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Albträume
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eBook514 Seiten6 Stunden

Albträume

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Über dieses E-Book

Ich war wieder überrascht, wie sehr diese Nacht unseren Träumen glich. War so das Leben? Aufregend, schnell und voller Adrenalin? Oder drehte ich gerade völlig durch?

 

Nachdem Maeve ihre Panikattacke überstanden hat und klären konnte wer auf ihrer Seite und wer auf der anderen steht, kann sie sich endlich wieder auf die Suche nach dem Träumer konzentrieren. Doch bald muss sie feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, den Traum zu beenden ohne dem Träumer zu schaden. Und auch die Dreiundvierzig, aufgeschreckt durch Maeve und ihre Versuche seine Pläne zu durchkreuzen, ändert wieder einmal die Spielregeln. Maeve und Tom bleibt nichts anderes übrig, als ihre Versuche die Dreiundvierzig aufzuhalten, in die reale Welt zu verlagern. Aber wie lange kann das gut gehen, ohne dass die beiden selbst in Gefahr geraten? Können sie das Geheimnis des Systems entschlüsseln ohne erkannt zu werden?

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum14. Mai 2023
ISBN9783755442318
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    Buchvorschau

    Albträume - Anne Klisch

    Prolog

    Die Pinzette zitterte in seiner Hand. Es war schon lange her, dass er die Miniaturen und Platinen selbst hergestellt hatte. Mittlerweile hatte er wichtigeres zu tun. Und sehr viel fähigere Leute, die das Fingerspitzengefühl und die Ruhe aufbringen konnten, unter dem Mikroskop zu löten. Die Dielen über ihm knarrten. Für einen kurzen unsäglichen Moment zuckte er zusammen. Er wusste, dass niemand mit ihm im Ferienhaus war. Das Holz war alt und in der Frühlingssonne arbeitete es. So wie in jedem anderen Gebäude auch. Eigentlich war er an das Knacken und murren des kleinen Hauses gewöhnt. Trotzdem hatte die winzige Ablenkung genügt und er war abgerutscht. Eine tiefe Schramme zog sich quer über das kleine Plättchen. Bereits irreparabel destabilisiert kippelte das hintere Ende, das nicht in der Pinzette klemmte nach unten. Resigniert lehnte er sich auf seinem Arbeitsstuhl nach hinten und ließ die filigranen Werkzeuge fallen. Gerne hätte er mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Es musste doch einen einfacheren Weg geben! Er saß nun bereits seit einer Woche vor seinen Geräten und er war kaum merklich schneller geworden. Pro Tag konnte er nur ungefähr vier Einheiten fertigstellen. Und mindestens zwei weitere landeten in der Tonne. Vielleicht konnte er die mühselige Arbeit in ein billig Lohn Land auslagern. Aber nein. Das war nur ein vager Wunschgedanke. Das Risiko war zu groß. Nicht nur der potenziellen Fehler wegen. Man könnte die Technologie schließlich auch kopieren. Nur weil man den armen Leuten wenig bezahlte, machte sie das schließlich nicht dumm. Außerdem war es schließlich das, was er selbst gerade tat. Wobei er entschieden hatte es nicht kopieren zu nennen. Eher nachbauen. Oder vervielfältigen. Verbessern! Immerhin hatte er auch ein paar Detail in der Programmierung... Nun ja... angepasst. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich bei dem Gedanken auf seinen Lippen aus. Und es war so einfach gewesen. Vielleicht war es mit den Platinen ja genauso einfach.

    Am nächsten Tag, um kurz nach acht, zog er seine Karte durch den Riegelmechanismus der Tür. Es dauerte einen Moment, während die Sensoren die Karte abtasteten, dann ertönte eine Reihe kurzer Pip-Töne. Mit einem Summen sprang die Tür aus dem Riegel und schwang langsam, von einem Arm gezogen, nach innen auf. Kurz blickte er sich über die Schulter, dann ging er hindurch und den langen kalt weißen Gang hinunter. Die Wände waren vom Boden ab bis fast unter die Decke gefliest und seine Anzugschuhe klangen unnatürliche laut auf dem harten Boden. Flink huschten seine Augen über die Beschriftungen an der Tür. Ursprünglich hatte er gedacht er könnte die Platinen einfach stehlen. Aber dann war ihm aufgefallen, dass er einfach einen offiziellen Antrag für ein Projekt stellen konnte. Schließlich hatte er die Leitung der Teams. Und nichts konnte ihn besser schützen, als einfach die Wahrheit zu sagen. Zumindest einen Teil davon. Am Ende des Gangs blieb er schließlich vor einer Tür stehen. Er klopfte zweimal kurz mir den Knöchel an die Tür, bevor er die Klinke herunterdrückte. Im Labor war nur eine Person. Sandra. Sie war eine kleine Frau mit athletisch Figur und streng zusammengebundenen Haaren. Hätte er sie nicht vor über fünfzehn Jahren selbst eingestellt, hätte er sie selbst noch für eine Studentin gehalten. Sie seufzte schwer, als sie sich umdrehte. Vermutlich hielt sie ihn für einen Praktikanten und hatte vor ihm die Leviten zu lesen. Etwas in der Form wie, ‚man muss nicht anklopfen, wenn man überhaupt nicht vorhat auf das Herein zu warten‘. Doch als sie auf sah wurden ihre Augen kurz groß und ein überraschtes oh lag auf ihren Lippen. »Hallo Sandra.«, sagte er und konnte nicht vermeiden, dass ein ehrliches Lachen über seine Züge glitt. Er hatte schon lange nicht mehr gelächelt. Es fühlte sich seltsam an.

