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Mutmaßlich Entlebte
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eBook557 Seiten7 Stunden

Mutmaßlich Entlebte

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Über dieses E-Book

Arktisforscher entfachen aus Versehen eine Zombie-Apokalypse. Weltweit kämpfen die Armeen gegen die Seuche, die Menschen horten Vorräte und alle bestehenden Regeln sind Geschichte.

Weltweit.

Aber in Deutschland?

Wie verläuft die Apokalypse in dem Land der Regelungen, Rasentraktoren und Risikoversicherungen?

Vincent, ein liebenswerter doch unsicherer Bürobürger, unternimmt mit seinem freiheitsliebenden Freund einen Roadtrip durch das Land.
Sie begegnen dabei vorschriftsliebenden Beamten, selbstlosen Gutmenschen und geradlinigen Ruhrpottlern, die aus der Katastrophe das Beste machen.

Ein skurriler Trip gemäß der Straßenverkehrsordnung, bei dem Vincent sich selbst entdeckt, über sich hinaus wächst und sogar zum Helden wider Willen mutiert.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. Feb. 2016
ISBN9783734508479
Mutmaßlich Entlebte

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    Buchvorschau

    Mutmaßlich Entlebte - Christoph Smak

    Kapitel 1

    Mühsam steht Vincent vom ehemals gepflegten Rasen des Vorgartens auf und stützt sich dabei mit einer Hand an seinem Knie ab, welches vom Sturz schmerzhaft pocht. Schweiß tropft ihm von der Nase und er hebt den Kopf in die Höhe, als wollte er den gesamten Himmel einatmen. Er blickt sich um und lässt seine Waffe soweit herabsinken, dass die drei Metallspitzen den Boden berühren und leicht darin einsinken. Die Untoten sind nur noch einen müden Steinwurf entfernt, doch Vincent ist gerade danach, sich einfach nur noch hinzusetzen und alles über sich ergehen zu lassen. Er schaut zu seinen Turnschuhen hinunter und betrachtet diese eingehend. Innerhalb so kurzer Zeit wurde das strahlende Weiß mit Schmutzflecken und Blutspritzern überzogen, zerkratzt und aufgerissen. Als sei es ein Tagebuch in dem er blättert, erkennt er in jeder Verunreinigung das dazugehörende Kapitel seiner Reise. Den schwierigen Aufbruch, die Flucht, die Kämpfe, die Begegnungen, den Spaß, den Horror. Er denkt an den schmerzlichen Verlust und verdrängt diesen Gedanken schnell. Und dann entdeckt er einen neuen Kratzer auf der Außenseite seines rechten Schuhs. Den, den er sich erst vor wenigen Stunden zugezogen hatte, als er auf die Motorhaube des Wagens kletterte und an dessen völlig zerbeulter Front hängen blieb. Er erinnert sich auch an den enttäuschten Blick in ihren wunderschönen Augen, als er von da oben keine guten Nachrichten vermeldete.

    Und plötzlich durchzuckt ihn etwas und er blickt hastig wieder hoch. Die Zombies sind schon nah und recken bereits ihre Hände nach ihm. Doch er blickt durch sie hindurch und hat nur den einen Gedanken.

    Er muss zu ihr.

    Auch wenn er vielleicht doch noch über den Zaun hinter ihm fliehen und aus der Falle des Vorgartens der schmucken Villa entkommen könnte, gibt es nur diese eine Option. Lieber stirbt er direkt neben ihr, als auch nur eine Minute ohne sie weiterzuleben. Vincent atmet tief durch. Dann nickt er, als würde er einer imaginären Stimme zustimmen und hebt den Stiel seiner Waffe wieder auf Brusthöhe.

    »Na gut.«, seufzt er so emotionsarm, als müsse er bloß nach einer schönen Mittagspause an der Alster wieder zurück ins Büro und sagt im ruhigen Ton:

    »Ich komme Kleines. Halte durch.«

    Er hebt die Tasche auf und schnallt sie sich auf den Rücken. Dann wischt er sich den Schweiß mit dem Ärmel aus dem Gesicht und ruft den nahenden Zombies zu, ohne sie dabei anzusehen:

    »Dann los ihr Penner, gehen wir es an!«

    Er schaut sich um und überblickt die Gestalten vor ihm. Dabei schätzt er ihre Armlängen und ihre Beweglichkeit, erkennt Lücken zwischen ihnen und fasst den Entschluss, mit einem Frontalangriff die meisten Chancen zu haben. Also stemmt er seine Füße gegen den Boden und rennt los. Keine zwei Meter weiter stolpert er über die Düse der Gartenbewässerung und legt sich wieder ordentlich lang.

    Noch während er sich eiligst aufrappelt, brüllt er:

    »Ich hasse Spießergärten!«

    Kapitel 2

    »Vielleicht sagt Vincy-Boy auch was dazu?«, hört Vincent wie durch den Nebel seinen neuen Spitznamen. Diesen hat er von Benjamin bekommen, der erst vor einem halben Jahr von seinem Kollegen zu seinem Teamleiter aufgestiegen ist. Zeitgleich jedoch ziemlichen schnell vom netten Kerl zum blöden Business-Affen mutierte.

    Der Nebel lichtet sich und Vincent ist wieder zurück aus einem Tagtraum, in dem er mit Freunden vor einem Kaminfeuer saß und die besten Anekdoten parat hatte, was ihm mehrere Küsse der schönen Frau in seinen Armen einbrachte. Jetzt ist er wieder zurück in der langatmigen Besprechung, die einzig dazu dient, dass sich Benjamin selbst reden hört. Begleitet wird er dabei von zwei Projektleitern, die ebenfalls vom Affenbaum gefallen sind und sich gegenseitig anhimmeln.

    »Ähm, also…ich denke…was war denn…man könnte vielleicht…«

    Sein eigenes Gestammel macht Vincent noch nervöser, als Benjamins Anmerkung.

    »Ja genau Vincy-Boy, so sehe ich das auch!«, unterbricht ihn Benjamin und lacht mit seinen zwei Mitaffen laut auf.

    »Ja, prima.«, sagt Vincent leise und sein Blick bleibt fortan auf dem leeren Blatt vor ihm haften. Zum Glück ergreift wieder einer der Business-Kasper das Wort und labt sich an seiner eigenen Wortwahl, während die anderen nur darauf warten, dass er etwas länger Luft holt, um die Lücke sofort mit möglichst vielen eigenen Sätzen zu füllen, die allesamt mit ‘Ich’ anfangen.

