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Galisia
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eBook485 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Deutschland in einer möglichen Zukunft.
In der Chefetage einer Bank kommt es zu einer folgenschweren Begegnung, ein Wirtschaftsmagnat wird ermordet aufgefunden und kurz darauf stirbt ein hochrangiger Politiker einen grauenvollen Tod. In den metaphorisch inszenierten Taten glauben Kommissar Vincent Brandt und Kriminalpsychologin Thea Voss Botschaften zu erkennen.
Während die Menschen im Land, deren Alltag von Versorgungsproblemen und elektronischer Überwachung geprägt ist, den Täter feiern, wie den wiederauferstandenen Robin Hood, kollidiert Brandts unerschütterliches Gerechtigkeitsempfinden zunehmend mit dem Werteverständnis gesellschaftlicher Entscheidungsträger. Begleitet und inspiriert von inneren Konflikten kommt er Schritt um Schritt einer unglaublichen Wahrheit auf die Spur.
Der Autor entwirft ein beunruhigendes Zukunftsszenario mit Tiefgang und einer guten Portion Wortwitz.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum9. März 2017
ISBN9783741899249
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    Buchvorschau

    Galisia - Gerald Förster

    Galisia

    Titel Seite

    Prolog

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Epilog

    Gerald Förster

    Galisia

    Deutschland in einer möglichen Zukunft.

    In der Chefetage einer Bank kommt es zu einer folgenschweren Begegnung, ein Wirtschaftsmagnat wird ermordet aufgefunden und kurz darauf stirbt ein hochrangiger Politiker einen grauenvollen Tod. In den metaphorisch inszenierten Taten glauben Kommissar Vincent Brandt und Kriminalpsychologin Thea Voss Botschaften zu erkennen.

    Während die Menschen im Land, deren Alltag von Versorgungsproblemen und elektronischer Überwachung geprägt ist, den Täter feiern, wie den wiederauferstandenen Robin Hood, kollidiert Brandts unerschütterliches Gerechtigkeitsempfinden zunehmend mit dem Werteverständnis gesellschaftlicher Entscheidungsträger. Begleitet und inspiriert von inneren Konflikten kommt er Schritt um Schritt einer unglaublichen Wahrheit auf die Spur.

    Der Autor entwirft ein beunruhigendes Zukunftsszenario mit Tiefgang und einer guten Portion Wortwitz.

    Copyright: © Gerald Förster

    Covergestaltung: © Gerald Förster

    Druck: epubli GmbH, Berlin

    ISBN 978-3-7418-9924-9

    Prolog

    Und ich sah einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund ... in seiner Hand.

    (Offenbarung des Johannes 20,1)

    Er sah noch einmal nach dem Kuvert, das Mariella Popp ihm am Nachmittag auf den Schreibtisch gelegt hatte. »Dem Herrn von Aktien und Papieren - zum Fünfzigsten! Wir gratulieren« stand in schnörkeliger Handschrift auf seiner Vorderseite. Das kommt dabei heraus, wenn Sekretärinnen sich im Reimen versuchen, dachte Wolf Gulau amüsiert. Eine Perle, diese Frau.

    Gedankenversunken blickte er durch die breite Glasfront hinaus auf das hell erleuchtete Bankenviertel. Es war eine unglaubliche Aussicht von Deutschlands höchstem Gebäude. Vorhin hatte er fasziniert den farbenprächtigen Sonnenuntergang hinter dem Taunus betrachtet und dabei an den Tag vor dreizehn Jahren denken müssen, an dem der neue Germania Bank Tower mit Pomp und großem Tamtam eingeweiht worden war. Es war ein denkwürdiger Tag gewesen. Und ein richtungsweisender zugleich. Nach Käsehäppchen hatte es im Atrium nicht wieder geduftet, ebenso wenig, wie das alberne Gekicher der Hostessen dort je wieder gehört worden wäre. Was seither hingegen wie eine gute Tradition gepflegt wurde, waren die Zusammenkünfte mit dem Kanzler, hier in der achtundneunzigsten Etage, wo seinerzeit die Erwartungen formuliert und die Kompetenzen abgesteckt worden waren. In der Folge kam es zu einem für beide Seiten gedeihlichen Arrangement, von dem man fortan einträchtig profitierte. Seine Bank war zu einem der potentesten Geldhäuser in Europa aufgestiegen, er selber rangierte auf der Forbes-Liste der European Billionaires unter den Top Ten, noch vor den russischen Gasoligarchen, und Kanzler Brutus Aitel war mit seiner inzwischen vierten Amtszeit belohnt worden. Keinerlei Anlass zur Klage, war sein stilles, nicht uneitles Resümee. Gelegenheit für den Puppenspieler, die Fäden für einige Tage aus der Hand zu geben und sich eine Verschnaufpause zu gönnen.

    Die Führungsebene hatte zusammengelegt und ihm eine Reise nach Kanada geschenkt. Kanada. Land des Ahorns und der Grislybären. Allein im Klang dieses Namens schwang noch immer etwas mit, das seine Sehnsüchte weckte, grenzenlose Sehnsüchte, die sich für ihn in der Unendlichkeit der nordamerikanischen Prärien versinnbildlichten.

