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"Er hat eben das heiße Herz": Der Verleger und Filmunternehmer Karl Wolffsohn
"Er hat eben das heiße Herz": Der Verleger und Filmunternehmer Karl Wolffsohn
"Er hat eben das heiße Herz": Der Verleger und Filmunternehmer Karl Wolffsohn
eBook980 Seiten11 Stunden

"Er hat eben das heiße Herz": Der Verleger und Filmunternehmer Karl Wolffsohn

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Über dieses E-Book

Das Buch umfasst neben einer Biografie des Verlegers und Kinobetreibers Karl Wolffsohn, einem bisher ungenügend beachteten Förderer der Film- und Varietékultur in der Weimarer Republik, auch Portraits ausgewählter Firmen seines Konzerns. Geschildert wird, wie sich der jüdische Deutsche seiner Enteignung und Vertreibung durch die Nationalsozialisten letztlich vergeblich widersetzte. Erstmals ausgewertete Archivunterlagen veranschaulichen seinen Kampf um Wiedergutmachung in der Nachkriegszeit.

Geboren 1881, erlernte Karl Wolffsohn im väterlichen Betrieb und Ullstein Verlag das Druckerhandwerk. 1910 übernahm er in Berlin erst den Druck, dann den Verlag der später zweitgrößten deutschen Filmfachzeitung "Lichtbildbühne". Für die im Entstehen begriffene Filmwissenschaft stellte Wolffsohn ein stetig erweitertes Sortiment an Fachbüchern und seine international einzigartige Fachbibliothek bereit. Unterstützt vom Minderheitsgesellschafter Ullstein, pachtete er außerdem Kinos in Essen, Berlin, Köln und Düsseldorf, zudem ein Varieté in Dortmund. Doch die Nationalsozialisten zwangen ihn, sich umgehend von fast allen Unternehmen zu trennen. Sein Kino als Teil der Berliner Gartenstadt Atlantic konnte Wolffsohn zunächst weiterbetreiben, weil er 1937 heimlich Eigentümer der gesamten Wohnanlage wurde. Angeklagt, sich an deren überfälliger "Arisierung" bereichert zu haben, hielt ihn die Gestapo sechs Monate gefangen. 1939 flüchtete er mit Ehefrau Recha nach Palästina. Wegen zahlreicher Rückerstattungsprozesse kehrte das Ehepaar ein Jahrzehnt später nach Deutschland zurück. Karl Wolffsohn starb 1957 in Berlin.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Sept. 2016
ISBN9783734553127
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    Buchvorschau

    "Er hat eben das heiße Herz" - Ulrich Döge

    Ulrich Döge

    „Er hat eben das heiße Herz" Der Verleger und Filmunternehmer Karl Wolffsohn

    © 2016 Dr. Ulrich Döge

    Lektorat, Korrektorat: Dr. Barbara Schröter, Dr. Sebastian Bartsch, Volker Lorek

    Bildbearbeitung und -platzierung: Dr. Barbara Schröter

    Verlag: tredition GmbH, Hamburg

    ISBN

    Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

    Gefördert durch die DEFA-Stiftung

    Inhalt

    BIOGRAFIE KARL WOLFFSOHN

    Die Familie

    Verleger der LBB

    Kino- und Varietébetreiber, Filminvestor und Berater

    Politische Haltung

    Freundes- und Bekanntenkreis

    Verfolgung, Haft und Flucht nach Palästina

    Exil in Tel Aviv

    Entfristeter Aufenthalt in Deutschland

    Zeitzeuge der Filmgeschichte

    GESCHICHTE DER FIRMA GEBR. WOLFFSOHN

    Übernahme der LBB

    Reise in die USA

    Der Ullstein Verlag als Mitgesellschafter

    Die Allianz Gebr. Wolffsohn, Ullstein und Terra-Film

    Karl Wolffsohn und Heinz Ullstein

    Buchprogramm

    LBB-Fachbibliothek und -Archiv

    Camouflage der Eigentumsverhältnisse

    Aufkauf der Firma Gebr. Wolffsohn durch die Industria

    Erwerb des Film-Kuriers auf Anraten Karl Wolffsohns

    Paul Franke, der neue Eigentümer der LBB

    Rudolf Buhrbanck, der neue Herausgeber der LBB

    Die LBB in den Plänen der NS-Kulturgemeinde

    DIE ANTISEMITISCHE REICHSKULTURKAMMER

    GESETZESLAGE ZUR WIEDERGUTMACHUNG

    WIEDERGUTMACHUNGSPROZESS GEBR. WOLFFSOHN

    Die Position Karl Wolffsohns

    Die Position Paul Frankes

    Prozessverlauf: Beweisaufnahme und Vergleich

    DIE FILMBIBLIOTHEK

    Die Position Karl Wolffsohns

    Die Position der UFA

    Gescheiterter Vergleich und Urteile

    Bewertung des endgültigen Urteils

    Verbleib der Fachbibliothek nach 1936

    DIE FILMSAMMLUNG

    Die Beschlagnahme

    Wiedergutmachungsverfahren

    Die Position Karl Wolffsohns

    Die Position des Finanzsenators

    Vernehmung und Gutachten des Sachverständigen Kümmerlen

    Das Urteil

    Der Treuhänder Deutsches Institut für Filmkunde

    LICHTBURG ESSEN

    Planung des Kinos

    Feierliche Eröffnung

    Die ersten Pächter: Rex-Film AG und Vereinigte

    Die Rex-Film AG als Treuhänder von Wolffsohn und Ullstein

    Lichtburg-Theaterbetriebs GmbH

    Exkurs. Die Viktoria-Lichtspiele in Hagen

    Hans Neumann als erster Geschäftsführer 1928-1930

    Karl Wolffsohn wird alleiniger Pächter

    Geschäftsentwicklung

    Pachtverhandlungen zwischen Wolffsohn und UFA

    Zwischenpächter Karl Veith und Geschäftsführer Otto Köstle

    Das nationalsozialistische Essen 1933

    Wolffsohns Widerstand gegen die Wegnahme seines Kinos

    Ein Pachtvertrag zugunsten der UFA

    Vertrag zwischen Burgplatzbau AG, UFA und Karl Wolffsohn

    Konflikte zwischen Wolffsohn und dem Nachfolger UFA

    Wiedergutmachungsverfahren

    Wolffsohns Forderungen

    Die Positionen der Antragsgegner

    Die Ufa als übrig gebliebener Antragsgegner

    Beschluss der Wiedergutmachungskammer Essen

    Angemessener Wert des Pachtvertrags

    lnventar

    Das Urteil

    OLYMPIA-THEATER IN DORTMUND

    Politische Situation in Dortmund 1932/33

    Raub des Olympia-Theaters

    Die neuen Betreiber bis 1943

    Wiedergutmachungsverfahren

    Urteil der Wiedergutmachungskammer Dortmund

    Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm

    Entscheid des Obersten Rückerstattungsgerichts Herford

    Rechtskräftiges Urteil der Wiedergutmachungskammer Dortmund

    KÖLNER LICHTSPIELE DES WESTENS

    Wiedergutmachungsverfahren

    Die Position Karl Wolffsohns

    Die Position der Antragsgegner

    Urteile der Gerichte

    KÖLNER LICHTSPIELE DES ZENTRUMS

    Abgewiesene Restitution, symbolische Entschädigung

    ALHAMBRA-LICHTSPIELE IN DÜSSELDORF

    Wiedergutmachungsverfahren

    LICHTBURG BERLIN

    Das unverwirklichte Kinoprojekt der UFA

    Karl Wolffsohn als Pächter

    Kinogebäude, Eröffnung und ausgewählte Programme

    Gescheiterte Umwandlung in ein Theater 1932/33

    Umwandlung in das Theater in der Lichtburg 1933

    Die Folgen des Rotter-Skandals

    Die Lichtburg als Teil der Gartenstadt Atlantic

    Konflikte zwischen Atlantic und Ullstein

    Thomas & Co. als Unterpächter

    Streit um die Kosten des maroden Kinogebäudes

    Der neue Rechtsanwalt der Atlantic Walther Neye

    Neyes gescheiterte Übernahme der Atlantic

    Karl Wolffsohns Kauf der Atlantic

    Misslungener Weiterverkauf der Atlantic

    „Arisierung" der Atlantic auf Druck der WBK

    Konflikte zwischen Wilmar Wienholz und Karl Wolffsohn

    Kündigung des Lichtburg-Pachtvertrags

    Prozess gegen die Kündigung des Pachtvertrags

    Erste Instandsetzungsarbeiten des Kinos nach Kriegsende

    Beschlagnahme durch französisches Militär und Wiederaufbau

    Der Pachtvertrag zwischen BBG und Heinz Borchardt

    Die Corso-Theater und Lichtspielhaus GmbH

    Das Corso-Programm. Ein Potpourri aus Operette und Film

    Wolffsohn und die französische Vermögenskontrolle

    Thomas & Co. als neuer alter Pächter

    Antrag auf Restitution 1950

    Urteil der Wiedergutmachungskammer

    Urteil der Revisionsinstanz, des Kammergerichts

    Vergleich 1960

    Schließung des Corso-Theaters und Abriss

    SCHLUSSBETRACHTUNG

    ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

    LITERATURVERZEICHNIS

    DANK

    ABBILDUNGSNACHWEIS

    PERSONENINDEX

    Biografie Karl Wolffsohn

    Die Familie

    Eine ganze Reihe von Vorfahren Karl Wolffsohns soll in Wollstein (heute Wolsztyn, Polen) gelebt haben, bevor er dort am 16. Mai 1881 geboren wurde.¹ Damals gehörte die 70 Kilometer südwestlich von Posen gelegene Kleinstadt mit knapp 3.000 Einwohnern zur preußischen Provinz Posen. Auf dem Wiener Kongress von 1814 bis 1815 hatten die Siegermächte der Befreiungskriege gegen Frankreich Europa unter sich neu aufgeteilt. Preußen erhielt die Provinz Posen zugesprochen und beherrschte sie für mehr als ein Jahrhundert. Im Ergebnis des Versailler Friedensvertrags entstand 1920 der souveräne Staat Polen. Umbenannt in Wolsztyn, lag die Stadt nun im westlichen Landesteil an der Grenze zu Preußen bis zur deutschen Besetzung Polens im September 1939.