    Vincent schaut sich um und versucht in den Gesichtern der anderen Anwesenden zu erkennen, ob sie ebenfalls keine selbstherrlichen Spinner sind und hier am langen, grauen Besprechungstisch gerade auch zu viel kriegen. Vielleicht sind sie sogar zu einer Revolution bereit? Man könnte aufspringen und schreien, dass dieses hirnlose Geplapper reinste Zeitverschwendung ist und man stattdessen an die Arbeitsplätze zurückkehren sollte. Vincent stellt sich vor, wie er auf den Tisch springt, die Kaffeetasse von Benjamin gekonnt vom Tisch kickt und ihn am teuren Schlipps packt. Dann würde er ihn ganz nah an sich ziehen und sagen: ‘Nenn mich noch ein Mal Vincy-Boy! Noch ein Mal, dann…’

    »Vincy-Boy? Hallo! Erde an Vincy-Boy?" Benjamins Stimme ertönt wieder durch den Nebel von Vincents neuem Tagtraum.

    »Ähm…ja?«

    Die drei Business-Affen schauen ihn mehrere Sekunden lang an und lachen wieder laut auf. Einer schlägt sogar mit der Hand auf den Tisch, so gut amüsieren sie sich.

    »Ach, ihr seid ja so witzig.«, murmelt Vincent und schaut wieder auf das leere Blatt vor ihm. Besonders peinlich ist ihm die Situation deshalb, weil Mäggi ebenfalls im Besprechungsraum sitzt. Mäggi heißt eigentlich Margarethe. Weil sie den Namen aber nicht mag, hat sie sich schon an ihrem ersten Tag vor zwei Wochen mit ihrem Spitznamen vorgestellt. Sie ist in etwa so alt wie Vincent und durchaus attraktiv. Vor allem sind da ihre tiefbraunen Augen, die eine fast magnetische Wirkung auf ihn haben. Wenn sie im Büro auf ihren Bildschirm fixiert ist, ertappt sich Vincent immer wieder dabei, wie er sie von der Seite anstarrt. Ihre schulterlangen, glatten, blonden Haare duften nach irgendeiner Frucht, jedes Mal wenn sie an ihm vorbeigeht. Und jedes Mal malt er sich aus wie es wäre, sie nach dem Duft zu fragen und so sein Interesse an ihr zu zeigen. Doch nun – nachdem er vom selbstherrlichen Benjamin bloßgestellt wurde – sind seine Chancen rapide gesunken, bei ihr etwas mehr als Kollegialität auszulösen.

    Zum Glück ist die Mittwochsitzung bald vorbei und alle erheben und strecken sich, als hätten sie das geistige Nickerchen richtig genossen. ‘Anderthalb Stunden Blödsinn’ denkt Vincent, als er als erster aus dem Besprechungsraum und zurück in sein Büro spurtet. Eigentlich viel mehr in seine Ecke in dem Büro, welches er sich mit den anderen vier Kollegen teilt.

    Es ist Viertel vor zwölf. Und erst Mittwochmittag. Dies ist der furchtbarste Zeitpunkt der Woche. Vincent hat schon einiges hinter sich gebracht, musste bereits drei Mal früh aufstehen, gefühlte Tausend Besprechungen über sich ergehen lassen, eine Million Telefonate führen und eine Milliarde Emails lesen und löschen. Zumindest in der Theorie. Vincent schaut auf seinen Monitor. Das Emailprogramm signalisiert acht neue Emails. Er blickt aus dem Fenster und über die Dächer der an sein Bürogebäude angrenzenden Wohnhäuser und lässt seinen Blick weiter wandern bis zum Hamburger Fernsehturm. Die Sommersonne lässt die Stadt förmlich aufleuchten. Als er wieder zum Monitor schaut, sind die Emails immer noch da. Und immer noch ungelesen. Er markiert alle, drückt eine Taste und sofort gelten die Emails als gelesen. Dann blickt er wieder hinaus und schaut eine Weile einem Flugzeug nach, welches gerade in den blauen Himmel aufsteigt. Als seine Kollegen wieder ins Büro eintrudeln versucht er beschäftigt auszusehen und öffnet nun doch die Emails. Zumindest die, deren Betreffzeile irgendetwas beinhaltet, was dringend klingt. Der schönste Zeitpunkt der Woche – der Freitagnachmittag gegen Viertel vor vier – ist gefühlt noch mehrere Monate entfernt.

    Vor einiger Zeit hatte Vincent eine gute Idee und hat dem Tiefpunkt- Mittwoch etwas verliehen, was ihn zumindest erträglich macht. Mittwochmittag geht er nicht wie üblich mit seinen Kollegen zur Kantine, sondern erhebt sich möglichst unauffällig von seinem Bürostuhl und bewegt sich so, als ginge er nur schnell zum Kopierer. Dann jedoch geht er am Druckerraum vorbei und verschwindet durch die Glastür zum Treppengang. Wenn er es nach unten ins Foyer schafft, ohne dass er jemandem begegnet der ihn kennen und ansprechen könnte, ist der Mittwochmittag fast schon wieder gerettet. Dann kann er nämlich alleine zu dem zugegeben etwas ramschigen Asiaten fliehen, in dem er noch nie jemandem von der Firma begegnet ist. Es mag wahrscheinlich daran liegen, dass das Essen nicht umwerfend ist und man dort den Begriff ‘All-You-Can-Eat-Buffet’ seltsam interpretiert, darf man doch für fünf Euro fünfzig den recht kleinen Teller nur ein einziges Mal vollpacken.

    An diesem Mittwoch läuft für Vincent alles glatt. Er durchquert das Foyer, drückt die Glastür zur Freiheit auf und erreicht nach sieben Minuten Gehzeit den Asiaten. Dort – wie jeden Mittwoch – findet das exakt selbe Gespräch statt:

    »Ein Mal das Buffet bitte.«

    »Fünf fünfzig! Eima vollmache Teller!«, bellt der stets misstrauisch schauende Kellner.

    Und von Vincent wie jeden Mittwoch dieselbe Frage und das selbe Grinsen:

    »Den Eimer vollmachen?«

    »Ja ja, eima vollmache Teller!«, wieder ein misstrauischer Blick, als könnte er erkennen, dass der Gast vor ihm die Absicht hegen würde, ein unerhörtes zweites Mal an das All-You-Can-Eat-Buffet zu gehen.