    Es war Samstag. Die Angestellten, die sonst die oberen Etagen mit Leben erfüllten, waren längst im Wochenende. Den ganzen Abend hatte er sich durch Aktenberge gegraben. Jetzt sah er zum ersten Mal auf die Uhr. Gleich zwölf. Rasch sortierte er noch einige Unterlagen auf einen Stapel, bevor er seinem gläsernen Turm für zwei Wochen den Rücken kehren würde. »Vancouver Island, ich komme«, summte er einstimmend zu »Fare fare away«, der Hymne der Weltenbummler, vor sich hin. Dabei schien es ihn in keiner Weise zu stören, dass sein Text nicht auf die Melodie passen wollte. Eben stellte er sich vor, wie er vor der imposanten Kulisse des Golden Hinde einen kapitalen Lachs aus dem Sproat Lake zog, als er aus der Garderobe hinter sich ein leises, sirrendes Geräusch und, aus dem Augenwinkel heraus, einen sonderbar fahlen Lichtschein wahrnahm. Was ist das, fragte er sich eher beiläufig und ohne sich umzublicken. Egal, was sollte es schon sein. Er musste sich jetzt beeilen. In wenigen Stunden ging der Flieger.

    Beschwingt küsste er den Briefumschlag und wollte sich just erheben, als er plötzlich heftig zusammenfuhr. Etwas Kaltes drückte gegen seinen Nacken. Für einige Sekunden stockte ihm der Atem. Schweiß trat auf die Stirn. Sein Puls begann zu hämmern. »Was ... wer sind Sie?«

    Im gleichen Maße, in dem er versuchte sich umzudrehen, spürte er den Druck zunehmen. Ein dünnes, warmes Rinnsal lief an seinem Hals herab und versickerte im Hemdkragen. »Wer sind Sie? Wie sind Sie hier hereingekommen? Was wollen Sie? Geld? Ich habe Geld.« Mit jedem Wort klang seine Stimme hektischer. Er zeigte auf einen in die gegenüberliegende Wand eingelassenen Tresor. »Der ist voll davon. Bedienen Sie sich. Es gehört Ihnen. Alles!« Verstohlen blickte er zum Alarmknopf.

    »Denken Sie erst gar nicht daran«, warnte der Eindringling grimmig entschlossen.

    »Sie dürfen sich nehmen, so viel sie wollen. Bitte!«

    »Glauben Sie, ich würde um Ihre Erlaubnis bitten, wenn ich mir etwas nehmen wollte?«

    »Um Himmels willen! Was wollen Sie denn von mir?«, wimmerte der Bankdirektor. »Tun Sie mir nichts. Bitte! Heute ist doch mein Geburtstag.«

    Gulau war beileibe nicht das, was man einen zupackenden Typ nannte. Er war es gewohnt, dass andere für ihn Dinge erledigten. Bis weit ins Teenageralter hinein hatte ihm seine magere Erscheinung und eine vorstehende Zahnreihe, die sein Profil denkbar unvorteilhaft beeinträchtigte, kaum mehr als die Häme der Mitschüler eingebracht. »Kein Gesicht, sondern ein Malheur, was die Natur dir da an den Kopf gebastelt hat«, spotteten sie, aber ihre Demütigungen sollten bald in Respekt umschlagen. Das Erweckungserlebnis hatte er auf dem Internat. Sein Ruf als Schwächling und die damit einhergehende Erfolglosigkeit beim anderen Geschlecht hatten ihn zunehmend in Selbstzweifel stürzen lassen, als er eines Tages beherzt einer Kommilitonin einen Packen Scheine in die Hand drückte und diese sich daraufhin, zu seinem ungläubigen Erstaunen, auf ein Rendezvous mit ihm einließ. Mit dem Geld des Großvaters, der sechzig Jahre zuvor die größten Banken Deutschlands zu einem mächtigen Finanzkartell zusammenführte, hatte er das Mädchen gekauft. Menschen waren käuflich. Es war eine Erkenntnis, die sein Weltbild maßgebend prägen sollte. Von diesem Tag an zweifelte er nicht mehr. Er bediente sein Ego, wo und wann immer sich die Gelegenheit bot.

    Ein athletisch wirkender junger Mann mit rotblondem Schopf, er mochte Mitte zwanzig sein, vielleicht etwas älter, trat um ihn herum und hielt ihm eine japanische Klinge vor das Gesicht. Gulau fasste sich an den Hals. An drei seiner Finger klebte Blut.

    »Es heißt, Schwertmeister Masamune Okazaki selbst habe es geschmiedet.« Mit einem sonderbaren, fast leidenschaftlichen Blick sah der Fremde auf den glänzenden Stahl. »So alt schon und dennoch teilt es eine Kokosnuss ebenso leicht, wie eine grüne Gurke.«

    »Verstehe! Ich werde Ihnen keine Schwierigkeiten machen.«

    »Ich weiß«, entgegnete er in aller Gelassenheit. Gemächlich schritt er durch das großzügige Büro, blieb vor der Fensterfront stehen und sah hinaus in die Nacht. »Ziehen Sie Ihr Jackett aus. Und das Hemd!«

    »Was? Warum? Ich verstehe nicht.«

    Er hob das Schwert in die Höhe. »Genauso, wie vor dreizehn Jahren.«

    Gulau stutzte. »Wie? Was meinen Sie? Was wollen Sie denn von mir?«, jammerte er ein weiteres Mal und mühte sich nach Kräften, die Selbstbeherrschung nicht vollends zu verlieren. Der ungebetene Gast sah ihn mit stechendem Blick an und einen Moment lang bildete er sich ein, Flammen in dessen Augen lodern zu sehen.

