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Manja
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eBook342 Seiten5 Stunden

Manja

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Über dieses E-Book

Als wäre es nicht schon schlimm genug als Teenager in ein Ferienlagen mitten in der Pampa geschickt zu werden, jagt ein gigantisches Ungeheuer Ben über den Abgrund einer Klippe. Er müsste tot sein - ist es aber nicht. Stattdessen findet er sich in einer fremden Welt wieder, die kurz vor dem Untergang steht.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum6. Juli 2021
ISBN9783754139974
Manja
Autor

Lisa Glöggler

Lisa Glöggler (* 8. Dezember 1990 in Memmingen) ist eine deutsche Autorin. Sie lebt derzeit in Hamburg, von wo aus sie unter wechselnden Synonymen Romane verschiedener Genres veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    Manja - Lisa Glöggler

    3. Auflage

    Texte: © Copyright by Lisa Glöggler

    Umschlaggestaltung: © Copyright by Lisa Glöggler

    MESSING Verlag GmbH

    Elbchaussee 16

    22765 Hamburg

    info@messingverlag.com

    Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

    Printed in Germany

    Für einen einzigartigen Schatz in dieser Welt.

    Für meine Schwester Lea.

    1

    Als Ben hinauf zum Nachthimmel starrte, traf ihn die Wahrheit wie eine Kugel direkt zwischen die Augen. Seine Knie gaben nach und er sank erschüttert zu Boden. Alles, was er geglaubt hatte zu wissen, war eine Lüge und die Geschichten seines Großvaters Magnus, die er für erfunden gehalten hatte, waren es nicht. Wütend ballte Ben seine Hände zu Fäusten, als er in die Dunkelheit schrie.

    „Magnus! Wo bist du? Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?"

    Alles fing damit an, dass Bens Mutter Anna ihn mal wieder in ein Ferienlager gesteckt hatte.

    „Da verbringst du die Zeit mit sinnvollen Dingen, hatte sie gesagt. „Und sitzt nicht immer nur zu Hause, um Videospiele zu spielen!

    Ben würde in weniger als einem Monat 15 Jahre alt werden, also quasi ein erwachsener Mann! Spurenlesen und Feuerstellen bauen war doch Kinderkram! Männer in seinem Alter erfüllten wichtige Missionen oder retteten die Welt an ihrer Playstation. Was sollte daran nicht sinnvoll sein?

    Stattdessen musste er nun mit einem Haufen seltsamer Kinder wandern gehen. WANDERN!

    Anna hatte sich dieses Jahr mit ihrer Auswahl wieder einmal selbst übertroffen.

    „Es ist ein toootal süßes Camp in den Bergen. Dort wandert ihr dann und zeltet unter freiem Himmel! Das klingt doch echt lustig", sagte sie selbstzufrieden, während sie ihr schwarzes Haar hinters Ohr strich.

    „Wandern? Zelten? In den BERGEN? Auf gar keinen Fall!" sagte Ben entsetzt.

    „Es sind bestimmt auch ein paar Kinder aus der Stadt dort, außerdem ist Zeit in der Natur so wichtig. Ein bisschen Landleben ist gut für dich. Nicht immer nur diese elitären Leute mit ihren Chauffeuren und Haushälterinnen. Das ist doch total realitätsfern." Seelenruhig schlürfte sie ihren extrem gesunden Bio-Öko-Smoothie und lächelte dabei etwas teuflisch zu Ben herüber. Ben spürte, wie wütende Hitze in ihm aufstieg, bis sein Kopf fast denselben roten Farbton hatte wie der Nagellack seiner Mutter. Annas schwarze Augen funkelten belustigt über seinen Ärger und das machte Ben noch wütender.

    „Ich fahr‘ da nicht hin! Zum einen haben auch wir eine Haushälterin, Mutter." Das Funkeln in Annas Augen erstarb, denn sie hasste es, wenn Ben Mutter und nicht Mama sagte. Es sei zu unpersönlich und steif, schimpfte sie immer.