    Karl Wolffsohn erlebte in seiner Kindheit und Jugend die Rivalitäten zwischen der überwiegend polnisch-katholischen Bevölkerung und der deutsch-protestantischen Minderheit. Zwischen 1825 und 1910 lag der Anteil der Polen an den Einwohnern der Provinz relativ konstant bei knapp unter zwei Dritteln, der Anteil der Deutschen bei annähernd einem Drittel, der Anteil der Juden, zu denen auch die Familie Wolffsohn zählte, sank hingegen drastisch von 6.3 Prozent auf 1.3 Prozent. In dieser Grenzregion lebten 1817 42 Prozent, 1871 immerhin noch 19 Prozent aller preußischen Juden. Ihre anfangs hohe Konzentration wird auch daran ersichtlich, dass 1817 die jüdische Gemeinde Lissa, eine zwischen Posen und Breslau gelegene Kleinstadt, mehr Mitglieder besaß, als die jüdische Gemeinde Berlin.²

    Während der Regierungszeit Otto von Bismarcks von 1862 bis 1890 verschärfte sich der Nationalitätenkonflikt. In den europaweiten Revolutionen und Revolten des Jahres 1848 spielte die Vorstellung von einem erstrebenswerten ethnisch homogenen, territorial abgegrenzten Nationalstaat eine zentrale Rolle. Mit der Reichsgründung 1871 forcierte der preußische Staat die Germanisierungspolitik in der Provinz Posen, um die Realität einer ethnisch und religiös heterogenen Gesellschaft der Idee von der Nation gewaltsam anzupassen. Im Gegenzug erhielt die polnische Nationalbewegung enormen Zulauf, da Polen als Staat nach den drei Teilungen 1772, 1793, 1795 und dem Wiener Kongress nicht mehr existierte. Polnische Nationalisten bekämpften die Besatzungsmächte Deutschland, Russland und Österreich. 1863 halfen preußische russischen Truppen, einen Aufstand von Polen niederzuschlagen mit dem Ziel, ein Übergreifen der Unruhen auf die Provinz Posen zu verhindern. Symptomatisch für die in den 1870er Jahren erzwungene kulturelle Assimilation ist die nun allgemein verbindliche Amts- und Unterrichtssprache Deutsch. Die Repression der polnischen Kirche sollte diese mächtige Organisation der Unabhängigkeitsbestrebungen schwächen. 1885 mussten 32.000 polnisch-katholische und jüdische Arbeitsimmigranten aus dem russischen und österreichischen Teil Polens die Provinz Posen verlassen. Gegründet 1886 in der Stadt Posen, erwarb die Königlich Preußische Ansiedelungskommission Grund und Boden für deutsche Bauern aus dem Altreich, um die polnischen Bewohner zu vertreiben.³

    Für das Jahr 1890 bezifferte das „Brockhaus-Konversations-Lexikon die Einwohnerzahl Wollsteins im Kreis Bomst auf genau 2.932 Einwohner, darunter 1.201 Katholiken und 345 Israeliten. Nur indirekt, über die Konfessionszugehörigkeit, wurden somit die polnischen Wollsteiner erwähnt, jedoch verschwiegen, dass sie sich nicht als preußische Staatsbürger verstanden und provinzweit ethnische Konflikte schwelten. Bemerkenswert an Wollstein fand der „Brockhaus eher die Existenz eines Landratsamts, eines Amtsgerichts, einer evangelischen und katholischen Kirche, einer höheren Knabenund Mädchenschule, eines Postamts zweiter Klasse, einer Obstweinfabrik, nicht zu vergessen den Bahnanschluss nach Bentschen und Lissa.

    Spätestens seit dem 17. Jahrhundert lebten in Wollstein Juden. Ende des 18. Jahrhunderts lag ihr Anteil an den etwa 1.500 Einwohnern bei rund einem Drittel, 1808 sogar bei 42 Prozent, einem historischen Spitzenwert. Eine Synagoge, vernichtet durch den verheerenden Stadtbrand von 1810, wurde 1842 durch einen Neubau ersetzt.⁵ Bis auf die Gewerbefreiheit galt das von Friedrich Wilhelm III. am 11. März 1812 erlassene Emanzipationsedikt nicht in der Provinz Posen. Das Edikt stellte die 70.000 in Preußen lebenden Juden, sofern sie die preußische Staatsbürgerschaft erwarben, ansatzweise den christlichen Mitbürgern rechtlich gleich. Sie konnten fortan etwa ihren Wohnort frei wählen, Grundbesitz erwerben, bestimmte Ämter im Bildungswesen und der öffentlichen Verwaltung besetzen. Da in der Provinz Posen keine Zünfte existierten, arbeiteten viele Juden wie Karl Wolffsohns Vater als freiberufliche Handwerker.⁶ In dieser landwirtschaftlich geprägten, von der Industrialisierung kaum berührten Region herrschte jedoch eine überdurchschnittlich hohe Armut unter der Bevölkerung.

    Zwischen die Fronten des Volkstumskonflikts gerieten die Juden. Häufig zweisprachig oder einschließlich des Jiddischen dreisprachig, standen sie ihrem Selbstverständnis nach den protestantischen Deutschen näher als den katholischen Polen. Doch der aufkommende deutsche und polnische Antisemitismus richtete sich gleichermaßen gegen die kleinste religiöse Minderheit der Provinz. Trotz vermehrter Übergriffe auf und Kampagnen gegen Juden blieben ihnen allerdings bis Ende des 19. Jahrhunderts Pogrome erspart.⁷ Warum sie in jenem Zeitraum massenhaft teils nach Amerika emigrierten, teils innerhalb Deutschlands vorzugsweise nach Berlin umzogen, hatte mehrere Ursachen. Bernhard Breslauer benannte sie 1909 in seiner Denkschrift „Die Abwanderung der Juden aus der Provinz Posen" und beschrieb das Phänomen anhand statistischer Daten.⁸ Aus seiner Sicht verband die Juden die von ihnen hauptsächlich gesprochene deutsche Sprache, in die hebräische, polnische und russische Ausdrücke einflossen, eher mit den Deutschen als mit den Polen. Doch mit den Polen vereinte sie die gesellschaftliche, politische und religiöse Diskriminierung im Alltagsleben. Stellen in der kommunalen Verwaltung, im Bildungssektor und Militär blieben Juden weitgehend verschlossen. Aus taktischem Kalkül erkannte der preußische Staat sie nur dann als gleichberechtigt an, wenn er Soldaten für die Kriege etwa gegen Dänemark 1864 und Frankreich 1870/71 brauchte. Ebenso instrumentalisierte der deutsche Ostmarkenverein Juden in seinem Kampf gegen die polnischen Einwohner. Mangels geeigneter Schulen erwiesen sich die Hoffnungen jüdischer Eltern als illusorisch, durch eine höhere Bildung der Kinder deren soziale Aufstiegschancen zu verbessern. Binnenmigration oder Emigration erschien vielen als einziger Ausweg aus der Misere. Im Fall von Wollstein betrug der Anteil der Juden 1848 an den 2.718 Einwohnern noch 28 Prozent. 1885 hatte er sich bei nunmehr 2.827 Personen halbiert. 1905 galten nur noch 4 Prozent der 3.436 Bürger als jüdisch.⁹

    Mangels Quellen stößt die Familienforschung zu den Wolffsohns in Wollstein schnell an Grenzen. Fest steht, dass dort Karl Wolffsohns Vater Samuel am 6. März 1848 geboren wurde, eine Buchdruckerei besaß und das wöchentlich erscheinende Kreisblatt des Bomster Kreises verlegte. Es umfasste um die Jahrhundertwende neben amtlichen Mitteilungen lokale Nachrichten etwa über die Landwirtschaft, Schulen, Kriminalität, Veranstaltungen und einen Fortsetzungsroman. Gelesen wurde das Blatt von der deutschen Minderheit.¹⁰ Offenbar kam eine in der Provinz Posen herausgegebene deutschsprachige Zeitung einer Parteinahme im Volkstumskonflikt gleich und erklärt die für sich genommen unverständliche Angabe in einem frühen Lebenslauf Karl Wolffsohns, seine Familie habe im umkämpften Grenzland „auf einem wichtigen Vorposten deutscher Kultur¹¹ gestanden. Ergänzend druckte der Familienbetrieb, gelegen in der Bergstraße 176 gegenüber der katholischen Kirche, unter anderem Glückwunsch- und Visitenkarten, Todesanzeigen, Briefköpfe, Kataloge und Broschüren.¹² Daneben wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts gegen Provision der Shannon-Registrator¹³ beworben und der populäre „Sorauer Kalender eines anderen Verlegers vertrieben. Nach dem Tod ihres Mannes am 11. Januar 1907 führte Witwe Ernestine Wolffsohn den Schreib- und Papierwarenhandel fort, der Verlag und Druckerei angegliedert war.¹⁴ Karl Wolffsohns Mutter, Tochter von Jacob und Friederike Breslauer, kam am 8. Oktober 1847 in Wollstein zur Welt und verstarb am 5. Februar 1930 in Berlin, wo sie auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee beigesetzt wurde. Im Unterschied zum Drucker und Verleger Samuel Wolffsohn übte dessen Vater Isaak den Beruf eines Kantors aus.¹⁵ Während des Gottesdienstes betete und sang er in der Synagoge vor.

    Möglicherweise verstanden sich Karl Wolffsohns Eltern als gläubige Juden und erzogen ihre Kinder im Einklang mit den religiösen Regeln. Dass sie den eigenen Kindern mit Ausnahme von Jacob nichtjüdische Vornamen gaben, deutet auf eine angestrebte Assimilation hin.¹⁶ Ihre Großfamilie umfasste acht Kinder, zwei Mädchen und sechs Jungen.

    Cäcilie war mit Sally Littmann verheiratet, vermutlich identisch mit einem in Berlin lebenden Textilhändler.¹⁷ Einen ihrer beiden Söhne, Siegbert Littmann, wird Onkel Karl Wolffsohn von 1930 bis 1933 als Geschäftsführer seiner Kinos beschäftigen.

    Schwester Elise, Jahrgang 1878, heiratete nach dem Tod ihres ersten Mannes Siegbert Levi 1919 erneut, doch die zweite Ehe wurde geschieden. Aus unbekannten Gründen nahm sie laut eigener Aussage 1930 den Nachnamen Lent an und führte in Berlin-Charlottenburg, Niebuhrstraße 76, nahe dem Kurfürstendamm, eine Pension. Ihr Sohn Hans emigrierte im Juni 1941 in die USA. Seinen Bruder Herbert verhaftete die Gestapo am 28. Mai 1942. Nach Recherchen von Karl Wolffsohn 1952/53 fand sich in Akten des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg der Name Herbert Lent auf einer Totenliste der Anstalt Cholm im ehemaligen Generalgouvernement Polen, ergänzt um das Todesdatum 15. Juli 1942. Da die Anstalt Cholm bei Lublin seit 1940 nicht mehr existierte, handelte es sich um eine Tarnadresse, die seine Ermordung andernorts verschleiern sollte. Herbert Lents Mutter und seine Stiefschwester Grete entkamen in der Pension am 25. Oktober 1942 nur knapp ihrer Festnahme durch Gestapobeamte. Eine Freundin Elises, Alice Hils, versteckte beide in ihrer Wohnung in der Meinekestraße 9 an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Neben Hils versorgten weitere Freunde und Bekannte sie heimlich mit rationierten Lebensmitteln und Kleidungsstücken. Im August 1943 zogen Mutter und Tochter unter einer neuen Identität als Frau und Fräulein Hermann, ausgebombte Hamburger, erst nach Freiburg im Breisgau und dann in ein Dorf bei Donaueschingen. Mit Hilfe der französischen Besatzungsmacht gelangten Elise und Grete Lent 1945 via Paris, wo sie von der amerikanischen Botschaft die erforderlichen Visa erhielten, zu Hans (Harold) Lent in New York. Karl Wolffsohn unterstützte seine Schwester, die im hohen Alter mittellos in den USA lebte. Von ihr autorisiert, Entschädigungsansprüche geltend zu machen, erstritt er für sie bei der Berliner Entschädigungsbehörde ab März 1953 eine geringe Rente und eine einmalige Geldsumme.¹⁸