    »Nicholas. Was verschlägt dich den hier runter in den öden Keller?«, fragte sie verwundert und stand auf. »Was ist passiert? Geht‘s dir gut?«

    Einen Moment lang überlegte er auf den Smalltalk mit ihr ein zu steigen. Er mochte sie, hatte er schon immer. Aber er hatte nicht viel Zeit. Außerdem machte ihn die Angelegenheit nervös. Also winkte er nichts sagen ab. »Im Moment ist es etwas schwierig zu Hause. Mit der Scheidung und allem. Aber das wird schon wieder, nicht?« Für einen Moment zuckte er niedergeschlagen die Schultern. Es würde nicht wieder werden. Nichts. Aber man musste eben weiter machen. Er schüttelte das klamme Gefühl ab und sah lächeln in ihr mitleidiges Gesicht. »Ein neues Projekt wurde vom Vorstand bewilligt. Wir brauchen einen ganzen Haufen Mikrochips. Eine Steuerzelle und fünf bis neun Untersysteme.«

    Professionell wie Sandra war bohrte sie nicht weiter nach. Sie lächelte und schob die Hände in die Taschen ihres Laborkittels. »Welches Format? Hast du das Formular schon ausgefüllt?«

    Geschäftig ging sie hinüber zum Computer und öffnete ein Programm.

    »Natürlich.«, sagte er und reichte ihr das Papier mit dem offiziellen Antrag, für ein Projekt, das gar nicht existierte. Er hatte den Antrag gestern Abend zügig abgetippt. Wenn die Platinen über ein Projekt liefen wurden sie schlicht unter der Projektnummer ausgebucht. Er musste dann nur das Projekt leise ein paar Wochen füttern und leerlaufen lassen. Dann würde niemand Verdacht schöpfen. Und schließlich würde er es einfach einstampfen.

    »Die ganz kleinen? Ist das wirklich nötig?«

    Verkniffen nickte er.

    »Brauchen Sie ein Bewegungsprogramm oder ist das in der späteren Programmierung schon inbegriffen?«

    Einen Moment verstand er nicht was sie ihn fragte. Er brauchte Rohlinge. Das Programm würde er dann schon selbst rüber spielen. Alles, was er aus dem Original extrahiert hatte. Sowie seine Anpassungen.

    »Die Platinen sind für Nanobots. Allerdings statisch. Sobald sie ihre Position erreicht haben verankern sie sich.« Er schüttelte kurz den Kopf. »Ich darf eigentlich noch gar nichts darüber verraten.«

    »Schon gut. Schon gut.« Sie hob verständnisvoll die Hände. »Keine Bewegungsform vorprogrammiert. Großes Speicher Volumen. Geschützte Kommunikation. Hm. Aber c10? Nachdem Georgs Projekt abgelehnt wurde haben wir die kleinen Platinen alle aussortiert. Die waren auch wirklich ein bisschen zu filigran.« Mit flinken Fingern klickte sie sich durch das Programm. Es schien das Lager zu verwalten und die einzelnen Mikrochips und Platinen mit laufenden Projekten zu verbinden. »Wie schnell brauchst du die denn?«, fragte sie, ohne vom Bildschirm aufzusehen.

    »Es ist nicht dringend. Aber es wäre gut, wenn das Projekt ohne Verzögerung weiterlaufen kann. Also bis Ende der Woche wäre ein Traum.«

    Sandra grinste breit. Dann sah sie wieder zurück zum Bildschirm. »In der Größe könnte ich dir aktuell nur die Spin- elektrischen anbieten. Da hätten wir einen ganzen Satz da. Etwa fünftausend Rohlinge.«

    Als er nicht reagierte sah sie wieder auf. Sein Fragender Blick brachte sie wieder zum Grinsen. Er war alt geworden. Es war eine Tatsache, die ihm in diesem Moment direkt ins Gesicht schrie. Der Schreibtisch hatte ihn alt gemacht.

    »Spin- elektrisch?«, fragte Sandra höflich. Er nickte. »Keine Sorge, die sind noch ziemlich neu. Eine Art Hochleistungsspeicher im absoluten Miniaturformat. Funktioniert mit Magnetelektronik. Wenn das für dich passt, reserviere ich dir die Hälfte. Dann kann man sie spätestens heute Mittag an die Programmierer geben.«

    Er nickte langsam. Warum nicht. Mehr Speicherplatz würde schließlich definitiv nicht schaden.

    Stand der Ermittlungen

    Am 12. Dezember wurde der Fall der Caroline Hansen offiziell an das Landeskriminalamt übergeben. Auch steigende Fallzahlen lassen bisher, trotz eindeutigem Muster, keine Ursache, für ihren, sowie die weiteren Tode erkennen. Das Auftreten ähnlicher Fälle über ganz Deutschland verteilt, sowie Veränderungen von Verhalten, Charakter und Persönlichkeit der betreffenden Personen, dem Tod vorausgehend, erheben deutlichen Verdacht auf bewusstseinserweiternde Mittel.

    Durch das am 08. April von Georg Deis unrechtmäßig eingespeiste Video, ist nun davon auszugehen, dass es sich weniger um eine Droge handelt, sondern um ein, am Körper angebrachtes, technisches System. Durch äußere Reize oder eine Fehlreaktion im Inneren, scheint sich das System von den Andockstellen, im Inneren der Person zu lösen und über Blut aus geschwemmt zu werden. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen der Autopsie. In allen Fällen wurde der Tod begleitet durch starke Krampfanfälle, Nasenbluten und teilweise Erbrechen. Im Rahmen der inneren Sektion fällt eine Beschädigung des Gehirngewebes auf. Kleine Schnitte sowie teilweise Hitzeeinwirkungen, sind in allen Fällen zu beobachten.