    „Du hast sie selbst eingestellt, oder hast du das vergessen? Ihr Name ist María. Mega klein, mit einem spanischen Akzent … erinnerst du dich? Und zum anderen sprichst du von Kindern. Ich bin fast 15 Jahre alt. Ich bin erwachsen", zischte Ben zwischen seinen Zähnen hervor. Trotzig schob er sein ohnehin fades Müsli von sich und hielt dem unbewegten Blick seiner Mutter stand. Sie lächelte wieder, setzte langsam ihr echt eklig aussehendes Mixgetränk ab und sagte mit ruhiger, kaum hörbarer Stimme:

    „Du wirst gehen, mein Kind. Keine Diskussion."

    „Du kannst mich nicht zwingen!", presste Ben wütend zwischen seinen Zähnen hervor. Er wollte nicht gehen. Er würde nicht gehen!

    „Wie gesagt, es wird nicht diskutiert. Außerdem ist es die Idee deines Großvaters."

    Damit hatte Ben nun wirklich nicht gerechnet. Sein Großvater wollte, dass er dort hingeht? Ben wusste, dass sein Opa andere Vorstellungen davon hatte, wie Ben sein Leben verbringen sollte. Aber sein Großvater Magnus fuhr Motorrad, hatte lange Haare und war nie länger als ein paar Tage an einem Ort. Ein Lebemann, wie er im Buche stand. Warum wollte Magnus nur, dass sein Enkel in ein Spießer-Camp geht?

    Magnus war nicht oft zu Besuch. Kam er, war es meist mitten in der Nacht und unangemeldet. Bens Mutter begrüßte ihn aber immer mit einem herzlichen Lächeln und einer Umarmung. Als Ben noch ein Kind war, weckte Magnus ihn manchmal vor dem Morgengrauen, um ihm von unfassbaren Abenteuern zu erzählen. Dass sein Leben einmal von diesen Geschichten abhängen würde, hatte Ben damals natürlich nicht geahnt. Ben war total verwirrt. Die Wut verpuffte und stattdessen hatte er hunderte Fragen in seinem Kopf. Warum sollte er da hin? Warum wollte Magnus, dass er ausgerechnet dorthin fuhr? Warum zum Henker hatte ihn niemand gefragt, ob er überhaupt gehen wollte? Und warum trank seine Mutter eigentlich jeden Morgen dieses widerliche grüne Zeug? Es sah aus wie Erbrochenes. Es roch wie Erbrochenes. Es war, ganz klar, Erbrochenes.

    Doch trotz all der Fragen brachte Ben nur ein „Was?" hervor.

    „Dein Großvater will dich wohl dort treffen, oder so. Einige Dinge klären. Ach, du kennst ihn doch. Viel mehr hatte er dazu nicht zu sagen."

    Anna zupfte ihre perlweiße Bluse zurecht und kontrollierte mit beiden Händen ihre goldenen Ohrringe, die sich strahlend von ihren rabenschwarzen Haaren abhoben.

    „Und du hast einfach zugestimmt, ohne mich zu fragen?", hakte Ben in vorwurfsvollem Ton nach.

    Die dunklen Augen seiner Mutter weiteten sich, als sie die Zeigerstellung der Wanduhr erspähte. Hektisch sprang sie auf, schlüpfte in ihre unfassbar schmerzvoll aussehenden schwarzen Pumps und schnappte sich ihre Handtasche. Im Laufschritt und schon auf halbem Weg zur Haustür sagte sie noch über ihre Schulter: „Beeil dich mit dem Frühstück. Ah, und sag María bitte, dass ein Päckchen für sie gekommen ist. Hab' dich lieb. Dickes Küsschen!" Sie schickte ihm einen Handkuss quer durchs Zimmer und die dicke Tür krachte laut ins Schloss, als sie das Haus verließ.

    Das gemeinsame Frühstück war die einzige Zeit am Tag für ihre kleine Familie, die für wichtige Gespräche genutzt wurde. Stets endete dieses Frühstück in demselben Szenario. Anna sagte Ben etwas, das er nicht gut fand, und um seinen Argumenten zu entfliehen, musste seine Mutter immer gaaanz schnell zur Arbeit.

    „Typisch", murmelte Ben genervt vor sich hin.

