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Die Torwächter
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eBook653 Seiten9 Stunden

Die Torwächter

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Über dieses E-Book

An dem Tag, als ein seltsamer Schatten in der Schule auftaucht, wird das Leben des 17-jährigen Ben mit einem Mal völlig durcheinandergeworfen. Weitere sonderbare Ereignisse folgen, die ihn kurz an seinem Verstand zweifeln lassen. Auch der Junge mit den blutroten Haaren, der eines Abends plötzlich in Bens Zimmer erscheint und sich ihm als Antios vorstellt, will ihm zunächst keine Informationen geben, sondern ihn nur vor einer zukünftigen Gefahr warnen. Als Ben beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln, wird ihm nach und nach gewahr, wie sehr er bereits in das Zentrum der Aufmerksamkeit von Wesen, die weit über sein Verständnis hinausgehen, geraten ist. Dabei muss er auch erfahren, dass ihm nicht alle gut gesonnen sind. Ohne die Hilfe seiner neuen Bekanntschaft hat Ben keine Chance zu überleben.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Mai 2022
ISBN9783347574472
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    Buchvorschau

    Die Torwächter - Steffi Kieckhöfel

    1. Kapitel

    Ben trat Dennis mit solcher Wucht gegen das Bein, dass er durch den Schwung seines eigenen Tritts fast gestürzt wäre. Aber Dennis schien das gar nichts auszumachen. Es war, als spürte er nicht einmal, dass Ben mit der festen Absicht, Dennis zumindest eine kleine Erinnerung an diese Prügelei zu verpassen, zugetreten hatte. Verdammt, dieser Kerl musste aus Beton bestehen! Wahrscheinlich hatte Ben sogar mehr abbekommen als diese fleischgewordene Dampfwalze von Klassenkamerad. Dabei hatte Ben doch gar nichts getan!

    Dennis holte aus, ballte eine Faust und schlug Ben damit mit voller Wucht gegen die Brust. Für einen Moment wurde Ben schwarz vor Augen. Er spürte, wie die Luft in seinen Lungen gewaltsam herausgepresst wurde und er den Boden unter den Füßen verlor. Das Nächste, das er wahrnahm, war ein unheimlich harter Schlag gegen den Rücken. Es klang irgendwie so, als würde jemand – in weiter Ferne – ein paar Holztische mit einem kräftigen Ruck zur Seite schieben. Eine Sekunde später spürte Ben einen weiteren Schlag im Rücken.

    Dann drehte jemand den Ton wieder auf und stellte das Bild wieder an, aber irgendetwas stimmte nicht. Unter seinen Füßen erklang Applaus und Gejohle, aber er sah niemanden. Da waren nur weiße Platten, die ihn an die Decke des Klassenzimmers erinnerten. Jemand packte ihn an den Schultern und zog ihn hoch. Die Welt kippte um und dann wurde Ben klar, dass er sich gerade getäuscht hatte: Nicht die Welt war falsch gewesen, sondern er! Dennis’ Schlag hatte ihn gegen zwei Tische geworfen und ihn dann auf dem Boden landen lassen. Wer ihm wieder aufgeholfen hatte, wusste er nicht, aber jetzt war wieder alles so, wie es sein sollte: Der Boden war unter ihm, die Tafel vor ihm, die Wand hinter ihm und die Decke über ihm. Seine Mitschüler hatten sich an der Tafel versammelt, als sie vor den Prügelnden geflüchtet waren. Das hatte sie aber nicht daran gehindert, weiter zuzusehen. Jetzt lachten sie über ihn, den Verlierer. Sehr viel Zeit dazu hatten sie allerdings nicht, denn Frau Gruber betrat die Klasse. Trotz der zierlichen Gestalt und dem bereits angegrauten Haar war ihr die Aufmerksamkeit sofort gewiss, während sie mit strengem Blick die Klasse musterte.

    Ben fragte sich ernsthaft, wie Lehrer es immer wieder schafften, so verdammt blind zu sein. Die Spuren des Kampfes waren so deutlich, dass man sie einfach nicht übersehen konnte! Frau Gruber allerdings sah sie entweder nicht oder zog es vor, sie einfach zu ignorieren. Ben ging zu seinem Platz und setzte sich neben Martin. Sein Sitznachbar war ein schlaksiger Junge, der sich bequem hinter einem schmalen Baum hätte verstecken können. Er hatte kurze, schwarze Haare und sehr auffällige, blaue Augen. Diese Kombination passte irgendwie nicht recht, aber sie verlieh ihm auch etwas Besonderes. Ben kannte Martin seit der Grundschule und sie waren seitdem immer gute Freunde gewesen. Sie hatten sich stets aufeinander verlassen können. Zumindest bis jetzt … Ben warf ihm einen wütenden Blick zu. Sicher, Martin war nicht gerade das, was man einen Superman nannte, aber dennoch hätte er doch wenigstens versuchen können, ihm zu helfen. Das wären mindestens zwei blaue Flecken weniger gewesen, die er morgen früh zu spüren bekommen würde. Martin schaute beiseite. Er hatte seinen Freund im Stich gelassen! Vielleicht lag es an Bens überreizten Nerven, aber wirkliche Reue konnte er in Martins Gesicht nicht erkennen.

    Erst jetzt bemerkte Ben, dass Martin ihm einen kleinen zerknüllten Zettel zugeschoben hatte. Er nahm ihn in seine Hände und faltete ihn auseinander. Sorry stand in krakeliger Handschrift darauf geschrieben. Ben seufzte und gab seinem Freund mit einem Schulterzucken zu verstehen, dass er es ihm nicht weiter übel nahm. Diese Prügelei würde zwangsläufig Spuren hinterlassen, und im Grunde genommen konnte er sehr gut verstehen, dass sich Martin nicht aktiv daran beteiligt hatte. Niemand, der ernsthaft bei Verstand war, ließ sich freiwillig auf eine Auseinandersetzung mit Dennis ein! Er selbst war durch eine dumme Unachtsamkeit da hineingeraten. Ja, er war auf Dennis’ Jacke getreten, aber vollkommen unabsichtlich! Der eigentliche Übeltäter war ein anderer gewesen, der sie vorsätzlich hinuntergeworfen hatte. Erwischt worden war aber Ben, und Dennis hatte schlagkräftig untermauert, was er von solchen Aktionen hielt. „Hausaufgaben raus!", befahl Frau Gruber. Ben war das inzwischen gewohnt, aber in der zehnten Klasse passte es seiner Meinung nach nicht so recht, dass ein Lehrer von Platz zu Platz ging und nachschaute, ob auch alle ihre Hausaufgaben erledigt hatten. Nachdem Frau Gruber allerdings vor einiger Zeit festgestellt hatte, dass kaum noch jemand seine Hausaufgaben machte, hatte sie diese tägliche Überprüfung eingeführt.

    Ben starrte auf sein leeres Heft. Er hatte in den letzten zwei Wochen bereits dreimal das Kunststück fertiggebracht, seine Hausaufgaben zu vergessen. Allerdings hatte er sie nur einmal wirklich nicht erledigt. Die anderen beiden Male war es bloß Faulheit gewesen. Er hatte dagesessen und auf sein Mathebuch gestarrt, aber er hatte, wie das bei Schülern oft der Fall war, schlichtweg keinen Bock gehabt. Das wohl Schlimmste daran war, wenn man wie ein Lehrer dachte, dass es Ben nichts ausmachte. Eigentlich war er ein zuverlässiger Schüler. Dass er die Hausaufgaben vergaß, kam eher selten vor.