    Karl Wolffsohn schloss das Gymnasium in der Stadt Sorau (heute Żory, Polen) mit dem Abitur ab.¹⁹ Nach einer Lehre im väterlichen Betrieb ging er 1900, im Alter von 19 Jahren, nach Berlin und arbeitete dort zunächst als Setzer.²⁰ Es folgte eine Druckerlehre im Berliner Ullstein Verlag.²¹ Sich gegen eine Vielzahl von Bewerbern durchzusetzen, um in einem der größten deutschen Verlagshäuser ausgebildet zu werden, verweist auf erhebliche Vorkenntnisse, vom Lehrherren erkannte überdurchschnittliche Fähigkeiten und eine ungewöhnliche Zielstrebigkeit. Neben technischen Kenntnissen des Buchdrucks eignete er sich kaufmännisches Wissen an. Unter der Leitung von Rudolf Ullstein arbeiteten in der Druckerei 1896 bereits 320 Personen, darunter 53 Setzer, 25 Drucker und 17 Stereotypeure. 1898, als die erste Ausgabe der bis in die Gegenwart bestehenden Tageszeitung Berliner Morgenpost erschien, stieg der Personalstand auf 348 und erreichte 1899 den vorläufigen Spitzenwert von 581.²² Gedruckt wurden im Verlagshaus in der Kochstraße bis zur Jahrhundertwende Zeitschriften und Zeitungen, während die 1890 eröffnete Buch- und Kunstdruckerei in der anliegenden Markgrafenstraße anfangs ausschließlich Fremdaufträge ausführte. Das änderte sich erst 1903, als der jüdische Lektor Emil Herz (1877-1971) den Ullstein Buchverlag gründete und drei Jahrzehnte lang leitete, bis ihn die neue nationalsozialistische Unternehmensführung 1933 entließ.²³ Mitte 1934 erwarb der Parteiverlag Franz Eher den Ullstein Konzern zum Spottpreis. Mit Herz kam Karl Wolffsohn wahrscheinlich Anfang der 1920er Jahre in beruflichen Kontakt. Unterbrochen durch ihre beiderseitige Verfolgung während der NS-Herrschaft und die Flucht in verschiedene Exilländer, korrespondierten beide wieder in den 1950er Jahren.

    Von den fünf Brüdern Karls waren Heinrich und Willy Zwillinge, geboren am 8. Februar 1875. Im Alter von nur 24 Jahren, 1899, gründete Heinrich in Berlin eine Fabrik für Textilfärberei und wasserdichte, flammensichere Imprägnierungen. In einer Werbeanzeige 1907 empfahl er sich als Hoflieferant und Hofimprägnateur. Dank guter Geschäfte seiner schließlich im Handelsregister eingetragenen Heinrich Wolffsohn GmbH, gelegen in Friedrichshain, Blumenstraße 32, entstand 1910 ein zweites Unternehmen. Die Heinrich Wolffsohn & Co. mit Sitz in Grünau, Cöpenickerstraße 37-38, umfasste Bleicherei, Appretur-Anstalt, Färberei und die Herstellung von Baumwollwaren.²⁴ Aus der Ehe Heinrichs mit Alice Cohn-Höxter ging die Tochter Margot (1903-1974) hervor, von Oktober 1927 bis Mai 1928 in zweiter Ehe verheiratet mit Rudolf Kurtz (1884-1960), Filmpublizist, Schriftsteller und Szenarist. Karl Wolffsohn wird in seinem Filmfachblatt Lichtbildbühne (LBB) nach dem Ersten Weltkrieg Kritiken von Kurtz veröffentlichen²⁵ und mit ihm bis zum Lebensende in Verbindung bleiben. Mütterlicherseits war der Schriftsteller und Filmemacher Thomas Brasch (1945-2001) mit Margot verwandt und widmete ihr postum das Gedicht „Meine Grossmutter".²⁶

    Willy betrieb mit Karl seit 1901 die Buch- und Kunstdruckerei Gebr. Wolffsohn mit Sitz in der Kreuzberger Naunynstraße 38. Für dieses gemeinsame Unternehmen, wohl zuständig für Werbung, Akquise und Vertrieb, stellten beide unter derselben Adresse, Frankfurter Straße 22, aber jeweils unter ihrem eigenen Namen Druckerzeugnisse her. Trotz enger Zusammenarbeit bis zum frühzeitigen Tod Willys am 25. November 1914 bewahrte sich jeder eine gewisse geschäftliche Unabhängigkeit.²⁷

    Welche Produkte die Buch- und Kunstdruckerei Gebr. Wolffsohn in den ersten Jahren herstellte und wer ihre Auftraggeber waren, bleibt bis auf eine Ausnahme im Dunkeln: eine juristische Dissertation von Kurt Spuhl, eingereicht 1906 an der Universität Jena. Wie viele solcher Doktorarbeiten auch immer hergestellt worden sein mögen, von solchen Aufträgen allein konnte das Kleinunternehmen nicht existieren.²⁸

    Warum spätestens 1908 Willy die Buch- und Kunstdruckerei Gebr. Wolffsohn verließ und von den Brüdern Max und Jacob abgelöst wurde, lag vermutlich daran, dass er sich auf seine eigene Buchdruckerei konzentrierte. Gegründet 1905, lag sein Geschäftslokal in Kreuzberg, Adalbertstraße 5, nahe dem U-Bahnhof Kottbusser Tor.²⁹

    Max, Jahrgang 1885, und damit der Jüngste von allen Geschwistern, wohnte seit 1902 in der Chausseestraße 62 in Berlin-Mitte. Seine wechselnden Berufsangaben lauteten Kaufmann, Privatier, Buchdruckereibesitzer. Im Testament, verfasst kurz vor dem Ersten Weltkrieg, bezeichnete er sich als Geschäftsführer in Wollstein. Ob er einen eigenen oder den ehemals väterlichen Betrieb leitete, ist ungewiss. Wie Jacob blieb Max ledig und starb mit nur 34 Jahren am 14. Februar 1919 in Wollstein an den Folgen einer Krankheit.³⁰

    Jacob (auch Jakob/Jacques/Jack), geboren am 19. April 1880, meldete sich im August 1914 sofort freiwillig zum Kriegsdienst. Sein Studium der Rechtswissenschaft, nach einer anderen Version der orientalischen Sprachen,³¹ gab er deshalb auf. An der Ostfront geriet der Vizefeldwebel am 18. Februar 1915 in russische Gefangenschaft und galt seitdem als vermisst. Mit Datum der Gefangennahme ließ ihn sein Bruder Georg, von Beruf Rechtsanwalt, 1920 rückwirkend für tot erklären.³²

    Seit Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der Film weltweit zu einer kapitalistischen Industrie. Für den deutschen Staat war der Film bis zum Ende der Weimarer Republik vor allem als Steuerquelle und Devisenbringer wichtig. Zudem behielt er sich die Filmzensur vor. Nur selten und dann episodisch gründete der Staat vor der NS-Diktatur eigene Unternehmen wie die Universum-Film AG (UFA) Ende 1917 oder wurde Mehrheitseigentümer einer privaten Firma wie 1929 bei der Emelka, um in der expandierenden Branche seine in erster Linie politischen Interessen durchzusetzen. Zahllose rechtliche Fragen warf das neuartige Massenmedium auf. Beispielsweise galt es zu klären: Wer ist der Urheber eines Films? Wie muss ein Vertrag zwischen Filmproduzent und Schriftsteller bei der Adaption seiner literarischen Vorlage gestaltet sein? Hat der Drehbuchautor einen Anspruch darauf, dass sein angekauftes Manuskript verfilmt wird? Um unnötige und kostspielige gerichtliche Prozesse zu vermeiden, in denen jedes Mal aufs Neue zwischen den Parteien strittige, gleichwohl ähnliche Fälle entschieden wurden, bedurfte es allgemein anerkannter Regeln. Einer der ersten zwischenstaatlichen Regelungen war die revidierte Berner Konvention zum Urheberrecht von 1908. Zwei Jahre später setzte Deutschland den Beschluss von Bern durch eine Novelle des Urheberrechts um und berücksichtigte ansatzweise die noch junge Kinematographie.³³ Nur wenige Rechtsanwälte beschäftigten sich mit der neuen Materie und gaben entscheidende Anstöße zu einem Filmrecht. Dabei musste es Schritt halten mit der rasanten technischen Entwicklung des Mediums, was allerdings nur unzureichend gelang. Noch 1927 beklagte Karl Wolffsohns langjähriger Chefredakteur der LBB, Hans Wollenberg (1893-1952),³⁴ selbst promovierter Rechtsanwalt: „Bei (…) der wirtschaftlichen und kulturellen Weltgeltung des Films ist es mehr als befremdlich, daß die gesetzgeberischen Grundlagen des Filmrechts höchst lückenhaft und wenig tragfähig sind."³⁵

    Zu den Wegbereitern eines Filmrechts zählte Georg Wolffsohn, geboren am 19. Mai 1883.³⁶ Nach dem Abitur am Berliner Sophien-Gymnasium begann er im Oktober 1903 ein sechssemestriges Jura-Studium an der Berliner Universität. Am 12. April 1907 fand vor dem Königlichen Kammergericht die erste juristische Staatsprüfung statt. Im November vereidigte man den Referendar in Bentschen, Provinz Posen. Seit April 1911 beschäftigte ihn das Oberlandesgericht (OLG) Posen. Im September promovierte er an der Universität Jena.³⁷ Seit Mitte 1912 arbeitete der Rechtsanwalt am Berliner Landgericht I. Seine erste Berliner Geschäftsadresse stammt aus dem folgenden Jahr: Friedrichstraße 236, gelegen im städtischen Filmzentrum.³⁸ Rund um die Friedrichstraße versammelten sich die Zentralen und Filialen internationaler Produktions- und Verleihfirmen. Zum Mandantenkreis Georg Wolffsohns gehörte der Regisseur und Produzent Lupu Pick (1886-1931), Inhaber der Rex-Film GmbH. Er berief seinen bevorzugten Rechtsanwalt in den Aufsichtsrat, sobald 1923 die GmbH in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde.³⁹ Wahrscheinlich über seinen Bruder kam Karl Wolffsohn 1928 mit Lupu Pick in Kontakt. Dieser suchte wegen schlechter Geschäfte seiner Gesellschaft dringend einen Nachfolger, der ihm seine Kapitalbeteiligung an dem neu eröffneten Großkino Lichtburg in Essen abkaufte.

