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Ich bin Luis!: Ein Roman, nicht nur für Kinder
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eBook355 Seiten4 Stunden

Ich bin Luis!: Ein Roman, nicht nur für Kinder

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Über dieses E-Book

Eine elfjährige Ausreißerin - zwei unfreiwillige Gauner - und was passieren kann, wenn man sich irrt.

Eigentlich will Mila nur mal kurz in den Lieferwagen von Nick und Lukas, weil der Mann mit der Sonnenbrille sie verfolgt. Doch plötzlich sind die drei auf der Flucht vor der Polizei und verstecken sich im Zirkus Paradiso. Um nicht erkannt zu werden, verwandelt sich Mila in Luis. Und entdeckt, dass man als Junge viel mutiger ist ...
Und damit beginnt für Mila das aufregendste Abenteuer ihres Lebens.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum12. Mai 2021
ISBN9783347292512
Ich bin Luis!: Ein Roman, nicht nur für Kinder

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    Buchvorschau

    Ich bin Luis! - Karin Dörnhofer-Neumann

    1. Noah kam wie ein Regenbogen

    Es war an einem total verregneten Donnerstagmorgen im Januar, als Peter, unser Klassenlehrer, ihn mit in die erste Stunde brachte.

    „Das ist Noah Bärle, er geht ab sofort in unsere Klasse. Er ist mit seinen Eltern in unsere Stadt gezogen, und ich erwarte, dass ihr ihn herzlich aufnehmt, okay?!"

    Noah stand neben Peter, die Hände in den Taschen seiner Cargohose, auf dem Kopf eine Baseballkappe mit dem Schild nach hinten gedreht, und schaute rotzig in die Runde. Auf seinem schwarzen Sweatshirt war zu lesen: „Der Boss bin ich!" Alle glotzten ihn an. Ich glaube, jedem von uns war eins sofort klar: Mit diesem bulligen Typen mit den fast schwarzen, schulterlangen Haaren stimmte etwas nicht. Wir erfuhren bald, was.

    Peter – er hatte von Anfang an gewollt, dass wir du zu ihm sagen – spitzte die Lippen und warf einen Blick auf die freien Plätze. Genau genommen gab es nur einen, den neben mir. Er sah mich an, legte den Kopf schief und lächelte.

    „Setz dich neben Mila. Ich glaube, ihr beide werdet euch gut vertragen."

    Ich starrte Noah an, als er, die Augen spöttisch auf mich gerichtet, ganz nach hinten zu seinem neuen Platz schlurfte, den Rucksack auf den Boden knallte und sich neben mir auf den Stuhl plumpsen ließ. Wir beide betrachteten uns ein paar Sekunden lang. Dann grinste er und knuffte mich mit dem Ellbogen.

    „Hey, Blondie. Was geht ab, ey?"

    Ich rieb mir den schmerzenden Arm. Uns beiden war bewusst, dass die ganze Klasse uns angaffte, bis Peter sich räusperte.

    „Schlagt bitte eure Englisch-Arbeitshefte auf Seite 85 auf und betrachtet euch in Ruhe Aufgabe 1a, okay?!"

    Nachdem ich auf seine Begrüßung nicht geantwortet hatte, beugte Noah sich zu mir herüber und raunte mir zu: „Du quatscht wohl nicht mit jedem?"

    Nein, das tat ich wirklich nicht. Ich meine, ich redete wirklich nicht viel, eigentlich so gut wie gar nichts. Peter hatte zu mir am Anfang des Schuljahres, als ich in seine Klasse kam, gesagt, das sei in Ordnung. Er würde das respektieren, und viele Menschen, auch Erwachsene, würden wenig reden. Das sei überhaupt nicht ungewöhnlich. Und ich sollte nur dann reden, wenn ich Lust dazu hätte. Ich mochte Peter von Anfang an total gern.

    Aber die anderen aus meiner Klasse fanden das nicht so prickelnd und stänkerten über mich, dass ich eingebildet sei und mich für was Besseres hielte und so. Aber so war es nicht. Ich hatte einfach keine Lust zu reden. Ich war lieber für mich allein. Und immer, wenn ich konnte, spielte ich Klavier. Im Musikraum der Schule steht auch eins, darauf kann ich spielen, so oft ich will, hat der Direx gesagt. Er sagte auch, ich sei ein Ausnahmetalent, das man fördern müsse. Und ihm ist es auch ganz egal, ob ich rede oder nicht. Ich habe ihn fast so gern wie Peter.

