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Der Kleine Guru: Ein spiritueller Zeitenwende-Roman
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Der Kleine Guru: Ein spiritueller Zeitenwende-Roman
eBook262 Seiten3 Stunden

Der Kleine Guru: Ein spiritueller Zeitenwende-Roman

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Über dieses E-Book

«Slow down!» Die Stimme war plötzlich da. Ich wusste nicht, woher sie kam. Sie schien in meinem Kopf zu sitzen, doch es war anders als Denken. Ich hörte die Stimme, und sie sprach Englisch.

Nach langem Hin und Her - «Spinne ich jetzt oder bilde ich mir das alles nur ein?» - beginnt Lisa einen Dialog mit der Stimme in ihrem Kopf, die sich als "Der Kleine Guru" vorstellt. Er sei immer für sie da, sagt er und stupst Lisa sanft, aber beharrlich an, ihr Leben in einem neuen Licht zu sehen. Wie von Zauberhand gesteuert beginnt sich in der Folge Lisas Alltag zu verändern. Sie trifft unterwartet Jack wieder, ihre einst grosse Liebe. Dann wird ihr von einem Unbekannten ein geheimnisvolles Manuskript zugespielt, in dem von Zeitenwende die Rede ist, von einem Bewusstseinswandel der Menschen, der jetzt stattfände und so ziemlich alles aufrüttle oder niederreisse, was nicht mehr passe in die Neue Zeit. Und genau so fühlt sich Lisa: Als ob sie der Kleine Guru in eine neue Zeit und ein neues Leben führen würde.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum26. Okt. 2016
ISBN9783734561146
Der Kleine Guru: Ein spiritueller Zeitenwende-Roman

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    Buchvorschau

    Der Kleine Guru - Eveline Blum

    1 (August 2011)

    S

    LOW DOWN!

    Die Stimme war plötzlich da. Ich wusste nicht, woher sie kam. Sie schien in meinem Kopf zu sitzen, doch es war anders als Denken. Ich hörte die Stimme, und sie sprach Englisch.

    Der Stuhl war es nicht. Den benutzte ich schon seit Jahren zum Meditieren. Ein einfacher Holzstuhl mit niedriger Lehne, auf dem ich gut gerade sitzen konnte. Ein Kissen auf der Sitzfläche. Nein, der Stuhl hatte sich nicht verändert. Er stand wie immer in meinem düsteren aber grossen Schlafzimmer vor einem kleinen Tisch mit Kristallen und einem Teelicht, zur kahlen Wand gerichtet, links davon das Bett, noch weiter links das Fenster. Heute sass ich dennoch anders. Wie anders konnte ich nicht sagen. Vielleicht war etwas im Raum, was neu war. Oder – wohl eher – in meinem Innern.

    Es war nicht das erste Mal, dass ich beim Sitzen etwas völlig Neues erfuhr, obwohl sich das Setting nicht verändert hatte. Eigentlich war es jeden Tag anders. Genau. Es war nichts Besonderes, was ich gerade wahrnahm.

    Der Meditationsplatz war ein wichtiger Ort in meiner Wohnung. Auf dem Stuhl in dieser Ecke wurde nur meditiert, Tag für Tag. Sobald ich mich hinsetzte, betrat ich einen heiligen Raum, eine Sphäre der Stille, die sich durch das tägliche Stillsein am selben Ort aufgebaut hatte. Dieser Raum gehörte mir allein. Die Sphäre der Stille war an keinen Ort gebunden, sie hatte sich nur vorübergehend in diesem Schlafzimmer etabliert. Wenn ich hier ausziehen oder meine tägliche Meditationspraxis aufgeben würde, müsste sie sich auflösen.