    1924 zum Notar bestellt, regelte Georg Wolffsohn auch vorher schon familieninterne juristische Angelegenheiten. Wider Erwarten vertrat er nicht die Rechtsinteressen Karl Wolffsohns bei dessen zahlreichen Prozessen gegen natürliche oder juristische Personen der Filmbranche. Der Fachanwalt für Filmrecht schrieb aber hin und wieder Artikel für die LBB.⁴⁰ Im Alter von nur 48 Jahren starb Georg Wolffsohn am 19. März 1931. Drei Tage später fand die Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee statt. Unter den Hinterbliebenen befanden sich die Witwe Ilse, geb. Meyerhof, und die Töchter Ursel und Ellen.⁴¹

    Auffällig ist, dass nicht nur Karl, sondern auch Max und Willy das Druckerhandwerk und Verlagsgeschäft erlernten. Eine gewisse Affinität zu diesem Beruf ergab sich zwangsläufig in einem Haushalt, in dem die „schwarze Kunst" den Alltag prägte. Anzunehmen ist, dass Vater Samuel unter den Söhnen Nachfolger ausgewählt und gefördert hat. Von allen Brüdern, soweit sie ebenfalls Firmen leiteten, erwies sich Karl als der langfristig erfolgreichste Unternehmer. Die Heinrich Wolffsohn GmbH tauchte 1920 nicht mehr im Berliner Adressbuch auf, wenngleich sich der Inhaber unter seiner Privatadresse noch Fabrikbesitzer nannte. Willys Druckerei führte nach seinem Tod 1914 Witwe Margarete, anschließend ihr Sohn Hans Wolffsohn fort. Doch infolge der lang anhaltenden Wirtschaftskrise musste das Unternehmen 1932 schließen.

    1: Karl Wolffsohn Anfang der 1910er Jahre

    Verleger der LBB

    1910 erhielt die zwei Jahre zuvor ins Handelsregister eingetragene Buch- und Kunstdruckerei Gebr. Wolffsohn GmbH den folgenreichen Auftrag, die landesweit vertriebene Filmfachzeitschrift LBB herzustellen. Im selben Jahr entschied der Geschäftsführer der Druckerei, Karl Wolffsohn, mit deren Inhabern Max und Jacob Wolffsohn, das Blatt zu erwerben und fortan zu verlegen. Nach Max’ Tod 1919 und Jacobs Todeserklärung im folgenden Jahr ordneten die Erben die Unternehmensverhältnisse neu. Bis 1923 übertrugen sie ihre Firmenanteile Karl Wolffsohn, so dass ihm die von Anfang an selbst geleitete GmbH nun auch allein gehörte.⁴² 1924, am Beginn einer auf die Hyperinflation folgenden wirtschaftlichen Stabilisierung, gelang es Karl Wolffsohn, einen langfristig engagierten Großinvestor zu finden: Der Ullstein Konzern wurde Minderheitsgesellschafter seiner Firma und blieb es bis 1933.

    Gilt der Film aktuell älteren Künsten wie Malerei und Literatur als gleichrangig, erlebte Karl Wolffsohn am Beginn seiner Verlegerlaufbahn 1910 das genaue Gegenteil. Kinoenthusiasten wie er kämpften gegen lautstarke und mächtige Kinofeinde. Selbsternannte Sittenwächter, darunter Lehrer, Hochschulprofessoren und Kirchenleute, verdammten in Vorträgen und Publikationen den Kinematographen als zivilisationsschädigend. Dank seiner außergewöhnlichen visuellen Suggestionskraft wirke das laufende Bild auf sein minderjähriges und gering gebildetes erwachsenes Publikum aufreizend, wecke durch die mit Vorliebe detailliert gezeigten grauenvollen Verbrechen und schockierenden Obszönitäten die niedrigsten menschlichen Instinkte. Im schlimmsten Fall würden moralisch unsichere Kantonisten angestiftet, den gerade gebannt auf der Leinwand verfolgten Mord und Raub außerhalb des Kinos nachzuahmen.

    Was vor diesem Hintergrund waghalsig anmutete, nämlich eine erst zwei Jahren alte, im ersten Quartal 1910 wegen finanzieller Schwierigkeiten nicht mehr erschienene und nur wenigen Insidern bekannte Filmfachzeitschrift aufzukaufen, erwies sich mittelfristig als richtige, profitable Entscheidung.

    Trotz zyklischer wirtschaftlicher Krisen entwickelte sich die anfangs winzige Buchund Kunstdruckerei Gebr. Wolffsohn im Verlauf von drei Jahrzehnten zu einem mittelständischen Unternehmen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg verlagerte sich der Firmensitz von der Naunynstraße in die Michaelkirchstraße 17 am Rande des Zeitungsviertels. Wo Zeitungsviertel und Filmzentrum sich berührten, in der Friedrichstraße 225 nahe dem Sitz von Ullstein in der Kochstraße, bezog Karl Wolffsohns Firma 1921 erheblich größere Gewerberäume für Verlag, Druckerei, Buchbinderei und Klischeeanstalt. Zehn Jahre später zählte die Gebr. Wolffsohn GmbH 150 Mitarbeiter.⁴³ Wichtigstes Printmedium blieb die seit März 1925 täglich bis auf sonntags erscheinende, zunehmend illustrierte LBB.⁴⁴ Sie erzielte den Großteil des Verlagsumsatzes, sei es durch einen festen Stamm von Abonnenten, darunter vorrangig Kinobetreiber und Verleiher, sei es durch Anzeigen von Filmgesellschaften und ihren Zulieferern. Daneben erschien von 1920 bis 1929 unregelmäßig das mehrsprachige, teilweise farbig gedruckte und reich illustrierte Export-Journal Film-Express, um dem deutschen Film nach dem Ende des Ersten Weltkriegs den Zugang zu den Märkten insbesondere ehemaliger Feindstaaten zu erschließen.⁴⁵ Obwohl die Zeitschrift Der Lehrfilm, gestartet im Februar 1920, nach nur wenigen Ausgaben am Jahresende ihr Erscheinen wieder einstellte, widmeten sich die anstelle dieses Blatts seit April 1921 herausgegebenen Kinematographischen Monatshefte weiterhin schwerpunktmäßig technischen und ästhetischen Fragen des wissenschaftlichen Films. Diese monatliche Beilage der LBB wurde 1926 umgetitelt in Der Filmspiegel, thematisch erweitert und stärker bebildert, um den Kreis ihrer Fachleser zu vergrößern.⁴⁶

    Nicht aus kommerziellen Gründen, sondern um das gesellschaftliche Ansehen der Filmindustrie zu heben und für den eigenen Verlag zu werben, gab Karl Wolffsohn ein stetig erweitertes Sortiment an teilweise unentbehrlichen Filmfachbüchern heraus, darunter den handlichen „Kino-Kalender seit 1912, das „Reichs-Kino-Adressbuch seit 1918, das „Jahrbuch der Filmindustrie" seit 1923, außerdem Ratgeber für Kinobetreiber und Kameramänner, Bücher zu aktuellen Filmen und Stars.

    Aus dem Sammeln statistischer Daten für die Nachschlagewerke „Kino-Kalender, „Reichs-Kino-Adressbuch und „Jahrbuch der Filmindustrie" entstand eine Dienstbibliothek. Sie umfasste internationale Periodika und Monografien. Ergänzend wurden filmbezogene Archivalien gesammelt: Fotos, Schriftgut, darunter Werberatschläge und Korrespondenz, vereinzelt auch technische Geräte.⁴⁷ Das LBB-Archiv mit der Fachbibliothek galt international als einzigartig, denn in der Weimarer Republik verfügte selbst die Preußische Staatsbibliothek in Berlin nur in bescheidenem Umfang über Filmliteratur.⁴⁸ Von Karl Wolffsohn allein finanziert, erklärte er das LBB-Archiv bei einer Feier im Beisein von Filmindustriellen und Filmjournalisten am 30. Mai 1927 für öffentlich zugänglich.⁴⁹ Zu den Hauptnutzern zählten internationale Studenten und Professoren, Filmpolitiker und Filmpublizisten. Wolffsohn führte mitunter selbst prominente Besucher wie den kanadischen Dokumentaristen Robert Flaherty 1931 durch sein Archiv. Im Unterschied zu seinen Zeitgenossen erkannte der Herausgeber der LBB den Film frühzeitig als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung an und stellte hierfür die Quellen bereit. Erworben wurde nicht nur die aktuelle, sondern auch die aus der Anfangszeit des Kinematographen stammende Literatur. Nur in seiner Bibliothek konnte der Leser nahezu sämtliche Dissertationen einsehen, die an deutschen Universitäten in steigender Zahl zu filmjuristischen, filmtechnischen und filmwirtschaftlichen Themen entstanden, aber zumeist nur in wenigen unveröffentlichten Exemplaren vorlagen. 1930 hatte Hans von Eckardt (1890-1957), Professor für Staatswissenschaften und Direktor für Zeitungswesen an der Universität Heidelberg, das „Jahrbuch der Filmwirtschaft" mit seinen statistischen Daten als grundlegende Quelle einer künftigen Filmwissenschaft gewürdigt.⁵⁰ Anfang 1933 wollte er stellvertretend für die Heidelberger Universität, Karl Wolffsohn den Titel doctor honoris causa verleihen. Dieser erinnerte nach dem Krieg den im April 1933 aus politischen Gründen entlassenen und 1946 wieder berufenen Soziologieprofessor Hans von Eckardt an die Gründe für das gescheiterte Vorhaben:

    „Es war (…) bereits zwischen Ihnen und mir schon ein Tag festgelegt worden, an dem ich in Ihrem Institut Vortrag über die Entwicklung des Filmes in Deutschland halten sollte, jedoch ist dieser Termin mit Rücksicht auf die damals in Heidelberg sich zuspitzenden Verhältnisse abgesagt worden."⁵¹

    2: Karl und Recha Wolffsohn 1924

    Gerade in der kritischen Phase der Existenzgründung in den 1910er Jahren, überschattet vom Verlust des Mitgesellschafters und Soldaten Jacob, lastete ein Großteil der unternehmerischen Verantwortung auf Karl Wolffsohn. Denn auch Bruder Max kümmerte sich bis zu seinem Tod wohl nur nebenbei um die Gebr. Wolffsohn GmbH, hauptberuflich hingegen um den Familienbetrieb in Wollstein. Karl Wolffsohns tägliches Arbeitspensum, um die damals noch wöchentlich am Sonnabend erscheinende Ausgabe der LBB druckfertig vorzubereiten, dürfte hoch gewesen sein. Redaktionskonferenzen, Gespräche mit Filmindustriellen, die Neuigkeiten über aktuelle und künftige Projekte lieferten, Besuche ausgewählter Premieren in Berlin, zu denen ihn die Verleiher und Kinobesitzer einluden, Versammlungen von Verbänden wie der Filmpresse und sonstige Verpflichtungen ließen kaum Zeit für ein Privatleben.

