Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Degeneration Internet: Surf- & Klickgeschichten
Degeneration Internet: Surf- & Klickgeschichten
Degeneration Internet: Surf- & Klickgeschichten
eBook166 Seiten1 Stunde

Degeneration Internet: Surf- & Klickgeschichten

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Was passiert eine halbe Stunde lang auf dem Twitter-Profil von Justin Bieber? Darf man die SMS wildfremder Leute im Internet mitlesen? Was macht Jesus im Netz, und hört die NSA
etwa auch Gott ab? Wann ist ein Nerd ein Nerd?
Frank Sorge erzählt Geschichten aus dem Alltag der digitalen Revolution. Als "Digital Native" genießt der Berliner Autor und Vorleser zunächst "digital naiv" die bunte neue
Netzwelt. Er begibt sich tief hinein ins World Wide Web, erzählt von seinen Anfängen und den oft sehr schrägen Auswüchsen. Doch dann fällt sein Blick auf die eigene Hand: Hat sich sein Zeigefinger etwa durch hunderttausendfaches Klicken so verdreht?
Glücklicherweise gibt es noch das Real Life des Autors im Berliner Stadtteil Wedding - eine Wirklichkeit, die selbst überzeugte Nerds ins echte Leben zurückholen kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberSatyr Verlag
Erscheinungsdatum22. März 2014
ISBN9783944035352
Degeneration Internet: Surf- & Klickgeschichten

Ähnlich wie Degeneration Internet

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Degeneration Internet

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Degeneration Internet - Frank Sorge

    Mutter

    #1. Geist

    vor der Maschine

    #Fingerspitzen

    Ich erschrecke gelegentlich, wenn ich mir meinen rechten Zeigefinger ansehe. Er ist total verdreht, war das aber nicht immer. Vor einigen Jahren ist es mir aufgefallen, halb so schräg wie heute ist er da noch gewesen. An der linken Hand ist alles im Vergleich gerade geblieben, auch bei den anderen Fingern der rechten Hand, nur der Zeigefinger ist schief. Nach außen dreht er sich – wenn er in dieser Geschwindigkeit weitermacht, hat er sich in zwanzig Jahren einmal herumgedreht.

    Lange habe ich mich gefragt, warum das so ist. Gerade eben aber habe ich mit einem Mausklick die ersten Sätze dieses Buchs zwischengespeichert, und bei der Gelegenheit konnte ich mir die Finger mal ansehen, wie sie so auf der Plastikmaus ruhen. Klick, klick, klick, plötzlich kenne ich den Grund.

    Aber heißt das jetzt, dass ich in den letzten Jahren zu viel vor dem Computer gesessen habe? Und möchte ich überhaupt, dass mir irgendjemand auf diese Frage eine ehrliche Einschätzung gibt? Ist der »Mausfinger« schon als Krankheit erkannt und anerkannt? Gibt es schon spezialisierte Chirurgen für Computererkrankungen, die ihn wieder zurückdrehen können?

    Oder ist es gar keine krankhafte, sondern eine natürliche Veränderung? Wenn Fußballer dicke Waden bekommen und Karibikurlauber gebräunt zurückkehren, redet man ja auch nicht gleich von Krankheit. Ein »Tennisarm« wiederum soll ja durchaus ernstzunehmende Schmerzen verursachen, wie kann ich mir sicher sein, zu welcher Kategorie mein schiefer Mausfinger zählt? Er schmerzt immerhin nicht, ist also vielleicht doch wie die dicken Oberarme eines Gewichthebers eine unausweichliche Folge meiner Beschäftigung mit der Maus an sich.

    Das Internet kennt meinen Mausfinger nicht, aber ein Krankheitsbild namens »Mausarm«. Bei den ersten Symptomen solle man einen Arzt konsultieren, rät eine Website, bei Kraftverlust der Hand und Missempfindungen etwa. Nicht unbedingt zu meiner Beruhigung steht da auch: »Schmerzen treten erst später auf.«

    Ich stelle mir den virtuellen Warteraum eines Netzdoktors vor, Tennisarm und Mausarm bekommen dort Gesellschaft vom »Maurerarm«, von dem ich noch nicht gehört hatte. Der »Malerarm« reiht sich gleichfalls ein, der »Golferarm« ist hingegen privat versichert und wartet nicht. Aus Übersee trifft ein Gast mit »Baseballarm« ein.