    Ich war nur eine von sechs Mietern, dennoch sprach ich die ganze Zeit von «meinem Haus». Vielleicht rührte dies daher, dass die anderen Mieter, mit Ausnahme meines Nachbarn, nicht hier wohnten, sondern ihr Geschäft oder Büro im Haus hatten. Der Eingang zum Treppenhaus lag leicht zurückversetzt von der Strasse, zwischen Lebensmittelladen und Frisör. Wer das Haus nicht kannte, ging davon aus, dass hier niemand wohnte.

    Die grosse Tafel beim Eingang wies auf die verschiedenen Büros hin, welche die Räume vom Erdgeschoss bis zum dritten Stock besetzt hielten. Mein Name stand nicht auf der Tafel, obwohl ich mein Büro auch hier hatte.

    Im vierten Stock wohnte Leo, ein etwas in die Jahre gekommener Junggeselle, und im fünften ich. Ich hatte nicht nur drei grosse Zimmer für mich, sondern auch die riesige Dachterrasse, die ausser mir niemand nutzte. Wenn ich dort oben war, fühlte ich mich wie in einer Grossstadt. Der Blick über die Dächer von Bern war berauschend. Ich liebte das urbane Gefühl, das er in mir weckte, doch ich hätte niemals in einer richtigen Grossstadt leben wollen. Bern war gemütlich und unaufgeregt, fast wie eine grosse Mutter.

    Es war erstaunlich still in meiner Wohnung, obwohl das Haus im Zentrum der Stadt lag, nur fünf Minuten vom Bahnhof entfernt. Die Geräusche von der Strasse waren im fünften Stock kaum zu hören. Manchmal hörte ich Leo, wenn er die Musik aufdrehte oder Gäste hatte. Doch das störte mich nicht, im Gegenteil.

    Die Räume waren hoch, die Wände im Wohnzimmer mit Stuck verziert, und die Böden – mit Ausnahme der Klinkerböden in Küche und Bad – aus altem knarrendem Parkett. Eine Altbauwohnung wie aus dem Bilderbuch, anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut. Der lange Flur gab mir jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, das Gefühl, ich würde in eine völlig neue Welt eintreten, und das tat ich auch: mein Zuhause war eine eigene Welt. Hier galten andere Gesetze als da draussen.

    «Es ist eine Wohnung mit Augen nach innen», sagte ich, wenn mich Freunde fragten, wie ich wohne. Die Fenster waren gross genug, um die ganze Welt einzuladen, es war in allen Räumen ausser im Schlafzimmer hell, doch wenn ich hinausschaute, sah ich vor allem Himmel. Es gab nichts da draussen, was meinen Blick auf sich zog, nur hie und da eine Krähe, die sich auf den Fenstersims setzte oder vom Nachbardach herüber krächzte.

    Eine Freundin, die hie und da bei mir übernachtete, hatte sehr gut erfasst, was die Magie dieser Wohnung ausmachte. Sie erzählte mir nach ihrer ersten Nacht hier beim Frühstück, sie hätte geträumt, sie sei in Ägypten, und beim Erwachen sei dieses Gefühl immer noch da gewesen, als ob dieser Ort etwas von der Energie der Pyramiden in sich hätte. Sie war Psychologin und hatte sich auf Träume spezialisiert. «Das ist ein Ort, der zum Reisen in andere Dimensionen einlädt», meinte sie. «Aber pass auf, das kann auch gefährlich werden. Vergiss nie, dass es da draussen auch noch eine Welt gibt!»

    Mir blieb der Mund offen. «Bingo!», dachte ich, sagte aber nichts. Genau das passierte mir regelmässig, seit ich hier wohnte: Ich legte mich im Schlafzimmer aufs Bett und tauchte ab in andere Welten, ohne es zu wollen oder zu suchen. Ich hatte mich schon dabei ertappt, dass ich plötzlich keine Lust mehr verspürte, die Wohnung zu verlassen, weil ich mir sagte, die Welt da draussen sei nicht so wichtig wie das, was ich auf meinen inneren Reisen erlebte.