    In letzter Zeit hatte sich das aber geändert. Ben war, wenn man es übertrieben ausdrückte, schlampig geworden. Er erfüllte seine Aufgaben sehr nachlässig oder sogar gar nicht. Sein Vater hatte sich auch schon darüber beschwert, aber dessen Meinung interessierte Ben im Moment herzlich wenig. Er war seiner Meinung nach kein Vorbild für ihn, an dem er sich orientieren konnte. Da gab es wirklich Bessere …

    Frau Gruber kam nun auch bei Ben an. Sie ersparte sich jeden Kommentar, als sie auf die leeren Seiten seines Heftes blickte. Stattdessen schüttelte sie bloß den Kopf, zuckte mit den Schultern und notierte es sich auf ihrem Zettel.

    „Ben, du bist ein Idiot, meinte Martin. „Wieso machst du so einen Mist?

    „Mist?, fragte Ben mit hochgezogenen Augenbrauen. „Wer ist hier denn Meister im Vergessen von Hausaufgaben?

    Martin schüttelte den Kopf. „Alter, du solltest besser aufpassen, meinte er. „Die Gruber sollte man nicht zu sehr reizen.

    Ben war das relativ egal. Selbst wenn sie ihm für seine mündlichen Leistungen eine Fünf gab, hatte er doch immer noch seine Klausuren. Die konnten das sehr gut ausgleichen, was also sollte ihm passieren?

    Die Lehrerin zog auch heute ihren Unterricht durch, ohne groß darauf zu achten, ob jemand zuhörte oder nicht. Ben hatte das Gefühl, dass sie es sorgsam vermied, ihn anzusehen. Er verstand das wirklich gut. Er fragte sich, was er tun würde, wenn er an Frau Grubers Stelle dort vorne sitzen würde und sich ständig diese dummen Ausreden von Schülern anhören müsste, die aus reiner Lustlosigkeit die Hausaufgaben nicht gemacht hatten. Was mochte das bloß für ein Leben sein? Ben nahm sich fest vor, niemals Lehrer zu werden.

    Nach der Schule machte Ben so schnell es ging, dass er wegkam. Es war nicht so, dass er Angst hatte. Ben war nie ein Feigling gewesen, aber er war auch nie in eine Situation gekommen, die echten Mut von ihm erfordert hätte. Die Prügelei mit Dennis war kein wirklicher Kampf gewesen, sondern bloß das, was siebzehnjährige Jungen eben taten: Sie schlugen sich gegenseitig die Nasen ein, um ihre Stärke zu zeigen. Die anderen machten das doch auch die ganze Zeit. Es gab nichts zu bereuen und eigentlich auch nichts zu befürchten.

    Und dennoch…

    Dennoch machte er sich Sorgen. Dennis würde weiterhin hinter ihm her sein, und nichts widerstrebte Ben mehr als eine Fortsetzung ihrer Prügelei.

    Heute allerdings hatte er noch einmal Glück. Dennis musste mit dem Bus fahren, der bereits kaum fünf Minuten nach Schulschluss fuhr, während Bens Bus erst danach kam. Als Ben die Bushaltestelle erreichte, fuhr Dennis’ Bus gerade weg. Ben sah ihn in der letzten Reihe mit ein paar Freunden herumalbern.

    Er wird nie wieder glücklich sein.

    Irritiert zog Ben die Augenbrauen zusammen. War das gerade sein eigener Gedanke gewesen? Es fühlte sich eher an, als hätte ihm jemand die Worte zugeflüstert. Mit klopfendem Herzen und einem mulmigen Gefühl wandte er sich um, aber hinter ihm war niemand. Erleichtert seufzte er, kam sich dann aber nur umso lächerlicher vor.

    Was hatte er denn auch erwartet? Dass Darth Vader höchstpersönlich mit gezücktem Lichtschwert hinter ihm stand und ihm den Kopf abschlagen wollte?

    „Unsinn!", murmelte Ben vor sich hin und schüttelte noch einmal den Kopf.

    Sein Bus kam endlich an. Er stieg ein, setzte sich in die letzte Reihe und schaute aus dem Fenster. Heute war einfach ein mieser Tag, mehr nicht. Nach zehn Jahren Schule musste das doch eines Tages passieren. Bei Dennis waren die Leitungen schon vor einem Jahr durchgeknallt, jetzt war wohl Ben an der Reihe.

    Ben sparte es sich, nach seinem Vater zu rufen, nachdem er die Tür hinter sich hatte ins Schloss fallen lassen. Sein Vater war der Leiter der städtischen Klinik, und seine Arbeit nahm den Großteil seiner Zeit in Anspruch. Er war nie vor acht Uhr abends zu Hause, manchmal sogar später. Wäre Ben schon volljährig und hätte entsprechende Mittel zur Verfügung, er hätte sich wahrscheinlich eine eigene kleine Wohnung genommen. Die Zeit allein zu verbringen war eine Sache, in einem großen Haus wurde einem die Einsamkeit jedoch noch deutlicher vor Augen geführt. Mit allen möglichen Mitteln hatte er sie zu überdecken versucht: Computerspielen, Fernsehen, Fußballtraining, Herumhängen mit Freunden und vielem mehr, aber an dem Gefühl hatte es nichts geändert.

    Wäre seine Mutter noch da, hätte sie wahrscheinlich mit dem Mittagessen auf ihn gewartet, aber eine Hausfrau hatten diese Räume schon lange nicht mehr gesehen. Frauen ja, aber nie die Richtige. Sein Vater war in der Wahl seiner Freundinnen nicht kleinlich; er wechselte sie fast wöchentlich. Ben machte sich nicht einmal die Mühe, sich ihre Namen zu merken, wenn sein Vater seine neue Bekannte überhaupt vorstellte. Das Verhalten seines Vaters empfand er an dieser Stelle als unangenehm und peinlich. Aus seiner Sicht war sein Vater mit über vierzig ein wenig zu alt für ein solches Benehmen. Davon abgesehen war keine der Frauen, die er bisher angeschleppt hatte, Ben wirklich sympathisch gewesen.

    Auf dem Küchentisch lag ein Zettel mit einer hastig hingeschriebenen Notiz. Sein Vater war, wie jeden Morgen, in aller Frühe aufgestanden und hatte diese Nachricht hinterlassen, in der es bloß hieß, dass er ihn liebte und versuchen würde, zum Abendessen zurück zu sein. Ben wusste, dass er das heute genauso wenig schaffen würde wie immer. Was machte er sich also noch Hoffnungen? Spätestens um halb acht würde der typische Anruf kommen, dass Ben nicht mit dem Essen warten solle. Das war dann immer eine Stunde, nachdem Ben bereits gegessen hatte. Heute würde es nicht anders sein.

    Ben seufzte, verscheuchte diese Gedanken und machte sich an seine Schulaufgaben. Heute stand nur Mathe an. Frau Gruber hatte sich selbst übertroffen und ihnen eine ganze Latte an Hausaufgaben mitgegeben. Während sie der Klasse die Hiobsbotschaft überbrachte, hatte sie durchblicken lassen, dass sie diese Extraarbeit vor allen Dingen Ben zu verdanken hatten. Kurz überlegte Ben, die Aufgaben aus lauter Trotz nicht zu erledigen, aber die heutige Auseinandersetzung mit Dennis hatte ihm gereicht. Seinetwegen würde die Klasse morgen keine Extraaufgaben aufbekommen.