    »Es war in einer lauen Augustnacht. Wie heute. Sie erinnern sich?«

    »Was? Nein! Dreizehn Jahre, das ist lange her.«

    »Dann will ich Ihrem Gedächtnis nachhelfen. Man hatte Sie an dem Tag zum Vorstand ernannt. Und es war Ihr Geburtstag. Wie heute. Ihr siebenunddreißigster. Erinnern Sie sich jetzt?«

    »Ja, äh ... ja«, stammelte der Bankier unsicher.

    »Gut. Dann erinnern Sie sich gewiss auch daran, dass es die Nacht war, in der Sie einen Menschen töteten. Das Jackett!«

    Im Bruchteil einer Sekunde lief Gulaus Hirn auf Hochtouren. Was meinte der Kerl? Er konnte nur ... Nein, das war nicht möglich. Wusste er ...? Unsinn! Gar nichts konnte er wissen. Niemand wusste etwas. Er versuchte einen Strategiewechsel. »Sie haben keine Ahnung, mit wem Sie sich anlegen. Ich spiele in der Oberliga. Und dort an der Spitze. Was Sie hier veranstalten, wird Sie den Kopf kosten. Also lassen Sie es besser sein. Ich brauche nur ...«

    Unvermittelt zuckte er zusammen. Die Klinge war leicht an seinem Hals entlanggefahren und jetzt spürte er ihre Spitze direkt an der Kehle. »Im Augenblick sollte Ihrem eigenen Kopf die größere Sorge gelten. Zum letzten Mal: ausziehen!«

    Gulau musste einsehen, dass sein Fluchtversuch nach vorn fehlgeschlagen war. Angesichts des schneidenden Argumentes an seinem Hals zog er sein Sakko aus und begann mit zittrigen Fingern, das Hemd aufzuknöpfen. »Wer, zum Teufel, sind Sie?«

    Der Fremde beugte sich langsam zu ihm herunter. »In jener Nacht vor dreizehn Jahren waren Sie mit ihrem Wagen im Bahnhofsviertel unterwegs. Sie waren auf der Suche. Auf der Suche nach jungem Fleisch. In der Kaiserstraße haben Sie zwei Burschen angesprochen. Einer der beiden stieg bei Ihnen ein. Ich konnte ihn nicht zurückhalten. ›Hör auf, dir Sorgen zu machen‹, rief er mir lachend zu, ›morgen dinieren wir im Hilton‹. Es waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte. Am nächsten Tag hat ihn die Polizei tot aus dem Main gefischt. Erwürgt. Vergewaltigt, erwürgt und weggeworfen. In seinen Taschen hat man mehr als zehntausend Neue D-Mark gefunden. Ihr Geld. Ich habe keine Sekunde gezweifelt, dass Sie ihn umgebracht haben.« Er kam dicht an Gulaus Gesicht heran. »Hat er genauso hilflos geschaut, wie Sie jetzt? Der Junge hieß Leon. Er war mein Freund. An seinem Grab habe ich geschworen, eines Tages Genugtuung für seinen Tod einzufordern. Dieser Tag ist heute gekommen. Bevor Sie sterben, will ich Ihnen die Gelegenheit geben, ihr Gewissen zu erleichtern.«

    »Sterben?«, schrie Gulau entsetzt auf. »Nein! Ich will nicht sterben. Ich kenne Ihren Freund nicht. Gehen Sie doch endlich!«

    »Sie sind nicht nur ein Mörder, sondern auch ein erbärmlicher Feigling«, schäumte der Fremde. Dabei verzerrte sich seine bislang gleichgültige Miene zu einer irren Fratze. Er holte zum Streich aus. »So soll es geschehen!«

    »Halt!«, kreischte Gulau bebend vor Angst. »Hören Sie auf! Ich gebe es zu. Ich gebe alles zu.«

    Langsam sank der Arm wieder nach unten. »Ich höre.«

    Verängstigt blickte der Bankier auf die Klinge, die unmittelbar vor seinem Gesicht schwebte. Die Adern an seine Schläfen waren angeschwollen. »In jener Nacht bin ich mit ihm zu einem Parkplatz am Mainkai gefahren«, erzählte er stockend. »Ich habe ihm keine besondere Beachtung geschenkt. Er war ein Stricher, so gut wie jeder andere. Wir hatten dreihundert Mark vereinbart. Als er mitbekam, wer ich bin, wurde er unverschämt. Plötzlich wollte er dreitausend. Sonst würde meine Frau morgen aus der Boulevardpresse erfahren, dass ihr Gatte kleine Jungs fickt. Da habe ich ihn geschlagen. Immer und immer wieder habe ich auf ihn eingeschlagen. Er hat sich nicht gewehrt. Ich habe ihm dann alles Geld in die Taschen gestopft, das ich bei mir trug.« Seine Stimme wurde heiser. Er atmete hastig. »Dann tat ich, wofür ich bezahlt hatte. Dabei habe ich zugedrückt. Fester und fester habe ich zugedrückt. Erst als er sich nicht mehr bewegte, habe ich losgelassen. Dann war es zu Ende. Wie erstarrt bin ich neben ihm gesessen ... wie erstarrt ... nur dagesessen. Als es dämmerte, habe ich seinen toten Körper aus dem Auto gezogen und in den Fluss geworfen.« Gulau sah zu Boden. »Ich habe ihn getötet. Und in den Fluss geworfen!« Erschöpft sank er in sich zusammen. »In den Fluss ...«, wiederholte er noch einmal tonlos.

