hält.
»Es ist gut, dass du so pünktlich bist. Das ist ein Pluspunkt für dich. Du wirst heute die erste Lektion lernen. Dafür wirst du für mich in das Dorf gehen und den Schuster herbestellen. Danach suchst du den Bäcker auf. Er soll eine Stunde später als der Schuster bei mir erscheinen. Kannst du dir das merken? Zugleich wird dir meine Magd anständige Kleider geben. Mit diesem Zeug kannst du nicht mein Diener sein.« Damit greift er zu einer Glocke, die neben ihm auf dem Fußboden steht. Er lässt sie dreimal erklingen. Kaum ist der letzte Ton verhallt, steht eine junge Frau im Raum. Sie macht einen Knicks und hat auf dem Arm schon die neue Bekleidung für Steph: ein weißes Rüschenhemd, eine schwarze Kniebundhose und weiße Strümpfe, dazu schwarze Schnallenschuhe und eine passende Weste. Sie führt ihn in ein Ankleidezimmer, das sich der Halle anschließt. Dort zieht er die neuen Sachen an und fühlt sich völlig fremd darin.
Als er den Thronsaal wieder betritt, nickt der Alte zufrieden. »Das ist gut.« Kann er doch etwas sehen? Seine stille Frage wird sofort beantwortet. »Ich bin blind, aber ich kann sehr gut riechen und hören.«
»Setz dich dort auf den kleinen Schemel, der rechts von dir steht.« Steph nimmt gehorsam Platz.
»Du gehst jetzt gleich in das Dorf. Die Hütte des Schusters wirst du nicht verfehlen. Es ist der hässlichste, schäbigste und elendeste Verhau, den du finden wirst. Auch die vielen Kinder, die zu ihm gehören, werden dir den Weg zeigen. Fass keines von ihnen an, damit du dich nicht schmutzig machst.
Du bringst ihm meinen Befehl und gehst danach, ohne dich aufzuhalten, zur Villa des Bäckers, zu der eine breite Allee hinaufführt. Auch dieses Gebäude wirst du ohne Zweifel leicht erkennen. Nun mach dich auf den Weg! Ich erwarte dich bald zurück.«
Der Junge nickt, steht auf und geht.
»Hast du nicht etwas vergessen?«, tönt es hinter ihm her.
Er kommt zurück und sagt: »Adieu«, und strebt dann dem Portal zu.
»Warte, ich habe dir noch etwas zu sagen. Sobald du wieder zurück bist, wird der Schuster vielleicht schon hier eingetroffen sein. Du schleichst dich dann geräuschlos hinter den schweren Vorhang, der sich am gegenüberliegenden Fenster befindet. Dort steht ein Stuhl, auf dem