    Das hat Vincent gar nicht nötig. Mittlerweile hat er sich doch zu einem erfahrenen Architekten des Asiabuffets gemausert. Er kennt die Statik der Frühlingsrollen, kann anhand der Färbung vom Nasigoreng auf den darin enthaltenen Eigehalt und damit seine Klebefunktion schließen und weiß um die Vorteile der an allem haftenden Süß-Sauer-Soße. Aufgrund dieser Eima- Vollmachen-Erfahrung kann er auf dem kleinen Teller einen Turm bauen, welcher den geringen Platz durch eine beinahe absurde Höhe des dort gestapelten Essens mehr als nur wett macht. Also macht er sich auch dieses mal an die Arbeit und betrachtet das vor ihm liegende Baumaterial ausgiebig, bevor er mit dem Bau eines Fundaments aus im Fischgrätenmuster verlegtem Surimi beginnt. Diese – das weiß der Fachmann – werden unter dem enormen Druck der darauffolgenden Schichten zu einer sehr stabilen Grundlage. Dort hinein drückt er ringsum und hochkant exakt fünfzehn kleine Frühlingsrollen und verbindet diese zusätzlich mit scharfer Soße. Den so entstandenen Hohlraum im Inneren des Gebildes füllt er mit Reis und Nudeln auf. Oben drauf kommt ein Deckel aus Wan-Tan, welcher wiederum durch allerlei Frittiertes beschwert wird. Bereits dieses Gebilde würde ein Anfänger auf bestimmt drei Tellern unterbringen müssen. Vincent jedoch setzt hierbei erst zur krönenden Etage an, indem er Kroepoek – also Krabbenchips – mit einer scharfen, roten Paste kunstvoll ineinander verklebt und so nach und nach eine kleine Schüssel formt, welche oben auf dem Turm thront. Dorthinein schüttet er die Tagessuppe. Von nun an läuft die Zeit, weil die Krabbenchips nur eine bestimmte Zeit dicht halten und die Suppe binnen drei Minuten gelöffelt sein muss, da sie ansonsten zu allen Seiten das improvisierte Behältnis verlassen wird. Also bugsiert Vincent den Turm gekonnt bis zu dem Hochtisch in der Ecke.

    Während er die Suppe löffelt und sich von oben nach unten zu den Fundament-Surimis durchkämpft, träumt er den Traum aus der Besprechung weiter und sieht vor seinem geistigen Auge, wie Benjamins Blackberry aus seiner Hosentasche und gegen die Wand fliegt, während Vincent ihn durch die Luft schleudert. Erst als der Teller nach einer Weile leer ist, kommt Vincent wieder in der Realität an und bemerkt, dass er vor sich hin grinst. Das hört schlagartig wieder auf als ihm bewusst wird, dass er wieder zurück ins Büro muss, um weitere Stunden des nicht enden wollenden Mittwochs mit Unsinn zu verbringen.

    Um siebzehn Uhr ist es endlich so weit. Vincent fährt den Rechner herunter und kramt seine Umhängetasche aus der Schublade unter seinem Tisch. Sein Kollege Jonas schaut zu ihm herüber und streckt sich. Dabei rutschen die vielen bunten Armbänder seinen braungebrannten Unterarm herunter, die von zahlreichen Festivalbesuchen zeugen.

    »Na Vincent, was machst denn heute schönes?«, fragt er.

    »Och, mal sehen was sich so ergibt. Vielleicht in den Stadtpark oder so. Oder irgendwo was trinken.«, antwortet Vincent und schaut zu Mäggi herüber, ob sie auch mitbekommen hat, dass er heute so aktiv sein will. Als er die übliche Verabschiedungschoreographie durch das Büro hinter sich gebracht hat und auf dem Weg durchs Gebäude und zur U-Bahn ist, überlegt er kurz, ob er nicht tatsächlich mal was anderes machen sollte. Dieser Gedanke ereilt ihn in regelmäßigen Abständen. Bislang allerdings ohne jede Auswirkung auf seine immer gleichen Feierabende.

    Und so nimmt er sich auch heute vor, demnächst etwas zu verändern und beeilt sich, um aus der U-Bahn zu seinem Fahrrad zu kommen. Auf der zehnminütigen Heimfahrt nimmt er vorwiegend Schleichwege, weil sein Rücklicht abgerissen ist und er es nicht riskieren will, deshalb von der Polizei angehalten zu werden. Dann schleppt er das Fahrrad in den vierten Stock, um es auf dem Balkon zu parken, auch wenn ein potentieller Dieb dieses Gefährts blind und jeglichen Fühlvermögens beraubt sein müsste. Dennoch, sicher ist sicher.

    Zu Hause angekommen durchläuft Vincent einen mittlerweile üblichen Standard. Für eine halbe Stunde in den Sessel fallen lassen, zappen zwischen dem ersten und dreiunddreißigsten Sender – wobei Sport-, Verkaufs- und Wettersender gekonnt ausgelassen werden – dann wieder aufstehen. Der Gang zum Kühlschrank, Fleischwurst oder Ravioli oder Tiefkühlpizza oder Nudeln mit Tomatensoße erhitzen, zurück vor den Fernseher und mit Senf oder Fett oder flüssigem Käse oder Tomatensoße bekleckern. Dann an den Rechner setzen und mit dem etwas durchhängenden Bürostuhl verschmelzen.

    Die Gedanken an eine mögliche Veränderung des Trotts holen ihn kurz ein und einige Augenblicke überlegt Vincent tatsächlich, ob er heute nicht etwas anderes machen soll. Dann schaut er sich in seiner 35qm-Wohnung um. Schließlich kann er von dem Schreibtisch aus durch lediglich leichtes Kopfdrehen Fernseher, Kühlschrank, Dusche und Eingangstür sehen. Sein Blick fällt auf die noch immer strahlend weißen Turnschuhe im Schuhregal, die er in einem Anfall einer fit-werd-Absicht gekauft hat und welche – außer dem Parkett im Sportladen – nie wirklich Bodenberührung hatten. Seine Augen drehen sich jedoch schnell wieder weg, als wollten Sie sein Gehirn vor dem furchtbaren Anblick schützen. Dann läuft das übliche Prozedere wieder wie gewohnt ab. Doppelklick auf das Starticon und nach wenigen Augenblicken steuert Vincent den muskelbepackten Helden durch eine Welt voller Gefahren und Abenteuer. Sobald er böswillige Pixelmonster erblickt, zieht er heldenhaft sein Schwert und kämpft todesmutig gegen die wilden Heerscharen. Gegen Mitternacht ist der Held auf dem Bildschirm noch fit, Vincents Augen jedoch zollen einem ganzen Tag vor dem Bildschirm Tribut und drohen mit einer baldigen Explosion, wenn sie nicht für mindestens sechs Stunden geschlossen werden. Also fährt Vincent seinen Rechner herunter und bald darauf auch sein Gehirn, als er matt vom Tag einschläft. Der Mittwoch wäre geschafft.