    Im gleichen Moment riss ihm der Rotschopf das Hemd auf und presste einen metallenen, zylinderförmigen Gegenstand gegen seine Brust.

    Gulau schrie auf. »Was tun Sie da, was hat das zu bedeuten?«, stöhnte er und verzog gequält das Gesicht.

    Der Fremde war jetzt wieder völlig ruhig. »Wolf Gulau. Nomen est Omen. Ein passenderer Name für Sie hätte selbst mir nicht eingefallen können. Einer, der nicht fragt, der sich nimmt was er will. Und immer zu viel davon. Einer, der andere in den Ruin treibt oder beseitigt, wenn sie ihm im Licht stehen. Einer, der Milliarden hortet und für dreitausend Mark tötet. Haben Sie nie damit gerechnet, dass Ihnen diese Verfressenheit eines Tages zum Verhängnis wird?«

    Der Bankier fasste sich an die schmerzende Brust. Er war aschfahl geworden. Von seiner Stirn perlten Schweißtropfen. »Was soll das werden, ein Ethiktribunal? So funktioniert die Welt. Ich kann sie nicht ändern«, krächzte er matt.

    »Wenn nicht Sie, wer dann? Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr.« Der Fremde sah sich suchend um. Sein Blick blieb an dem alten, mannshohen Geldschrank hängen. »Öffnen Sie ihn!«

    Gulau schaute auf. Also doch! Ein blasser Hoffnungsschimmer. Mühsam erhob er sich und stolperte hinüber zu dem Safe, einem alten Hammeran von 1920. Eigentlich diente er nur der Dekoration, aber es sollte sich eine ausreichend große Menge Geld darin befinden, so spekulierte er. Bisher hatte noch jeder seinen Preis.

    »Ein schönes Stück«, befand der Fremde.

    »Nicht wahr? Das ist noch solide deutsche Wertarbeit«, erklärte Gulau, neuen Mut schöpfend. »Höchste Sicherheitsklasse, feuersicher bis zweitausend Grad, angeblich sogar wasserdicht. Eine echte Rarität.« Er drehte das Zahlenschloss abwechselnd nach links und rechts. Dann zog er die schwere Tür auf und zeigte hinein. In seinem Inneren türmten sich Geldbündel, die von unterschiedlich farbigen Banderolen zusammengehalten wurden. »Es dürften vier oder fünf Millionen sein. Nehmen Sie es. Machen Sie sich ein schönes Leben. Ich sorge dafür, dass Sie das Gebäude unbemerkt verlassen können.«

    Die Klinge fuhr wieder nach oben. »Sie haben es nicht verstanden«, erwiderte der unheimliche Besucher in einem Tonfall, der so frostig und erbarmungslos klang, dass es dem Bankier einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Der schwache Funke der Hoffnung, den er eben noch hatte glimmen sehen, erlosch. »Steigen Sie hinein« hörte er, wie durch einen Vorhang gedämpft, die unheilvolle Stimme sagen. Er begann am ganzen Leib zu zittern. Fahrig nestelte er an den Knöpfen seines offenstehenden Hemdes. »Steigen Sie hinein« hallte es wie ein düsteres Menetekel in seinen Ohren und schlagartig begriff er die Endgültigkeit, die in diesen drei Worten lag. Sehr schnell würde die Luft in dem stählernen Schrank aufgebraucht sein. Und in den nächsten zwei Wochen käme niemandem in den Sinn, nach ihm zu suchen. »Nein! Das dürfen Sie nicht! Hören Sie ... mein Flieger ... Frau Popp! Zu Hilfe!«

    »Mach schon.«

    Seine Pupillen weiteten sich vor Angst. »Ich werde ersticken!«

    »Das werden Sie. Vereint mit Ihrem Kostbarsten.«

    »Bitte ...«, flehte er schwach. Dann versagte ihm die Stimme. Etwas Spitzes in seinem Rücken drängte ihn voran.

    »Na los!«

    Wolf Gulau sträubte sich nicht mehr. Seine Kräfte waren verbraucht. Ein Schritt noch, ein dumpfes Fauchen. Finsternis. Das Zahlenschloss ratterte. Dann war es still.

    Kapitel 1

    Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten.

    (Bergpredigt, Matthäus 6,24)

    Es muss um 1820 bei einem Dampferausflug auf dem Rhein geschehen sein: Der als Schöngeist geltende preußische Kronprinz und spätere König Friedrich Wilhelm IV. verliebte sich unsterblich in das malerische Flusstal, und um sich seiner neuen Liaison ausgiebiger widmen zu können, ließ er sich auf den Fundamenten der mittelalterlichen Burgruine Stolzenfels eine Sommerresidenz errichten. Die »Perle der Rheinromantik«, als die das gleichnamige Schloss bis heute bezeichnet wird, hatte sich nach mehreren Besitzerwechseln lange Zeit in Landeseigentum befunden, bis es im letzten Jahr wieder privatisiert worden war. Der Vorstandschef von EuroPharm, dem größten Pharmaunternehmen der Welt, hatte sich das ehrwürdige Gemäuer als lieu de villégiature und späteren Alterssitz auserkoren. Von den Dividenden eines einzigen Jahres hatte er sich seinen lang gehegten Wunsch, ein eigenes Schloss zu besitzen, leicht erfüllen können. Wie nahezu alle historischen Herrenhäuser war nun auch die »Stolze Schöne« in die Hände eines Wirtschafts- oder Politikmächtigen gewechselt, und auf dem Schlossberg, den man nach seinem Verkauf mit einer videoüberwachten Umzäunung gesichert hatte, war es still geworden.