    Die Schwerpunkte der weiteren Ermittlung sind:

    das Aufgreifen von Georg Deis

    entfernen der Technologie, sowie ein unzugängliche Verwahrung aller weiteren Exemplare.

    Überblick aller aktuell im Umlauf befindlicher Exemplare

    Möglichkeit zum Abschalten der Technologie, ohne die Träger zu verletzen

    1.

    »Und? Bist du bereit?«

    Blaugrauer Nebel quoll irgendwo rechts vor uns aus der Erde und verschleierte die Sicht. Tom stand unruhig neben mir. Wir kannten uns noch nicht lange. Nur ein paar Tage um genau zu sein. Doch in der kurzen Zeit hatten wir bereits eine Menge Mist erlebt. Inklusive dem kompletten Vertrauensverlust meinerseits. Ja. Ich weiß. Ich bin ein furchtbarer Mensch. Und ich schämte mich auch dafür. Trotzdem stand Tom weiterhin an meiner Seite. Als wäre nie etwas passiert.

    Ich sah zur Seite und mein Blick blieb an seinen Haaren hängen. Der Rauch quoll bereits zwischen den dunklen fransigen Strähnen hindurch. Und dann endlich roch ich es.

    »Ich glaube für ein nein ist es mittlerweile wirklich zu spät.«, sagte ich mit erstickter Stimme.

    Die Luft schmeckte faul. Angestrengt versuchte ich so wenig wie möglich davon einzuatmen, doch es war schwierig. Auch Tom neben mir begann leicht zu keuchen. Eine trockene warme Hand streifte meinen Arm und schloss sich vorsichtig um meine Hand.

    »Dann nichts wie los.«

    Ich sah wie er mit dem Ärmel sein Gesicht bedeckte und tat es ihm gleich. Dann, mit einem letzten flachen Atemzug, traten wir in die unwirtliche Wolke hinein.

    Es war nicht dunkel, doch sehen konnte man trotzdem nichts. Überall war nur der dichte Nebel und der faulige schwere Geruch, der sich wie Staub in der Lunge absetzte. Die Luft wurde wärmer und schmeckte bitter. Dick wie Teer klebte sie in meinen Atemwegen und meine Zunge war trocken und geschwollen an meinen Gaumen gedrückt.

    Wir gaben uns größte Mühe nicht vom Weg abzukommen. Doch man konnte nichts sehen. Und der Nebel schien keine Richtung zu haben. Durch. Einfach nur durch, wo auch immer es uns hinführen würde.

    Erneut atmete ich vorsichtig ein. Doch es wurde immer schlimmer. Die Luft war zum Schneiden dick und schien überhaupt keinen Sauerstoff mehr zu enthalten. Ich fühlte mich wie eingeschnürt und der Drang endlich tief einzuatmen brachte mich beinahe um den Verstand.

    Plötzlich prallte ich gegen Tom. Abrupt war er stehen geblieben und tastete etwas vor sich ab. Ohne meine Hand loszulassen strich er über einen unsichtbaren Gegenstand. Etwas schabte und knackte, doch das Licht und die Luft veränderten sich nicht. Er dirigierte meine Hand zur Seit und folgsam hielt ich mich an seinem Pullover fest.

    Mit Schwung wurde ich nach vorne gezogen, als er sich mit der Schulter gegen den Gegenstand stemmte. Wieder knackte es und diesmal folgte ein Quietschen aus alten Scharnieren. Er stemmte sich weiter dagegen und schließlich verschwand der Widerstand. Mit zu viel Schwung stolperten wir weiter. Aus der Wolke heraus in einen dunklen, hohen Raum. Doch die Luft war klar und Schemen, Konturen und Schatten wurden wieder sichtbar.

    Ich hatte seinen Pullover losgelassen, als ich ihn plötzlich keuchen hörte.

    »Heilige Mutter Gottes!« Seine Stimme hallte hohl durch die riesige Halle und ein schwaches Echo waberte uns entgegen.

    »Du kannst wirklich nicht richtig fluchen.«, lachte ich und hielt mir schnell den Mund zu. Doch es war schon raus. So schnell ich mich in der Dunkelheit wagte, schloss ich zu ihm auf. Ein ewig breiter Graben erstreckte sich vor uns. Und so wie die Kiesel knirschten und kullerten, wäre er wohl beinahe hineingestolpert. Ich starrte nach unten. In unendlicher Tiefe wartete jedoch keine Dunkelheit, sondern Licht. Ein klarer hellblauer Schein strahlte uns entgegen und ich bildete mir ein, kleine grüne Flecken zu sehen. Als würde man von weit oben auf die Welt oder ein kleines Stück Land hinunterblicken.

    Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken legte ich meine Hände an seine Taille und zog ihn langsam von der Kante weg. Es reizte mich selbst hinunter in das seltsame Loch zu starren, doch ich zwang mich einen Schritt zurück zu treten.