    Nach einer Dreiviertelstunde war er fertig, und zumindest einen Augenblick lang empfand er eine Art Hochgefühl. Den Durchhänger der vergangenen Wochen konnte er durch das einmalige Erledigen seiner Hausaufgaben nicht wettmachen, aber es war zumindest ein Anfang.

    Ben lehnte sich zurück und ließ den Blick durch die Küche schweifen. Wie alles in diesem Haus war sie für zwei Leute viel zu groß. Es war kein Wunder, dass er sich hier verloren vorkam! Natürlich hatte es auch Vorteile, in einem großen Haus zu wohnen, wenn man zum Beispiel eine Feier veranstaltete, aber die letzte und eigentlich einzige große Feier war Bens sechzehnter Geburtstag gewesen. Für einen einzigen Abend hatte er nicht das Gefühl gehabt, in diesen vier Wänden einfach unterzugehen, aber als die Gäste wieder fort waren, hatte sich eine fast schon gespenstische Stille ausgebreitet. Die Ruhe nach dem Sturm war noch schlimmer gewesen als das Schweigen, das hier normalerweise herrschte, deshalb war diese Feier die einzige größere Veranstaltung in diesem Haus geblieben.

    Nicht mehr, flüsterte eine Stimme hinter ihm.

    Ben drehte sich herum, aber niemand war da. Langsam zweifelte er wirklich an seinem Verstand, aber es klang so echt …

    Er hatte es plötzlich sehr eilig, das Haus zu verlassen, und für einen kurzen Moment meinte er jemanden etwas rufen zu hören, was verdächtig nach „Du kannst mir nicht entkommen!" klang.

    Um sechs Uhr kam Ben wieder nach Hause. Er war den ganzen Nachmittag über in der Stadt, und damit unter Leuten, gewesen. Ob das allein gereicht hatte oder ob es an etwas anderem lag, wusste er nicht, jedenfalls hatte er keine Stimmen mehr gehört. Mehr noch: Seine Laune hatte sich deutlich verbessert und er freute sich auf einen ruhigen Abend. Ben war sich jetzt sicher, dass er sich das alles bloß eingebildet hatte. Es gab keine körperlosen Stimmen! Er hatte sich einfach für einen Augenblick zu sehr von dem Gefühl der Einsamkeit forttreiben lassen.

    Als Ben zu Hause eintraf, erlebte er eine Überraschung: Das Licht brannte. Er glaubte nicht an einen Einbrecher, denn der wäre bestimmt nicht so dumm, die Lichter im Haus einzuschalten. Die nächste Überraschung war, dass das Auto seines Vaters in der Auffahrt stand. Aber es war doch erst sechs Uhr! Was machte denn sein Vater zu solch einer Zeit schon daheim?

    Ben betrat das Haus mit gemischten Gefühlen. Geschahen etwa noch Wunder, dass sein Vater eines seiner Versprechen wirklich wahr machte und einmal rechtzeitig zu einem gemeinsamen Abendessen nach Hause kam? Heute wäre genau der richtige Tag dafür! Der Klinikalltag wusste es meistens erfolgreich zu verhindern, eine Tatsache, an die Ben sich bereits gewöhnt hatte. Für die wenigen Male, die sein Vater es dann doch schaffte, rechtzeitig daheim zu sein, gab es andere Gründe – leider war Ben bisher keiner davon gewesen.

    So auch heute nicht.

    Aus der Küche kamen Stimmen, und dann lachte eine Frau. Ben seufzte. Kurz war da die Hoffnung gewesen, dass sein Vater ausnahmsweise seinetwegen pünktlich heimgekommen war. Die Erklärung war ganz einfach: Sein Vater hatte eine Verabredung und wegen einer Frau früher Feierabend gemacht, die morgen vergessen sein würde.

    Ben beschloss, nicht in die Küche zu gehen. Er hatte bereits in der Stadt gegessen, und selbst wenn sein Magen vor Hunger geknurrt hätte, wäre er nicht in diesen Raum gegangen.

    So leise er konnte, schlich er die Treppe hinauf. Als Ben die Hälfte der Treppe hinter sich gelassen hatte, ging plötzlich die Küchentür auf und sein Vater trat hinaus. War er denn so laut gewesen? Dabei hatte er sich extra bemüht, leise zu sein.

    „Ben?", fragte sein Vater. Er blieb auf der Treppe stehen und sah auf seinen Vater herab. Der Anzug passte irgendwie nicht zu den strubbeligen braunen Haaren, die Ben von ihm geerbt hatte. Sein Vater war ein großer Mann, deutlich größer als sein Sohn. Trotz der schmalen Gestalt strahlte er etwas aus, das jeden in seinen Bann zog.

    Der Vater lächelte, als er seinen Sohn sah. Sein Lächeln wirkte jedoch aufgesetzt, und auch ein wenig ertappt.

    „Schon da?, fragte sein Vater weiter. Ben nickte und ersparte sich die spitze Antwort, die ihm auf der Zunge lag. „Ich war um fünf Uhr da, aber du warst schon weg. Wo warst du?

    Ben hatte mit seinem Vater nie über seine Probleme gesprochen, schon gar nicht, wenn noch jemand im Haus war. Für einen kurzen Moment verspürte er jedoch das innere Bedürfnis, ihm alles erzählen zu wollen. Dieser Tag hatte so viele verwirrende Dinge mit sich gebracht, vielleicht hätte ein Gespräch mit seinem Vater Ben dabei geholfen, seine Gedanken zu sortieren.

    Aber der Moment verstrich.

    „In der Stadt", antwortete Ben stattdessen ausweichend. Abermals überraschte ihn sein Vater, indem er weiter fragte, anstatt es wie üblich dabei bewenden zu lassen.

    „Warum bist du nicht in die Klinik gekommen? Ich hätte dich mitgenommen."

    Ben wusste nicht recht, wie er reagieren sollte, denn er konnte sich nicht daran erinnern, wann sein Vater das letzte Mal so … fürsorglich gewesen war.

    Er zuckte mit den Schultern.

    „Keine Lust", entgegnete er knapp. Wieder schlich sich dieses Bedürfnis ein, seinem Vater einfach alles zu erzählen, aber diesmal unterdrückte er es ganz bewusst.

    „Na gut!", resignierte sein Vater schlussendlich, wenn auch eindeutig ein wenig niedergeschlagen. Ben konnte seine Reaktion verstehen, aber jetzt interessierte ihn das nicht. Daraufhin wandte er sich von seinem Vater ab und ging in sein Zimmer. Er hörte, wie sein Vater die Küchentür schloss und zu seiner Verabredung zurückkehrte.

    Bens Zimmer war, im Gegensatz zum Rest des Hauses, eher klein, aber immer noch groß genug für ein riesiges Bett, eine CD-Anlage mit einer dementsprechend umfangreichen CD-Sammlung. Sein Vater hatte auch dafür gesorgt, dass er einen Fernseher und einen Computer zur Verfügung hatte. Wahrscheinlich meinte er, damit seine ständige Abwesenheit ausgleichen zu können …

    Ben hatte versucht, sein Zimmer – soweit es möglich war – gemütlich einzurichten, aber so ganz war ihm das nicht gelungen. An den Wänden hingen Schnipsel von achtlos abgerissenen Postern, die er vor einiger Zeit aufgehängt hatte. Inzwischen waren sie alle im Müll gelandet. Nur eine Postkarte, auf der eine schneeweiße Eule mit riesigen, bernsteinfarbenen Augen, die einen wirklich anzuschauen schienen, abgebildet war, hing noch neben seinem Bett. In der Grundschule hatte seine damalige Lehrerin ihren Schulkindern ein paar Postkarten angeboten. Ben hatte diese Karte gesehen und sich buchstäblich in sie verliebt. Sie hatte ihn damals an irgendetwas erinnert, heute jedenfalls konnte er nicht mehr genau sagen, was es gewesen war. Irgendwie spürte er, dass es etwas Wichtiges war, aber er konnte es sich einfach nicht mehr ins Gedächtnis rufen. Es kam Ben vor, als wäre eine Sperre in seinem Kopf, die jede Erinnerung daran blockiert. Das allerdings hielt ihn nicht davon ab, es zu versuchen. Das gab ihm bloß die Sicherheit, dass dieser Blick in die Vergangenheit wichtig war.