    Seine Mutter hatte ihm bis jetzt immer nachgegeben, wenn er etwas wollte, daher ergriff sie auch die Flucht, wenn sie sah, dass er nicht einlenken würde. Aber sein Großvater? Wenn sein Großvater derselben Meinung war, kam er nicht aus dieser Nummer heraus. Vor allem nicht nach dem, was bei ihrem letzten Treffen geschehen war. Seine Mutter hätte er mit ein wenig Aufwand umstimmen können. Ein oder zwei Tage trotziges Schweigen, gefolgt von einem traurigen „Bitte Mami, schick mich dort nicht hin. Ich will bei dir bleiben, Mamiii" und er hätte entspannt den Sommer vor seiner Konsole kleben können. Doch nicht mit Magnus auf ihrer Seite. Da konnte er so viel diskutieren und betteln, wie er wollte. Noch nie hatte sein Opa nachgegeben oder gar trotziges Verhalten geduldet. Ben konnte schon fast spüren, wie sich Magnus‘ unnachgiebiger Blick in ihn bohrte.

    Das Verhältnis zwischen Ben und Magnus war kein einfaches. Magnus‘ Sohn, also Bens Vater, verstarb, noch bevor Ben geboren wurde. Sein Großvater war also das einzige männliche Vorbild, das er hatte. Als Kind verbog und wand sich Ben, um Magnus ein lobendes Wort zu entlocken, doch sehr selten hatte er Erfolg dabei. Oft starrten ihn die Augen seines Großvaters gedankenversunken an und es schien, als schauten sie durch ihn hindurch. In dem Sommer, als Ben zwölf Jahre alt wurde, stand Magnus plötzlich vor der Tür. Seine Mutter bat ihn herein und verschwand in der Küche, um etwas zu trinken zu holen. Seit Monaten hatte Ben auf einen Besuch oder eine Nachricht seines Großvaters gehofft. Er war außer sich vor Freude, Magnus zu sehen. Ben legte stolz sein Zeugnis vor und erzählte hastig, was er die letzten Monate so erlebt hatte. Magnus sah das Zeugnis nicht an und sagte kein Wort. Nach einigen Minuten stand er abrupt auf und sah Ben mit einem unbeschreiblichen Blick an. „Du siehst deinem Vater jeden Tag ähnlicher", hatte er nur gesagt, war dann mit großen wütenden Schritten zur Tür gelaufen und erneut für einige Monate verschwunden, ohne ein weiteres Wort. Ben konnte sich noch gut an das Gefühl erinnern, das er hatte, als die Tür hinter seinem Großvater zufiel. Da wurde ihm klar, dass, egal was er tat oder erreichte, er nie das von seinem Großvater bekommen würde, was er sich ersehnte. Als Ben an jenem Abend weinend im Bett lag, schwor er sich, nichts mehr von seinem Großvater zu erhoffen. Seither waren Magnus‘ Besuche eher emotional unterkühlte und wortkarge Termine. Ben nannte seinen Großvater nur noch beim Vornamen, um diesen zu provozieren. Mit guter Erfolgsquote. Magnus wiederum tat seinen Unmut mit vielsagenden Blicken kund. Seine Mutter versuchte händeringend, die Wogen zu glätten, aber Ben war zu verärgert und Magnus zu verkorkst, und so prallten ihre Worte ungehört an den beiden Männern ab. Bei ihrem letzten Aufeinandertreffen kam es zu einem heftigen Streit. Ben hatte sich geweigert, auch nur ein Wort mit seinem Großvater zu wechseln. Dieser war daraufhin explodiert und hatte Ben lauthals als dummes, verwöhntes Kind bezeichnet. Ben ließ das trotz der beschwichtigenden Worte seiner Mutter nicht auf sich sitzen und sagte: „Ich bin dir doch eh scheiß egal, also verzieh dich, Magnus!" Ben hatte seine Worte bereut, noch während sie aus seiner Kehle dröhnten. Es klatschte überraschend laut, als die raue Hand seines Großvaters auf Bens Wange aufschlug. Das lag nun fünf Monate zurück und kein Wort war seither gewechselt worden.

    Es war Ben zutiefst zuwider, doch egal, was er tat, er musste diesen Sommer in das Bauern-Camp mit den Wandersandalen-Fuzzis.

    Wütend warf Ben sich aufs Sofa.

    „Nicht zu fassen!"