    Wenn wir dort hinunterfielen, wären wir nicht einfach nur tot, wir wären platt. Ein Fleischsack voller Knochenfragmente. Im wahren Leben würde man vermutlich während des Sturzes bereits das Bewusstsein verlieren und von seinem Elend glücklicherweise überhaupt nichts mehr mitbekommen. Hier allerdings war das anders. Wir konnten zwar nicht sterben, doch dass was uns danach erwartete, bis wir erwachten wäre die Hölle. Es hatte mir gereicht eine Nacht lang den Tod durch eine Schussverletzung in allen seinen Einzelheiten wieder und wieder zu durchleben. Einen Sturz aus dieser Höhe würde ich mir daher lieber ersparen. Das er normalerweise mit dem Tod endete war vermutlich Gnade.

    Langsam ließ ich Toms dickes schwarzes Sweatshirt los und zwang meine Finger in eine weniger verkrampfte Haltung. Zögerlich sah ich mich um. Ich hatte zwar gehofft, dass die seltsame giftige Nebelwand ein Übergang, wohin auch immer, war. Doch damit hatte ich nicht gerechnet. Es war wieder einmal nicht wirklich abstrakt genug. Aber wer wusste schon wie weit der Weg in das Unterbewusstsein eines schlafenden Menschen war.

    Mit in den Nacken gelegten Kopf nahm ich die Umgebung in mich auf. riesige hohe Holzwände umgaben uns. Und obwohl es ein geschlossener Raum war, wirkte er unendlich groß. Verschachtelte Verzierungen überzogen die Wände und hölzerne Rahmen, Gesimse und Absätze zogen sich über die Flächen. Das Holz leuchtete mit einem dunklen, weichen Glanz. Doch nach einer Decke suchte ich vergeblich. Die Wände endeten, doch darüber war nichts. Dunkelheit vielleicht oder Stein. Doch was es auch war, ich konnte es nicht wahrnehmen.

    Auf der anderen Seite des Schachtes war ein schmaler Felsvorsprung und dahinter eine weitere Tür. Sie war aus dem gleichen Holz wie die Wand hinter uns und ähnliche Verzierungen schmückten die beiden hohen Flügel. Knirschend ging ich am Rand der Klippe entlang. Wenn auf der anderen Seite eine Tür war, musste man schließlich irgendwie hinübergelangen können. Kleine Kiesel sprangen klickend von meinen Schuhen und tanzten über den Boden. Einzelne stürzten hinab ins Ungewisse.

    »Maeve.« Toms Stimme hallte leise durch den hohen Raum und ein waberndes Echo sprang von den Wänden zurück. Ich blieb stehen und drehte mich um.

    Tom war mir wenige Schritte gefolgt, bevor er stehen geblieben war. Jetzt stand er wieder waghalsig dicht am Abgrund.

    »Geh lieber nicht so dicht an den Rand.«, sagte ich und ging eilig, aber vorsichtig, zu ihm zurück. Er bewegte sich nicht von der Stelle. Erst als ich bei ihm ankam und eine Hand auf seine Schultern legte, blickte er wieder auf. Ich versuchte ihn weiter in den Raum hinein zu ziehen, doch er griff nach meiner Hand, um mich aufzuhalten.

    »Schau mal.«, mit dem Finger deutete er vor sich in die Tiefe. Zögerlich trat ich wieder einen Schritt näher an den Abgrund. Er würde mich nicht hinunterstoßen. Das war nur Tom. Ich konnte ihm vertrauen. Ich atmete tief durch und stellte mich neben ihn. Dann folgte ich mit dem Blick seiner ausgestreckten Hand. Ein kleines Stück unterhalb der losen rauen Kante des Bodens hing ein Balken in der Luft. Zumindest sah es so aus. Die lose Erde zog sich gut zwanzig Meter in die Tiefe, bevor das Podest endete und nur noch Luft und Licht und ferner Boden übrig war. Ganz dicht an dieser Wand aus Erde und Gestein schwebte ein Holzbalken. Ich konnte nicht sehen woran er befestigt war. Er schien lose in der Luft zu hängen. Von der Ebene auf der wir standen, war es vermutlich nicht einmal ein Meter. Ein Katzensprung, so zu sagen. Und als ahnte ich nicht schon jetzt worauf es hinauslaufen würde, entdeckte ich in dem Moment den zweiten Balken.

    Wie eine sehr lose Hängebrücke spannte sich ein Weg über den Abgrund. Holzbalken von der Breite eines Schwebebalkens reihten sich parallel zu einander durch die Luft. Das war schon machbar. Der Abstand zwischen den Objekten bereitete mir allerdings etwas Sorgen. Ein Schweißtropfen rollte über meine Stirn und tropfte auf meine Nase. Ich sah in Toms abwartendes Gesicht. Er schien begeistert, dass er den Weg entdeckt hatte. Aber nicht minder besorgt über dessen Zustand. Doch wir mussten nicht darüber diskutieren. Die Entscheidung war bereits gefallen, als wir entschieden hatten den fauligen Nebel zu betreten.

    »Ganz schön heikel was wir hier machen.«, sagte ich und blies mir die Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich frage mich ob das Unterbewusstsein nicht doch ein Ort ist der lieber unberührt bleiben sollte...«

    Tom lächelte und drückte meine Hand. »Genau deshalb gibt es nur diesen Weg, glaube ich.« Er zeigt zurück auf die Tür durch die wir gekommen waren. »Das sind Schutzvorrichtungen. Barrieren, damit man hier nicht einfach hineinspazieren kann. Der faule Nebel hält die meisten Leute fort, schließlich bekommt man dort keine Luft mehr. Das hier scheint für die ganz hartnäckigen zu sein.«

    Ich atmete geräuschvoll aus. Mein Herz hatte wieder begonnen wie ein Kolibri zu flattern. »Wir sind also die Hartnäckigen?«

    Seine Zähne blitzten als er breiter lächelte. Doch das Unbehagen stand ihm, wie mir, deutlich ins Gesicht geschrieben.