    Heute allerdings beschäftigte er sich nicht weiter damit. Was auch immer es war, es hatte sicher Zeit bis morgen. Oder vielleicht übermorgen. Ben hatte sich bisher nicht daran erinnert, warum sollte es morgen anders sein?

    Zwar hatte er nichts Wichtigeres zu tun, aber ihm fehlte einfach der Wille für solche Überlegungen.

    Heute war so ziemlich vieles falsch gelaufen und diese Postkarte war ihm gerade vorhin, an diesem verrückten Tag, aufgefallen, obwohl sie schon eine halbe Ewigkeit hier hing.

    Er warf den Gedanken fort und versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, auf etwas Normales …

    Warum hatten die Lehrer ausgerechnet heute so mit Hausaufgaben gegeizt? Ausnahmsweise hätte er sie willkommen geheißen, zumindest wären sie eine echte Ablenkung gewesen.

    Zum Schlafen gehen war es noch zu früh. Eine Alternative wäre, sich vor den Computer zu setzen, aber auch das hatte irgendwie seinen Reiz verloren.

    Ein seltsames Knurren riss ihn aus seinen Gedanken. Ben blickte sich irritiert um. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er schwören können, dass es das Knurren eines Hundes war!

    Ben stand vorsichtig auf. Das kam ihm jetzt doch ein wenig zu seltsam vor. Er ging zu der Ecke, von der aus vermutlich diese seltsamen Laute gekommen waren. Als er kurz davor zu stehen kam, zögerte er. Es widersprach zwar jedweder Logik, aber er verspürte plötzlich Angst. Etwas stimmte nicht.

    Ben gab sich einen letzten Ruck und untersuchte das, was in der Ecke war oder besser gesagt nicht da war, denn was auch immer er erwartet hatte, er fand es nicht. Der Winkel war das, was er immer gewesen war, nicht einmal eine Spinne war hier zu finden und kein plötzlich auftauchendes Monster – alles schien ganz normal zu sein.

    Ben schüttelte den Kopf. Also hatte er sich doch nicht getäuscht: Er benahm sich nicht nur seltsam, sondern verlor nun wohl doch langsam den Verstand.

    Dennis erschien am nächsten Tag nicht in der Schule, so blieb eine Fortsetzung ihrer Auseinandersetzung glücklicherweise aus. Nach allem, was am Vortag allerdings geschehen war, empfand Ben keine echte Zufriedenheit darüber, weil er in Gedanken bei völlig anderen Dingen war.

    Obwohl es keine weiteren ominösen Knurrlaute oder ähnliche Phänomene gegeben hatte, war Ben die halbe Nacht damit beschäftigt gewesen, endlich einzuschlafen. Irgendwann hatte die Erschöpfung gesiegt und er war schließlich in einen unruhigen Schlaf gefallen. Er konnte sich nicht daran erinnern, ob er geträumt hatte, aber er war mit dem vagen Gefühl aufgewacht, dass ihn jemand beobachtete …

    „Alles klar?", fragte Martin. In seiner Stimme lag echte Besorgnis. Die Schülerinnen und Schüler saßen bereits im Klassenzimmer und warteten auf ihren Geschichtslehrer. Es war eine Vertretungsstunde, und da Herr Remon für seine Ende Dreißig schon unheimlich vergesslich war, machten sie sich alle einen Scherz daraus, Wetten abzuschließen, ob ihre erste Stunde nicht doch eine Freistunde werden würde.

    „Ja", sagte er ein wenig verspätet. Martin bemerkte sofort, dass das nicht der Wahrheit entsprach, aber als guter Freund beließ er es einfach dabei, und Ben war ihm sehr dankbar dafür.

    Herr Remon kam für seine Verhältnisse heute schon fast überpünktlich. Seine Tasche stellte er ein wenig zu hastig auf den Tisch, was dazu führte, dass sie noch einen halben Meter weiterrutsche und neben Ben auf dem Boden landete. Er hob sie auf und reichte sie Herrn Remon, der seinem Schüler ein dankbares Lächeln schenkte. Ben bemerkte, dass der junge Lehrer irgendwie erschöpft wirkte. Unweigerlich fragte er sich, ob Herr Remon die Nacht über irgendwelche Arbeiten korrigiert hatte. Zumindest machte er den Eindruck eines Menschen, der sich lieber hinter Schularbeiten versteckte, als unter Leute zu gehen.

    Herr Remon war, ganz im Gegensatz zu den anderen Lehrern in der Schule, keine allzu gewaltige Erscheinung, sondern ein eher unauffälliger Mann. Er überragte Ben um einen halben Kopf, aber durch seine dürre Gestalt wirkte er wie ein zu dünn geratener Baum, der beim kleinsten Windhauch entzweibrechen konnte. Der Eindruck wurde durch seine Kleidung, eine viel zu große Jeans und ein uraltes Flanellhemd, noch verstärkt. Das kurze, hellbraune Haar war zwar immer ordentlich gekämmt, konnte aber den fahrigen Eindruck des Lehrers nicht wettmachen. Dennoch fand man in dem schmalen Gesicht immer eine Art Lächeln.

    Ben hatte niemals wirklichen Respekt vor einem Lehrer gehabt oder auch nur versucht, mit einem von ihnen eine Art Vertrauensverhältnis aufzubauen, aber in diesem Moment machte es Klick hinter seiner Stirn.

    Sie hatten sich schon so oft gegenübergestanden, aber Ben hatte plötzlich das Gefühl, seinen Lehrer zum ersten Mal wirklich wahrzunehmen. Sein Auftreten konnte den Eindruck erwecken, dass er ein schrulliger Lehrer war, aber eigentlich war eher das Gegenteil der Fall. Abgesehen von seiner Fahrigkeit war sein Unterricht durchaus spannend, aber er ließ es manchmal an Durchsetzungsfähigkeit vermissen. Bisher hatte Ben ihn einfach als Tatsache hingenommen, aber die Art, wie er nun vor der Klasse stand und hilflos lächelte, weckte Bens Sympathie.

    „Also, begann Remon plötzlich mit fester, aber freundlicher Stimme. „Was haben … Plötzlich brach er ab. Sein Blick fiel auf Dennis’ leeren Platz. „Ist Dennis krank?"

    Für einen vergesslichen Menschen hatte Remon ein unheimlich gutes Namensgedächtnis. Dennis beteiligte sich selten am Unterricht, von daher wunderte es Ben besonders, dass der Lehrer sich an seinen Namen erinnerte.

    „Ja", sagte Alexander, der eigentlich immer neben Dennis saß.

    Remon klappte das Klassenbuch auf und schrieb Dennis’ Namen hinein. Dann ließ er den Blick noch einmal durch die Klasse schweifen, stellte fest, dass sonst alle anwesend waren, und schloss es wieder.

    Er wollte gerade mit dem Unterricht fortfahren, als es an der Tür klopfte.