    Nur mein Onkel Dennis findet es Kacke. Sogar totale Kacke. Dass ich nicht rede, meine ich. Und Klavier spielen findet er auch Kacke. Und mich sowieso. Das sagt er zwar nicht, aber ich sehe es daran, wie er den Mund verzieht, wenn er mich anguckt. Ich denke dann immer ganz fest an das liebe Gesicht von meinem anderen Onkel Richard, dann tut es nicht ganz so weh.

    Deshalb schaute ich Noah jetzt nur an. Seine Augen sind voll der Hammer: Wie zwei Seen im Winter, wenn die Sonne drauf scheint und das Eis anfängt zu glitzern.

    Schließlich zuckte er mit den Schultern und grapschte sein Mäppchen. Ich checkte, dass er noch keine Schulbücher hatte und schob mein Arbeitsheft in die Mitte des Tisches. Damit er mit hineingucken konnte. Wieder warf er mir einen schrägen Blick zu. Ich blickte zurück. Man konnte sehen, wie sich die kleinen Rädchen in seinem Kopf drehten. Dann grinste er wieder, zog das Heft provokativ ganz zu sich herüber und wartete auf meine Reaktion. Ich sah ihn nur an. Dieses Spiel gefiel mir. Wieder glotzten wir uns eine ganze Weile bloß an, bis er das Heft großmütig wieder in die Mitte schob.

    Peter rief ihn auf und bat ihn, die Aufgabe in dem Heft laut vorzulesen. Mit vielen Ähs und Öhms kämpfte sich Noah durch die paar Zeilen. Seine Aussprache war zum Davonlaufen. Alle anderen kicherten und warfen ihm mitleidige Blicke zu, aber Noah gab sich ganz klar auch nicht die allergeringste Mühe. Nun war es Peter, der grinste.

    „Ich sehe, du magst Englisch gern", erklärte er gut gelaunt.

    „Nou spiek Inglisch", knatterte Noah los und verschränkte die Arme vor der Brust.

    Peter lachte. Dann deutete er auf Noahs Shirt. „Du bist also der Boss, he?"

    Noahs Grinsen wurde breiter. „Klar, ey."

    „Weißt du, wie dieser Satz auf Englisch heißt?"

    „Nö. Muss ich das?"

    „The boss, that's me. Peter schrieb die Worte an die Tafel. Ließ sie von Noah gefühlte fünfzig Mal nachsprechen. Solange, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Dann rieb er sich die Hände. „Der Kandidat hat hundert Punkte.

    Damit ging Peter einfach im Unterricht weiter. Jeder einzelne musste eine Aufgabe lösen. Als ich dran kam, ratterte ich los: „My name is Mila. I am eleven years old, and I live in Bad Steinach."

    „Perfekt, Mila!"

    Ehe ich mich versah, hatte ich wieder Noahs Ellbogen in den Rippen. „Hey! Du hast ja eine Stimme, Lockenköpfchen!"

    Dann kramte in einer seiner Hosentaschen und schob mir ein zerquetschtes Kaubonbon rüber. Ich betrachtete es ein paar Sekunden lang, dann wickelte ich es aus und steckte es in den Mund. Es schmeckte nach Banane.

    „Danke."

    Diesmal wehrte ich seinen Ellbogen rechtzeitig ab.

    „Ups … Sorry, gluckste er, „ist eine üble Angewohnheit von mir. Aber ich mag es nicht, wenn man mich übersieht, okay?

    Ich sah ihn nur schweigend an, wie er in sich hineingrinste.

    Den Rest der Doppelstunde hatte er keine Zeit mehr für Späßchen. Peter ließ ihn erst wieder zu Atem kommen, als er einen anderen Satz fehlerfrei aussprechen konnte.

    Dann kam die kleine Pause. Noah wurde nacheinander von allen aus der Klasse angequatscht, und seine rauchige Stimme übertönte alle anderen. Er gab an wie ein Sack voll Mücken: Was er alles konnte und schon erlebt hatte und dass er abends so lange aufbleiben dürfte wie er wollte und jeden, der es darauf anlegte, auf die Matte legen würde. Ich stand wie immer in der Ecke neben dem Musikraum, stopfte mein Pausenbrot in mich rein, wischte mir dann die Hände an der Hose ab und rannte hinein. Setzte mich an das Klavier. Die Zeit reichte gerade noch, um River flows in you zu spielen, mein ultimatives Lieblingsstück. Wie immer achtete ich nicht darauf, ob mir jemand zuhörte. Ich spielte nur für mich.