    Während der Golfer behandelt wird, tauschen sich die Wartenden über ihre beruflichen Situationen aus. Schnell wird klar, dass der mit Maurerarm Maurer ist und der mit Malerarm Maler. Der mit Mausarm ist aber keine Maus, so stellt man zunehmend heiter fest. Aber was dann? Computerarm kann man es wohl auch nennen, aber ein Computer ist er auch nicht. Er ist wohl ein Nerd.

    Nachdenklich sehe ich meinen schrägen Finger an. Vielleicht verebbt das Gespräch an dieser Stelle, früher jedenfalls redete man wenig mit Nerds. In meiner Schulklasse gab es sie auch, die zwei vorne mit den Brillen auf der Nase und der Eins in Mathe. Ich gehörte nicht dazu, brauchte keine Brille und schrieb mittelmäßige Mathearbeiten, war aber mit ihnen befreundet. Bei dem einen war der Vater Programmierer, und so reihten sich in seinem Kinderzimmer Anfang der Neunziger mehrere Bildschirme nebeneinander über mehreren miteinander verkabelten Rechnern mit Wechselfestplatten, wie sie heute schon alle im Museum stehen. Der andere war zudem ein begnadeter Tischtennisspieler und hatte eine gute Tischtennisplatte im Keller, auf der wir uns erbitterte Kämpfe lieferten. Beide haben dann ganz dem Klischee nach Informatik studiert.

    Ich war nie ein Nerd, glaube ich, wollte es natürlich auch nicht sein. Streber und Computerkid zu sein, das empfanden wir anderen als mittleren Schicksalsschlag, der uns glücklicherweise nicht ereilt hatte. Nie hatte jemand aktiv Nerd werden wollen, man hätte ja im Gegenzug jede Möglichkeit auf Nahzonenkontakt mit dem anderen Geschlecht eingebüßt.

    Ich klappe mein Netbook zu und laufe damit durch ein paar Weddinger Straßen zum Mastul, dem Kulturverein meines Vertrauens. Am Tresen sagt die Frau neben mir: »Doch, natürlich bist du ein Nerd.«

    Immerhin lächelt sie dabei und setzt sich nicht augenblicklich weg zu den coolen analogen Jungs weiter vorne. Aber sie bringt mich damit doch in schwere innere Verlegenheit. Bin ich es doch geworden? Habe ich nicht aufgepasst? Sie kann unmöglich recht haben, ich habe mein Selbstbild des athletisch agilen Frischluftkünstlers doch einigermaßen im Griff. Denke ich und ziehe unauffällig den Bauch ein.

    Schnell schließe ich zudem den kleinen Telnet-Client, mit dem ich in einem MUD eingeloggt bin. Sie wird zwar weder wissen, was Telnet ist noch ein MUD. Aber Nerds würden mit Sicherheit wissen, was Telnet und ein MUD ist, und es gibt sie hier, und es sind welche im Laden. Hätte mir einer von denen zufälligerweise über die Schulter geschaut, hätte der sofort ausgerufen: »Oh geil, das ist so geil, ich bin zum Glück seit zwei Jahren weg von der MUD-Zocke, aber kennst du das noch, das, das, das, das, das und das andere?«

    »Was ist denn das? Ein Matt?«, würde sie fragen. »Schach? Schatt matt?«

    »Nein, ein MUD«, würde der blasse Informatiker in unserem Rücken zunehmend euphorisch mit rudernden Armen erläutern, »Multi User Dungeon, nur mit Text, wie früher. Das ist so geil.«

    Und ich wäre sofort entlarvt gewesen.

    »Ach, das Netbook meinst du«, versuche ich, mich aus den dornigen Schlingen des Vorurteils zu winden, ein Nerd zu sein, »das habe ich ja nicht immer dabei.«

    »Aber fast immer«, sagt sie, und ja, sie ist in letzter Zeit auch fast immer dabei gewesen.

    »Aber erst seit ein paar Wochen, ich muss jetzt am Anfang den Akku immer schön leer machen, und außerdem ...«

    »Ja?«

    »... ist das WLAN hier so wunderbar schnell, ich ...«

    »Nur zu!«

    »... kann sogar mit dem kleinen Gerät in Second Life einloggen.«

    »Aber du bist kein Nerd?«

    »Nein, Quatsch, auf keinen Fall«, ich versuche gelassen zu wirken und souverän zu argumentieren. »Ich kann ja nicht mal programmieren.«

    Ich nehme einen Schluck Club-Mate, dass dieses Getränk auch gerne mal Hackerbrause genannt wird, ist ihr hoffentlich bislang entgangen. Wenn sie nicht fragt, was ich heute so den Tag über gemacht habe, muss ich auch nicht zugeben, dass ich den halben Tag an einem eigenen Textadventure geschrieben und getüftelt, im Prinzip also programmiert habe.