    „Ja?", meinte Remon überrascht. Alle blickten neugierig zur Tür. Ben folgte ihren Blicken, behielt gleichzeitig aber auch seinen Lehrer im Auge. Für seinen Geschmack wirkte er plötzlich ein wenig zu nervös.

    Wen auch immer Remon erwartet hatte, der Direktor schien es nicht gewesen zu sein. Man konnte regelrecht sehen, wie sich seine Muskeln entspannten.

    Herr Filkus war ein eher kleinerer Mann mit schütterem Haar, der eine breite Figur hatte und einen braunen Anzug trug. Sein Gesicht hatte einen harten Ausdruck. Im direkten Vergleich mit dem jungen Religionslehrer bildete er einen sehr starken Kontrast zu ihm.

    „Remon, ich muss mit dir sprechen!", sagte Filkus. Ben sah seinen Lehrer an. Es klang sehr merkwürdig, dass der Direktor ihn mit Nachnamen ansprach und dennoch duzte.

    „Ich komme", antwortete Remon und verließ kurz die Klasse. Ben meinte, dass ihm sein Lehrer zuvor noch einen Blick zuwarf, den er aber nicht recht verstand. Was war da los? Etwas stimmte hier nicht!

    „Remon sieht heute nicht gut aus, was?", meinte Martin. Ben nickte.

    „Weißt du zufällig, wie er mit Vornamen heißt?", fragte er. Martin sah ihn stirnrunzelnd an.

    „Warum das denn?"

    „Na ja, Filkus würde einen Lehrer doch nicht duzen und dann mit Nachnamen ansprechen. Das klingt ziemlich militärisch."

    Martin schüttelte lächelnd den Kopf.

    „Jetzt mach dir mal keine Gedanken, meinte er. „Läuft doch alles super! Solange Remon weg ist, müssen wir uns nicht um irgendwelchen Geschichtsquatsch kümmern.

    Ben teilte diese Meinung nicht. Vielleicht waren seine Nerven im Moment auch nur überreizt, aber in seinem Innersten schien eine Alarmglocke zu läuten.

    Und dann tat Ben etwas, das er normalerweise nie getan hätte: Er stand auf und ging zur Tür, um Filkus und Remon zu belauschen.

    Seine Mitschüler wurden mit einem Schlag still. Sie alle beobachteten ganz gebannt, wie er langsam auf die grüne Tür zuging und sie dann auch tatsächlich öffnete, zwar nur einen Spalt breit, aber weit genug, um das Gespräch der beiden Lehrer mitzubekommen.

    „Ich verstehe es ja selbst nicht recht", meinte Filkus gerade.

    „Das wird den Klassenkameraden sicher nicht als Erklärung reichen", entgegnete Remon nachdenklich. Ben wusste zwar nicht genau, worum es ging, aber die Ahnung, die er hatte, reichte schon, um sich Sorgen zu machen.

    „Du bist nicht der Klassenlehrer, aber ich finde, sie sollten es ruhig erfahren. Gibst du mir da recht?"

    Es war ein komisches Gefühl zu sehen, dass der Direktor einen Lehrer um sein Einverständnis bat. Dabei hatte Herr Remon an dieser Schule in keinerlei Hinsicht ein hohes Ansehen. Er galt zwar als nett, aber es gab, wenn man den anderen Mitschülern Glauben schenken konnte, nettere und engagiertere Lehrer. Filkus’ Verhalten war wirklich merkwürdig.

    „Natürlich", sagte Remon.

    Filkus hatte die Arme vor der Brust verschränkt und die Stirn in Furchen gelegt. Jetzt wirkte er nicht mehr nervös, sondern nur noch besorgt.

    „Also, soll ich es ihnen sagen oder willst du das übernehmen?"

    Herr Remon schüttelte den Kopf.

    „Ich bin wirklich nicht gut darin, schlechte Nachrichten zu überbringen", entgegnete er.

    „Na schön", antwortete Filkus und wandte sich zur Tür. Ben ging so schnell er konnte zu seinem Platz zurück und setzte sich. Eine Sekunde später kam Filkus, gefolgt von Remon, herein. Zweiterer sah alles andere als zufrieden aus. Er schien noch immer mit sich zu schwanken, ob das hier wirklich richtig war.

    Filkus stellte sich vor die Klasse und ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe er ganz sicher war, dass er die volle Aufmerksamkeit der Klasse hatte. Dann holte er noch einmal tief Luft und begann zu sprechen.

    Ben allerdings sollte erst später erfahren, was Filkus der Klasse mitteilen wollte, denn ehe der Direktor das erste Wort aussprechen konnte, wachte Remon aus seinen Grübeleien auf.

    „Ben, ich habe mit dir zu sprechen", sagte er plötzlich zu ihm. Ben sah ihn erstaunt an, aber auch der Religionslehrer sah aus, als wüsste er nicht recht, was er da gerade gesagt hatte.

    Einen winzigen Augenblick war er relativ sicher, dass hinter Remon ein Schatten stand, der ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Dieser war aber gleich wieder weg, kaum dass Ben ihn zu sehen gemeint hatte.

    „Remon, kann das nicht warten?", fragte Filkus scharf, aber er schüttelte nur den Kopf.

    „Es ist wichtig", meinte er, der Blick in seinen Augen verriet jedoch das Gegenteil. Er schien nicht zu wissen, was genau er da tat.

    Ben spürte, wie sein Herz schneller schlug. Um sich zu beruhigen, atmete er tief durch.

    Die Gestalt war plötzlich wieder da.

    Und diesmal konnte er noch so oft blinzeln – der Schatten blieb.

    Ben stand auf, noch ehe Filkus etwas entgegnen konnte, und folgte seinem Lehrer nach draußen.

    „Also, was wollen Sie von mir?", fragte Ben und versuchte, so gelangweilt wie möglich zu klingen, auch wenn er im Grunde genommen froh war, derzeit nicht in der Klasse zu sein. Er warf einen kurzen, scheinbar flüchtigen Blick durch den Flur.

    Der Schatten war ihnen gefolgt.

    „Das kannst du mir jetzt glauben oder nicht, aber ich weiß es nicht", antwortete Remon kopfschüttelnd.

    Ben glaubte ihm. Dieser Mann hatte keinen Grund, ihn anzulügen.

    „Sollte ich dann nicht eigentlich wieder in die Klasse?", fragte Ben zögernd, aber sein Lehrer schüttelte den Kopf.

    „Vielleicht sollten wir …"

    Er beendete den Satz nicht, weil er tatsächlich nicht wusste, was hier los war.

    Genauso wenig wie Ben.

    Warum um alles in der Welt war er Remon gefolgt? Sein Lehrer wusste selbst nicht, warum sie nach draußen gegangen waren, das war von vornherein klar gewesen, aber Ben war dennoch mitgekommen. Einen Augenblick lang war es ein Fluchtreflex gewesen. Aus dem Klassenzimmer herauszugehen, bedeutete von diesem Schatten fortzukommen!

    Aber der war noch immer hier bei ihm, während sein Fluchtinstinkt in dem Moment verschwunden war, als sie das Klassenzimmer verlassen hatten.

    Verlor er nun endgültig den Verstand?

    „Ich sollte jetzt eigentlich zurück in meine Klasse", meinte Ben in einem Anfall von Vernunft, aber Remon schüttelte den Kopf.

    „Vielleicht fällt mir ja wieder ein, was ich mit dir besprechen wollte. Ich habe noch etwas zu kopieren. Komm mit!"