    Dass seine Mutter und Magnus gemeinsam darüber entschieden, wie er seine Zeit verbringen sollte, ärgerte ihn so sehr. Die Aussicht, drei Wochen auf engstem Raum mit mehreren Dutzend Fremden zu verbringen, war der blanke Horror. Smalltalk über Dinge, die ihn nicht interessierten, und zwischenmenschliche Oberflächlichkeiten. Es war immer das Gleiche und Ben hatte keinerlei Interesse daran. Vielleicht rührte das daher, dass er und seine Mutter so viel umgezogen waren. Es verging kaum ein Jahr, in dem sie nicht die Stadt, das Land oder sogar den Kontinent wechselten. Die einzigen konstanten Menschen in Bens Leben waren seine Mutter, Magnus und María, die Haushälterin, die sie bei jedem Umzug begleitet hatte. Ben war in der Schule immer der Neue gewesen. Mit der Zeit hatte er gelernt, sich schnell in eine fremde Gruppe einzufügen. Er sah sich an, was es für Leute waren, mit denen er es zu tun hatte, und sagte dann, was sie hören wollten, um schnell und unauffällig in der Masse unterzugehen. Nur nicht herausstechen. Das war seine Überlebensstrategie, seit er denken konnte. Denn als Kind anders zu sein als die anderen, ist nicht einfach. Das musste Ben früh erfahren. Individualität wurde mit Hänseleien und Prügel des Einheitsbreis bestraft.

    Menschen sind meistens egozentrisch veranlagt. Gibt man ihnen das Gefühl, sie seien wichtiger und besser als ihr Gegenüber, stellt man keine Bedrohung für ihr Ego dar und sie betiteln dich als Freund. Den Wenigsten fiel überhaupt auf, dass sie nichts über Ben wussten. Von außen betrachtet war er eins mit der Gruppe, einer unter vielen. Aber egal in welcher Stadt sie waren, oder in welchem Land, Ben fühlte sich als Fremdkörper. Doch erst seit dem Sommer, in dem er zwölf wurde, verhielt er sich schließlich auch wie einer.

    Der Zwischenfall mit seinem Großvater ließ ihn umdenken: Er hatte die Nase voll davon, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Sich zu verbiegen und in eine Form zu drücken, die ihn inzwischen ohnehin anwiderte. Er widersprach und rebellierte nun, wo und wann auch immer er konnte. Nicht nur Magnus, sondern auch Lehrern und all den anderen gegenüber, die etwas von ihm verlangten, was er nicht tun wollte. Dieses Camp war wohl die Antwort seiner Mutter und seines Großvaters auf sein Verhalten.

    Ben saß noch keine zwei Minuten auf dem Sofa, als sich die Eingangstür schon wieder öffnete. María stolperte unbeholfen in die Küche. Aus ihrem Zopf hingen lange zerzauste Strähnen. Zumindest ging Ben davon aus, dass das, was auf ihrem Kopf war, zu einem früheren Zeitpunkt einen Zopf dargestellt hatte. Ben überragte die kleine Spanierin um mehrere Köpfe. María war seit jeher ihre Haushälterin. All die Umzüge und die exzentrische Art seiner Mutter hatten sie nicht davon abgehalten, an ihrer Seite zu bleiben. Ben hatte sie einmal gefragt warum.

    „Wer würde denn sonst danach schauen, dass du ordentlich isst?", hatte sie nur lachend geantwortet. Marías Blick schweifte nun über den großen Wohnraum, bis sie das erblickte, was sie suchte.

    „Da bist du ja, mein Herzkäfer!" Mit langen Schritten, oder zumindest lang für eine solch kleine Frau, durchquerte sie den Raum. Ben versuchte im letzten Moment, aufzuspringen und sie abzuwehren, doch er hatte zu spät reagiert und musste sich seinem Schicksal ergeben. Mit festem Griff packte sie Bens Kopf und drückte ihm einen stürmischen Kuss auf seine schwarzen Locken, dann wuschelte sie energisch, aber liebevoll durch seine Haare. Er mochte María wirklich gerne und er wusste, dass sie ihn auch sehr mochte. Nur deshalb duldete er, dass sie seine ohnehin kaum zu bändigenden Locken noch mehr zu Berge stehen ließ. Seit er sich erinnern konnte, machte María das jedes Mal, wenn sie ihn sah. Da er nun aber um einiges größer war als sie, fiel ihr das nicht mehr so leicht. Also nutzte María jede Gelegenheit, wenn er saß oder lag, um ihm seine Frisur zu zerstören und ihm einen Schmatzer auf den Scheitel zu drücken. Hinterher trug sie immer einen selbstzufriedenen Ausdruck im Gesicht.