    Trotzdem hielt seine einzige Ehe mit Recha Landecker ein Leben lang. Beide lernten sich um 1904 wahrscheinlich in Berlin kennen. Recha, eine von vier Töchtern des Kaufmanns Hermann Landecker und seiner Ehefrau Doris, geborene Moses, wurde am 10. November 1887 in Exin, Kreis Schubin, geboren, stammte somit ebenfalls aus der Provinz Posen, jedoch aus einer Kleinstadt mit überwiegend polnischen Einwohnern südwestlich von Bromberg. Ihre Mitgift muss erheblich gewesen sein, denn sie lieh ihrem Mann Geld für sein Unternehmen. Anlässlich der Hochzeit am 26. Mai 1914, gefeiert in Berlin, schenkte Karls Bruder Willy dem Ehepaar eine selbst gedruckte, originelle, Braut und Bräutigam gewidmete Sonderausgabe der LBB.⁵² Gestaltet hatte die „Jubelnummer zur Hochzeitfeier" der Filmarchitekt und Regisseur Paul Leni (1885-1929). Das markante Design des Umschlags, eine helle Maske auf schwarzem Grund mit farbigem Titelschriftzug, entsprach dem von Leni entworfenen regulären LBB-Cover. Die Hochzeitsreise ging nach Baden-Baden und Triberg im Schwarzwald. Recha Wolffsohn, gelernte Kauffrau, gab ihre berufliche Tätigkeit für immer auf.⁵³ Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor: Willi (15. November 1916-2. Juni 1991) und Max (9. Juni 1919-1. Februar 2000). Sie trugen dieselben Vornamen wie die beiden verstorbenen Brüder des Vaters.⁵⁴

    Im Gegensatz zu Jacob, der freiwillig in den Ersten Weltkrieg zog, drückte sich Karl Wolffsohn erfolgreich vor seiner Einberufung zum Militär. Preußens Glanz und Gloria war seine Sache nicht; den Krieg als „reinigendes Gewitter" zu bejubeln, wie es viele deutsche Intellektuelle und Künstler taten, lag ihm persönlich fern. Hingegen teilte seine LBB die anfangs noch vorherrschende Kriegsbegeisterung.

    3: Umschlag der LBB, Nr. 97, 4.6.1910

    Das Ehepaar wohnte bis 1919 in Berlin-Kreuzberg, Cöpenicker Straße 129, zog dann nach Charlottenburg in die Mommsenstraße 16 und von dort 1936 in die parallel liegende Sybelstraße 67 um.

    Ganz in der Nähe befand sich nicht nur der Kurfürstendamm, sondern auch der Lebensmittelpunkt von Familienangehörigen. Georg wohnte bis zu seinem Tod 1931 in der Sybelstraße 66, Heinrich in der Schlüterstraße 32 und Mutter Ernestine in der Niebuhrstraße 4.⁵⁵

    Seinen 75. Geburtstag 1956 feierte Karl Wolffsohn im engsten Familienkreis in Berlin. In einem für den Jubilar inszenierten, auf Tonband aufgezeichneten „Hörspiel ließen Recha, Max und Willi Wolffsohn sein Leben Revue passieren, brachten ihre Zuneigung zum Vater und Ehemann zum Ausdruck, ließen es sich aber nicht nehmen, auch problematische Seiten seiner Persönlichkeit anzusprechen. So nannten sie ihn, halb scherzhaft, halb ernst gemeint, „Caesar August. Angespielt wurde auf seine mitunter herrische, rechthaberische Art. Überzeugt, die Ruhe selbst zu sein, nahmen ihn Außenstehende hingegen als rastlos wahr.⁵⁶ Charismatisch und charmant konnte er ebenso sein wie cholerisch.⁵⁷

    Kino- und Varietébetreiber, Filminvestor und Berater

    Der Verleger der LBB und von Filmfachbüchern Karl Wolffsohn erweiterte am Beginn der Weimarer Republik sein Geschäftsfeld. Er wurde Minderheitsgesellschafter eines der größten Berliner Varietés, der am 2. September 1920 eröffneten Scala in der Lutherstraße 22-24, Ecke Augsburger Straße, nicht weit entfernt vom Kurfürstendamm, wo sich die konkurrierenden städtischen Premierenkinos konzentrierten. Beteiligt war er sowohl an der im Vorjahr gegründeten Scala-Palast GmbH, die die eigene Immobilie verwaltete, und der Scala-Theater GmbH, zuständig für den Betrieb des Varietés. Am 1. Februar 1929 nahm im umgebauten ehemaligen Ostbahnhof am Küstriner Platz das Varieté Plaza seinen Spielbetrieb auf, eine Filiale der Scala.⁵⁸ Beide Häuser boten täglich mehrere Vorstellungen für jeweils maximal 3.000 Zuschauer. In Berlin waren sie nur mit einem einzigen gleichrangigen Wettbewerber konfrontiert: dem Wintergarten im Central-Hotel am Bahnhof Friedrichstraße. Dessen Direktor Ludwig Schuch (1885-1939) hatte wie Karl Wolffsohn zu den Gründungsgesellschaftern und vorübergehend auch zu den Geschäftsführern der Scala gehört, bevor er das Unternehmen verließ und ab 1928 den Wintergarten leitete. Der Fachmann für Kinotechnik stattete mit seiner Berliner Kino-Schuch GmbH Filmtheater aus. Ende 1929 erwarb die Scala unter Generaldirektor Jules Marx (1882-1944) weitere ähnlich große Unterhaltungsbetriebe: die Flora in Hamburg, Unter den Linden in Leipzig und das Apollo in Mannheim. Zusammen mit dem 1928 von der Stadt Dortmund gepachteten Olympia (ehemals Burgwall-Theater) entstand Deutschlands größter, allerdings nur kurzfristig bestehender Varieté-Konzern.⁵⁹ Am 14. Januar 1933 brannte in Rotterdam das seit 1926 zum Scala-Konzern gehörende Großvarieté Arena ab.⁶⁰

    Daneben legte Karl Wolffsohn Teile seines Vermögens in Wertpapieren ausgewählter deutscher Filmaktiengesellschaften an, ergriff auf Aktionärsversammlungen das Wort und engagierte sich in Aufsichtsräten. Seine ausgezeichneten Insiderkenntnisse über die wirtschaftliche Lage der Filmbranche und ihrer einzelnen Unternehmen nutzten gelegentlich Filmkonzerne und die Reichsregierung, indem sie ihn als Berater bei geplanten Fusionen hinzuzogen.

    Hingegen war nach dem amerikanischen Börsencrash am „Schwarzen Freitag", dem 19. Oktober 1929, der in Deutschland eine lang anhaltende schwere Rezession auslöste, ein schneller Rückzug aus Kinos und Varietés nicht so einfach möglich. Solche verlustreichen Unterhaltungsbetriebe wollte nun niemand übernehmen, es sei denn zu drastischen Preisnachlässen.

    Ab 1928 hatte Karl Wolffsohn mehrere Kinos langfristig gepachtet: in Köln die Lichtspiele des Westens und die Lichtspiele des Zentrums, in Düsseldorf die Alhambra, in Essen und Berlin zwei Lichtburg genannte große Filmtheater. Kurz nachdem die neu erbaute Essener Lichtburg mit 2.000 Plätzen im Oktober 1928 eröffnete, übernahm er die Betriebsgesellschaft zur Hälfte. Zunächst teilte er sich den Pachtbesitz mit lokalen Geschäftspartnern, 1930 erwarb er dann deren Anteile und war fortan Alleinpächter. Bei der Berliner Lichtburg nahm Wolffsohn schon im Planungsstadium auf die Innenausstattung Einfluss und finanzierte den Bau mit. Dieses Kino, gelegen am Bahnhof Gesundbrunnen im Bezirk Wedding, entstand im Verlauf des Jahres 1929 als kulturelles Zentrum der Gartenstadt Atlantic und fasste ebenfalls 2.000 Zuschauer. Im Unterschied zu seinen sonstigen Kinos war die Berliner Lichtburg von Anfang an auf ihn als alleinigen und dauerhaften Pächter zugeschnitten. Er und der Bauherr dieser Wohnanlage mit Geschäften hatten den Pachtvertrag bereits im Januar 1929 unterzeichnet, also lange vor dem ersten Spatenstich auf der Baustelle. Ein Sonderfall stellt die kurzfristige Geschäftsleitung des Olympia-Varietés in Dortmund 1932/33 dar. Als Mitinhaber des Scala-Konzerns leistete Wolffsohn den übrigen Gesellschaftern einen Freundschaftsdienst. Da er im Gegensatz zu ihnen den Publikumsgeschmack im Rheinland gut kannte, erfüllte er die Bitte seiner Geschäftspartner um Jules Marx und versuchte, die Dortmunder Filiale vor dem drohenden Bankrott zu retten. Ob ihm das mittelfristig gelungen wäre, lässt sich nicht beantworten, denn im März 1933 beschlagnahmten SA- und SS-Männer das Theater zugunsten des städtischen Verpächters.

    Nicht zufällig investierte der Verleger der LBB, die ihrem Anspruch nach die Gesamtinteressen der Filmindustrie publizistisch vertrat, überwiegend und langfristig ins Kinound Varietégewerbe statt ins Produktions- und Verleihgeschäft. Inhaber oder Teilinhaber eines Verleihers oder Filmherstellers zu werden, hätte der Unabhängigkeit und Überparteilichkeit seines Fachblatts widersprochen. Konkurrierende Verleger der Periodika Film-Kurier, Der Kinematograph (später Kinematograph) und Der Film konnten ihm gegebenenfalls berechtigt vorwerfen, geschäftliche Interessen und journalistische Pflichten fragwürdig zu vermengen und damit dem mühsam errungenen Ansehen der deutschen Filmfachpresse zu schaden. Wie würden von Wolffsohn in Personalunion hergestellte oder an Kinos vermietete Filme in der LBB rezensiert werden? Wären Verrisse seiner eigenen Erzeugnisse überhaupt vorstellbar? Fiele nicht die Filmkritik wieder in ihren alten, nie vollständig überwundenen Zustand der bloßen Produktreklame zurück? Der langjährige Filmkritiker Paul Marcus (1901-1972), besser bekannt unter seinem Pseudonym PEM, konstatierte rückblickend:

    „Am Anfang war der ‚Waschzettel‘, die Notiz, die der Kinobesitzer mit dem Inserat an die Zeitungen sandte und die dann im geschäftlichen Teil erschien. E. A. Dupont, der Sohn des ersten Chefredakteurs der Berliner Illustrirte Zeitung, war der erste Journalist, der sich ernsthaft mit dem neuen Medium auseinandersetzte; er schrieb in der BZ am Mittag bei Ullstein die ersten Filmkritiken. (…) Kurz nach dem ersten Weltkrieg gab sodann Egon Jameson [das ist Egon Jacobsohn] die Filmhölle heraus; ein Filmblatt; das sich weigerte, Inserate aufzunehmen, um unabhängig bleiben zu können. Es ging elend zugrunde."⁶¹