    Ben folgte ihm ohne Widerrede. Es war völlig verrückt, aber es fühlte sich in diesem Moment wie das Selbstverständlichste auf der Welt an, mit Herrn Remon durch die Gänge zu gehen. Abgesehen von dem typischen Frage-und-Antwort-Spiel im Klassenzimmer hatten sie bisher noch nie ein Wort miteinander gewechselt, und jetzt …

    Ben rief sich innerlich zur Ordnung. Wollte er tatsächlich so einfach akzeptieren, dass er durchdrehte? Er war der Sohn eines Mediziners. Für diese Gedanken, und auch diesen Schatten, musste es doch eine vollkommen logische Erklärung geben, Übermüdung zum Beispiel!

    Der Kopierraum war ein kleiner Raum mit vielen Regalen, auf denen sich alle möglichen Bücher, Kopierpapier und die verschiedensten Bürogerätschaften stapelten, und zwei Doppelfenstern, vor denen ein zu groß gewachsener Busch ragte.

    Ein kleiner Blätterstapel lag neben dem Kopierer, allerdings waren es beschriebene Seiten. Ben warf seinem Lehrer einen skeptischen Blick zu, denn er hatte das Klassenzimmer ohne seine Tasche verlassen. Was genau wollte er also kopieren?

    Herr Remon bemerkte seinen Blick.

    „Ich habe meine Sachen hierhergelegt, aber gestern vergessen, sie zu kopieren."

    Da war er wieder, dieser seltsame Blick. Er sah Ben irgendwie besorgt an.

    Noch ehe er verstand, was dieser Blick zu bedeuten hatte, wandte Remon sich von ihm ab und durchsuchte den Papierstapel nach einem Blatt, das er kopieren wollte.

    „Warum genau haben Sie mich gebeten mitzukommen?", fragte Ben nun mit mehr Nachdruck, als er beabsichtigt hatte. Das Gefühl, das ihn einen Moment zuvor erfasst hatte, verschwand langsam, und sein Verstand war wieder klar.

    Und auch der Schatten war fort.

    Ben warf einen Blick zur Tür und wartete darauf, dass er ihnen Gesellschaft leisten würde, aber sie blieben allein.

    Er hatte es sich also doch eingebildet.

    Remon blickte ihn etwas verwirrt über die Schulter hinweg an.

    „Die paar Kopien können Sie doch auch sehr gut allein tragen", fuhr Ben fort, und erschreckte sich ein wenig über seinen forschen Ton gegenüber seinem Lehrer. Er wollte ihn nicht beleidigen! Nun ärgerte er sich einfach nur maßlos über sich selbst.

    „Ja, wahrscheinlich hast du recht, aber ich …"

    Herr Remon stockte mitten im Satz.

    Der Schatten war plötzlich wieder da.

    Er stand direkt neben seinem Lehrer, und zwar deutlich dichter als zuvor. Remons Blick war mit einem Mal völlig verwirrt, als würde er sich fragen, wie er in den Kopierraum gekommen war. Bens Herz begann wie wild zu rasen und seine Finger zitterten. Die Angst, die vorher ausgeblieben war, überkam ihn mit einem großen Paukenschlag und verwandelte sich sofort in echte Panik.

    Als der Schatten sich nach ihm ausstreckte, drehte Ben sich um und rannte, so schnell er konnte, weg.

    Auch später hätte Ben nicht recht erklären können, woher dieser Gedanke kam, aber er war zu klar, als dass es Einbildung hätte sein können.

    Sie haben mich gefunden!

    Diese Worte erschienen vor seinem inneren Auge wie ein Bild auf einer Leinwand. Ben wusste nicht, wer sie waren oder was sie von ihm wollten, aber sie waren da.

    Er blieb so abrupt stehen, dass er um ein Haar hingefallen wäre.

    Was waren das bloß für Gedanken? Wer um alles in der Welt sollte seinetwegen gekommen sein?

    Während Bens Herz weiter hämmernd von innen gegen seine Brust klopfte, ging er weiter und warf dabei immer wieder einen Blick über die Schulter.

    Ich verliere den Verstand, ging es ihm durch den Kopf. Dieser Schatten, all die seltsamen Gedanken, die aus dem Nichts auftauchten, das alles ließ keinen anderen Schluss zu!

    Seine Beine arbeiteten von selbst, angetrieben von einem seltsamen Fluchtinstinkt, und führten Ben fort – hinaus aus der Schule und immer weiter weg von diesem Schatten und seinen Gedanken.

    Jeder Schritt half dabei, sein Herz und auch das Durcheinander in seinem Kopf auf ein erträgliches Maß zu beruhigen. Als Ben sich ausreichend gesammelt hatte, stellte er erstaunt fest, dass er bis in die Innenstadt gelaufen war. Die Panik hatte ihn vor sich hergetrieben wie einen hungrigen Löwen, ihn aber letzten Endes ziehen lassen. Nun stand Ben da und versuchte sich zu besinnen.

    Was um alles in der Welt ist da gerade passiert?

    Es wäre ein Leichtes gewesen, es als Einbildung abzutun, aber Ben spürte, dass dem nicht so war. Alles, was er gesehen hatte, war echt gewesen. Auch dieses Wissen war einfach da. Die Erkenntnis wurde von einem kalten Schauer begleitet, der ihm über den Rücken lief. Ben atmete mehrmals tief durch und schaffte es so, eine weitere Panikattacke zu verhindern.

    Um seine Gedanken davon abzuhalten, weiterhin Purzelbäume zu schlagen, versuchte er, sich auf seine Umgebung zu konzentrieren, aber es gelang ihm nicht besonders gut. Er drehte sich im Kreis und spürte, dass er allein nicht weiterkommen würde. Was er jetzt brauchte, war ein Freund!

    Ben fasste den Entschluss, mit Martin über alles zu sprechen, und allein diese Entscheidung wirkte ehrlich beruhigend. Sein Freund, so hoffte Ben, würde sich diese Geschichte anhören und ehrlich seine Meinung äußern – wie auch immer sie ausfallen würde, Martins Gedanken dazu waren ihm wichtig. Übermorgen würde ein Tadel wegen verbotenem Verlassens des Schulgeländes im Briefkasten liegen, und nächste Woche würde dann hoffentlich alles vergessen sein.

    Gerade, als Ben sich umdrehen und zurückgehen wollte, ertönte ein lauter Knall hinter ihm.

    Es war ein grässlicher Anblick.

    Man konnte nicht genau sehen, was passiert war, aber Ben ersparte es sich, die Details zu genau in Augenschein zu nehmen.

    Mehrere Autos waren ineinander gefahren und hatten einen Berg von Scherben, Blech und anderen Trümmern hinterlassen. Scheinbar hatte ein Auto plötzlich gebremst, und die nachfolgenden Fahrzeuge waren ungebremst in den jeweils vorderen Wagen aufgefahren. Besonders der letzte Teil dieser Unfallkette ließ Ben das Blut gefrieren. Dort befand sich ein Bus, der über zwei andere Autos hinweggefahren und dann auf drei andere gestürzt war.

    Das war die Situation, die Ben auf den ersten Blick wahrnahm, denn mehr konnte er nicht ertragen. Er hatte viel Blut gesehen und einen reglosen Körper, der auf der Straße gelegen hatte.

    Ben wandte sich schwer atmend ab. Er war kein Arzt wie sein Vater, für ihn war das kein alltäglicher Anblick. Das Schlimmste, was er bisher gesehen hatte, war ein aufgeschlagenes Knie gewesen.