    Ich fühlte mich geborgen in dieser Wohnung. Reinkommen, Tasche abstellen, den Gang nach hinten gehen in die Küche, Tee aufsetzen auf dem alten Gasherd, mich mit dem Teeglas in der Hand an den runden Holztisch setzen – und die Welt war in Ordnung. Vom Küchentisch aus schaute ich in den Himmel, über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg.

    Was mir auch gefiel, war der Geruch dieser Wohnung. Es roch immer exotisch, auch wenn ich die Räume nach längerer Abwesenheit betrat, als ob jemand vor langer Zeit ein indisches Räucherstäbchen abgebrannt hätte. Diesen Duft im Hintergrund mochte ich. Düfte waren wichtig. Ich konnte Menschen ebenso wie Orte entweder riechen oder nicht.

    Vielleicht war die Wohnung auch deshalb etwas Besonderes für mich, weil sie der Ort war, der mich nach der Trennung von Karl aufgenommen hatte. Sie schien sich mir anzubieten damals, als ob die Zeit dafür reif wäre. Inzwischen wohnte ich seit etwas mehr als drei Jahren hier. Es war eine richtige Single-Wohnung daraus geworden: Büro, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, alles für eine Person eingerichtet. Wenn ich Besuch hatte, wurde improvisiert.

    2

    D

    IE MEISTEN

    L

    EUTE HIELTEN MICH FÜR JÜNGER ALS ICH WAR.

    Das mochte an der Art liegen, wie ich mich bewegte.

    «Sie bewegt sich beinahe schwerelos, als ob sie ein federndes Polster unter ihren Füssen hätte, dessen Feder etwas zu stark gespannt ist», hatte ein Journalist über mich geschrieben, der mich für eine Zeitschrift porträtierte.

    «Ihre Arme vollführen dazu eine ausladende Bewegung, die zwar geführt, aber weitaus lockerer ist als das energische Armschwingen beim Walking. Wo immer sie geht, scheint sie sich einem Tanz hinzugeben, einer bedeutungsvollen Choreografie folgend, die keinen Namen hat, weil sie in einer namenlosen Dimension entworfen wird. So wirkt Lisa, als ob sie nicht ganz hier wäre. Oder vielleicht hier, aber gleichzeitig mit etwas Wichtigerem beschäftigt, etwas, was diesem Hier eine besondere Bedeutung gibt.

    Ihr Schritt ist resolut, sie scheint stets in Eile zu sein, vielleicht um diesem bedeutungsvollen Anderen näher zu kommen. Wo immer Lisa hinkommt, weckt sie, ohne dies zu beabsichtigen, Aufmerksamkeit und eine unausgesprochene Erwartung auf ein besonderes Ereignis oder eine wichtige Mitteilung. Sie scheint jede Situation mit einem einzigen Blick zu erfassen, nimmt den Raum mit ihrer Präsenz ein, als ob er ihr gehören würde.»

    Ich fühlte mich geschmeichelt von dieser Beschreibung. Obwohl sie überhaupt nicht dem entsprach, wie ich mich fühlte. Vielleicht wirkte ich tatsächlich so.

    Ich war immer noch schlank und wog nur wenig über fünfzig Kilo. Als «klein, aber oho», hatte mich mein erster Freund einst bezeichnet – ich war vierzehn und konnte mich nicht entscheiden, ob ich ihm dies als Kompliment durchgehen lassen sollte. Irgendwann beschloss ich, mich mit meinen 1.62 zufrieden zu geben. Hohe Absätze waren nicht mein Ding. Ich war zu gerne unterwegs, am liebsten zu Fuss.