    Kapitel 3

    Um halb acht klingelt der Wecker. Es ist Donnerstag, der Tag vor dem Freutag. Das macht ihn wenigstens nicht so schlimm wie den Mittwoch. Zudem hat Vincent den angenehmen Gedanken, dass er im Büro gleich wieder Mäggi begegnen wird. Er überlegt, ob er sich vielleicht heute trauen wird, einen Schritt auf sie zuzugehen, sie in ein nettes Gespräch zu verwickeln oder sogar nach dem Duft in ihrem Haar zu fragen. Bereits die Vorstellung löst in ihm Unbehagen aus und er schüttelt sie ab, als er ins Bad wankt. Dabei geht er einen Umweg zum kleinen Couchtisch vor dem Fernseher und muss die darauf liegende Fernbedienung mit etwas Kraft herunterreißen, so klebrig ist dessen Tischplatte. Er schaltet einen der letzten Röhrenfernseher weit und breit ein und klebt die Fernbedienung wieder an die alte Stelle zurück. Nach einigen Sekunden des Aufwärmens erscheint auf dem Fernseher ein buntes Morgenmagazin und Vincent schlurft weiter ins Bad. Er lässt die Tür geöffnet, um schon während des Zähneputzens seine morgendliche Dosis Ramschnachrichten, Celebrityzeug und Wetterbericht zu erhalten. Seine alte Elektrozahnbürste ist an diesem Morgen ebenfalls etwas schlapp und dreht mit mäßiger Geschwindigkeit ihre Runden um seine Zähne. Das gibt Vincent Zeit, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Ihm fällt ein, dass er die Idee hatte, die weißblasse Wand hinter ihm mit irgendeinem Farbton zu streichen, damit sich sein Körper etwas mehr davon abhebt. Als er seine farblosen und dünnen Arme betrachtet, fallen ihm die braungebrannten und mit Bändern geschmückten Arme von Jonas ein. Er nimmt sich vor, sich demnächst ebenfalls etwas um die Handgelenke zu binden.

    Als die Zahnbürste ihre Morgenschicht verrichtet hat, beugt Vincent sich weiter vor und betrachtet seinen nackten Oberkörper etwas ausgiebiger. Wenn er schon dabei ist, etwas für seine dünnen Handgelenke zu tun, könnte er vielleicht gleich noch mehr aus sich machen. Er hat doch gute Grundlagen. Volles, braunes Haar zum Beispiel. Allerdings ohne eine richtige Frisur, weil er sich von seinem Mittelscheitel zwar irgendwann in der Schulzeit trennen konnte, seitdem jedoch zu keinem definierbaren Schnitt fand. Und so wachsen die Haare so lange beinahe unbeaufsichtigt, bis sie ihm beim abendlichen Zocken in die Augen pieken. Muskeln hat er sich in all den Jahren auch nicht zugelegt, aber wenigstens ist er schlank. Abgesehen von dem kleinen Bauchansatz, was verwunderlich ist, da er keinen Gramm Fett am Körper besitzt. Kurz durchzuckt ihn der Gedanke, seine Arme trotzdem anzuspannen und vor dem Spiegel zu posieren, doch er möchte sich den Tagesanfang nicht unnötig schwer machen und schlurft gleich in die Küche.

    Dort füllt er eine kleine Schüssel mit Milch und schüttet Billigcornflakes hinein. Damit es halbwegs schmeckt, drückt er aus einer Tube mehrfach Honig in die Schüssel. Er macht es sich auf der Couch bequem und genießt ein vollwertiges Frühstück mit glückbringenden weil zuckersüß verklebten Cerealien. Der Moderator in der Kiste kündigt an, gleich einen Bericht über Polarforscher zu zeigen. Vincent vermutet einen Beitrag zu Wissenschaft, Natur oder sonstigen Langweilkram und greift sofort zu der Fernbedienung, um auf das Frühstückmagazin auf dem anderen Sender umzuschalten und dort möglichst auf Unsinn, Brüste oder sonstigen Quatsch zu treffen. Da die Fernbedienung erneut festklebt, ist er durch das Zerren an dieser gezwungen, weitere Sekunden auf den laufenden Beitrag zu starren. Zum Glück nimmt die Berichterstattung eine gute Wendung und der Moderator erwähnt Mord und Totschlag im Zusammenhang mit einer Polarforschungsstation. Vincent schaltet nicht um, belässt die Hand jedoch an der immer noch festklebenden Fernbedienung. Nur zur Sicherheit, falls es doch zu langweilig werden sollte. Erst als deutlich wird, dass da tatsächlich etwas Schlimmes passiert sein muss, darf seine Hand wieder zurück an den Löffel und wird zur Nahrungsaufnahme genutzt.

    Der Beitrag beginnt zunächst nicht allzu spektakulär. Im Südpol haben Forscher scheinbar daran gearbeitet, einen See anzubohren, welcher seit Jahrtausenden unter dem Eis eingeschlossen ist. Vincent fragt sich, wie dies möglich sei, dass unter dem Eis ein See ist, welcher nicht zufriert und formuliert mit einem leisen ‘Hä?’ seine präzise Frage. Die Redakteure des Senders hatten die wissenschaftliche Neugier der Zuschauer bereits im Voraus geahnt und warten daher mit einer Grafik auf. Auf einen Blick werden hochkomplexe Sachverhalte sofort klar und verständlich. Der Südpol besteht – anders als der Nordpol – nicht nur aus Eis. Vielmehr ruhen die Eismassen auf einem Kontinent aus Erde und Gestein. Darauf hat sich vor Jahrtausenden ein See gebildet. Nach und nach gefroren die Eismassen über dem Kontinent und schlossen den See ein. Der Druck des Eises hat verhindert, dass das Wasser gefriert und so blieb dieser See flüssig und war Jahrtausende lang von der Außenwelt abgeschnitten.

    Diese wissenschaftliche Heranführung endet exakt zwei Sekunden bevor Vincent von ihr gelangweilt zur Fernbedienung gegriffen hätte. Stattdessen wird eine Schlagzeile eingeblendet, welche zum Dranbleiben animiert: ‘Mord im ewigen Eis?’