    „María!", schimpfte Ben und versuchte verzweifelt seine Haare wieder zu ordnen. María war inzwischen zur Kücheninsel gehuscht und putzte mit einem Lächeln auf den Lippen blitzschnell die Überreste des Frühstücks beiseite. Sie sah ihn an und ihre braunen Augen funkelten dabei fröhlich. Sie hatte inzwischen kleine Fältchen vom Lachen um die Augen bekommen. Die Falten ließen ihr Gesicht noch einladender und freundlicher erscheinen. Ben konnte nicht anders, als auch zu lächeln, doch eigentlich war ihm gar nicht danach zumute.

    „Was ist, mi corazón? Hat deine Mamá dir gesagt, wo du sein wirst diesen Sommer?" María hatte den Kopf schräg gelegt und schaute Ben mitfühlend an.

    „Du auch? Du wusstest auch davon? Ben verschränkte verärgert die Arme vor seiner Brust. „Unfassbar!

    „Ich werde dich vermissen, Herzkäfer." Ben schaute zu ihr auf, denn in ihrer Stimme war ein komischer Unterton. Tränen glitzerten in den Augenwinkeln der kleinen Frau und die Fröhlichkeit hatte ihren Blick verlassen. Als sie sah, dass Ben es bemerkt hatte, wischte sie sie schnell mit ihrem Handrücken weg.

    „Es sind nur ein paar Wochen, María", tröstete Ben jetzt sie. Nachdenklich hatte er seine Stirn in Falten gelegt und schaute sie durchdringend an. Was machte sie nur für ein Theater um die paar Tage? Er war schon öfter so lange weg gewesen und zuvor hatte sie deswegen noch nie geweint.

    „Wenn hier jemand weinen müsste, dann ja wohl ich!, sagte Ben, während er zu ihr in die Küche lief und ihr einen Arm um die schmalen Schultern legte. „Du kannst ja mitkommen, sagte Ben schelmisch lächelnd. María war ein absoluter Stadtmensch und ekelte sich vor allem, was mehr als zwei Beine hatte. „Ein bisschen wandern. Im Wald abends den Fledermäusen lauschen …", begann er.

    „Ben", sagte María warnend.

    „… oder den Morgentau von einem frisch gesponnenen Spinnennetz tropfen sehen."

    „Ben, sprich nicht weiter", zischte die kleine Spanierin, doch es war zu gut, um nun aufzuhören.

    „Faszinierend, wie die langen haarigen Beinchen der Spinne bei jedem Zittern ihr Netz inspizieren und nur darauf lauern, den klebrigen gelben Saft aus ihrer Beute zu saugen."

    „Sei still!, fauchte María und versuchte verzweifelt, ihre Hand auf Bens Mund zu drücken, aber er packte sie an ihren kleinen Handgelenken und sah ihr lachend ins Gesicht. „Oder wenn man im Gras liegt und ihre acht langen Beinchen sich in deinen Haaren verfangen, auf der Suche nach einem neuen Platz für ihr Nest.

    „Ah! Repulsivo!", die kleinen Fäuste der Spanierin versuchten vergeblich, auf Bens Brust zu hauen, doch Ben war inzwischen zu groß und zu stark für sie. Ihre Traurigkeit war jäh verflogen.

    „Wirst du mich immer noch vermissen, María?", fragte Ben laut lachend und drückte sie fest an sich.

    „Du bist ein verrücktes Kind, kam es halblaut aus Bens Umarmung hervor. „Aber vermissen werde ich dich trotzdem. Dann schlang auch sie ihre Arme um Ben und drückte ihn liebevoll an sich. Jetzt war es Ben, der ihr einen Kuss auf den Scheitel gab.

    „Es sind ja nur ein paar Wochen", sagte Ben tröstend. María drückte ihn noch fester.

    „Ja, sagte María. „Nur ein paar Wochen, wiederholte sie, doch Ben hatte ein komisches Gefühl bei ihren Worten.