    Sicher war ich keine klassische Schönheit. Das Kinn zu spitz, die Lippen zu schmal. Nicht blond und zu gescheit, um Männern zu gefallen. Mein braunes Haar, das ich schulterlang trug, mit Stirnfransen, die das eher schmale Gesicht etwas breiter erscheinen liessen, war bereits von grauen Strähnen durchzogen. Ich würde meine Haare nicht färben, das fand ich blöd, und blöd wollte ich ganz sicher nicht sein. Nicht blöd, nicht dumm, nicht schön. Wobei Letzteres ein bisschen gelogen war, aber es half mir, mir zu sagen, dass ich gar nicht schön sein wollte, sondern lieber gescheit. Obwohl – manchmal fand ich mich sogar schön, wenn ich in den Spiegel schaute.

    Heute jedoch sah ich mit Entsetzen einer vom Leben gezeichneten Frau ins Gesicht. Kummerfalten um den Mund herum, tief eingegraben in der Verlängerung der heruntergezogenen Mundwinkel. Entschlossen setzte ich ein Lächeln auf. Schon besser! Vielleicht sollte ich etwas Make-up auftragen, um die sogenannte Couperose, eine rötliche Verfärbung der Hautpartie um die Backenknochen herum, zum Verschwinden zu bringen. Widerwillig strich ich mir die beige Paste ins Gesicht. «Nein! Das bin nicht ich. Weg damit! Wer bin ich denn?», fragte ich mich. Ich wusste es nicht, wusste es immer weniger.

    Die Augen waren okay. Mal blau, mal grün, mal grau, je nach Stimmung und Kleiderfarbe, mit kleinen gelben Punkten in der Iris, wie Sterne. Meine Augen würden oft gleichzeitig so viele Geschichten erzählen, dass es schwierig sei, alles zu verstehen, meinte meine Freundin (die Psychologin). Sie könnten in Sekundenbruchteilen ihren Ausdruck ändern. Ich sei wohl eine alte Seele. Auch Mimik und Gestik seien ständig dabei, das Gesagte zu illustrieren oder ihm eine zusätzliche Dimension zu verleihen. Es könne anstrengend sein, doch es würde nie langweilig mit mir. Ich fasste das als Kompliment auf. Ja, ich erzählte gerne. Dabei waren auch meine feingliedrigen Hände – geschrumpelt und gefurcht wie die Hände einer Hundertjährigen – immer in Bewegung. Worte und Gesten schienen nur so aus mir heraussprudeln. Ich stand unter Druck.

    Bekannt war ich für zwei Dinge: Für meine spitze Zunge und für extravagante Kleider, die ich meist selbst gestylt hatte. Nicht dass ich sie selber nähte. Ich hatte ein Händchen dafür, billige Kleider von der Stange mit kleinen Änderungen zu versehen und daraus schicke Einzelstücke zu machen. In den letzten Jahren war mir die Lust daran, mich auffallend zu kleiden, allerdings vergangen. Ich hatte sogar angefangen Jeans zu tragen, bis vor kurzem ein No-Go. Jeans mit dunkelblauem Shirt – weit weg von meinen Lieblingsfarben rot, orange und rosa.

    «Wann hat das begonnen mit dieser Tarnkleidung?», fragte ich mich, während ich immer noch vor dem Spiegel im Badezimmer stand. Es war wieder mal Zeit, Bilanz zu ziehen. Heute wurde ich 45. Ich strich meine Haare zurück und betrachtete die Haarspitzen, dann die Hände mit den markant hervortretenden Adern auf dem Handrücken, die Lebenslinie auf der Innenseite der linken Hand.

    «Was sagt diese Lebenslinie», fragte ich mich, «werde ich meinem Lebensplan gerecht oder schramme ich voll daran vorbei?» Dann hob ich den Blick und schaute wieder in den Spiegel. War da vielleicht ein Gesicht hinter dem Gesicht, das ich täglich wahrnahm? Ein Wesen, das meine Frage beantworten könnte? Ich liess meinen Blick weit und weich werden, als ob ich halb nach innen schauen würde.