    Ein Reporter mit einer Fellmütze wird gezeigt und beginnt sogleich zu informieren. Augenzeugenberichten zufolge hätte es in dem Deutsch-Russisch- Kanadischen Forscherteam nach der erfolgreichen Anbohrung des Sees einen Streit gegeben, welcher eskaliert sei und wahrscheinlich mit Mord und Totschlag endete. Man gehe davon aus, dass sich die fünfzehn Männer und sieben Frauen gegenseitig angegriffen hätten. Noch wisse man nicht genau, wie viele Verletzte oder Tote es gäbe. Die Verbindung zur Station wäre nach anfänglichen wirren und gegensätzlichen Funknachrichten gänzlich zusammengebrochen. Ein internationales Aufklärungsteam ist entsandt worden, um die Situation zu klären. Aufgrund der extremen Witterung ist es jedoch noch nicht am Ort des Geschehens eingetroffen. Der Moderator nimmt dennoch an, dass Wodka eine große Rolle gespielt haben muss, sind doch Russen mit dabei gewesen. Wie er zu dieser Annahme kommt, wird nicht erklärt, stattdessen wird der Bericht beendet und es geht weiter mit einem Beitrag über eine Fußballerehefrau, die ab sofort nicht mehr nur Spielerfrau sein will und daher ihre eigene Schmuckkollektion herausbringt. Vincents Hand ist augenblicklich an der Fernbedienung und schaltet herüber zum anderen Sender. Vielleicht bietet dieser wenigstens ein paar Bilder, blutgetränktes Südpoleis etwa. Denn der Beitrag soeben war doch enttäuschend lahm. Da er aber nur Werbung vorfindet, entscheidet er sich seufzend die mittlerweile leere Müslischale auf dem kleinen Tisch festzukleben, sich fürs Büro anzuziehen und den Fernseher auszuschalten.

    Dieser Donnerstag ist ein guter Tag, denn die erlauchten Führungskräfte samt Hackfresse-Benjamin sind auf einer Fortbildung. Was heute gut ist, wird in der kommenden Woche allerdings zu einem furchtbaren Bumerang. Benjamin wird nämlich jedem von den dortigen Erkenntnissen berichten, aber vielmehr noch von dem Essen, dem Ambiente oder sonstigem, nur Leuten wie ihm vorbehaltenen Schnickschnack. Dennoch, der Donnerstag ist gerettet. Vincent überfliegt die am Vortag noch reingekommenen Emails, löscht die meisten, setzt andere in die Wiedervorlage. Ältere Mails wiederum poppen aus der Wiedervorlage auf und werden sogleich für weitere zwei bis einunddreißig Tage zurückgestellt. Nach einer Viertelstunde ist diese Arbeit erledigt und Vincent startet Facebook. Er prüft neue Einträge, Postings, wer wen jetzt kennt und wer was mag. Manchmal schaut er sich sogar die Dinge an, die andere empfehlen und empfiehlt diese ebenfalls weiter. So bleibt man im Gespräch denkt er. So lernt man vielleicht neue Leute kennen. Wobei er mit neuen Leuten natürlich eine bildhübsche Frau seines oder jüngeren Alters meint, welche von seinen Einträgen, Postings, tausenden Bekanntschaften und Empfehlungen so begeistert ist, dass Sie sofort Kontakt zu ihm aufnimmt, um sich mit ihm zu verabreden. Wäre diese zugegeben minimale Option nicht vorhanden, würde er keine Minute seines Tages in sozialen Netzwerken verbringen. Was interessiert es ihn, ob Pia ‘endlich Feierabend’ hat – wie zweiunddreißig Millionen weiterer Erwerbstätiger zur selben Zeit – oder ob Jan der Gruppe ‘Rettet den Wald, esst mehr Biber!’ beigetreten ist und zwar nur deshalb, weil er diesen uralten Spruch lustig findet.

    Umso mehr wird Vincent das Portal zuwider als er entdeckt, dass Benjamin ein Foto gepostet hat, auf dem man sein Namensschild aus der Fortbildung und daneben eine Flasche eines völlig überteuerten Wassers sieht, welches nur Hollywoodstars und eben Benjamin trinken. Aber es ist diese eine Option mit der Bildhübschen, die ihn auch an diesem Tag eine Stunde lang online hält. Die Kernleistung dieser Zeit besteht für Vincent darin, ‘Schon wieder Hardcorebüroarbeit! Uff!!’ zu posten. Mal sehen, wer wie reagiert. In den darauffolgenden zwanzig Minuten starrt er auf den Bildschirm und drückt fortwährend auf ‘aktualisieren’. Leider tut sich nichts und daher wird Facebook gnadenlos geschlossen. Das haben jetzt alle davon.

    Zum Glück erscheint Mäggi nun auch im Büro und lächelt in die Runde. Sie hat zum Einstand einen Kuchen gebacken, welchen sie gekonnt auf einem kleinen runden Tisch inmitten des Büros aufstellt. Allen Bürokollegen ist klar, dass nun die Zeit läuft. Und zwar die in der es gilt sich ein Stück Kuchen zu sichern, bevor die fette Tina es schafft, sich mühevoll aus dem mitleidigen und unter ihrem Gewicht krächzenden Bürostuhl zu erheben. Dann wird sie schwerfällig zum Tisch schreiten und sich ein gigantisches Stück anschneiden und innerhalb von einer Minute einverleiben. Im Stehen versteht sich, um nicht unnötig Kalorien zu verbrauchen mit Hinsetzen und erneutem Aufstehen und sich gleich darauf ein weiteres, gigantisches Stück zu gönnen. Also beeilen sich alle, ein eigenes Stück zu ergattern.

    Der Kuchen – ein Blech mit einer Kirsch-Quark-Köstlichkeit – schmeckt hervorragend. Alle bis auf die fette Tina genießen ihn Bissen für Bissen, auch deshalb weil keine Gefahr droht, dass Benjamin hereinplatzt und die gemütliche Runde mit gebellten Arbeitsaufträgen beendet. Vincent überlegt während des Essens, wie er Mäggi ein geschicktes Kompliment dafür machen könnte und malt sich aus, dass dieses vielleicht der Start sein könnte für eine kleine Romanze. Und wer weiß, vielleicht endet das sogar mit Liebe. Er schaut zu ihr herüber und stellt sich vor, wie sie in der ersten Zeit ihre Beziehung noch geheim halten und sich nur ab und zu zuzwinkern. Sie würden leicht zeitversetzt in den Feierabend gehen und aufeinander an der nächsten Ecke warten. Er würde ihr sogar den Asia-Buffet-Chinesen zeigen und sie würde von seiner Erfahrung im Nahrungsturmbau profitieren. In Vincents Träumerei platzt plötzlich die Stimme von Jonas, als er noch kauend zu Mäggi schaut und sagt:

    »Echt geil Dein Kuchen.«

    Und noch ehe Mäggi oder irgendwer etwas sagen kann, wirft er hinterher:

    »Der schmeckt nicht nur geil, der duftet auch spitze. Apropos, Deine Haare duften auch immer toll. Was ist das denn für ein Aroma?«

    Vincent schießt das Blut in den Kopf und er ersticht mit seiner Gabel den Kuchen stellvertretend für alle Jonasse dieser Welt, bis diese durch den knackigen Boden auf den Teller kracht. Dann blickt er zu Mäggi, die leicht rot anläuft während sie zu Jonas blickt, nervös lächelt und sich etwas verstohlen durch ihr Haar geht. Dann sagt sie mit Hundewelpenblick:

    »Das ist Pfirsich. Magst Du es?«

    »Oh ja, cool. Ich mag Pfirsiche. Das rieche ich jedes Mal, wenn Du vorbeiläufst.«, grinst Jonas zurück.