    Da ein beträchtlicher Teil des Umsatzes aus Anzeigenerlösen vorzugsweise großer Filmgesellschaften stammte, unterlagen die Verleger der Filmfachpresse einem ständigen Druck, nicht durch allzu viele vernichtende Premierenkritiken ihrer angestellten Redakteure einen lukrativen Inserenten zu verlieren. Wie sorgsam die marktbeherrschenden Konzerne nicht nur Rezensionen uraufgeführter Filme aus ihrem aktuellen Programm, sondern auch Meldungen über die eigene Firma etwa in der LBB studierten, zeigt ein gegen sie verhängter Anzeigenboykott ab Mitte 1928 seitens der UFA und ihrer Tochtergesellschaften. Dieser richtete sich auch gegen den „Kino-Kalender, das „Reichs-Kino-Adressbuch und das „Jahrbuch der Filmindustrie". UFA-Theater kündigten ihre Abonnements der LBB. Ihre Redakteure erhielten weder Premierenkarten noch Informationen. Im Oktober untersuchte die UFA-Rechtsabteilung, ob die aus ihrer Sicht beleidigenden und irreführenden Artikel eine Stornierung laufender Anzeigenaufträge rechtfertigten. Im Ergebnis wurde der UFA-Direktion empfohlen, auf einen kaum zu gewinnenden Prozess zu verzichten. Im Dezember 1928 besprachen die Vorstandsmitglieder einen firmenintern erstellten „Bericht über den verderblichen Einfluss der Licht-Bild-Bühne. Aufgelistete Schlagzeilen UFA kritischer Artikel sollten deren systematische rufschädigende „Hetzkampagne beweisen. Eingesetzt hätte sie, so erfuhren die Vorstände, mit der Strafanzeige und Entlassung des früheren UFA-Verleihchefs Siegmund Jacob (1874-1944) im März 1927.⁶² Ihrem ehemaligen Vorstandsmitglied warf die UFA unter ihrem neuen Mehrheitsaktionär Alfred Hugenberg (1865-1951) vor, zu überhöhten Preisen schlecht laufende amerikanische Filme gemietet und dadurch einen Schaden in Höhe von insgesamt 1.600.000 RM verursacht zu haben. Da jedoch der Vorstand kollektiv dem Verleih dieser Filme zugestimmt hatte, bestand für den Kläger keine Aussicht, den am 18. Juni 1928 vor dem Berliner Landgericht begonnenen Zivilprozess zu gewinnen. Dessen Zweck bestand offenbar allein darin, durch die öffentlich erhobenen Anschuldigungen gegen Jacob ihn in der Filmbranche zu diskreditieren. Wolffsohn sah sich zu einem Dementi gezwungen, er sei von dem Angeklagten bestochen worden.⁶³ Die Vorwürfe resultierten aus firmeninternen Prüfungen der dubios erscheinenden Geschäftspraktiken des einstigen UFA-Verleihchefs. ⁶⁴ Dabei stieß die UFA-Revision bei den Ausgaben für Anzeigen in den Jahren 1925 bis 1926 – verglichen mit dem Film-Kurier Alfred Weiners und dem nunmehr hauseigenen Scherl-Blatt Kinematograph – auf überdurchschnittliche Zahlungen an Wolffsohns Verlag. Daher entstand der Verdacht, Jacob habe Wolffsohn begünstigt. Dieser verdächtigte wiederum den Erzrivalen Weiner, der UFA „belastendes" Material zugespielt zu haben. Willi Münzenbergs parteikommunistische Tageszeitung Die Welt am Abend hielt dem LBB-Verleger vor, sich Jacobs Anzeigenaufträge mit Schmiergeld erkauft zu haben, wogegen der Beschuldigte sich gerichtlich zur Wehr setzte.⁶⁵ Zusätzlich angefacht wurde der Konflikt zwischen Wolffsohn und der UFA durch eine angebliche judenfeindliche Äußerung von Vorstand Otto Gerschel. Wolffsohn erfuhr davon über Dritte. In einem Gespräch mit Wolffsohn bestritt Gerschel die ihm zugeschriebene Aussage vom „jüdischen Geist". Es spricht für den Verleger der LBB, trotz einschneidender Umsatzeinbußen dem Boykott des Großkunden erstaunlich lange standgehalten zu haben. Erst 1930 infolge eines Friedensgesprächs mit Generaldirektor Ludwig Klitzsch (1881-1954) wurden die Geschäftsbeziehungen wieder aufgenommen, blieben aber von dem vorausgehenden Konflikt belastet. Auch wenn die UFA nun eine positivere Bewertung ihrer Filme wahrnahm, diente die LBB dem Unternehmen nie als „Hofberichterstatter".⁶⁶

    Dagegen stellte ein Engagement im Kino- und Varietégewerbe nicht zwangsläufig die verlegerisch zu wahrende Distanz zu einzelnen Branchenunternehmen infrage. Im Unterschied zur UFA, Emelka und sonstigen Filmgesellschaften mit eigenem Theaterpark mietete und zeigte Karl Wolffsohn in seinen gepachteten Lichtspielhäusern Filme verschiedener internationaler Hersteller und ihrer regionalen Verleiher. Wie bei den Anzeigenkunden der LBB bestand nur dann eine Gefahr wirtschaftlicher und hieraus folgender publizistischer Abhängigkeit, wenn einzelne Firmen das Filmprogramm beherrschten. Doch anhand der ausschnitthaft bekannten Spielpläne seiner Kinos in Westdeutschland und in Berlin ist auszuschließen, dass irgendwelche Filmfirmen bevorzugt wurden. In der Regel entschieden die von ihm eingesetzten Geschäftsführer in Kenntnis lokaler Publikumspräferenzen und des regionalspezifischen Verleihangebots, welche Filme im zumeist wöchentlich wechselnden Programm liefen. Obwohl die LBB von Mitte der 1920er Jahre bis Anfang der 1930er Jahre einmal monatlich die ein- bis zweiseitige Beilage „Bühnenschau" enthielt, ergab sich kein erkennbarer Interessenkonflikt zwischen dem Verleger und dem Varietébetreiber Karl Wolffsohn. Während das Dortmunder Olympia-Varieté nur wenige Monate von ihm betrieben wurde, zählte er langfristig zu den Miteigentümern von Scala und Plaza. Dennoch erschienen Anzeigen beider Varietés in der LBB-Beilage so gut wie nie, kurze Inhaltsangaben aktueller Programme schon, aber vermischt mit denen anderer Berliner Varietés und Lichtspieltheater. Wie bei der Berliner und Essener Lichtburg zählte eine Bühnenschau mit Kleinkünstlern und gastierenden Ensembles landesweit zum Standardprogramm großer Kinos.

    In der Erinnerung des Film-Kurier Redakteurs Georg Herzberg waren sein einstiger Chef Alfred Weiner (1876-1954) und Karl Wolffsohn extrem gegensätzliche Verlegerpersönlichkeiten. Während Weiner sich seit 1919 auf die Herausgabe des täglich erscheinenden Film-Kuriers und des kommerziell noch erfolgreicheren Kinoprogramms Illustrierter Film-Kurier (IFK) beschränkte, so gut wie nie eigene Artikel schrieb und die Öffentlichkeit scheute, hatte Wolffsohn „stets mehrere Eisen im Feuer. Er brauchte nicht nur Inserate für seine Zeitung, sondern auch Aufträge für seine Druckerei. Er beteiligte sich an Firmen- und Filmfinanzierungen und baute Filmtheater, so die Lichtburgen in Essen und Berlin."⁶⁷ Artikel von ihm erschienen in den 1920er Jahren hauptsächlich in der LBB, eher selten in der deutschen Tagespresse.⁶⁸ Wenn Verleihfirmen Pleite gingen und unbezahlte Rechnungen für Inserate hinterließen, begegnete Herzberg auf den Gläubigerversammlungen häufig dem Herausgeber der LBB. Da aus der eventuell vorhandenden Konkursmasse offene Forderungen der Mitarbeiter, der Produzenten und der Banken vorrangig bedient wurden, blieb der Filmfachpresse, so Wolffsohns Bonmot, „nicht mehr als ein Stück vom verfaulten Appel".⁶⁹

    Unermüdlich setzte sich Karl Wolffsohn seit 1910 für die entstehende deutsche Filmindustrie ein. Daneben engagierte er sich in der kurzlebigen Vereinigung der Kinematographen-Besitzer von Groß-Berlin,⁷⁰ denn ihre Mitglieder zählten zur Hauptkundschaft der LBB, sei es als Abonnenten, sei es als Inserenten.

    Risikobereit, aber nicht leichtsinnig, langfristig statt kurzfristig-spekulativ orientiert, so lässt sich Karl Wolffsohns Anlagestrategie kennzeichnen. Neben Unternehmen, die ihm allein oder mehrheitlich gehörten, gab es fremde Firmen, an denen er vergleichsweise geringfügig beteiligt war. Im Zentrum seines von ihm rückblickend sogenannten Wirtschaftskonzerns⁷¹ stand die Firma Gebr. Wolffsohn. 1901 als winzige Druckerei gegründet, 1908 in eine schon erheblich kapitalstärkere GmbH umgewandelt und 1910 zum Verlag erweitert, wurde der inzwischen mittelständische Gewerbebetrieb 1934 „arisiert".⁷² Darüber hinaus erfüllte die Firma die Funktion einer Holding, indem sie sich zur Zeit der Weimarer Republik an Kinos und Varietés beteiligte. Beispielsweise war die Gebr. Wolffsohn GmbH Inhaber der Berliner Lichtburg-Theater-Betriebs GmbH (BLTB), anders als der Namen suggeriert im Zeitraum 1929 bis 1933 nicht nur zuständig für die Berliner, sondern auch für die untergeordnete Essener Lichtburg. Die Geschäftsadressen von BLTB und Gebr. Wolffsohn GmbH stimmten überein: Berlin, Friedrichstraße 225.

    Während Wolffsohn seinen Verlag überwiegend alleinverantwortlich leitete, delegierte er die Geschäftsführung seiner sonstigen Unterhaltungsunternehmen an zumeist branchenkundige Fachleute vor Ort. Allerdings behielt er sich die Aufsicht über diese Tochtergesellschaften vor und traf grundlegende Entscheidungen selbst.

    Unabhängig davon investierte Wolffsohn in Aktien vorzugsweise von Filmherstellern und Filmverleihern in der Annahme, sie dank eines steigenden Kurses später teurer verkaufen zu können. Nur ansatzweise ist feststellbar, von welchen Firmen er wann Wertpapiere besaß. Ob er sie mit Verlust oder Gewinn veräußerte, muss ebenso offen bleiben wie die eventuell erzielten Dividenden.