    Plötzlich geschah etwas, während ich mir in die Augen schaute, nur schaute, ohne innerlich einen Kommentar abzugeben, ohne etwas zu fixieren. Ich konnte mich in diese Augen fallen lassen, ich fiel! Und fühlte mich so sehr zuhause wie noch nie zuvor, nur eine halbe Sekunde lang. Im nächsten Moment war ich wieder zurück. Die Augen strahlend blau.

    3

    E

    IGENTLICH HÄTTE ICH EIN

    J

    UNGE WERDEN SOLLEN.

    Doch ich konnte nur ein Mädchen sein. Und das war der erste Fehler. Zudem kam ich zu früh, wie mir meine Mutter später erzählte. Doppelt zu früh, wenn ich das recht verstanden habe. Einmal, weil da noch gar kein Kind geplant war und einmal, weil ich schon nach acht Monaten Schwangerschaft zur Welt kam.

    Kinder dürfen keine Fehler machen, lernte ich bald, und wenn sie es trotzdem tun, sind sie schuld. Sobald ich denken konnte, erkannte ich, dass ich mir etwas einfallen lassen musste, um meine Schuld wiedergutzumachen.

    Die Schule war ein geeigneter Ort, um zu beweisen, dass ich vielleicht doch nicht so schlecht war, wie ich glaubte. Dort konnte ich gute Noten machen und wurde dafür gelobt. Am liebsten wäre ich ewig in der Rechenstunde geblieben, wo ich die Antworten oft am schnellsten wusste. Schreiben gefiel mir auch gut, mit Tinte und ganz sorgfältig, sodass es ein schönes Heft gab, alles auf der vorgegebenen Linie und nicht über den Rand hinaus.

    Ich war froh, wenn ich wusste, wie ich ein gutes Mädchen sein konnte, und in der Schule war das definitiv einfacher als zuhause. Das Gefühl, meine Eltern würden sich gar nicht für mich interessieren, bohrte sich seit meiner frühesten Kindheit wie ein brennendes Schwert wieder und wieder in meine Brust. «Etwas stimmt nicht mit mir», dachte ich, «sonst würden sie mich mehr beachten.» Und dann strengte ich mich noch mehr an.

    Irgendwie war ich immer noch dieses kleine Mädchen. Voller Angst, etwas falsch zu machen. Stets auf die anderen schauen, auf deren Bedürfnisse. Obwohl ich das gegen aussen nicht zeigte und nach meinem Auszug aus dem Elternhaus während Jahren aufgetreten war wie eine Rebellin, der es vollkommen egal war, was andere von ihr dachten. Die innere Überzeugung war geblieben: Eine Lebensberechtigung habe ich nur, wenn ich in die Lücke passe, die mir mein Umfeld anbietet.

    Um festzustellen, wo und wann eine solche Lücke bestand, wo ich wie sein könnte oder sollte, hatte ich eine hohe Sensitivität entwickelt. Ich nahm Signale und Befindlichkeiten von Menschen wahr, noch lange bevor sie etwas sagten, und auch wenn sie etwas anderes sagten als sie fühlten, merkte ich das sofort. Aus diesem Wachsein gegen aussen entstand manchmal eine Reizüberflutung und ich musste mich, in panischer Angst, ausgelöscht zu werden, sofort aus der Gegenwart anderer Menschen zurückziehen. Dann wollte ich nur noch allein sein und von niemandem etwas wissen, während ich mir gleichzeitig nichts mehr wünschte, als mich in eine bedingungslos liebevolle Umarmung fallenzulassen.

    Ich war meinen Weg trotz aller inneren Unsicherheit ziemlich zackig gegangen. Schon als junge Frau wusste ich genau, was ich in diesem Leben erreichen wollte. Das Bild, das ich dabei vor mir hatte, war dasjenige einer Frau mit einem hoch oben gebundenen Rossschwanz, einer unbändigen Energie und einem flachen Bauch. Ich hatte diese Frau gesehen, als ich noch ein Teenager war, und mir war bei deren Anblick sofort klar geworden, dass sie nur deshalb so einen flachen Bauch hatte, weil sie nichts zurückhielt, sondern alles von sich reinlegte in ihr Leben, das sie genau so führte, wie sie es wollte. «So will ich werden», schwor ich mir damals.