    Aber als ich mit dem Stück fertig war, die Pausenglocke wie auf Kommando wieder zum Unterricht drängelte und ich zur Tür stürzte, stieß ich mit Noah zusammen. Er lehnte am Türrahmen, ein Bein vor dem anderen gekreuzt, die Arme vor der Brust verschränkt und glotzte mich an.

    „Hey! Das war ganz große Klasse! So was habe ich noch nie in echt gehört."

    Ich zuckte mit einem kleinen Lächeln die Schultern. „Danke."

    Wir stapften nebeneinander die Treppe hoch. Ich stellte fest, dass Noah fast einen Kopf größer war als ich. Auf dem Weg ins Klassenzimmer plapperte er drauflos, erzählte von seiner alten Schule, den Lehrern dort, den Mitschülern … er redete durcheinander, warf mit Namen um sich, und ich kapierte so gut wie gar nichts. Nur eins: Dass er rausgeflogen war. Warum, sagte Noah nicht. Ich dachte nur: Okay …

    In den nächsten beiden Stunden hatten wir Deutsch bei Frau Kurz. Sie prüfte Noah und schüttelte danach traurig den Kopf. „Deine Kenntnisse sind unterirdisch. Du musst viel nachholen."

    Noah grinste, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete die Zimmerdecke. Natürlich war Frau Kurz davon nicht begeistert. Und weil er auf ihre Fragen nicht mehr antwortete, sondern nur frech grinste, bekam er am Ende des Unterrichts einen Eintrag im Klassenbuch.

    In der großen Pause passierte es dann. Ich übte gerade ein Stück von Johann Sebastian Bach ein und bekam deshalb nicht mit, wie der Streit angefangen hatte. Auf jeden Fall war Noah mit einem Jungen aus der Achten aneinander geraten und hatte ihn kurzerhand gepackt und mit Karacho zu Boden geworfen.

    Da war natürlich die Kacke am Dampfen! Aus dem Getuschel der anderen bekam ich mit, dass Noah so etwas schon öfter gebracht hatte. Deshalb hatte er seine vorherige Schule verlassen müssen.

    Weil Peter sich für ihn einsetzte und ein ernstes Gespräch „unter Männern" mit ihm führte, blieb es bei einer Verwarnung durch den Direx. Wir erfuhren nie, warum die beiden Jungs sich in die Haare geraten waren, aber ich gönnte es dem fiesen Typ aus der Achten. Der hatte mir mal den Weg zu den Mädchentoiletten versperrt, als ich ganz dringend musste und mir danach ein Bein gestellt und sich halb tot gelacht, weil ich fast hingeknallt wäre.

    Als Noah sich eine halbe Stunde später mit einem blau- en Fleck unter dem linken Auge und einem schiefen Grinsen im Gesicht wieder neben mich setzte, fand ich das doch ziemlich cool.

    Der Rest des Schultages verlief dann ohne weitere Zwischenfälle, wenn man davon absah, dass Noah in keinem einzigen Fach etwas checkte. Peter kündigte an, ihm in den nächsten Monaten nachmittags Nachhilfeunterricht zu geben. Bei Peter ist so etwas nicht schlimm, im Gegenteil. In seinen Stunden gibt es immer viel zu lachen.

    Um 12 Uhr 30 war dann der Unterricht zu Ende, und wir marschierten alle in die Mensa. Noah beäugte misstrauisch den tapetenkleisterartigen Erbseneintopf mit den Gummiwürstchen, schlang dann aber doch alles hinunter. Er hatte sich wieder neben mich gesetzt. Mir fiel auf, dass die anderen plötzlich Abstand zu ihm hielten. Wahrscheinlich wollte niemand kopfüber auf dem Flur landen. Alle ätzten hinter vorgehaltener Hand, und das Wort „Assi" schwebte durch die Luft. Ich wusste nicht, ob Noah es mitbekam. Hoffentlich nicht. Denn ich fand ihn eigentlich ganz in Ordnung, keine Ahnung, warum. Aber er würde bei den Mitschülern keinen Fuß mehr in die Tür bekommen. Ganz sicher.