    2

    Ben würde einfach alles machen, um nicht zu diesem Camp zu müssen. Gott! Er würde sogar freiwillig einen dieser schlimmen Jane Austen Filme mit seiner Mutter anschauen. So wie er es immer machen musste, wenn sie wieder einmal von einem schlechten Date nach Hause kam.

    Seine Mutter Anna war eine schöne Frau. Mit schwarzem Haar, sportlicher Figur und intelligentem Blick. Doch seit Bens Vater während ihrer Schwangerschaft gestorben war, hatte sie sich nie mehr verliebt. María drängte sie dazu, auf Dates zu gehen und sich zu verabreden, aber immer, wenn Anna danach nach Hause kam, sagte sie, dass ihr Date wundervoll war, aber eben nicht Bens Vater. Nach all diesen Jahren liebte sie ihn immer noch wie am ersten Tag und trauerte wie an seinem letzten. Also lag sie deprimiert auf der Couch, aß Eiscreme und überredete Ben, diese qualvoll schnulzigen Filme mit ihr zu schauen. Nach jedem Date dieselben unausstehlichen Streifen. Aber danach ging es ihr besser, also stand Ben sie für seine Mutter durch. Inzwischen konnte er sie schon auswendig.

    „Wenn Ihre Gefühle immer noch dieselben sind wie im vergangenen April, dann sagen Sie es. An meiner Zuneigung hat sich nichts geändert. Aber ein Wort von Ihnen genügt und ich werde für immer schweigen. Falls sich ihre Gefühle jedoch geändert haben sollten (dramatische Pause), so muss ich Ihnen sagen, dass Sie mich verzaubert haben. Voll und ganz und ich liebe, ich liebe, ich liebe Sie."

    Danach brach seine Mutter immer in Geschluchze aus und jammerte: „Ist das romantisch."

    So unfassbar langweilig diese Filme auch waren, mit ihrem Liebesgefasel und Geknutsche, so verlockend erschienen sie Ben, sobald er im Horror-Camp angekommen war. Das Zeltlager, wie sie es hier nannten, hatte schon am ersten Tag alle schrecklichen Erwartungen erfüllt und sogar übertroffen. Alle mussten ihre Handys abgeben, welche eh wenig nützlich gewesen wären, da man in diesem Urwald kein Netz hatte. Da das anscheinend noch nicht genug Folter war, ging es gleich am ersten Tag auf einen Ausflug. Ausflug, ein so harmloses Wort für die Grausamkeiten, die folgen sollten. Ein gefühlt endloser Fußmarsch durch Unterholz und Geröll! Steile Hänge, die mit riesigen Laubbäumen bewachsen waren, und weit und breit kein Ende in Sicht. Es war verdammt heiß und Ben sah keinen Sinn darin, Stunde um Stunde diesen Erdriesen zu erklimmen, nur um dort oben zu zelten.

    „Allein der Aussicht wegen lohnt es sich", hatte einer der Betreuer gesagt.

    „Ihr könnt ja ein Foto für mich machen, wenn ihr dort seid", antwortete Ben keck. Doch Georg der Betreuer hatte nur lachend abgewunken. Er dachte echt, dass Bens Kommentar ein Witz war. Georg! Wer zum Henker heißt schon Georg? Ein Typ mit Wandersandalen und einem Mädchenzopf. Jap. Genau das war Georg. Dafür, dass Geooorg sich bei der Kennenlernrunde selbst als Naturbursche beschrieb und nach eigenen Angaben ununterbrochen an der frischen Luft war, schien seine Haut so weiß wie unrecyceltes Toilettenpapier. Verdammt, er war so weiß! Wäre er vom Schicksal mit einem schöneren Gesicht beschenkt worden, hätte er eine Hauptrolle in Twilight ergattern können. Doch gutaussehend war Georg nicht. Er war circa dreißig Jahre alt und mit seinen langen rotblonden Haaren, die echt mal eine Kur vertragen konnten, hatte Gorgeous-Georg eher etwas von einem Heavy-Metal-Molch. Sein Haaransatz war mit der Zeit immer weiter Richtung Hinterkopf gewandert, aber das hielt die gutgelaunte Weißwurst nicht davon ab, die trockenen Überreste seiner Haarpracht in einem langen, dünnen Zopf über seinen schmalen Rücken baumeln zu lassen.