    Inzwischen war ich dreissig Jahre älter, hatte einen leicht rundlichen Bauch, der mir Verdauungsprobleme machte, und war unzufrieden. Dies, obwohl ich meine volle Kraft dafür eingesetzt hatte, mein eigenes Leben zu finden und zu leben. So hatte ich einen Traumberuf nach dem nächsten ergriffen, war Bühnentänzerin, Yogalehrerin und Journalistin geworden, stets erfolgreich und die meiste Zeit unglücklich. Da war ein Schmerz in mir, den ich einfach nicht los wurde. Das tiefe innere Gefühl, nicht okay zu sein.

    Auch in Liebesbeziehungen hatte ich mehrmals Glück und fühlte mich dennoch unglücklich. Mein erster Partner, den ich noch während der Tanzausbildung kennenlernte, trug mich auf Händen. Wir verstanden uns hervorragend und es sah alles danach aus, dass wir demnächst heiraten würden. Dann träumte ich eines Nachts, ich sei in Ketten gefangen. Am nächsten Tag erklärte ich meinem Geliebten, wir müssten uns trennen. Wir weinten beide, doch ich liess mich nicht von meinem Entschluss abbringen. Kurz nach der Trennung wurde mir klar, dass der Traum von den Ketten nichts mit Fred zu tun gehabt hatte.

    Nach mehreren Jahren als Single traf ich Jack. Eine Amour fou, die mich vollkommen vom Sockel haute. Berauschend und beängstigend. Doch einen Monat nach unserer ersten Begegnung verliess er die Stadt, um – wie er sagte: «vorerst mal» – in Berlin zu leben, und wir verloren uns aus den Augen. Ich wusste schon am ersten Abend, als wir uns an der Bar des Jazz-Festivals trafen, dass Jack niemals irgendwo sesshaft werden würde, schon gar nicht in einer Liebesbeziehung. Vielleicht war es das, was mich so zu ihm hinzog: die vollkommene Fokussierung auf den Moment, die sich in unserem Gespräch sofort einstellte. Mit ihm gab es keine Zukunft, keine Vergangenheit, keine Zeit.

    Ein Jahr später schien sich das Blatt zu wenden. Karl trat in mein Leben und ich war überglücklich. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich so geliebt, wie ich mir das immer gewünscht hatte. Karl gab mir das Gefühl, geborgen und in Ordnung zu sein. Und genau das war eine Falle für mich. Ich nistete mich in dieser Beziehung ein und begann zu schrumpfen, lange Zeit ohne mir dessen bewusst zu sein.

    Im siebten Jahr unserer Beziehung fiel mir auf, dass ich auch die kleinsten Dinge erst entschied, nachdem ich Karls Meinung dazu eingeholt hatte. Ich zwang mich, genauer hinzuschauen und war entsetzt über das Ausmass meiner Abhängigkeit. Sogar mein Wünschen und Wollen schien mir erst okay, wenn er es abgesegnet hatte. Ohne ihn war ich niemand mehr, jedenfalls kam es mir so vor. Nach aussen sah das nicht so aus, weil mich Karl bei meinen künstlerischen Projekten unterstützte, mit denen ich auch unter eigenem Namen in Erscheinung trat.

    Die meisten Menschen nahmen mich als stark und eigenständig wahr. Doch das war nur eine Pose. Ich fühlte mich dabei wie ein aufgeblasenes Ding aus Plastik. Ohne Karls Unterstützung würde ich zusammensacken wie eine leere Hülle. Ich geriet in Panik ob dieser Erkenntnis und verdrängte sie. Doch sie tauchte wieder auf. Schien immun gegen alle Argumente. «Jetzt sei

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