    »Wir sind das Sondereinsatzkommando. Nichts kann uns aufhalten.«

    Ich lachte verzweifelt. Aber er hatte recht. Wir hatten eine Mission. Und da ich gestern unsere Zeit bereits erfolgreich - und sinnlos - vergeudet hatte, sollte ich mich heute durch nichts aufhalten lassen.

    Bevor ich also weiter darüber nachdenken konnte, ließ ich Toms Hand los und sprang von dem Absatz auf dem ich stand. Ein erschrockener Schrei entfuhr ihm.

    Mit flatternder Strickjacke rauschte ich nach unten und landete mit einem schweren dumpfen Ton. Der Aufprall war so hart und abrupt, dass es mir die Wirbelsäule stauchte und ich keuchend in die Knie sackte. Prompt verlor ich das Gleichgewicht. Ich ruderte panisch mit den Armen und blieb schließlich still auf dem Balken hocken.

    Seufzend ließ ich mich auf den Hintern fallen, sodass meine Beine rechts und links in der Luft baumelten. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich die Luft angehalten hatte.

    »Heilige verdammte... arg!«

    Erschrocken sah ich nach oben. Tom war kreidebleich und zog sich mit entrücktem Blick an den Haaren. »Hast du den Verstand verloren!«

    Es war schon lange her, dass ich ihn zum letzten Mal so laut erlebt hatte. Fünf Tage, um genau zu sein. Bei dem Rabats, den er machte, rutschte mir das Herz in die Hose. Was wenn ich ihn aus Versehen hinuntergestoßen hätte! »Tut mir leid!« Mehr fiel mir im Moment nicht ein. »Geht es dir gut?«, rief ich hinter her und stemmte mich vorsichtig wieder hoch, sodass ich mich hinstellen und aufrichten konnte.

    »Mir geht es gut. Aber ich glaube du hast den Verstand verloren!« Er lachte schnaubend auf. »Meine Güte Maeve! Du kannst doch nicht einfach so da runterspringen!« Wieder rieb er sich über das Gesicht und raufte sich die Haare. »Geht es dir gut?«

    Ich blickte an mir hinunter. Meine Beine fühlten sich an wie Gummi. Doch der Boden unter meinen Füßen, wenn auch nur knapp zehn Zentimeter breit, war fest und sicher. Er kippelte nicht einmal, wie man es von solchen Geheimwegen eigentlich erwartete. Mein Blick glitt wieder nach oben und ich lächelte zittrig, als ich sein Gesicht erblickte und die noch immer tellergroß aufgerissenen Augen. Ich zuckte die Schultern. »Mir geht‘s gut.«

    Er stöhnte und ließ sich in die Hocke sinken. Entnervt rieb er sich über die Augen. Nach einem kurzen Moment sah er mich schließlich wieder an. »Du bist unmöglich!«

    Wenn er gekonnt hätte, hätte er mich vermutlich geschüttelt, aber ich stand zu weit entfernt. Letztendlich richtete er sich wieder auf und versetzte sich zurück in einen ernst objektiven Zustand... »Soll ich zu dir runterspringen, oder willst du schon einmal auf den nächsten Balken klettern?«

    Ich warf einen unsicheren Blick auf den nächsten Balken. Er schwebte etwa in Brusthöhe, ein gutes Stück vor mir. Es wäre nicht einfach dorthin zu gelangen. Zumindest nicht für mich. Wenn er allerdings zu mir auf den Balken sprang, könnte das einen von uns aus dem Gleichgewicht bringen. Allerdings könnten wir uns auch jeweils selbst aus dem Gleichgewicht bringen, da war es wohl besser, wenn eventuell noch jemand anderes nach der eigenen Hand greifen konnte. Ich trat an den äußersten Rand meines Holzbalkens. »Spring du erst mal zu mir.«, sagte ich.

    Tom nickte. Anders als ich versuchte er die Lage des Balkens vorher genauer ab zu schätzen, anstatt einfach ziellos nach unten zu springen. Schließlich setzte er sich auf die Kante des Vorsprungs auf dem wir vorher gestanden hatten und ließ sich langsam nach unten ab. Da er gefühlte zwei Meter groß war, erreichten seine Fußspitzen bereits den Balken, noch bevor er oben losgelassen hatte. Vorsichtig drückte er sich von der Wand ab. Mit einem winzigen Schwanken kam er vor mir zum Stehen. Seine Augen waren dunkel und die Brauen zu einer ernsten Grimasse zusammengezogen.

    »Wenn der Balken hier ein bisschen breiter wäre, würde ich dir jetzt die Leviten lesen.«, sagte er mit Grabesmiene. Ich konnte nichts tun als beschämt den Mund zu verziehen. Erschrocken zuckte ich zusammen, als er mir mit den Knöcheln einmal leicht auf den Kopf klopfte. »Mach das bloß nie wieder.«, sagte er tadelnd.

    Ich nickte. Musste mir aber dennoch ein Lachen verkneifen. Stoßhaft atmete er aus und drehte sich dann vorsichtig nach vorne.

    Noch immer waren seine Augenbrauen fest zusammengezogen, während er überlegte, wie er mich Zwerg auf den nächsten Balken bringen könnte. »Ich glaube deine einzige Chance ist zu springen.«, sagte er schließlich trocken. Ich schluckte. Jep. Springen, das war auch der Schluss auf den ich gekommen war.