    In dieser Nacht war der Stolzenfels’sche Friede jäh gestört worden. Blaulichter umkreisten den Innenhof. Hell erleuchtete Treppenhäuser und hektisches Tun und Treiben auf den Fluren zeugten von einem schwerwiegenden Zwischenfall. Schlag zwölf war auf dem Monitor, der die obere Etage überwacht, die elektronische Lebensanzeige erloschen. Ein Wachmann hatte daraufhin die Polizei alarmiert. Rikard Avaran, einer der einflussreichsten Männer der deutschen Industrie, lag tot in seinem Schlafgemach.

    Um viertel nach eins hatte man Hauptkommissar Brandt benachrichtigt. Die Stadt ist wie ausgestorben, bemerkte er auf der kurzen Fahrt von seiner kleinen Wohnung am Florinsmarkt zum Schloss. Sommerliche Temperaturen hätten in einer Nacht wie dieser vor nicht allzu langer Zeit noch für gut gefüllte Weinlokale und reges Treiben am Deutschen Eck gesorgt. Auf den Straßen aber herrschte leere Tristesse, wie in jeder Nacht seit der Ausgangssperre. Außer einem Patrouillenfahrzeug des Militärs blieb es leer auf dem linken Rheinufer. Er lenkte den alten Daimler die Serpentinen zum Schloss hinauf. Gegenüber dem Torwächterhaus gewahrte er, im Schutze der Bäume, mehrere dunkel gekleideter Gestalten, die Richtmikrophone und Kameras bei sich trugen. Er stoppte seinen Wagen an der provisorischen Absperrung und zeigte dem Posten seine Polizeimarke. »Ich frage mich, wie diese Zeitungsfritzen schon wieder Wind davon bekommen konnten.«

    »Lästiges Pack! Wir kümmern uns darum«, winkte der mit verächtlicher Geste ab und ließ den Kommissar, nachdem er noch einen Blick in den Fond geworfen hatte, passieren.

    Als Brandt eintrat, fand er den Rechtsmediziner, Jan Uhland, bereits geschäftig über den toten Hausherrn gebeugt. Uhland, ein drahtiger Mittvierziger mit kernig-markanten Zügen, der sein Haupthaar so kurz trug wie seinen Dreitagebart, galt als Koryphäe der forensischen Pathologie. Sie warfen sich einen kurzen Blick zu.

    »Doc, was gibt’s?«

    »Einsetzender rigor mortis.« Er klang mürrisch, wie immer, wenn man ihn aus dem Schlaf gerissen hatte.

    »Und das heißt?«, fragte Brandt müde.

    »Exitus vor höchstens zwei Stunden.«

    »Kannst du schon etwas zur Todesursache sagen?«

    »Letale Intoxikation. Er hat einen Einstich am Hals, stark gerötet und von einer ringförmigen Schwellung umgeben. Ihm wurde eine giftige Substanz injiziert.«

    In all seinen Jahren bei der Mordkommission war Brandt der Tod schon in jeder denkbaren Variante begegnet. Ein Giftmord also. Abgesehen von der Prominenz des Opfers auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches. »Gift«, wiederholte er deshalb eher ungerührt.

    »Ein Giftmischer, der an Gift gestorben ist. Da sage noch einer, die Welt sei nicht gerecht.« Wenn es neben dem Analysieren toten Gebeins eine zweite Passion in Uhlands Leben gab, dann war es seine erfrischende Renitenz, die sich gern in semantischem Feinsinn, bisweilen auch in bitterbösem Sarkasmus äußerte. Gesellschaftliche Mechanismen sezierte er mit Worten ebenso messerscharf wie eine Leiche mit dem Skalpell. Ungefragt aber blieb er eher wortkarg. Den Mainstream bedachte Uhland allenfalls mit einem gleichgültigen Schulterzucken, und was seine Lebensplanung anging, gab er den klassischen Modellen bedenkenlos das Nachsehen. Er lebte in einer alten, von Efeu umrankten Wassermühle an einem Eifelflüsschen, zusammen mit seiner koreanischen Lebensgefährtin, kinderlos, glücklich und ohne Ambitionen auf staatlichen oder gar kirchlichen Segen. Er und Brandt arbeiteten seit vielen Jahren zusammen. Ihre anfängliche gegenseitige Wertschätzung war im Laufe der Zeit zu einer soliden Freundschaft herangewachsen. Der Kommissar schätzte ihn als kompetenten Fachmann und Ratgeber, ebenso wie als guten Zuhörer.

    »Hat er sich gewehrt?«

    »Ich schätze, dafür fehlte ihm die Gelegenheit. Er hat eine leichte Schnittverletzung am Hals, so, als wäre ihm ein Messer an die Kehle gehalten worden bis das Gift wirkte. Mehr nach der Obduktion.«

    »Habt ihr ein Tatwerkzeug gefunden?«

    »Nein, nichts. Aber das hier solltest du dir ansehen.« Uhland schob die Decke beiseite.