    Auf einer Generalversammlung Ende 1921 der ersten deutschen Filmaktiengesellschaft Projektions AG „Union", kurz PAGU, weigerte sich Kleinaktionär Wolffsohn, die Bilanz für das vergangene Geschäftsjahr zu genehmigen und den Vorstand zu entlasten, wurde aber von der Mehrheit überstimmt.⁷³ Seine Klage beim Berliner Landgericht gegen die Fusion der PAGU mit der UFA, nachdem Letztere Erstere bereits längere Zeit beherrscht hatte, scheiterte ebenfalls.⁷⁴

    Wahrscheinlich verfügte er auch über Aktien derjenigen Firmen, in deren Aufsichtsrat er saß. So gehörte er dem ersten, 1921 konstituierten Aufsichtsrat der Firma Kowo-Schicht an, eine Fabrik zur Restaurierung von Filmkopien.⁷⁵ Als 1923 das Filmatelier Staaken in einer ehemaligen Zeppelinhalle am westlichen Berliner Stadtrand den Betrieb aufnahm, war Wolffsohn in dem Gremium vertreten, das den Vorstand der Filmwerke Staaken AG überwachte, schied jedoch bereits im folgenden Jahr wieder aus.⁷⁶ Im Fall der Filmhaus Bruckmann AG lieferte ihr drohender Konkurs den Anlass, ihn zum Aufsichtsrat zu ernennen in der Hoffnung, er könne den Zusammenbruch abwenden. Hervorgegangen war das Filmhaus Bruckmann aus der 1908 von Ludwig Gottschalk (1876-1967) gegründeten Düsseldorfer Film-Manufaktur.⁷⁷ Während anfangs ein und derselbe Stummfilm von mehreren Kaufleuten gleichzeitig an die Kinematographen-Theater vermietet wurde, verlieh Gottschalk 1910/11 exklusiv in Deutschland gewinnbringend den ersten dänischen Asta-Nielsen Film „Afgrunden („Abgründe) unter der Regie von Urban Gad und setzte gemeinsam mit anderen Pionieren wie Wilhelm Graf den Monopol-Verleih in Deutschland durch. 1919 erwarb Hans Bruckmann die Manufaktur, nannte sie in Filmhaus Bruckmann um und verwandelte die GmbH 1922 in eine AG. Gottschalk blieb Geschäftsführer und Verkaufschef. Neben landesweit verliehenen, teilweise auch selbst produzierten Filmen betrieb das Filmhaus Bruckmann nunmehr einige Kinos, darunter seit 1924 in Düsseldorf die Alhambra-Lichtspiele und in Berlin den Primus-Palast in der Potsdamer Straße.⁷⁸ 1928 übernahm die Terra-Film AG das mittlerweile defizitäre Unternehmen. Das zum Tochterunternehmen herabgestufte Filmhaus Bruckmann sollte unter seinem alten Namen nun Terra-Produktionen verleihen und saniert werden, unterstützt vom neuen Aufsichtsrat Karl Wolffsohn.⁷⁹ Doch auch er konnte keine Wunder vollbringen. Ende 1929 wurde der Aufsichtsrat ausgetauscht und im Frühjahr 1930 die Filmhaus Bruckmann AG liquidiert. Wolffsohns ungewöhnliches geschäftliches Engagement für die Terra-Film wird an anderer Stelle dargestellt. Die Düsseldorfer Alhambra, das sei vorweggenommen, fiel ihm als Gläubiger des Filmhauses Bruckmann zu. Als 1931 die Produktions- und Verleihfirma Hegewald Film in Zahlungsschwierigkeiten geriet, wurde der LBB-Verleger in den Gläubigerausschuss gewählt, um die Interessen der ungesicherten Kreditgeber zu vertreten, zu denen er selbst zählte. Doch die überschuldete GmbH von Liddy Hegewald konnte nicht vor der sich lange hinziehenden Liquidation bewahrt werden.⁸⁰ Auch dem 1932 konstituierten Gläubigerausschuss der Südfilm AG gehörte Wolffsohn an – stellvertretend für andere Firmen und Personen mit ungesicherten Forderungen.⁸¹ Nach den jahrelangen gegenseitigen Anfeindungen überraschend, schalteten LBB, Film-Kurier und Kinematograph gemeinsam eine Anzeige, in der zu einer Versammlung der ungesicherten Gläubiger aufgerufen wurde.⁸²

    Gegen das eigene Credo, mit der LBB den Gesamtinteressen der Filmindustrie zu dienen, verstieß Wolffsohn mehrfach, indem er in einzelne Filmproduktionen investierte, darunter in den Vierteiler „Fridericus Rex" (D 1921-23), eine Hommage an den Soldatenkönig Friedrich II. Wolffsohn hatte seinem Schwager Hans Neumann, der die Produktion leitete, einen niedrig verzinsten Kredit gewährt in der Erwartung, an den eingespielten Gewinnen beteiligt zu werden.⁸³ Arzen von Cserépy zeichnete für die Regie und als Inhaber der Cserépy-Film GmbH auch für die Herstellung von „Fridericus Rex verantwortlich. Dem Auftragsfilm der UFA verdankte Otto Gebühr die Rolle seines Lebens. Im ersten Teil spielte er den jungen Fritz, in den restlichen Teilen und anderen Filmen über den Preußenkönig den Alten Fritz. Gegen den landesweiten Kinostart der ersten beiden Teile am 31. Januar 1922 und der letzten beiden Teile im März 1923 protestierten die Sozialdemokraten, weil sie den Film als promonarchistisch deuteten. Hingegen sah sich die antirepublikanische Rechte in ihrem Kampf für einen genialen Führer einer starken Nation vollauf bestätigt und reagierte begeistert.⁸⁴ Eigenen Angaben zufolge lieh Wolffsohn seinem Schwager insgesamt 100.000 RM für dessen Filmprojekte. Von dieser Summe floss 1924/25 auch ein Teil in Neumanns Verfilmung unter eigener Regie von Shakespeares Stück „Ein Sommernachtstraum. Vergeblich versuchte der Gläubiger nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Hilfe eines Rechtsanwalts und Gerichtsvollziehers die überfällige Rückzahlung von Krediten und Zinsen zu erzwingen.⁸⁵

    Für großen Wirbel sorgte 1928 eine Meldung des Film-Kuriers, Karl Wolffsohn habe die Komödie „Wenn der junge Wein blüht…" finanziert. Der künstlerisch verantwortliche Regisseur Carl Wilhelm (1872-1936) hatte den Film-Kurier im Vorjahr wegen einer angeblich ihn beleidigenden und gegen die guten Sitten verstoßenden Premierenkritik des Films auf Schadensersatz verklagt. Am 23. Mai 1928 kassierte das Berliner Kammergericht das Urteil der Vorinstanz. Wilhelms Klage wurde nun abgewiesen, und er musste die Verfahrenskosten tragen. Während der Verhandlung, so behauptete der Film-Kurier, habe Wilhelms Rechtsanwalt Georg Wolffsohn das Investment seines Bruders in diese Produktion der Gloria-Film eingestanden. Indem der Film-Kurier ergänzend die sehr positive Rezension der LBB wieder abdruckte, sollte suggeriert werden, deren Verleger habe dem kommerziellen Erfolg von „Wenn der junge Wein blüht…" nachgeholfen.⁸⁶ Karl Wolffsohn ließ umgehend dementieren, an diesem Film finanziell beteiligt zu sein. Gegebenenfalls wäre keineswegs die stets unabhängige Filmkritik der LBB berührt worden. Im Übrigen ignoriere der Film-Kurier, dass Verlage wie Ullstein, Scherl und Hearst ins Filmgeschäft involviert seien. Das gelte gleichfalls für Jean Sapène (1867-1940), Inhaber der Tageszeitung Le Matin. 1922 erwarb er die Produktionsfirma Cinéromans,⁸⁷ 1924 das Atelier Joinville-le-Pont bei Paris und 1927 den Verleiher Pathé-Consortium. Sapène und Wolffsohn führten mindestens zwei Mal Gespräche im Verlag der LBB: am 15. Oktober 1928 und am 28. Juni 1929 im Beisein des französischen Botschafters in Deutschland, Pierre de Margerie (1861-1942), und des Vordenkers einer europäischen Union, Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi (1894-1972).⁸⁸

    Während nur wenige von Wolffsohns Aktienbesitz und Aufsichtsratsmandaten wussten und daran keinen Anstoß nahmen, warfen ihm Konkurrenten vor, sich bei der Vermittlung von Firmenfusionen in der Filmbranche maßlos zu bereichern. Sage und schreibe 350.000 RM Provision habe er von der Universal für ein von ihm eingefädeltes Geschäft mit der UFA verlangt, behauptete der Kinematograph 1926. Demnächst werde seine Klage gegen Carl Laemmles amerikanischen Konzern, diese überfällige Summe auszuzahlen, vom Berliner Landgericht entschieden.⁸⁹ Mit der offenkundigen Absicht, den Verleger der auflagenstärkeren LBB als habgierigen Kaufmann zu denunzieren, ließ die Meldung offen, welchen bislang nicht honorierten Dienst er genau der Universal geleistet und was das Ganze mit der UFA zu tun hatte. Alfred Weiners Film-Kurier merkte spitz an, die erdrückende Beweislage würde Wolffsohns Schutzbehauptung widerlegen, er fordere Provision für ein Geschäft, das der gesamten Filmbranche nütze.⁹⁰

    Angespielt wurde auf eine tatsächlich nie zustande gekommene Vereinbarung zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Konzern, wonach die UFA in Deutschland exklusiv Universal-Filme, die Universal umgekehrt in den USA ausschließlich UFA-Filme vertreiben sollte.⁹¹

    Im Oktober 1929 richtete Karl Wolffsohn an Reichskanzler Hermann Müller ein persönliches Schreiben, in dem er sich gegen rufschädigende Vorwürfe verwahrte, finanzielle Vorteile aus der geplanten Teil-Verstaatlichung des Filmkonzerns Emelka gezogen zu haben.⁹² Neben Atelieranlagen in München umfasste das landesweit aktive Unternehmen die Sparten Produktion und Lichtspieltheater.

    Um einen bevorstehenden Aufkauf der Emelka durch die antirepublikanische UFA Alfred Hugenbergs zu verhindern, Mitbegründer und seit Oktober 1928 amtierender Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), beabsichtigte die Reichsregierung als bisheriger Minderheitsaktionär, Mehrheitsaktionär zu werden. Im Vorfeld nahm der sozialdemokratische Finanzminister Rudolf Hilferding Karl Wolffsohns Expertise in Anspruch. In einem Schreiben an Hermann Müller stellte Wolffsohn fest:

    „Ich höre erst in diesem Moment, dass mein Name mit den Gerüchten und Meldungen über die Kursdifferenz von 7,5% bei der Transaktion Reich-Emelka in Verbindung gebracht wird. Ich erkläre hiermit in aller Form, dass ich meine ganze Ihnen bekannte Tätigkeit, zu der Sie mich auf Herrn Dr. [Franz] Ullsteins Empfehlung herangezogen hatten, dem Reich wie dem Unternehmen gegenüber uneigennützig zur Verfügung gestellt habe und dass ich von dem erwähnten Zwischenkurs nicht das Mindeste wusste, geschweige denn an dem Erlös irgendwie beteiligt worden bin."⁹³

    4: Im Uhrzeigersinn, Vordergrund: Carl Riechmann, 2. Vorsitzender des Reichsverbands Deutscher Lichtspieltheater-Besitzer, Mueller, Pierre de Margerie, französischer Botschafter in Deutschland, Jean Sapène, Verleger und Filmindustrieller, Hans Wollenberg, Chefredakteur (stehend), Karl Wolffsohn, Wilhelm Siegfried, 3. Vorsitzender des Reichsverbands und Reichstagsabgeordneter, Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, Publizist und Gründer der Paneuropa-Union, 28.6.1929.