    An dieser Stelle hält es Vincent nicht mehr aus.

    »So Leute, mir reicht’s.«

    Alle blicken zu ihm.

    »Ähm…ich meine, ich habe den Kuchen echt genossen, aber ich muss jetzt weiterarbeiten. Vielen Dank Mäggi.«

    Dann steht er auf und setzt sich zurück an seinen Arbeitsplatz. Das ist allerdings nicht ganz so effektiv als räumliche Trennung zu den flirtenden Mäggi und Jonas, weil sein Schreibtisch keine zwei Meter entfernt steht. Um sich abzulenken, aktualisiert Vincent Facebook und als immer noch keine Reaktion auf seinen Posting erscheint, seufzt er leise und widmet sich tatsächlich einer betrieblichen Email, die seit Tagen auf die Bearbeitung wartet.

    Nachdem die Kuchenrunde sich endlich aufgelöst hat, wird in der letzten Stunde bis zum Mittag aber wieder rangeklotzt. Vincent beantwortet zwei Telefonate und verweist dabei auf Kollegen, die die jeweilige Antwort wissen müssten. Dann muss er Rechnungen überprüfen, wobei mehrere Zahlenkolonnen auf dem Bildschirm mit einem Stapel an Zetteln und Blättern zu vergleichen sind. Vincent hasst diese Aufgabe noch mehr als er die gesamte Arbeit hasst. Er muss hierbei genau arbeiten und es ist auch noch so verbindlich, da ihn Fehler auch nach Monaten wieder einholen würden, wenn irgendwer von der Revision oder sonst wo her auf falsche Werte stoßen würde. Viel lieber ‘recherchiert’ Vincent im Internet oder liest strategisch wichtige Papiere, in welchen er alle Os, Ds und Bs ausmalt. Bis vor einer Weile saß er auch sehr gerne in Meetings und Besprechungen. Denn dort konnte man auf ein leeres Blatt Papier starren und hatte dennoch die Legitimation, dort sein zu müssen. Allerdings haben diese Inseln der Ruhe und Entspannung mit der Beförderung von Benjamin ein jähes Ende genommen. Und so ackert Vincent beinahe eine dreiviertel Stunde am Stück. Als er das feststellt, hat er die Idee, online auf Facebook über seinen enormen Einsatz zu posten, als ihm einfällt, dass er dies bereits vor der Arbeit gemacht hatte. Ein weiterer Check, ob jemand diese Anmerkung kommentiert hat, nein, Mittagspause. Heute geht es mit den anderen zur Kantine. Diese ist ein paar Straßen entfernt und Vincent schlurft mit den Kollegen durch die stets belebten Straßen der Hamburger Innenstadt.

    »Habt ihr das mit der Polarstation mitbekommen?«, fragt Jonas in die Runde.

    »Ja, da sollen Russen sich mit Wodka abgefüllt haben. Und dann haben die alle abgemetzelt.«, antwortet die fette Tina, während sie damit zu kämpfen hat, zur gleichen Zeit zu gehen und zu sprechen. »Hat heute Morgen der Reporter in der Frühstückssendung gesagt.«

    Vincent schaut sie an und würde gerne sagen, dass das noch nicht bestätigt ist, fürchtet jedoch, dass sie etwas antworten und mangels Sauerstoff kollabieren würde. Und da Vincent nicht geschult ist in der Wiederbelebung von Walen, lässt er es lieber.

    »Gerade stand in der Bild-online, dass die nur vier Überlebende gefunden haben.«, wirft Jonas ein.

    »Echt? Und was soll da jetzt passiert sein?«, fragt Mäggi nach und Tina wirft schnaubend von der Seite ein:

    »Russen…Wodka. War klar…immer…Uff…«

    »Keine Ahnung«, sagt Jonas, »die haben nur ein unscharfes Foto gezeigt, wie sie gerade in den Hubschrauber steigen. Darunter stand nur ‘Mord im Schnee’ oder so.«

    »Aha.«, sagt Vincent, um sich an der Diskussion ebenfalls zu beteiligen.

    »Interessant was Du so alles weißt.«, sagt Mäggi zu Jonas blickend.

    Vincent verdreht die Augen.

    Dann kommen sie in der Kantine an, nehmen sich Tabletts und jeder außer Tina wählt eines der drei Hauptgerichte. Tina nimmt nur einen großen Salat von der Salatbar, gießt zweieinhalb Liter Dressing darüber und stapelt abwechselnd Eier, geriebenen Käse und Hackbällchen über dem bisschen Grünzeug. Vincent denkt, dass er ihr nie den Asiaten mit dem ‘Eima voll machen Teller’ zeigen darf, weil der Weg dorthin kürzer ist und sie ihm offensichtlich an Essensstapelkünsten in nichts nachsteht. Womöglich will sie ihn dann regelmäßig begleiten und der Mittwoch wäre wieder hinüber. Die Gruppe bezahlt wobei jeder darauf achtet, vor Tina an der Kasse zu sein, weil diese die tägliche Diskussion mit der Kassiererin führen wird, ob das noch ein großer Salat ist oder doch drei Hauptgerichte.

    Während alle essen, sitzt Jonas Vincent gegenüber und sagt nach einer Weile der gefräßigen Stille:

    »Stell Dir vor, Du bist in der Polarstation und plötzlich läuft da einer Amok oder so. Und draußen läuft ein wilder Eisbär rum. Was würdest Du machen Vince?«

    Vincent bemerkt erst jetzt, dass die Frage ihm galt und überlegt kurz. Dann erinnert er sich an mehrere Filme, die zu dieser hochwissenschaftlichen Thematik durchaus passen und sagt:

    »Naja, man kann ja aus den Sachen, die dort herumliegen bestimmt eine Waffe bauen. Außerdem haben die bestimmt ein Gewehr. Das müssen die. Eben wegen der Eisbären und so.« Dann wird weitergekaut.