    Brandt riss die Augen auf. »Was ist das?«

    »Nun, wenn du mich so direkt fragst, das ist ein A.«

    Der Kommissar sah den Doktor strafend an. »Was du nicht sagst.«

    »Eine Verbrennung, post mortem zugefügt.«

    »Du meinst, mit einem Brenneisen?«

    »Nein, es sieht eher aus, als hätte sich seine Kosmetikerin bei der Haarentfernung mit der Lasertemperatur vertan. Eine oberflächliche Hautverkohlung mit glatten, sauberen Wundrändern. Ich habe so etwas noch nie gesehen.«

    »Ein Laser? Warum lasert jemand seinem Opfer ein A auf die Brust? Eigenartig. Gibt es sonst noch etwas?«

    »Auf dem Kissen neben seinem Kopf lag ein Filmdragee. Es ist schon auf dem Weg ins Labor.«

    Brandt machte sich ein paar Notizen und wandte sich dann um. »Was hat die Auswertung der Satellitendaten ergeben?«, fragte er in Richtung der Spurensicherer, die damit beschäftigt waren, Türklinken und Mobiliar nach Fingerabdrücken und genetischem Material zu scannen.

    »Ich fürchte, wir haben ein Problem«, bemerkte einer der in weiße Overalls Gekleideten und drehte sich dabei langsam um. Anton Kallenbach war der Leiter des Erkennungsdienstes und, neben Uhland, wichtigster Mann in Brandts Team. Die beiden kannten sich schon aus Kindheitstagen. Zusammen waren sie zur Schule gegangen und gemeinsam hatten sie in Köln Kriminalwissenschaften studiert. Nach dem Studium trennten sich ihre Wege, und mehr als zehn Jahre später war es beiden wie eine glückliche Fügung erschienen, dass sie ihre Arbeit bei der Koblenzer Polizei wieder zusammengebracht hatte. Seinen alten Schwung hatte Kallenbach peu à peu gegen das Rundumbehagen eines erfüllten Familienlebens eingetauscht, und auch äußerlich machten sich die Jahre bemerkbar. Die hellblonde Lockenpracht hatte den Kampf gegen das Dahinschwinden aufgegeben, seine Sehkraft benötigte inzwischen das Zutun optischer Hilfsmittel und die Taille war längst nicht mehr die schmalste Stelle zwischen Brust und Hüfte. Ihn selbst focht es wenig an, dass die Zeiten vorbei waren, in denen er von Unterwäsche-Labels für den Laufsteg gebucht wurde, denn in gleichem Maße, wie er sowohl an empirischer Erfahrung als auch an Umfang gewann, hatte er die Prinzipien des ungezwungenen Laissez-faire in seine Lebensmaxime aufgenommen. Nur im Kopf war er noch immer der Freigeist von früher.

    »Toni, nun sag schon, wem wir diese schlaflose Nacht verdanken.«

    Das nonchalante Begrüßungslächeln des Kriminaltechnikers verwandelte sich übergangslos in eine skeptische Miene. »Dieser Fall wird das Nervenkostüm des Staatsanwaltes auf eine harte Probe stellen.«

    »Es ist fraglich, ob es unser Fall bleibt. Avaran war nicht irgendwer. Mich wundert, dass die Schlapphüte noch nicht hier sind. Aber was meintest du mit ›Problem‹?«

    Kallenbach runzelte die Stirn. »Um null Uhr gab es ein schwaches Signal, keine zwei Minuten lang. Es wurde nicht identifiziert!«

    »Eine Störung?«

    »Unwahrscheinlich. Es gab noch nie eine Störung.«

    »Dann wurde die Datenübertragung manipuliert?«

    »Ausgeschlossen. Der Stream kann weder beeinflusst noch unterbrochen werden. Jeder Versuch wäre tödlich.«

    Brandt sah ihn ungläubig an. »Du willst mir also sagen, dass wir keine Aussage zum Täter treffen können?«

    »So ist es.«

    Jetzt war der Kommissar wach. »Dann dürfte es allerdings zu einer Angelegenheit für den Staatsschutz werden.« Sichtbar erheitert schnippte er mit den Fingern. »Aber bis es soweit ist, werden wir die Gelegenheit wahrnehmen, unsere Fähigkeiten in klassischer Detektivarbeit unter Beweis zu stellen.«

    »Ich habe das dumme Gefühl«, orakelte Kallenbach, »dass uns diese Geschichte noch arge Kopfschmerzen bereiten wird.«

    Seine Intuitionen hatten Brandt schon oft auf die richtige Fährte geführt. Heute aber schien etwas anders zu sein. So zweifelnd hatte er ihn bislang selten erlebt. Doch jetzt wollte er nicht darauf eingehen. Ganz sicher würde das Tageslicht bereits die eine oder andere Erleuchtung mit sich bringen. »Wer hat ihn gefunden?«, fragte er, als hätte er die Andeutung eben überhört.

    »Ein Wachmann hat uns informiert, als sein Dienstherr plötzlich vom Monitor verschwunden war.«

    »Wie kam der Täter herein?«

    »Preisfrage! Niemand kommt hier herein.«

    »Was meinst du damit?«

    Kallenbach sah den Kommissar an. »Hatte ich schon erwähnt, dass uns diese Geschichte noch Kopfschmerzen bereiten wird? Das Gebäude ist eines der am besten gesicherten in ganz Deutschland. Alle Überwachungssysteme waren eingeschaltet, als wir eintrafen. Detaillierte Auswertungen laufen noch, ich kann dir aber jetzt schon sagen, dass es zur fraglichen Zeit keinerlei Bewegungen auf dem Gelände gab. Und die Wachmannschaft hat mir versichert, dass nicht einmal eine Maus ihre Checkpoints unbemerkt hätte passieren können. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie er das angestellt hat.«

    »Aber das er hereinkam, steht doch außer Frage, oder?«, fragte Brandt und klang dabei fast ein wenig spöttelnd.