    »Ich würde dir diesmal den Vortritt lassen.«, ich grinste unsicher. »Vielleicht kannst du mir helfen, wenn du schon drüben bist...«

    Er nickte. Obwohl er sicherlich mit den Händen an den nächsten Balken gekommen wäre holte er Schwung und sprang mit einem Satz hinüber. Keuchend klammerte er sich an dem Balken fest, als ihm der Aufprall die Luft aus den Lungen presste. Es dauerte einen Moment, doch dann begann er zu strampeln und kämpfte sich mit verbissenem Blick auf das klobige Stück Holz hinauf.

    Es machte mir nicht gerade Mut...

    Unstoppable - Sia

    All smiles, I know what it takes to fool this town

    I‘ll do it ‚til the sun goes down and all through the night time

    Oh yeah

    Oh yeah, I‘ll tell you what you wanna hear

    Leave my sunglasses on while I shed a tear

    It‘s never the right time

    Yeah, yeah

    2.

    Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit und es sah furchtbar schmerzhaft aus. Doch schließlich hatte er es geschafft. Er lag bäuchlings auf dem schmalen Brett und klammerte sich schwer atmend fest.

    »Ich muss sagen, ich bin ehrlich froh, dass das Unterbewusstsein dermaßen gut geschützt ist.«, sagte er und legte den Kopf ebenfalls ab. Ich konnte nur leidend das Gesicht verziehen. »Wenn es denn tatsächliche das Unterbewusstsein ist, dass all das hier veranstaltet...«

    Ich blickte an ihm vorbei auf die Strecke die noch vor uns lag. Es wunderte mich wirklich, wie so viele Träumer hatten sterben können. Schließlich hatte Tom gerade einmal den zweiten Balken erreicht, und ich stand noch ganz am Anfang. Wie sollten wir es auf die andere Seite schaffen? Wir waren schon jetzt komplett am Ende und hatten noch nicht einmal ein Viertel des Weges zurückgelegt.

    »Also wenn am anderen Ende nicht irgendwo der Träumer zu finden ist, wäre das wirklich unfair.«

    Tom stöhnte. Letztendlich stemmte er sich hoch und sah mich auffordernd an.

    »Glaubst du nicht, dass es eine andere Möglichkeit gibt?«, fragte ich hoffnungslos und dachte an die vielen Möglichkeiten, die wir hatten, wenn ich die Realität im Traum nur ein wenig beugen würde. Doch mir war bewusst, dass ich so dicht an unserem Ziel nicht mehr herum zaubern durfte. In der aktuellen Lage, konnten wir wirklichen keinen ungebetenen Besuch gebrauchen. Noch dazu, wenn dieser versuchte, uns mit einer Schrotflinte in die ewigen Jagdgründe zu schicken. Und leider war genau das die Folge, die meine Tricks bisher noch jedes Mal nach sich gezogen hatte. So effektiv, dass ich eine klar zu lesende Fährte hinterließ, selbst wenn ich nichts tat, außer zu atmen. Tom seufzte. »Es ist nicht für die breiten Massen gedacht. Aber das wussten wir ja.«

    Ja, das wussten wir. Ich war mir allerdings trotzdem zu einhundert Prozent sicher, dass ich gnadenlos an dem Holzstück vorbei segeln würde... Tom schien mir die Gedanken am Gesicht ab zu lesen. Er setzte eine sichere Miene auf. »Komm. Es kann dir nichts passieren.«

    Haha. Wenn er wüsste. Nach Freitagnacht hatte ich vor, nie wieder zu sterben. Außer das eine Mal, dass unumgänglich war, natürlich. Aber nie wieder hier im Traum, wo man das Unglück wieder und wieder erleben musste, bis die Nacht zu Ende war.

    Ich wischte mir erneut den Schweiß aus der Stirn und zog, einer spontanen Eingebung folgend, die dünne weite Strickjacke aus, die lose über meine Schultern hing und mich ganz sicher beim Sprung irgendwie behindern würde. Rücksichtslos ließ ich sie einfach über dem Abgrund fallen. Mit einem dramatischen Aufwallen taumelte sie in die Tiefe. Eine Weile sah ich ihr nach, wie der helle gelbe Fleck immer kleiner wurde und schließlich verschwand. Mir wurde regelrecht schlecht dabei. Schließlich blickte ich auf und musste feststellen, dass Tom mit ebenso blassem Gesicht hinunter starrte.

    Unsicher klopfte ich meine Hände trocken. Bereiter als jetzt, würde ich nicht mehr werden. Ich atmete ein letztes Mal stoßhaft aus, sodass auch Tom bemerkte, dass ich springen würde. Er sah auf und ich ging sprung- bereit in die Hocke.

    Mit einem Satz rauschte ich gegen das Holz. Der harte Widerstand und die Wucht pressten meine Lunge zusammen. Vor Schmerz hätte ich beinahe wieder losgelassen, doch plötzlich drückte etwas Warmes gegen meine Handgelenke. Tom stützte sich mit vollem Gewicht auf meine Unterarme, während ich keuchend versuchte Luft zu bekommen. Er lächelte begeistert, als hätte ich gerade eine olympische Sensation vollbracht. Ich hätte gelacht. Ehrlich. Wenn ich nur ein bisschen mehr Luft und ein bisschen weniger lähmende Todesangst hätte.

    Eine Weile baumelte ich einfach über dem Abgrund. Doch schließlich beruhigten sich meine Gedanken.