    Bis 15 Uhr hatten wir dann Zeit für die Hausaufgaben und konnten uns anschließend entweder in die Ruheräume verdrücken oder draußen in den Klettergerüsten und auf dem Trampolin herumhampeln. Von 15 bis 17 Uhr war dann jeder in seiner AG.

    Noah hatte sich noch nirgends eingetragen und trabte hinter mir her in den Musikraum. Nachdem er sich von Peter, der die Musik-AG leitet, alle Instrumente hatte zeigen lassen, klimperte er ein wenig auf dem Klavier herum. Ich erklärte ihm ein paar einfache Griffe, aber mit seinen wurstigen Fingern tappte er meistens daneben. Dann entdeckte er das Schlagzeug. Wie man damit umging, kapierte er in Lichtgeschwindigkeit und wollte gar nicht mehr aufhören. Er hatte ein Gefühl für Rhythmus, das war ganz klar. Am Ende des Nachmittags klingelten uns allen die Ohren, aber Noah strahlte wie ein Reaktor und war nun Mitglied unserer AG. Die anderen motzten herum, weil sie selbst bei dem Radau keine Gelegenheit gehabt hatten, ihr Instrument zu spielen, aber Peter war zufrieden, dass es etwas gab, womit er Noah in Zukunft „zähmen" konnte.

    Es stellte sich heraus, dass Noah den gleichen Nachhauseweg hat wie ich. Er wohnt mit seinen Eltern in einem der bunten Sozialblocks am Stadtpark, mein Zuhause ist am anderen Ende dieser Straße. Und so kam es, dass wir um 17.15 Uhr zusammen losmarschierten. Er schnatterte den ganzen Weg über von nichts anderem als dem supertollen Schlagzeug und klärte mich darüber auf, dass er beschlossen hatte, eine Band zu gründen, wenn er aus der Schule kam. Wir könnten uns ja dann zusammen tun, ich am Klavier und er an den Drums. Ich fand diese Idee okay und merkte mir das schon mal lose vor.

    „Magst du noch mal mit reinkommen?, fragte er, als wir an der Eingangstür des rot, grün und gelb gestrichenen Wohnblocks angekommen waren. „Meine Mama hat bestimmt eine Schüssel voll Pudding auf dem Tisch stehen. Sie kocht jeden Tag Pudding. Magst du welchen?

    Ich blinzelte im ersten Moment. Ich konnte mich nicht erinnern, dass mich jemals einer aus der Schule zu sich nach Hause eingeladen hatte. Weder jetzt in der Erich-Kästner-Gesamtschule, noch vorher in der Grundschule. Ich nickte verblüfft.

    „Dann kommt einfach mit. Aber du, er blickte mich streng an, „ein bisschen mehr musst du bei uns schon reden, sonst denkt meine Mama, du hast was gegen sie.

    Ich nickte nochmal.

    Und dann saßen Noah, seine Mama und ich in ihrer Küche um einen großen Tisch herum und löffelten Schokopudding mit Vanillesoße. Frau Bärle ist groß und kräftig wie Noah und hat die gleichen langen, schwarzen Haare. Und die gleichen Wahnsinnsaugen. Sie trug ausgebleichte Jeans mit Löchern drin, eine bunte, zeltförmige Bluse und große, runde Ohrringe. Aber am besten gefiel mir ihr total nettes Lachen.

    Sie freute sich riesig darüber, dass Noah so viel Spaß gehabt hatte und alles gut gegangen war – von dem Streit mit dem Typen aus der Achten erzählte Noah nichts – und fragte mich alles mögliche. Meine hellen Locken gefielen ihr scheinbar, denn sie strich mir immer mal wieder über den Kopf und schmunzelte dabei.

    Als ich hinterher nach Hause ging, tat mir der Mund weh vom vielen Reden. Ich versprach ihr bald wiederzukommen und freute mich echt darauf.

    Noah begleitete mich nach Hause. Als wir vor unserem schmiedeeisernen Eingangstor ankamen, blieb er wie festgeklebt stehen.

    „Da wohnst du? Nee, oder?" Er betrachtete die drei Meter hohe Steinmauer um das gesamte Grundstück und kriegte vor Aufregung suppentellergroße Augen.

    Ich drückte auf die Klingel und winkte in die Kamera.