    »Das ist das einzige, was ich dir bestätigen kann. Es ist, als sei er aus dem Nichts aufgetaucht und dorthin auch wieder verschwunden.«

    »Was spricht dagegen, dass er durch den Keller oder über das Dach kam?«

    »Neueste und teuerste Gerätschaft. Zusätzlich zu unserem Schutzprogramm hat sich Avaran seine Sicherheit einiges kosten lassen. Er hat einen Lifescanner installieren und den gesamten Gebäudekomplex mit einem PSC1 umgeben lassen.«

    »Mit einem was?«

    »Ein Energieschirm. Der Mann vom Wachdienst hat es mir wie eine überdimensionale, über den Schlossberg gestülpte, unsichtbare Glocke beschrieben. Wer oder was dem Schirm zu nahe kommt und größer ist als eine Elster, löst Alarm aus.«

    Brandt bekam große Augen. »Ein Energieschirm?«

    »Ein neues Spielzeug für die Leuchttürme der Gesellschaft, erst seit drei Monaten auf dem Markt. Der Wachmann kann es dir besser erklären.«

    »Größer als eine Elster«, überlegte er. »Also angenommen, ein Kind wirft einen Ball über den Zaun, wird Alarm ausgelöst?«

    »Abgesehen davon, dass es nicht ohne weiteres in die Nähe des Zaunes käme, so ähnlich haben es sich die Konstrukteure wohl gedacht.«

    Der Kommissar war beeindruckt. »Apropos Elster, kann man schon sagen, ob etwas gestohlen wurde?«

    »Nichts, soweit wir das bisher beurteilen können.«

    »Vielleicht fand der Täter eine Gelegenheit, sich im Gebäude einschließen zu lassen.«

    »Welche Gelegenheit? Das Schloss ist längst nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich. Außerdem widerspräche es dem, wenn auch nur fragmentarischen, Satellitensignal, und auch der Lifescanner hat nichts dergleichen angezeigt.«

    Brandt stutzte. »Ich glaube, ich muss meine Kenntnisse in Sicherheitselektronik mal wieder auffrischen. Was, in aller Welt, ist denn nun wieder ein Lifescanner?«

    Kallenbach lächelte milde. »Auch das lässt du dir am besten von dem Wachmann erklären. Laut seiner Aussage jedenfalls hat der Lifescanner kein unbefugtes Leben im Schloss erkannt. Und der nimmt sogar die fürstliche Hauskatze wahr. Schau hier.«

    Er deutete auf einen kleinen roten Punkt auf dem Bildschirm seines Interface, mit dem er sich Zugriff auf die Computer des Wachdienstes im Erdgeschoss verschafft hatte. »Und diese großen Kleckse hier, das sind wir.«

    Nachdenklich ging Brandt im herrschaftlichen Schlafzimmer auf und ab. Er blieb am Fenster stehen und sah hinunter auf den Rhein, wie sich seine seichten Wellen gläsern im schwachen Mondlicht kräuselten. Dieses Schloss ist abgeschirmt wie Fort Knox. Niemand spaziert hier unbemerkt ein und aus. Ganz davon abgesehen, man geht nicht einfach zu jemandem wie Avaran. Man nähert sich ihm nicht einmal. Das ist verbotenes Terrain.

    Das Leben hatte es mit Vincent Brandt nicht immer gut gemeint. An Schicksalsschlägen aber war er nie zerbrochen. Nicht, als seine Eltern bei einem Verkehrsunfall starben und er, als damals Neunjähriger, fortan bei seinen Großeltern aufwuchs und auch nicht, als seine Frau und seine kleine Tochter der Großen Grippe zum Opfer fielen. Unlängst hatte er seinen dreiundfünfzigsten Geburtstag gefeiert und er war sein einziger Gast. Die Jahre hatten dem schlanken, großgewachsenen Mann tiefe Furchen ins Gesicht gezeichnet und sein Haar war ergraut. Er war ein ernsthafter Analytiker, ein scharfer Beobachter mit verlässlichen Intuitionen und einem ausgeprägtem Rechtsbewusstsein.

    Brandt stammte aus einem mittelrheinischen, von dunkelgrauem Moselschiefer geprägten, kleinen verschlafenen Dörfchen. Urbane Betriebsamkeit war seinen Einwohnern so fremd wie die sterile Anonymität der Stadt. Man fühlte sich als Teil einer verschworenen, die Beschaulichkeit schätzenden Gemeinschaft. Wenn er sich heute an seine Kindheit erinnerte, erschienen ihm immer wieder die gleichen Bilder: Wie er mit dem flachsblonden Toni aus der Nachbarschaft durch die nahen Wälder streifte, wie sie sich mit blauen Zähnen anlachten, wenn sie wieder einmal zu viele der köstlichen Heidelbeeren gefuttert hatten oder wie sie auf einer Wiese lagen, Grashalme kauten und, was bei den beiden Jungs stets zu außerordentlicher Erheiterung führte, mit einer selbstgebauten Zwille die nebenan weidenden Schafe beschossen, die dann unter entsetztem Geblöke davonstoben.

    Eine einschneidende Wendung nahm das Leben des kleinen Vincent, als eines Tages Vater und Mutter von einer Spritztour in das nahegelegene Koblenz nicht wieder nach Hause gekommen waren. Ein Sattelzugfahrer hatte eine rote Ampel übersehen. Der Kleinwagen und seine Insassen wurden bis zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Später bezeichnete er es als Glück im Unglück, dass er aus seiner vertrauten Umgebung nicht herausgerissen wurde, weil seine Großeltern, die den Nachbarhof bewohnten, ihn wie selbstverständlich aufnahmen. Seine kindliche Unbeschwertheit aber hatte an diesem Tag ihr jähes Ende gefunden.