    »Okay, Maeve. Nimm jetzt ein bisschen Schwung, sodass du mit der Ferse auf den Balken kommst.«

    Wie gesagt, ich hätte gelacht. Doch wie immer schien Tom jede Gefühlsregung in mir lesen zu können. Ich konnte beinahe fühlen, wie er versuchte mir die Angst auszureden. »Es wird nichts passieren. Ich halte dich.«, sagte er und sah mir mit festem Blick in die Augen.

    »Ja.«, sagte ich keuchen. Wieder konnte ich nur ausatmen, während meine Knie vom Zittern langsam taub wurden. »Und wenn wir runterfallen, brechen wir uns für den Rest der Nacht ja auch nur immer wieder alle Knochen...« Verzweifelt holte ich mit einem Bein aus. Manchmal fragte ich mich wirklich wie ich in die Situationen kam, in denen ich letztendlich war.

    »Hä.«, machte Tom und sah mich verwirrt an. Doch sein Griff um meine Arme lockerte sich kein bisschen. Das war ja schon einmal etwas.

    »Vergiss es.«, presste ich hervor. Mittlerweile pendelte ich wie eine Standuhr hin und her. Wirklich viel Hoffnung hatte ich noch immer nicht. Dennoch holte ich erneut Schwung. Und pendelte wieder zur anderen Seite. Dieser blöde Körper! So ganz ohne verbleibende Energie war dieser Zellanzug verdammt schwer. Langsam wurde ich auf mich selbst wütend. Die Enttäuschung hatte ich bereits restlos aufgebraucht. Mit letzter Verzweiflung holte ich aus und stieß - oh Wunder - mit dem Fuß gegen etwas Festes. Ich wagte einen weiteren Versuch und schließlich krachte meine Ferse auf das Holz. Mit einem Schrei der Entzückung, der sich eher als tierisches Keuchen äußerte, quälte ich mich nach oben. Zitternd wie ein Kaninchen lag ich auf dem Bauch und umarmte den verdammten Balken.

    »So schaffen wir das nie.«, keuchte ich. »Zumindest nicht, bevor jemand stirbt oder aufwacht.«

    Tröstend klopfte er mir auf den Rücken. »Hast du schon mal davon gehört, dass Menschen ganz unmögliche Dinge geschafft haben, nur weil sie Angst hatten und ihr Körper sie deshalb mit jeder Menge Adrenalin versorgte?«

    Ich lachte trocken auf. »Ja, habe ich. Aber hast du schon davon gehört, dass man wirklich nur schwer gehen kann, wenn einem die Knie schlottern?«

    Zittrig drückte ich mich nach oben, sodass wir einander gegenübersaßen, doch ich wagte es kaum mich zu bewegen. Das Holz war viel zu schmal als dass ich mich sicher fühlen könnte und meine Beine baumelten frei über dem Abgrund. Meine Fingernägel schabten über die Vertiefungen im Holz, während ich weiter nach Halt suchte.

    »Wir schaffen das schon. Wenn mich nicht alles täuscht, steigen die Balken von hier ab nur noch langsam an.«

    Ich sah in die Richtung in die wir gehen wollten und folgte mit dem Blick der leichten Steigung.

    Nachdem der erste Balken unterhalb der Kante angebracht war, musste man sich Stück für Stück nach oben kämpfen, um die höher liegende anderen Seite zu erreichen. Doch er hatte Recht. Währen der Schritt von Balken eins zu Balken zwei fast eine Körperlänge nach oben ging, schienen die weiteren Balken nur noch um Zentimeter anzusteigen.

    »Was passiert auf der anderen Seite? Von der Höhe aus schaffen wir es doch gar nicht auf die Plattform.« Ich versuchte mich weiter zu konzentrieren, damit das Zittern nachließ und ich mich wieder beruhigen konnte. Das war wie Mathe. Wenn man sich so sehr auf etwas konzentrieren musste, vergaß man einfach, was man gerade eben noch gefühlt hatte. Zumindest hatte mir das bisher immer geholfen. Statt meine Hausaufgaben zu machen zwang ich mich jetzt jedoch den Höhenunterschied des letzten Balkens und der Kante der Plattform abzuschätzen.

    »Mach dir nicht zu viele Gedanken. Das sehen wir dann, wenn wir drüben sind. Andere haben das schließlich schon vor uns geschafft.«

    Vorsichtig und nur ganz langsam stand Tom auf. Während er sein Körpergewicht ausbalancierte reichte er mir eine Hand. Mit seiner Hilfe ließ auch ich letztlich das sichere Holz los und wagte es, mich wieder aufrecht hin zu stellen.

    »Glaubst du diese Schutzbarrieren sind jedes Mal gleich.«, fragte ich skeptisch.

    Tom zog einen Mundwinkel zu einer verkniffenen Grimasse nach oben. »Eigentlich nicht.«

    Ja. Ich auch nicht. »Glaubst du es ist schon jemand da. Beim Träumer?«

    »Allerdings.«

    Dann sollten wir uns lieber beeilen. Auch Tom wirkte bei diesem Gedanken etwas gehetzt. Er wand sich mir zu und ich wusste, dass er aus Gewohnheit meine Hand nehmen wollte, um gemeinsam weiter zu gehen. Doch dann schien ihm auf zu fallen, dass das in dieser Situation eher unpraktisch war. Auf halbem Wege ließ er die Hand wieder sinken. Kurz schüttelte er den Kopf. »Bist du bereit?«

    Ich nickte. Es erschien mir entschlossener, als ich mich tatsächlich fühlte. Aber der Weg zurück wäre vermutlich nicht einfacher.