    „Ah, das Fräulleinchen", meldete sich die kratzige Stimme von Herrn Kemper durch die Sprechanlage. Dann schob sich das Tor wie von Geisterhand bewegt zur Seite.

    „Wie abgefahren ist das denn …?", ächzte Noah.

    Ich fragte ihn, ob er noch mit hineinkommen wolle.

    „Öhm … ja, klar! Mannomann!"

    Für mich war der Kiesweg unter den alten Eichen, Kiefern und Buchen hindurch und der Anblick unserer zweistöckigen Villa ganz normal, aber Noah schoss eine „Boah!"-Salve nach der anderen ab.

    „Ist ja endgeil, ey! Da schnallst du voll ab!"

    Herr Kemper erwartete uns vor den Stufen zum Haus und schmunzelte so breit, dass er mit den gefühlt zweitausend Runzeln in seinem Gesicht aussah wie Meiser Yoda.

    „Na, heute in Herrenbegleitung?"

    Ich stellte ihm Noah vor, und der riss unserem Hausund Hofmeister vor Begeisterung fast den Arm aus.

    „Ist das dein Opa …?", wollte er hinterher wissen.

    „Nein. Herr Kemper kümmert sich um unseren Park und die Security-Anlage und hilft auch sonst überall mit."

    „Boah, ey!"

    Ich zeigte ihm das ganze Haus vom Dachboden bis zum Weinkeller. Danach wollte er, dass ich ihm auf meinem Flügel nochmal das Stück von heute Vormittag vorspiele. Er fand alles einfach endgeil.

    Als er zwei Stunden später wieder abzwitscherte, um noch „einen Kontrollgang durch die Stadt zu machen, wusste ich genau Bescheid über seine Mama und ihr Asthma, seinen Papa, der hier und da jobbte, aber nirgendwo lange, und der gerne mal „einen zwitscherte. Und über den Trabbel mit seinem „aufbrausenden Temperament und seinen Fäusten, die sich immer mal wieder „selbstständig machten – gegen seinen Willen natürlich! Er ist ein Jahr älter als ich und einmal sitzengeblieben. An seiner alten Schule hatten die Eltern der Mitschüler Unterschriften gegen ihn gesammelt, bis er gehen musste. Seine Mama hätte das Mobbing dort auch nicht mehr länger ausgehalten, und so waren sie dann hierher nach Bad Steinach gezogen. Noah schwieg noch immer darüber, was genau er angestellt hatte. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich es wissen wollte.

    Ich begleitete ihn noch bis ans Tor und schaute ihm nach, wie er im Schein der Straßenlaternen Richtung Stadtmitte davontrottete.

    Und war auf einmal total froh, dass er jetzt immer bei uns war.

    2. Meine Familie

    Ich lebe bei meinem Onkel Dennis. Bei ihm fängt fast jeder Satz an mit „Du musst …!"

    „Du musst in der Schule bessere Leistungen bringen, damit du später in die Gymnasialklasse kommst! Schlimm genug, dass du es nicht auf das Goethe-Gymnasium geschafft hast, auf dem schon deine Mama und ich waren."

    „Du musst mehr an die frische Luft!"

    „Du musst endlich reiten lernen! Deine Mama hatte in deinem Alter bereits ihre ersten Turniererfolge!"

    Ich stehe dann immer da und ziehe das Genick ein. Gucke angestrengt auf den Boden und zähle die Fliesen oder studiere das Muster auf dem Teppich. Wenn es ganz schlimm kommt, denke ich an Onkel Richard. Rechne nach, welche Uhrzeit es bei ihm in Amerika hat und was er wohl gerade tut.

    „Herrgott, Kind, hörst du mir überhaupt zu? Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!"

    Gespräche mit ihm enden immer damit, dass Alexander ihm die Hand auf den Arm legt und sagt: „Lass gut sein, Dennis."

    Alexander ist okay und der schönste Mann, den ich je gesehen habe. Er trägt immer Klamotten von Armani und sieht mit seinen glänzenden, schwarzen Haaren aus wie ein Model aus einer Hochglanz-Modezeitschrift. Onkel Dennis hat ihn eines Tages mit zu uns nach Hause gebracht, zum Kaffee trinken. Mir war gleich klar, dass zwischen den beiden was läuft. Emmi, unsere Köchin, hatte mal gesagt, Onkel Dennis sei „vom anderen Ufer", der würde sich nichts aus Frauen machen. Das hatte sich so angehört, als sei das eine schlimme Krankheit, die man einem Menschen rausprügeln müsste. Aber in der Schule haben wir gelernt, dass das voll in Ordnung ist und jeder so leben und lieben soll, wie er will und Männer auch Männer heiraten können.