    Brandt war ein Mann ohne Fassade, indes mit direkter Ansprache. Im Gegensatz zu Uhland, der sich eher des eleganteren Floretts, respektive der scharfzüngigen Ironie als verbale Waffe bediente, sagte man ihm nach, dass die seine eher der mittelschwere Säbel sei. Seit mehr als zwanzig Jahren war er Polizist und bis heute fiel es ihm schwer, zwischen Arbeit und Freizeit zu unterscheiden. Seine Karriere fand ihren vorläufigen Höhepunkt vor sechs Jahren, als er zum Leiter der Mordkommission ernannt wurde. Brandt redete weniger aber sah mehr als andere, was ihm in seiner Dienststelle den, wie Kallenbach fand, adelnden Beinamen »Holmes vom Hunsrück« eingebracht hatte.

    Nach dem Tod seiner Frau war er keine neue Beziehung wieder eingegangen. Der Schmerz über den Verlust saß zu tief. Noch nach Jahren, als die Zeit die Wunden leidlich geheilt hatte, glaubte er, seine Erfüllung allein in seinem Beruf gefunden zu haben und dass eine Frau in seinem Leben wohl keinen Platz wieder fände. Mit dem Alleinsein hatte er sich arrangiert, auch wenn ihm die allabendliche Leere in seiner kleinen Wohnung bisweilen schwermütige Momente bescherte.

    Nach dem Studium hatte es ihn zur Marine gezogen. Einmal die Meere zu befahren war ein Traum, den er als kleiner Junge schon träumte. Er entschied sich für eine Offizierslaufbahn bei den Seestreitkräften. Eine degenerierte Bandscheibe bereitete seiner militärischen Karriere jedoch ein vorzeitiges Ende. Nach achtjähriger Dienstzeit wurde er als Fähnrich zur See entlassen.

    Danach tauschte er die eine Uniform gegen eine andere. Er absolvierte ein Praktikum bei der Kriminalpolizei in Hamburg. Brandt wurde der Sonderkommission »Robin Hood« zugeteilt, die seit Wochen hinter einem Serienmörder her war, der seine Verbrechen ausschließlich in Hautevolee-Kreisen beging. Man fand seine Opfer allesamt erstickt. Robin Hood, wie sich der Täter selber nannte, hatte ihnen bündelweise Geldscheine in den Rachen gestopft und dann Mund und Nase mit Paketklebeband verschlossen. Er verstand sich, so hatte er es in einem Bekennerschreiben kundgetan, als korrigierendes Element in einer Welt voller Missverhältnisse. Wer im Überfluss lebe, solle auch am Überfluss sterben, lautete sein Credo. Tatsächlich fand er in den Reihen der armen Bevölkerungsschichten Sympathisanten, die ihn geradeheraus zum Helden verklärten. Für Brandt aber, in dessen Weltanschauung Recht und Gerechtigkeit höchste Wertschätzung genossen, war dieser Kerl nichts anderes als ein brutaler Verbrecher. Er war maßgeblich an seiner Ergreifung beteiligt. Dass dank seiner Hilfe dem Recht Genüge getan werden konnte, hatte ihm eine tiefe Genugtuung bereitet. Ebendieses Hochgefühl und ein gleichzeitiger nüchterner Kassensturz seiner Talente und Interessen verschafften ihm die Gewissheit, dass eine andere Laufbahn als die des Kriminalisten für ihn nun nicht mehr in Frage käme.

    Jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, als er vor dem toten Industriebaron stand, kam ihm der Fall von damals wieder in den Sinn. Reflexartig suchte er nach Zusammenhängen. Robin Hood hatte noch in der Untersuchungshaft seinem Leben ein Ende gesetzt, indem er sich einen Kugelschreiber bis zum Anschlag ins Auge rammte. Trieb da vielleicht wieder so ein Verrückter sein Unwesen, ahmte da womöglich jemand diese kaum zu begreifenden Taten nach?

    In diesem Moment fielen ihm die eindringlichen Worte, die Staatsanwalt von Stauffen ihm vorhin mit auf den Weg gegeben hatte, ein: »Wir brauchen einen schnellen Ermittlungserfolg, Herr Brandt! Wir reden hier von einem Wirtschaftsmagnaten, der von uns aufwendig bewacht wurde. Sein Tod könnte unabsehbare Konsequenzen haben. Die Mittel für ARGUS werden nur solange fließen, wie wir erfolgreich sind. Wenn sich die Souveräne unseres Schutzes nicht mehr sicher sind ... Ich meine, wir leben zu einem guten Teil von diesen Einnahmen. Wir müssen unabkömmlich bleiben, verstehen Sie. Also schaffen Sie mir den Täter her!«

    Mit der Reform der bewaffneten Exekutivorgane waren Polizei und Militär zu den »Supranationalen Sicherheitsorganen« zusammengelegt worden. Fortan veränderte sich die Aufgabe der Kriminalpolizei dahingehend, dass sie weniger für die Verfolgung von Straftaten im Allgemeinen zuständig war, sondern vorzugsweise dann tätig wurde, wenn Souveräne, wie sich die Eliten der Gesellschaft neudeutsch nannten, direkt oder indirekt von

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