    »Und hast du heute was anderes gemacht, als vor dem Computer zu sitzen?«

    »Na ja, ich bin, äh, hierhergekommen.«

    Ich schiebe das Netbook ein wenig beiseite, als würde es mir gar nicht gehören.

    »Um hier vor dem Computer zu sitzen?«

    »Nein, natürlich um nette Gespräche zu führen.«

    Wir wissen nicht mehr weiter. Zwanzig Sekunden schweigen wir, dann schaltet sich der Bildschirmschoner ein, und ich ziehe das Netbook wieder heran. Bin ich halt ein Nerd, so bauchansatzweise ist ja auch was dran. Aber es gibt da noch feine Unterschiede, junges Frollein, denke ich, und überhaupt ist das alles ganz anders. Ich schalte zwar regelmäßig drei Computer aus, bevor ich das Haus verlasse. Aber ich schalte sie aus. Und ich verlasse das Haus. Kleine Details zu meiner Ehrenrettung, aber dann sehe ich wieder dieses schräge Fleischwürstchen an meiner Hand, das jetzt über ein Touchpad wischt und immer noch erschreckend verdreht ist.

    »Immer noch besser als ein Stiernacken«, beruhige ich mich und erwerbe ein Pilsator. Und mit einer leichten Berührung der Fingerspitze logge ich mich wieder ein, irgendwo.

    #1989

    Die ersten komplett verdaddelten Tage vor dem C64 bei Matthias, für einen eigenen »Brotkasten« reicht es nicht. In den Ferien stülpt er ein Gummiteil über einen Telefonhörer und wählt uns in ein Multiplayer-Textadventure ein. Es ist noch kein Internet, aber völlig verrückt. Er ist elf Jahre, ich bin ein knappes Jahr älter. Er zeigt mir Computerprogramme, die als Piepsgeräusche auf einer Audiokassette gespeichert sind, und Disketten, deren Rückseite man bespielen kann, wenn man sie an der richtigen Stelle locht.

    #Wählscheibenblues

    Wörter wie »Wählscheibentelefon« und »Telefonzelle« waren bis eben noch normal, jetzt sind sie gnadenlos veraltet. Sie klingen, als wären sie aus dem letzten Jahrhundert. Das Erschreckende ist nun, sie sind mittlerweile wirklich aus dem letzten Jahrhundert. Und man selbst auch.

    Gerne erzähle ich als ergrauender Digitalopa in Dauerschleife, wie ich schon Anfang des Jahrtausends einer jungen Frau in meiner Wohnung dabei zusehen konnte, wie sie zunehmend über das von mir lange gepflegte Wählscheibentelefon »Graue Maus« verzweifelte. Sie hatte gefragt, ob sie telefonieren dürfte, und das Gerät als das zuständige erkannt. Dann stand sie die eine oder andere Minute davor.

    »Damit?«, fragte sie.

    »Ja, genau.«

    Der erste Dampf in ihrer Stimme war mir nicht aufgefallen, erst als sie mich mit diesem Vulkan im Blick ansah, den Hörer mit der Ringelschnur wie eine giftige Schlange von sich weghielt und langsam und beherrscht die Frage nachlegte, wie dieses verdammte Ding zu bedienen wäre. Sie kenne nur Tasten. Es erschien mir unglaublich, es könne jemand nicht mit der Wählscheibe umgehen. Inzwischen habe ich aber keinen Zweifel mehr, dass man ohne Probleme Millionen Menschen findet, die eine Weile brauchen würden, bis sie mit meiner grauen Maus eine SMS abgeschickt hätten.

    Interessant fände ich auch, wie viele junge Menschen sich wohl beim Wort »Telefonzelle« vorstellen, dass darin Telefone eingesperrt wurden, damit man nicht an sie rankam. Oder ob sie denken, das wären so Kabinen gewesen, in denen man genau nicht telefonieren konnte? Oder in die man halt mit dem Handy reinging, um ungestört telefonieren zu können? Oder ob jemand »Telefonzellen« für Vorläufer der »Funkzellen« hält?

    Das Tonbandgerät meines Vaters habe ich auch nie richtig verstanden, der konnte wiederum lange den Videorekorder nicht programmieren. Was aber dachte ich damals, was es noch alles geben würde? Wie hatte für mich die Zukunft ausgesehen?

    Aus Lego hatte ich Autos mit Flügeln gebaut, hatte aber kaum Hoffnung, dass

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1