    Alexander war von Anfang an sehr nett zu mir, und ich checkte, dass er wirklich so ist. Nett, meine ich. Soll heißen: Ich hatte nichts dagegen, dass er immer öfter zu uns kam und schließlich bei uns einzog. Wir haben ja genug Zimmer. Von da an war Onkel Dennis besser gelaunt als vorher. Ich will nicht sagen, dass ich Alexander supertoll finde, aber es ist ruhiger bei uns, seitdem er da ist. Komisch ist nur, dass immer die Tür offenstehen muss, wenn er im gleichen Zimmer ist, und beim Autofahren hat er immer ein Fenster wenigstens einen Spalt geöffnet, auch im Winter, sonst sieht er so aus, als kriegt er die Krise.

    Ich muss fast jeden Tag mit den beiden in den Reitstall fahren, in dem sie ihre Pferde stehen haben. Da ist auch die schwarze Stute von meiner Mama. Immer wenn ich an ihrer Box mit dem großen Paddock vorbeigehe, sieht es so aus, als ob sie mich anschaut und dann seufzt. Weil ich nicht meine Mama bin. Weil meine Mama nie mehr kommt. Dann wird alles um mich herum dunkel und kalt. Und reiten lernen will ich auch nicht. Nicht, weil es mir keinen Spaß machen würde, sondern weil Onkel Dennis es von mir verlangt.

    Mein Papa ist auch nicht geritten. Er war Konzertpianist. Ich weiß, dass er sich da oben im Himmel wie verrückt freut, wenn er mich spielen sieht. Und Mama freut sich auch. Nur Onkel Dennis nicht. Der motzt nur rum.

    Wenn wir im Reitstall sind, gucken mich die anderen Kinder im Vorbeigehen immer blöd an. Sie haben fast alle ein eigenes Pony und hetzen sich ab, um pünktlich zu ihrer Reitstunde zu kommen. Nur Prince Charles, der Schäferhund von Natalie, begrüßt mich jedes Mal, und es sieht aus, als ob er lacht. Natalie gehört der Reitstall, aber sie hat es auch immer eilig und nickt mir nur zu, wenn sie mich sieht.

    Ich „darf" dann helfen, die Stute von Alexander zu putzen und zuschauen, wenn er und Onkel Dennis reiten. Onkel Dennis springt mit seinem braunen Hengst, dass mir schon beim Zuschauen schlecht wird, und Alexander reitet Dressur. Das sieht eigentlich ganz hübsch aus. Ich weiß, was Schenkelweichen ist und wie man eine Volte reitet, kann einen einfachen Galoppwechsel von einem fliegenden unterscheiden und finde es schön, wenn ein Pferd piaffiert, also auf der Stelle trabt und es dann aussieht, als würde es tanzen. Alexander bringt mir das alles bei. In der Theorie.

    Und wenn wir dann wieder nach Hause fahren, spricht Onkel Dennis von nichts anderem als von Oxern und Steilsprüngen und Wassergräben. Und Alexander versucht mir mit seiner warmen Stimme zu erklären, warum Gymnastizierung gut für das Pferd ist und dass Reiten ein gesunder Sport an der frischen Luft ist. Aber ich will trotzdem nicht reiten lernen.

    Zweimal pro Woche kommt Madame Boulet abends zu uns. Sie ist Konzertpianistin und Französin und spricht ein ulkiges Deutsch. Aber das ist egal, denn sie übt mit mir Klavier spielen. Ich sei ihre talentierteste Schülern, sagt sie. Selbst die schwierigen Stücke von Bach und Chopin kann ich mittlerweile fast perfekt. Zwischendurch üben wir auch „populäre Stücke für Auftritte, zum Beispiel im Altersheim der Stadt. Die alten Leutchen hören am liebsten Udo Jürgens und Abba oder Italo-Pop aus den 1970er Jahren, da kriegen sie ganz feuchte Augen und klatschen hinterher wie blöd. So etwas muss man auch im „Repertoire haben, sagt Madame Boulet. Sie hat ihre langen Haare zu einem Knoten zusammengebunden und trägt immer ein elegantes Kostüm.