    „Wer schleppt sich denn bitte freiwillig Kilometer um Kilometer einen steilen Berg hinauf, nur um dann von oben noch einmal seinen Leidensweg betrachten zu können? Hier sind doch alle verrückt!", motzte Ben verärgert über die Situation, in der er steckte.

    Seine Mutter hatte Ben am Tag zuvor zum Bahnhof gefahren. Er hatte sie die letzten Tage mit Schweigen gestraft, und auch während der Autofahrt hatte er sich demonstrativ seine Kopfhörer aufgesetzt und ihre Bemühungen, sich zu unterhalten, abgewehrt. Er konnte sie zwar trotz der Musik hören, doch er ignorierte sie. Was sie sagte, beunruhigte Ben. Immer wieder sagte sie, dass er zu mehr in der Lage sei, als er sich zutraute. Dass er ein toller Junge sei und sein Vater stolz auf ihn wäre, könnte er Ben nun sehen. Dann sagte sie, dass sie ihn liebte. Immer und immer wieder. Während dieser Autofahrt sagte sie es öfter als in Bens gesamten bisherigen Leben. Erst Marías emotionaler Ausbruch in der Küche und dann das. Ein ungutes Gefühl stieg in Ben auf. Am Bahnsteig drückte sie ihn so fest an sich, dass er fast in Atemnot geriet. Anna war sonst nicht so emotional und auch keine Frau vieler Worte. Ben hatte immer gewusst, wie wichtig er ihr war, doch dieses Verhalten war extrem sonderbar. Nur halbherzig erwiderte er die Umarmung, aber kaum verließ Bens Zug den Bahnstieg, bereute er es, ihre Worte nicht wenigstens einmal erwidert zu haben. Ben wusste, dass seine Mutter nur das Beste für ihn wollte und ihn wirklich liebte, doch er war inzwischen alt genug, um Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Wieso hatte sie ihn weggeschickt, wenn es ihr so schwerfiel, ihn gehen zu lassen?

    Ben war genervt. Allein unter Idioten! Sein Großvater hatte sich noch nicht blicken lassen, und auf Bens Nachricht von vor einer Woche hatte er auch nicht reagiert. Während seine hochmotivierte Gruppe stramm durch den Wald marschierte und zu allem Überfluss in nervtötenden Gesang einstimmte, stapfte Ben in gesundem Abstand hinterher. Gesund für ihn und auch für die anderen.

    „So eine blöde Scheiße!", sagte Ben zu sich selbst, als er wieder einmal mit seinen Nike Turnschuhen auf dem schmalen Pfad ausrutschte. Er hatte sich geweigert, diese hässlichen Wanderschuhe zu tragen.

    „Ich zieh die nicht an. Darin sieht man aus wie ein totales Opfer", hatte Ben mit arroganter Miene zu Georg gesagt, als dieser ihn aufforderte, besser geeignete Schuhe zu tragen.

    „Aber wir alle tragen doch solche Schuhe", hatte Georg im tiefsten Dialekt ermutigend geantwortet.

    „Ja, das sagte ich doch gerade", antwortete Ben mit einer hochgezogenen Augenbraue. Er hatte die Hoffnung, als Strafe nicht mit auf diesen ach so wundervollen Ausflug zu müssen, aber Georg hatte ihn dann einfach ohne Wanderequipment mitgenommen. Ben hätte sich lieber beide Beine gebrochen, als in Wandersandalen in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Nun rutschte er also schlecht gelaunt und laut fluchend den Pfad entlang und hasste jeden Zentimeter des Weges.

    „Das sind aber keine schönen Worte, Benno", brummte eine tiefe Stimme hinter Ben.

    Mit einem Satz drehte sich Ben um. Dabei rutschte er mal wieder aus, verlor das Gleichgewicht und landete schmerzhaft auf seinem Hintern.

    „Hallo, Magnus", sagte Ben, ohne seine miserable Laune zu verstecken.

    Na, Junge? Ist es nicht wundervoll hier? Bens Großvater ließ den Blick über den dicht bewachsenen Wald unter ihnen schweifen, doch sein Ton war zynisch und er lächelte herausfordernd. Schwerfällig rappelte sich Ben samt riesigem Wanderrucksack, der ihm lästig an seinem nassgeschwitzten Rücken klebte, wieder auf.