    »Okay, aber würdest du dann lieber drin bleiben und gegen den Irren kämpfen oder lieber rauslaufen und dann draußen mit dem Eisbären kämpfen?«, hakt Jonas nach.

    Vincent fühlt sich irgendwie verpflichtet, vor Mäggi ein wenig die dicke Hose anzuziehen, verengt darum die Augenlider etwas zu filmreif und sagt:

    »Ich würde drin bleiben. Schließlich kann ich die anderen nicht im Stich lassen, wenn ich einfach abhaue.«

    Alle am Tisch nicken bedächtig, als sei dies die einzige geniale und sozial verträgliche Lösung. Währenddessen stellt sich Vincent vor, wo er sich in einer solchen Situation verstecken würde. Vielleicht haben die dort große Truhen, wo sie Felle und warme Kleidung lagern. Dort könnte er sich hineinlegen und wenn nötig tagelang warten, bis ihn die Retter rausholen. Und wenn er doch eine Waffe hätte? Dann würde er diese mit hineinnehmen in die Truhe. Und etwas zu essen und zu trinken. Und vielleicht eine Taschenlampe und etwas zu lesen. Und am besten ein Handy. Aber er würde nie und nimmer den sicheren Ort verlassen.

    Das allgemeine Aufstehgewusel reißt Vincent aus diesen Gedanken. Der Weg zurück ist weitaus unangenehmer. Erstens endet dieser wieder im Büro, zweitens schnauft Tina noch viel mehr und die Gruppe muss aus Höflichkeit das Tempo etwas drosseln. Im Büro angekommen setzen sich alle schnell an ihre Plätze und lassen es so wirken, als müssten sie noch eine Menge erledigen und richtig malochen. Auch Vincent folgt diesem eingeprägten Muster und schaut enorm engagiert und konzentriert auf den Bildschirm, während er die Bild-online aufmacht um nach möglichst blutgetränkten Neuigkeiten vom Südpol zu suchen. Er wird nicht enttäuscht. Mangels heftigerer News hat die Zeitung das Thema zum reißerischen Titelthema aufgeblasen. ‘Amok im ewigen Eis!!!’ prangert es dort in großen roten Buchstaben. Darunter sieht man mehrere Bilder und Vincent öffnet das erste davon. Es zeigt endlich eine Blutlache im Schnee. Vincent blättert weiter und erblickt ein verschwommenes Bild von mehreren Männern, die scheinbar eine Trage in Richtung eines Hubschraubers schleppen. Vincent beugt sich leicht nach vorne und liest die Bildunterschrift: ‘Noch auf der Trage versucht sich einer der Amokläufer loszureißen und seinen brutalen Angriff fortzusetzen. Sehen Sie das Video eines Augenzeugen.’ Vincent klickt den Link an und wird sogleich enttäuscht, erscheint doch statt des Videos ein Fenster welches ihn darauf verweist, dass sein Unternehmen Videos blockiert. Vincent greift schnell zum Handy und bemerkt, dass in dieser Sekunde die anderen Kollegen im Büro ebenfalls zu ihren Smartphones greifen, weil sie wohl ebenfalls exakt dasselbe gemacht haben. Alle außer Tina. Sie hat sich über ihre Schublade gebeugt, um möglichst geräuschlos eine ganze Packung Yes-Törtchen zu verdrücken. Tina war einige Wochen lang selig, als diese Nascherei nach langer Zeit – laut ihrer Aussage nach sechsdreiviertel Jahren – wieder im Handel aufgetaucht ist. Seitdem unterstützt sie das herstellende Unternehmen tatkräftig, indem sie jeden Montag fünf Packungen à fünf Törtchen ins Büro schleppt und in ihrer Schublade unter abgegriffenen »Women’s Health«-Zeitschriften versteckt.

    Alle anderen Kollegen beugen sich hinunter zu ihrem Handy und betrachten das Video. Zunächst sieht man einige eingeschneite Hütten, dann denselben Blutfleck wie auf dem Foto. Anschließend kann man erkennen, wie ein an einer Trage angeschnallter Mann von mehreren in dicken Jacken gekleideten Männern in einen Hubschrauber getragen wird. Dabei windet er sich wie wahnsinnig und scheint die Träger anzuschreien. Da alle das Video ohne Ton schauen, kann man leider nicht hören, was er von sich gibt. Das war es auch schon und fast simultan legen alle ihre Handys zur Seite. Vincent freut sich schon auf die bunte Abendsendung im Fernsehen, die sicherlich voll von flimmernden Bildern, blödsinnigen Fragen und weit hergeholten Behauptungen sein wird.

    Den Rest des Tages verbringt er damit, den stressigen Bürojob zu kompensieren, indem er die benjaminfreie Zeit mit Kollegen in der Kaffeeküche genießt, Facebook konsultiert, belangloses Zeug recherchiert und manchmal einfach nur auf den Bildschirm starrt und sich vorstellt wie es jetzt wäre, hätte er über Mäggis duftendes Haar eine Bemerkung gemacht und nicht Jonas.

    Der Abend ist wie üblich. U-Bahn, Fahrrad, Kühlschrank, Superheld am PC, diesmal sogar bis nach Mitternacht, weil das dreiköpfige Monster hartnäckiger war, als der schwertschwingende Held es angenommen hatte.

    Kapitel 4

    Vincent verschläft den ersten und den zweiten Wecker. Als er die Augen aufschlägt und zur Uhr herüberschaut, muss er binnen Sekundenbruchteilen entscheiden, ob er nur später ins Büro reinkommt mit einer fabelhaften Ausrede oder heute doch krank ist. Aus irgendeinem Grund entscheidet er sich dafür, sich in Windeseile anzuziehen und heute ohne Frühstück und dem dazugehörendem Fernsehen zur Arbeit zu eilen.

    Noch auf den letzten Metern vor dem Büro kann er sich nicht entscheiden, ob es ein kaputter Fahrradreifen oder doch eine polizeiliche Augenzeugenaussage nach einem beobachteten Unfall war, welche ihn jetzt erst erscheinen lässt. Als er das Büro betritt und alle anderen Kollegen um Jonas Arbeitsplatz versammelt sieht, ist er zunächst erleichtert, weil die Aufmerksamkeit nicht ihm gehört, zugleich jedoch auch beunruhigt, was er denn da verpasst hat.

    »Krass, guck Dir den mal an!«, sagt einer aus der Gruppe.