    Wieder holte er Schwung und sprang auf den nächsten Balken. Es sah beinahe einfach aus. Er fing sich gekonnt ab und ging in die Knie, um das Gleichgewicht zu halten. Einen Moment verharrte er, dann richtete er sich wieder auf. Ich seufzte. Mir war bewusst, dass es bei mir nicht so glatt gehen würde, trotz der fehlenden Steigung.

    Ergeben ging ich in die Knie und drückte mich ab. Wind rauschte in meinen Ohren und lose Haarsträhnen klebten an meinem Gesicht. Mit einem erneuten Keuchen klatschte ich auf das Holz. Meine Beine baumelten auf der einen Seite, während ich mit den Armen um das Holz herumgriff. »Ich hasse meine Leben.«, keuchte ich atemlos. Dass ich mir bisher noch keine Rippe gebrochen hatte war ein Wunder. Allerdings ein absehbarer Schaden, wenn ich weiterhin mit so viel Schwung auf meinem Brustkorb landete. Ich kämpfte mich nach oben, sodass ich wieder auf dem Balken saß. Obwohl es anstrengend war, musste ich zugeben, dass es nicht mehr so schlimm war, wie der Balken davor.

    Sobald ich wieder aufrecht und halbwegs sicher stand, sprang Tom zum nächsten Balken. Leichtfüßig wie eine Wildkatze machte er es einem nicht gerade leicht, keinen Neid gegenüber seinen langen Beinen zu entwickeln.

    Ich landete drei Mal auf den Beinen und vierzehn Mal auf dem Brustkorb. Beim fünfzehnten Mal entschied ich, niemals Footballer zu werden, während die schmerzhafte Atemlosigkeit durch den harten Aufprall langsam chronisch wurde. Bei meinem insgesamt neunzehnten Sprung, hatte ich ein relativ gutes Gefühl. Die kalte Luft schnitt über meine erhitzte Haut. Mit einem seltsamen Knirschen der Gummisohlen landete ich auf den Zehenspitzen und rutsche ab. Ich schlug auf die Knie und kippte nach hinten. Doch bevor ich auch nur einmal mit den Armen durch die Luft rudern konnte, drückte mich ein sanfter Stoß wieder in die richtige Richtung. Ich strauchelte erneut, was dazu führte, dass ich abermals auf meinen Brustkorb krachte und mich verzweifelt mit den Armen an das kantige Material klammerte. Ein unterdrücktes Lachen ließ mich aus meiner baumelnden Position nach oben schauen. Beschämt legte sich Tom eine Hand über den Mund. »Wenn es nicht so verdammt tief wäre, wäre es wirklich ein Genuss dir zu zusehen.«

    »Ja, haha. Ich habe dich auch lieb.«

    Ich quälte ein Bein nach oben, doch langsam ging mir wirklich die Kraft aus. Ich kam mir lächerlich unsportlich vor. Es war mir peinlich und ich schämte mich, dass ich nur so von Schritt zu Schritt stolperte. Allerdings konnte ich ihn verstehen. Wenn ich mir als Unbeteiligter von außen zusehen würde, müsste ich sicherlich auch lachen.

    »Aaaw.«, machte Tom. Und zwei Hände packten mich unter den Achseln und zerrten mich nach oben auf den Balken. »Ich habe dich auch lieb.«

    Er stellte mich ab wie ein Kleinkind und ich konnte ehrlich nicht sagen, ob er es ernst meinte, oder sich nur an meinem Sarkasmus beteiligte. Ich musste ihn angucken wie ein Uhu. Mit leicht geöffnetem Mund und großen Augen. Er lachte wieder und stieß ganz leicht mit seiner Stirn gegen meine.

    Es war ein seltsamer Moment. Und es wäre mir auch peinlich gewesen, doch im Moment hatte ich in meinem Kopf einfach keinen Platz für noch mehr Emotionen. Zu viel Adrenalin und Angst vor einem Absturz.

    »Hast du schon bemerkt, dass wir drüben sind?«, fragte Tom schließlich und zog seinen Kopf vorsichtig zurück. Ich wäre beinahe umgekippt. Was seine Mundwinkel erneut zum Zucken brachte. Ich riss meinen Blick los und starrte nach vorne auf die Erdwand. Einen großen Schritt vor uns war der letzte Balken. Nah genug, dass kein Sprung notwendig war. Er schwebte ganz dicht an der Wand, jedoch noch immer ein Stück unterhalb der Plattform. Tom machte einen großen Schritt und blieb mit einem Bein auf beiden Balken stehen, um mir auf die andere Seite zu helfen. Dann standen wir plötzlich sicher auf dem letzten Balken.

    »Kommst du mit den Händen an die Kante?«, fragte Tom und ich folgte seinem Blick nach oben. Ich lehnte mich mit den Händen an die Erde und streckte mich nach oben. Doch ich konnte nicht über die Kante hinweg greifen, obwohl ich auf den Zehenspitzen stand. Resigniert ließ ich mich zurücksinken und schüttelte den Kopf.

    »Okay. Wir haben zwei Möglichkeiten. Entweder ich gehe rauf und ziehe dich hoch, oder ich gebe dir hier unten Starthilfe und versuche dann selbst hoch zu klettern.«

    Ich sah von ihm zu der Wand. Leider konnte ich nicht einschätzen wie schwer es war ohne Hilfe von hier aus nach oben zu klettern. Die Erde war nur locker geschichtet und würde den dicken Sohlen seiner DocMartens nicht viel Widerstand bieten, bevor die einzelnen Brocken heraus bröselten. Und ob

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