    „Ja, genial, antwortete Ben ironisch. „Der Dreck und so … genau mein Ding. Könnte mir nichts Schöneres vorstellen. Dann legte Ben gespielt überlegend seine Stirn in Falten und tippte mit dem Zeigefinger auf sein Kinn. „Hm, obwohl. Ja, da fällt mir doch was ein. Ein Zahnarzttermin, die Bundesjugendspiele, Mathematikunterricht, oder ein Magen-Darm-Infekt. Einfach alles wäre besser, als hier zu sein!" Dann sah er seinen Großvater trotzig ins Gesicht und wartete auf eine Erklärung.

    „Als du klein warst, mochtest du doch immer die Geschichten von verwunschenen Wäldern und Abenteuern in der Wildnis", sagte Magnus.

    „Das waren Kindergeschichten und ich bin kein Kind mehr. Außerdem kamen, soweit ich mich erinnern kann, auch nie singende Naturfreaks in deinen Geschichten vor." Genervt deutete Ben mit einer abwertenden Handbewegung auf die sich entfernende Gruppe fröhlich trällernder Sandalenträger. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass Ben zurückblieb, und marschierten zackig weiter den Pfad entlang.

    Magnus lachte laut. Ein tiefes, angenehmes Geräusch. Dabei hätte er fast den Zigarrenstummel verloren, der in seinem Mundwinkel baumelte. Magnus nahm den Stummel in seine große, braungebrannte Hand und drehte ihn nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger.

    „Du hast dir die Geschichten doch gut gemerkt, oder?"

    Sein Opa sah ihn nun ernst an. Irgendetwas war in Magnus' Blick, dass Ben verunsicherte. Sein Großvater hatte dieselben Augen wie Ben. Tiefes, leuchtendes Grün mit einem schmalen schwarzen Ring, der die Iris umrandete. Diese grünen Augen sahen ihn nun mit einer Mischung aus Sorge und Erwartung an.

    „Ähm, ja. Ich … ich denke schon, dass ich sie mir gemerkt hab' … könntest du mir jetzt mal bitte erklären, was ich hier soll, und …" Doch sein Großvater schnitt ihm das Wort ab.

    „Hast du sie dir genau gemerkt, Benno?", fragte Magnus nun mit mehr Nachdruck. Ben war verwirrt. Der herrische Ton in der Stimme seines Opas nervte ihn, aber etwas hielt Ben davon ab zu streiten. Warum war sein Opa so ernst wegen ein paar Kindergeschichten?

    Magnus beäugte seinen Enkel genau. Ben sah seinem Vater inzwischen zum Verwechseln ähnlich und es zerriss Magnus fast das Herz, Benno ins Gesicht zu schauen. Insgeheim mochte Magnus Bens sture Art und amüsierte sich an seinen zugegeben manchmal eigensinnigen Ausbrüchen. Er war noch nicht einmal ganz fünfzehn Jahre alt. In Magnus' Augen also noch ein Kind. Unschuldig, hitzköpfig und nicht bereit für das, was vor ihm lag, doch er hatte keine Wahl.

    „Ja, Magnus. Ich habe mir alles gemerkt. Was ist das überhaupt für eine Frage? Wie bist du eigentlich hierhergekommen? Dein Motorrad kommt doch bestimmt nicht …"

    „Das ist jetzt nicht wichtig, unterbrach ihn sein Großvater erneut. „Benno, du bist mein einziger Enkel. Ich … ich habe nicht viel Zeit. Magnus legte nun seine große Hand auf Bens Schulter und sah ihm vielbedeutend in die Augen.

    „Ich wünschte, es wäre anders, doch es muss so sein. Ich ..." Magnus sah Ben eindringlich an. Er war offenbar sehr aufgewühlt und wusste nicht, was er sagen sollte.

    „Was ist los? Was meinst du? Wie …"

    „Es tut mir leid, Ben. Du bist ein guter Junge." Ben war ganz starr. Was hatte das alles zu bedeuten? Hatte sein Großvater sich etwa gerade bei ihm entschuldigt? Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht!

    Ben öffnete seinen Mund. „Opa …", doch jetzt fehlten ihm die Worte. Magnus drückte noch einmal Bens Schulter. Er zog einen Mundwinkel nach oben zu einem halbherzigen Lächeln. Es sollte wohl ermutigend wirken,

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