    Vincent hängt seine Sommerjacke auf und kommt neugierig zu der Gruppe hinzu, welche ihn immer noch nicht wahrgenommen hat. Durch kleine Zwischenräume zwischen den dichtgedrängten Kollegen kann er erkennen, dass Jonas sein Tablet auf dem Schreibtisch liegen hat. Weil die besten Plätze offenbar schon länger besetzt sind und er nicht auf das Bild schauen kann, fragt er etwas verunsichert:

    »Was schaut ihr denn da?«

    Einige Köpfe drehen sich zu ihm um und Jonas stellt die Gegenfrage:

    »Na was wohl? Den Eismeerhorror!«, dabei formt er mit seinen Fingern Anführungszeichen.

    Vincent scheint nicht wirklich wissend auszusehen, weil Jonas nachwirft:

    »Hast Du gestern nichts mitbekommen? Oder heute Morgen?«

    »Nö…ich war…hatte eine…ich war halt anders beschäftigt. Weißt Du abends da…da hänge ich ja nicht vor der Glotze oder dem PC.«, lügt Vincent mit einem verstohlenen Blick zu Mäggi, die heute in einer blau-weiß gestreiften Bluse wieder umwerfend aussieht.

    Jetzt schauen ihn alle an, als hätte er die Mondlandung oder den Tatort verpasst. Dann ist das Interesse am Tablet aber größer und man wendet sich ab. Vincent traut sich gar nicht, weiter nachzufragen und sieht sich deshalb erst mal das dort laufende Video an. Man sieht, wie ein wildgewordener Mann in zerrissener Winterjacke und wahnsinnigem Blick von mehreren Männern mit Seilen gefesselt wird und heftigen Widerstand leistet.

    »Was ist das denn?«, fragt Vincent nun doch leise.

    »Von der Polarstation. Da wo die sich gegenseitig umgebracht haben.« sagt Mäggi ohne ihren Blick zwischen Ekel und Faszination vom Bildschirm zu nehmen. Dann fügt sie eine Erklärung hinzu:

    »Das Rettungsteam hat diese Station da erreicht und hat einige Tote gefunden. Und einige Lebendige.«

    »Und einige dazwischen oder so.«, wirft Jonas ein. »Warte mal, ich springe mal zu der Stelle.«

    Dann tippt er mit flinken Fingern einige Male hin und her im Video, bis er an der Stelle angelangt ist, die scheinbar wichtig ist.

    »Guck Dir das mal an Vincent. Da am Horizont, da läuft einer, siehst du?«

    Vincent beugt sich vor und sieht, wie sich eine dunkle Silhouette gegen den weißen Schnee abzeichnet. Jonas spult ein wenig vor und sagt:

    »Dann sind die ihm gefolgt, weil die dachten, dass das jemand ist, der abgehauen ist und jetzt rauskommt, weil das Rettungsteam da ist. Und dann, warte… jetzt.«

    Jonas drückt wieder auf Play und man sieht ein verwackeltes Video von jemandem, der schwer atmend seinen Gang durch den Schnee zu der Person geht, die weiter entfernt zu sehen war. Dann hört man ihn auf Russisch etwas rufen. Dann noch ein Mal, bis die Person sich plötzlich umdreht und auf den Filmenden zuwankt. Ihr Gang ist nicht nur aufgrund des Schnees seltsam, sondern weil irgendetwas nicht stimmt. Vincent kommt die Person irgendwie fremdartig vor, darum beugt er sich nach vorne und fragt: »Was stimmt mit dem denn nicht?«

    Jonas spult vor und die gefilmte Person wankt jetzt etwas schneller auf die Kamera zu. Erst als sie nur noch einige Meter entfernt ist, lässt er das Video wieder normal laufen und Vincent öffnet den Mund, als er sieht, dass der Person offenbar der ganze rechte Arm fehlt. Die grüne Jacke ist an vielen Stellen dunkler gefärbt, was sich beim näheren Hinsehen als Blut entpuppt. Doch der Mann wankt dennoch weiter auf die Kamera zu. Jetzt hört man den russischen Filmer immer energischer etwas rufen. Die Kamera wackelt dabei immer stark, sodass man keine weiteren Details erkennen kann. Scheinbar geht der Filmer jetzt rückwärts, anstatt auf den Schwerverletzten zu. Aus dem Rufen wird Schreien – was auf allen Sprachen gleich panisch zu klingen scheint – wobei sich auch ein furchtbares Knurren mit in die Stimmen mischt. Dann ist die Kameraführung gänzlich verwackelt und erst nach einigen Sekunden kann man erkennen, dass der Filmer, an dessen Helm oder Mütze die Kamera befestigt zu sein scheint, hingefallen sein muss, weil man den immer noch näher kommenden Verletzten jetzt aus einer tieferen Position sieht. Man kann genau erkennen, dass tatsächlich fast der gesamte rechte Arm fehlt und das Blut an seiner Seite herunterläuft. Auch an vielen anderen Stellen ist die Kleidung zerfetzt und eines seiner Ohren steht definitiv anders ab, als das andere. Dann – nur ungefähr zwei Meter von dem liegenden und mittlerweile schreienden Filmer – streckt der Herannahende seinen verbleibenden Arm hoch und stößt dabei einen lautes, fast unmenschliches Gurgeln aus. Danach sieht man alles und nichts auf dem Video, weil es so verwackelt ist. Zwischendurch sieht man Schnee und Kleidung aber auch sekundenweise das blutverschmierte Gesicht des Einarmigen. Dazu mischen sich russische Schreie des Filmers und eine Art Grunzen, die wohl von dem anderen kommen. Dann bricht der Film ab.

    Vincent und seine Kollegen richten sich auf und atmen simultan tief durch, auch wenn alle außer Vincent die Szene scheinbar bereits öfter gesehen haben. Während Jonas auf der Suche nach einem anderen Video über die Seite scrollt, sagt er mit Stolz in der Stimme:

    »Das haben die nicht im Fernsehen gezeigt, auch nicht auf Youtube. Man muss schon ein paar russische Seiten kennen, damit man sowas sieht.« Und dann fügt er hinzu: »Oh, das kenne ich auch noch nicht. Ist auch erst seit zehn Minuten online.« Dann klickt er das Video an und alle beugen sich wieder vor.

    Das Video ist scheinbar mit einer richtigen Kamera gedreht, weil die Qualität wesentlich besser ist. Man sieht einen Mann, der blutüberströmt auf einer Holzkiste sitzt. Die Sonne scheint und es ist ein arktisches Bilderbuchwetter, sodass er das Oberteil seines Schneeanzugs heruntergestreift hat. Die Farben des Anzugs verraten, dass es derjenige ist, der den Kontakt zum Schwerverletzten hatte und von dessen Kamera das erste Video stammt. Während ein

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