    Um sich wieder umzudrehen, musste Ben all seinen Mut zusammennehmen. Hier waren Menschen, die echter Hilfe bedurften! Wenn er jetzt wegsah und den Weg des Feiglings ging, dann würde er sich niemals wieder im Spiegel ansehen können. Eine Hilfeleistung zu unterlassen, wäre auch moralisch für ihn nicht vertretbar gewesen.

    Als er sich endlich überwunden hatte, sah er, dass er sich getäuscht hatte: Es war nicht ein Mensch gewesen, der da reglos am Boden lag, sondern es waren mindestens vier Personen. Die Autos, die sich ineinander verkeilt hatten, hatten nicht nur einen kleinen Scherbenhaufen hinterlassen, sondern Teile davon wie Glas und Metall wurden sogar bis vor Bens Füße geschleudert. Es sah so aus, als hätte eine Bombe in der Straße eingeschlagen. Am Rande seines Bewusstseins nahm er Schreie und Hilferufe wahr, die aus den beschädigten Autos kamen. Im Gegensatz zu Ben waren bereits die ersten Passanten zu den Wracks geeilt und hatten begonnen, den Beteiligten so gut es ging zu helfen.

    Er konnte sich jedoch nicht rühren.

    Das konnte, das durfte alles nicht wahr sein! Einen Moment zuvor war alles noch so ruhig gewesen, und nun …

    Was Ben dann erblickte, ließ sein Herz einen Schlag aussetzen.

    Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig stand eine Gestalt. Sie hatte zwar feste Konturen, aber man konnte keine Details ausmachen. Es war kaum mehr als ein Schatten, aber zu deutlich, als dass Ben sich hätte einreden können, dass es nur eine Silhouette war oder besser gesagt eine Einbildung! Dort stand eindeutig jemand oder ein Etwas, das nicht gesehen werden wollte, zumindest wollte es nicht erkannt werden. Ben wusste, dass er diesen Schatten kannte. Etwas daran kam ihm seltsam bekannt vor. Es ging keine Bedrohung davon aus, sondern eher etwas Vertrautes.

    Und dann, für eine einzige, fast unendliche Sekunde, in der die gesamte Welt stehen zu bleiben schien, nahm der Schatten festere Form an. Die Gestalt war noch nicht klar genug, um wahrnehmen zu können, wer sich dahinter verbarg und wie sie wirklich aussah – sie hätte blonde, rote oder blaue Haare und Kleidung in derselben Farbe haben können, und auch Größe und Figur waren nicht genau zu erkennen –, aber sie reichte aus für diese eine, kurze Geste: Die Gestalt hob die Hand zu einem Winken und zwinkerte Ben lächelnd zu. Dieser Gruß ging nicht etwa zufällig in seine Richtung, sondern war direkt an ihn gerichtet!

    Dann verschwand sie, war einfach nicht mehr da. Die feste Gestalt war einfach weg. In Ben blieb ein Gefühl zurück, das er erst viel, viel später verstehen sollte.

    2. Kapitel

    Auch eine Stunde danach, auf der Polizeistation, war Ben sich immer noch nicht sicher, ob er wirklich das gesehen hatte, was seine Augen ihm gezeigt hatten. Langsam meldete sich sein Verstand zurück und versuchte Erklärungen für all die Vorfälle zu finden.

    Vergeblich.

    Überreizte Nerven hin oder her, dieser Schatten war da gewesen. Diese kurze Geste, dieser freundliche Gruß, das hatte Ben sich nicht eingebildet. Wenn es aber kein Produkt seiner Fantasie gewesen war: Was um alles in der Welt war es dann gewesen?

    Ben zwang sich dazu tief durchzuatmen, und schob die Frage bewusst beiseite. In diesem Augenblick wollte er sich nicht damit auseinandersetzen.

    Stattdessen ließ Ben den Blick über den Schreibtisch des Kommissars schweifen, auf den er wartete. Man hatte seine Daten und Angaben zum Unfallhergang bereits aufgenommen. Seine Aussage hatte ganz einfach ausgesehen: Ben hatte ein Scheppern gehört, und als er sich umdrehte, sah er diesen riesigen Scherbenhaufen von unzähligen Autos. Sonst hatte er nichts zu erzählen. Er hat weder gesehen, wie sich der Unfall zugetragen noch wer ihn verursacht hatte. Wahrscheinlich war es der erste Wagen in dieser langen Kette gewesen. Weitere Angaben dazu konnte er nicht machen.

    Bis auf den Schatten, aber diesen Teil behielt er wohlweislich für sich.

    Aufgrund der Aufräumarbeiten hatte man alle Zeugen gebeten, für eine Aussage zum Polizeirevier zu kommen, aber nur Ben war in das Büro des Hauptkommissars geleitet worden. Er hatte eine Vermutung, warum er ein Sonderfall war, denn das war sicher kein normales Vorgehen.

    Der Kommissar schien kein besonders ordentlicher Mensch zu sein. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich alle möglichen Zettel und Akten. Ben konnte keine Familienfotos oder Ähnliches entdecken. Entweder war der Kommissar nicht verheiratet oder er legte nicht viel Wert auf Familiendinge. Selbst sein Vater hatte ein uraltes Foto von Ben und seiner Mutter auf dem Schreibtisch stehen.

    Die Tür ging auf und ein Mann von etwa Anfang fünfzig Jahren kam herein. Er hatte bereits graumelierte Haare, war auch ein wenig in die Breite gegangen, hatte aber eine beachtliche Größe. Eigentlich hatte er ein freundliches Gesicht, aber Ben war sich sicher, dass es bloß die berufliche Höflichkeit war.

    „Hallo!", begrüßte ihn der Kommissar. Ben stand auf, aber der Kommissar bedeutete ihm, sich wieder hinzusetzen.

    „Mein Name ist Hauptkommissar Mender, erklärte er und schüttelte Ben die Hand. Danach setzte er sich ihm gegenüber hinter den Schreibtisch. „Und dein Name ist …

    „Benjamin Willkort, aber Sie können Ben zu mir sagen."

    Benjamin hatte ihn noch nie jemand genannt, nicht einmal seine Lehrer!

    „Also gut, Ben, er betonte den Namen irgendwie seltsam hart. „Was hast du alles gesehen?

    Ben erzählte es ihm, ließ die Sache mit dem Schatten wiederum bewusst aus. Mender hörte scheinbar gebannt zu, nickte manchmal, notierte sich etwas, stellte aber keine Zwischenfragen.

    „Und das ist alles?", fragte er nach seiner Aussage, die alles in allem kaum zehn Minuten gedauert hatte.

    Ben nickte.

    Mender schaute mit einem seltsam übertriebenen Blick zur Uhr und runzelte die Stirn. Ben konnte die Worte, die folgen würden, schon fast hören.

    „Sag mal, müsstest du nicht eigentlich in der Schule sein?", fragte Mender und bestätigte seine Ahnungen. Er hatte sich darauf vorbereitet, aber keine gute Antwort auf diese Frage gefunden. Wenn es sich Ben genau überlegte, hatte er nicht einmal eine verrückte Erklärung parat, warum er so plötzlich von der Schule verschwunden war. Wie sollte er das Mender erklären, dass er einfach nicht länger hatte bleiben können?

    Auch wenn er selbst inzwischen akzeptiert hatte, dass da etwas gewesen war, würde er das an dieser Stelle für sich behalten. Mender machte nicht den Eindruck eines Mannes, der an seltsame Schatten glaubte, die aus dem Nichts auftauchen und scheinbar den Verstand des Gegenübers beeinflussen können. Hätte Ben es nicht mit eigenen Augen gesehen, er hätte es selbst nicht geglaubt!