    Onkel Dennis mag sie nicht, und sie mag Onkel Dennis nicht. Wenn die beiden zusammentreffen, wird es im Zimmer ein paar Grad kälter, auch wenn sie sich anlächeln.

    Bevor meine Mama starb, hat sie in ihr Testament geschrieben, dass ich regelmäßig Klavierstunden bekommen soll, solange ich will. Dagegen kann auch Onkel Dennis nichts machen. Er ist ihr Bruder, und ihm gehört die eine Hälfte unseres Vermögens. Die andere Hälfte gehört mir, wenn ich 18 Jahre alt werde. Emmi, unsere Köchin, hat mal gesagt, mein Anteil ist mehr als zehn Millionen Euro wert. Das ist soviel Geld, dass mir komisch wird, wenn ich daran denke. Ich mag nicht daran denken. Ich will nur Klavier spielen.

    Ja, und dann gibt es da zum Glück noch meinen Onkel Richard. Er ist der Bruder von meinem toten Papa. Er lebt in einer großen Stadt in den USA, sie heißt Cincinnati und liegt im Bundesstaat Ohio. Ich finde, er ist der liebste Mensch auf der ganzen Welt, und ich würde so sehr viel lieber bei ihm wohnen. Er hätte mich nach dem schlimmen Unfall meiner Eltern auch sofort mitgenommen, aber er durfte nicht. Weil Onkel Dennis das Sorgerecht für mich bekam. Das hatte etwas mit dem Testament meiner Mama zu tun, da kann man nichts machen.

    Onkel Richard ist immer fröhlich und braun gebrannt und hat ganz viele Muskeln. Als er das letzte Mal bei uns zu Besuch war, hatte er zu mir gesagt, auch wenn er nicht bei mir sein könnte, so würde doch Emmi auf mich aufpassen.

    Emmi war die Köchin von meinem Papa gewesen, und nachdem er meine Mama geheiratet hatte, war sie mit zu uns ins Haus gekommen. Und als ich dann zur Welt gekommen war, hatte sie mich sofort in ihr Herz geschlossen.

    Aber als meine Eltern starben, hatte sie oft Streit mit Onkel Dennis, und dann hatte er ihr einfach gekündigt, und sie musste am gleichen Tag noch gehen. Das war letztes Jahr kurz vor Weihnachten gewesen. Seitdem habe ich sie nie wieder gesehen, Onkel Dennis hat es verboten.

    Ohne Emmi ist es für mich noch trauriger geworden. Aber seitdem bekomme ich jeden Abend von Onkel Richard eine whattsapp, und ich schicke eine zurück. Er schreibt mir immer, ich soll den Kopf nicht hängen lassen, und er „arbeitet daran", dass wir bald immer zusammen sind. Daran klammere ich mich ganz fest.

    3. Noahs Ausraster

    Aber zurück zu Noah.

    Der Rest des fünften Schuljahres ging dann total schnell vorbei und alles war viel lustiger als vorher. Soll heißen, bevor Noah kam. Er kriegte in der Schule einen extra Raum für sein Schlagzeug, damit er so oft darauf üben konnte, wie er wollte, ohne dass den anderen das Blut aus den Ohren lief. Peter erklärte mir, dass er sich damit abreagieren konnte. Ich verstand, was er meinte.

    Jeden Tag nach der Schule gingen wir zuerst zu Noah nach Hause und dann nochmal zu mir. Onkel Dennis hatte ihn irgendwann akzeptiert, auch wenn klar war, dass Noah für ihn nur ein Assi war.

    Im Großen und Ganzen hatte Noah seine Aggressionen im Griff. Bis auf ein Mal, und das war ganz schlimm gewesen:

    Er hatte an seinem Geburtstag im April die ganze Klasse eingeladen, und ich wusste von Anfang an, dass da etwas schief laufen würde. In unserer Stadt lädt man nicht einfach Leute, die man kaum kennt, zu seinem Geburtstag ein. Wenn man neu ist, muss man warten, bis sie einen von sich aus ansprechen und mal nachmittags zum Kaffee trinken oder so einladen. Und das kann dauern …

    Noahs Eltern hatten Tische und Bänke besorgt und hinter dem Wohnblock auf die Wiese gestellt und belegte Brötchen und Cola in rauen Mengen beigeschafft. Aber … Mein mieses Gefühl war richtig

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