    „Also?, hakte Mender nach, als Ben ihm die Antwort schuldig blieb. „Warum bist du nicht in der Schule?

    Er fragte das mit einer solchen Freundlichkeit, die einfach nicht ernst gemeint sein konnte.

    Und Ben würde auch nicht darauf hereinfallen!

    Die Wahrheit – die verrückte Wahrheit! – würde er erst mit Martin bereden. Vielleicht kann er ihm sagen, ob er sich das alles nur eingebildet hatte oder welche Erklärung es dafür geben könnte. Dann konnte auch Ben wieder ausatmen.

    „Du weißt, dass du fürs Schulschwänzen eine ganze Menge Ärger bekommen kannst, oder?"

    Spätestens jetzt hätte Ben gemerkt, dass Menders Freundlichkeit nichts weiter als berufliche Routine war.

    „Du willst nicht reden, okay, stellte Mender endlich fest und seufzte. „Das ist typisch für euch junge Leute. Ihr meint, die Rebellen spielen zu müssen. Ich kann das einfach nicht verstehen.

    Die Tür ging auf und ein weiterer Polizist kam in das Büro, aber er war eine ganz andere Erscheinung. Genau wie Mender trug er keine Uniform, sondern nur ein Hemd mit Krawatte, aber da hörte die Ähnlichkeit schon auf. Der andere war etwa Ende zwanzig, und aus dem scharf geschnittenen Gesicht blickten Ben dunkelblaue Augen aufmerksam, aber dennoch freundlich an. Der junge Mann hatte kurze, dunkelblonde Haare, wirkte sehr viel durchtrainierter als der alte Polizist, aber auch um ein ganzes Maß netter.

    Gegen seinen Willen kam Ben der Gedanke Feuer der Jugend in den Kopf, aber das traf es ganz genau. Im Gegensatz zu dem jungen Beamten wirkte Mender ziemlich müde.

    Der neu Eingetretene ging um den Schreibtisch herum und gab dem Kommissar eine Akte. Dann warf er einen kurzen, aber sehr eindringlichen Blick zu Ben. Der war davon überzeugt, dass dem jungen Polizisten nichts entgangen war, auch seine Nervosität gegenüber Mender nicht.

    „Schon wieder?", fragte der ältere Beamte ein wenig genervt. Der junge Polizist nickte.

    „Und wer hat Sie diesmal geschickt, um mich damit zu nerven, Breder?"

    Breder – so war wohl der Name des jungen Polizisten – schaute Mender verständnislos an.

    „Schon wieder Schubert?", fragte er, aber Breder gab ihm immer noch keine Antwort. Er sah Ben an und ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen.

    „Wie auch immer", sagte Mender und zog die Aufmerksamkeit des jungen Beamten wieder auf sich, nicht aber Bens. An diesem Polizisten war irgendetwas seltsam, aber er konnte es nicht in Worte fassen.

    „Ich habe noch ein paar Dinge mit dem jungen Mann hier zu besprechen. Ich kümmere mich später darum."

    „Mehr habe ich aber nicht zu sagen", beteuerte Ben und warf Breder einen flehenden Blick zu, den der junge Beamte zwar erwiderte, jedoch nicht darauf einging.

    Mender lächelte.

    „Vielleicht den Unfall betreffend, aber du hast mir noch nicht erzählt, was ein Junge in deinem Alter außerhalb der Schule macht, wo doch zu dieser Zeit immer noch Unterricht ist."

    Fast hätte Ben geantwortet. Das Wort abhauen lag ihm buchstäblich auf der Zunge, aber er verkniff es sich im letzten Moment. Mender würde bloß nach dem Grund fragen und spätestens darauf hätte Ben keine Antwort mehr.

    „Der Junge wird Ihnen sicher nichts mehr sagen", meinte Breder und wandte sich zum Gehen um. Ben warf ihm einen letzten Blick zu, ehe er sich wieder Mender zuwandte.

    „Ich stimme Breder zwar nicht gerne zu, aber bei dir hat er wohl recht. Mein Vorschlag, den ich dir nun mache, ist folgender: Ich bringe dich zurück zur Schule und dann vergessen wir die Sache."

    Ben dachte kurz darüber nach.

    „Das kann doch nicht alles sein", meinte er dann, aber Mender sah ihn durchdringend an.

    „Ich kenne deinen Vater, Ben, und ehrlich gesagt habe ich kein großes Interesse, mich mit ihm anzulegen."

    Damit bestätigte er Bens Vermutung. Sein Vater war hier sicher alles andere als unbekannt und hatte als Klinikleiter auch einen gewissen Ruf. Nachdem Ben Mender seinen Nachnamen gesagt hatte, war sicher auch der letzte Zweifel gewichen, wem er da gegenübersaß. Aber war der Einfluss seines Vaters so groß, dass der Kommissar ihn dafür so leicht davonkommen ließ?

    „Also, gehst du darauf ein?", fragte Mender. Das war die Antwort, die Ben gesucht hatte: Ja! Er nickte. Wenn Mender seinem Vater erzählen würde, was er getan hatte, dann würde er sich heute Abend eine schöne Predigt anhören dürfen, und darauf legte er im Moment keinen sonderlich großen Wert. Nein, dann war es eindeutig besser, wenn es ungesagt blieb, auch wenn damit klar gezeigt wurde, wie groß der Einfluss seines Vaters war.

    Mender kam hinter seinem Schreibtisch hervor und bedeutete Ben, ihm zu folgen, was er stillschweigend tat. Der Polizist war ihm ziemlich unsympathisch und auf ein weiteres Gespräch jedweder Art hatte er keine Lust.

    Als sie das Büro verließen, kam Breder auf sie zu. Der junge Polizist erinnerte ihn irgendwie an jemanden, aber er wusste nicht an wen.

    „Was gibt es denn noch, Breder?", fragte Mender.

    „Schubert will Sie sprechen", antwortete er, als sei das Antwort genug. Für den älteren Beamten war es das offenbar.

    „Gut, erwiderte er, sah dann aber noch einmal zu Ben. „Und wer kümmert sich jetzt um dich?

    Ben hätte ihm keine Antwort geben können. Er kannte hier doch niemanden!

    „Ich könnte doch zu Fuß gehen", schlug er vor, aber Mender schüttelte den Kopf.

    „Auf keinen Fall, sagte er. „Am Ende haust du noch einmal ab, und beim nächsten Mal werde ich sicher nicht so gnädig sein. Breder, Sie bringen den Jungen zurück zur Schule!

    „Seit wann brauche ich denn einen Babysitter?", fragte Ben feindselig. Dass Mender ihm, einen Jungen von siebzehn Jahren, nicht vertraute, nervte ihn unheimlich.

    „Wenn ich sage, dass du einen brauchst, dann brauchst du einen!"

    Mender bemühte sich inzwischen nicht einmal mehr, einen freundlichen Ton zu bewahren. Jetzt, wo er beschlossen hatte, keine weiteren Informationen von Ben zu wollen, schlug das wahre Gesicht durch, und Ben hatte es plötzlich sehr eilig, Breder in die Tiefgarage zu folgen.

    „Normalerweise ist er nicht so gereizt, erklärte ihm der junge Beamte, dem der Widerspruch seines Chefs wohl ein wenig peinlich war. „Aber ich kann es ihm nicht verdenken. Dreißig Dienstjahre, nie ist so etwas Großes passiert, und plötzlich ist die Hölle los.

    Ben blickte

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