    Erworben von der Commerz- und Privatbank zum Kurs von 117 Prozent im Auftrag der Reichsregierung, bestand für sie innerhalb eines Jahres die Option, die Papiere zum selben Kurs zu übernehmen oder den Auftragnehmer schadlos zu halten. Doch die Bank wollte sich einen Extraprofit verschaffen und verlangte, noch bevor der Staat die Option wahrnahm, 125 Prozent, eine Differenz von aufgerundet sogar 8 Prozent. Die Frankfurter Zeitung warnte selbst bei einem Kurs von 117 Prozent vor einem überhöhten Preis von 3.000.000 RM, denn die letzten Tageskurse für eine Emelka-Aktie seien über 40 Prozent billiger gewesen. Einig war sich das Blatt mit dem sozialdemokratischen Vorwärts darüber hinaus, dass es den Steuerzahler teuer zu stehen komme, wenn das Unternehmen Konkurs anmelde. Vorsicht sei umso mehr geboten, als die Filmbranche in einer schweren Rezession stecke und der Staat über so gut wie keine Erfahrungen im Filmgeschäft verfüge.⁹⁴ Der Film-Kurier deutete Wolffsohns massive Angriffe auf die UFA und dessen unentwegte Kampagne für eine weitgehende Verstaatlichung der Emelka als abermaligen Beweis seiner unersättlichen Provisionsgier.⁹⁵

    Flankierend zu Wolffsohns persönlicher Einflussnahme auf den Reichskanzler und Reichsfinanzminister, drängte die LBB in Leitartikeln⁹⁶ die zögerliche Koalitionsregierung zur weitgehenden Übernahme der Emelka. Berechtigte Bedenken von Regierungsvertretern, resultierend aus dem verlustreichen, skandalösen Phoebus-Geschäft 1927/28, versuchte die LBB mit dem Argument zu zerstreuen, im Unterschied zum aktuellen Fall habe sich damals das Reichswehrministerium eigenmächtig, illegal und heimlich an einem Filmkonzern beteiligt.⁹⁷ Landesweite Großkinos der Phoebus, darunter in Berlin das Capitol, das Marmorhaus und der Phoebus-Palast am Anhalter Bahnhof, erwarb die Emelka vom Reich äußerst günstig und erweiterte dadurch ihren Theaterpark erheblich.⁹⁸ Fachblätter, die von einer staatlichen Mehrheitsbeteiligung an einem privaten Filmunternehmen abrieten, bezichtigte Wolffsohns Zeitung, Sprachrohre der UFA zu sein. Das traf gewiss auf den Kinematograph zu, seit 1923 herausgegeben von Hugenbergs Scherl-Verlag. Dieser druckte auch das massenhaft verkaufte Kinoprogramm IFK. Doch Alfred Weiners Film-Kurier deshalb und wegen seiner angeblichen finanziellen Abhängigkeit von Inseraten der UFA als deren Presseabteilung zu bezeichnen, wirkte nicht nur überzogen, sondern schlug auf die LBB und ihren Verleger zurück. Bis Hugenberg 1927 die Aktienmehrheit der UFA erwarb, pflegte Wolffsohn ein geradezu inniges, lukratives Geschäftsverhältnis mit dem UFA-Verleihchef Siegmund Jacob. Jacob garantierte der LBB beträchtliche Anzeigenerlöse und Abonnements der circa 100 UFA-Kinos. Ihm und dem Aufsichtsratsvorsitzenden Emil Georg von Stauß schlug Wolffsohn Anfang 1926 in einem vertraulichen Exposé vor, gemeinsam eine GmbH zu gründen, die der UFA sämtliche Drucksachen lieferte, vom Briefbogen bis zum Kino-Programm. Sein Verlag mit Druckerei und Klischeeanstalt wollte alle eingehenden Aufträge der verschiedenen UFA-Abteilungen ausführen. Überraschend zog der LBB-Chef den Vorschlag wieder zurück.⁹⁹

    Wenn Wolffsohn sich im Fall der Emelka ausnahmsweise im Auftrag einer amtierenden Regierung für deren Mehrheitsbeteiligung an einer großen Filmgesellschaft einsetzte, so verfolgte er im Widerspruch zu seinem Selbstverständnis als Verleger weniger filmwirtschaftliche als vielmehr politische Ziele. Persönlich in die Angelegenheit zu stark involviert, druckte Wolffsohn den Standpunkt eines anonymen Autors ab, der seiner eigenen Position gleichkam:

    „Im Gegensatz zu den Kassandra-Rufen aus dem Hugenberg-Lager vertreten wir einen ehrlichen Optimismus. Die von den Parteiführern erkannten und anerkannten politischen Motive des Kaufes sind begründet in der Tatsache, daß der größte deutsche Film-Konzern, eben die UFA, sich bereits restlos in den Händen einer politischen Gruppe, und zwar einer ausgesprochen oppositionellen, staats- und verfassungsfeindlichen Gruppe befand. Die Filmpolitik des Reiches ist Defensiv-Politik und Gebot der Selbstverteidigung. Der Film als Macht- und Kampfmittel wird im Wesentlichen nur im Falle der Not eingesetzt zu werden brauchen, zur Aufklärung, zur Abwehr, zum Schutz der Verfassung. An eine Politisierung des Kinos denkt sicher auch in der Regierung und im Parlament niemand."¹⁰⁰

    Tatsächlich erwarb der Staat über die Commerz- und Privatbank zu den bereits gehaltenen 10 Prozent noch einmal 51 Prozent der Emelka-Aktien hinzu und verfügte nun über die absolute Kapital- und Stimmenmehrheit. Begründet wurde die Teilverstaatlichung politisch. Nur die Emelka-Wochenschau könne der UFA-Wochenschau Paroli bieten.¹⁰¹ Doch schon nach einem Jahr zog sich die Reichsregierung aus dem Filmunternehmen wieder zurück.¹⁰²

    Politische Haltung

    Während Karl Wolffsohn nie der untergegangenen konstitutionellen Monarchie Kaiser Wilhelms II. nachtrauerte, vielmehr die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Freiheiten der Weimarer Republik hoch schätzte und verteidigte, ist weniger eindeutig, welche Partei er wählte, ohne jemals einer solchen angehört zu haben.¹⁰³ Dabei ist zu unterscheiden zwischen seiner privaten politischen Präferenz und der politischen Neutralität, zu dem sich seine LBB freiwillig verpflichtete. Sie verstand sich von Anfang an als Anwalt der deutschen Filmindustrie. Sich als Filmindustrieller in das „Parteiengezänk" einzumischen und beispielsweise politische Propagandafilme in Kinos vorzuführen, galt als geschäftsschädigend und verhinderte die erforderliche organisatorische Einheit. Berufsvereinigungen wie der föderale, 1917 gegründete Reichsverband Deutscher Lichtspieltheater-Besitzer e. V. und spartenübergreifende Verbände, insbesondere die seit 1923 bestehende Spitzenorganisation der Deutschen Filmindustrie e. V. (SPIO), sahen sich als überparteiliche Lobbyisten. Die SPIO, zusammengesetzt aus den Verbänden etwa der Produzenten, Verleiher und Kinobetreiber, vertrat branchenspezifische Interessen gegenüber Reichsregierung und Reichstag.

    So warnte die LBB vor der kommenden Reichstagswahl 1924 ihre Leser: „Weg von der Politik!" und fügte hinzu:

    „Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, daß die natürliche Werbekraft, die dem Film innewohnt, von einzelnen Parteien ihren politischen Zwecken dienstbar gemacht werden soll. (…) Der Theaterbesitzer, der die Werbekraft des Bildstreifens einer einzelnen Partei zur Verfügung stellt, muß sich darüber im klaren sein, daß er die auf ein anderes Parteiprogramm Eingeschworenen für alle Zeit verärgert und seinem Theater entfremdet hat. Das Publikum will nicht an die Sorgen des Werktags, seien sie auch politischer Art, erinnert sein, es sucht dort nichts als Zerstreuung, Unterhaltung und Genüsse künstlerischer Art. Also die Hände weg von politischen Filmen!"¹⁰⁴

    Im Februar 1933 wiederholte die LBB, unbeirrt von den radikal veränderten Machtverhältnissen auf Reichsebene und im Land Preußen, ihren längst überholten Standpunkt:

    „Die LBB kennt keine politischen Forderungen, sie vertritt ausschließlich fachliche Interessen. Wir kennen demnach keine politischen Gegnerschaften; nie und nirgends. Wir kennen nur Gegner des Films, die wir pflicht- und überzeugungsmäßig bekämpfen (…). Wir unterrichten, informatorisch für unsere Leser, selbstverständlich auch über die Interessen, die weltanschauliche Gruppen am Film nehmen, mag es sich nun um die katholische oder die nationalsozialistische Filmbewegung, mag es sich um sozialistische oder rechtsgerichtete Wünsche und Meinungen handeln; eine Stellungnahme kommt für uns nur dort in Frage, wo man, gleich von welcher Seite, die verbrieften Rechte oder die berechtigten Lebensinteressen der Filmindustrie anzutasten versucht. (…) So wenig eine politische Einstellung einer Vertretung gewerblicher Interessen zusteht, so halten wir einwandfreie Loyalität gegenüber der Obrigkeit für eine selbstverständliche Verpflichtung, entsprechende Beziehungen zu den maßgebenden Instanzen für eine ebenso selbstverständliche Aufgabe unserer Industrievertretungen. Dem deutschen Filmtheater fällt inmitten der schweren Wirtschaftskrise und unberührt von der politischen Gestaltung die überragend wichtige Aufgabe zu, ausschließlich eine Stätte seelischer Entspannung und der für die Volksmassen unentbehrlichen Unterhaltung zu sein und zu bleiben. Eine solche Stätte muß es geben, und die Unterhaltung, die wir bieten, ohne unsere Besucher nach dem Parteibuch zu fragen und fragen zu können, soll in der Form sauber, in der Haltung anständig sein."¹⁰⁵

    Im Widerspruch zu dieser offiziell bekundeten apolitischen Haltung von Filmindustrie und Filmfachpresse in der Weimarer Republik, verfolgten nicht nur einzelne Angehörige der Branche, sondern auch bestimmte Unternehmen und Verlage eindeutig politische Ziele. Am augenfälligsten, aber keineswegs singulär, ist der für Wolffsohn und seinen Verlag folgenreiche Eigentümerwechsel bei Deutschlands größtem Filmkonzern 1927. Unter dem neuen Firmenchef Hugenberg und seinem Manager Ludwig Klitzsch provozierte die UFA mit umfangreichem Theaterpark durch seine republikfeindliche Wochenschau die geschilderte filmpolitische Reaktion der Reichsregierung, die Emelka-Woche zur Gegenpropaganda zu verwenden. Klitzsch, vorübergehend in Personalunion Generaldirektor des Scherl-Verlags und der UFA, übernahm zudem Mitte 1927 den Vorsitz der SPIO in der Nachfolge Erich Pommers.

    Was Karl Wolffsohns eigenen politischen Standpunkt betrifft, geht er indirekt aus der wirtschaftsliberalen Tendenz der LBB hervor. Auch wenn die Leitartikel in der Regel keinen Namen tragen und im Zeitraum 1910 bis 1933 wohl meistens von den Chefredakteuren Arthur Nothnagel, genannt Mellini, Hans Wollenberg und seinem zwischenzeitlichen Vertreter Kurt Mühsam (1882-1931) stammen, spiegeln sie doch im Großen und Ganzen die Ansicht des Herausgebers wider. Auszuschließen sind Affinitäten zu den Kommunisten, Sozialdemokraten, dem katholischen Zentrum, der Deutschen Volkspartei¹⁰⁶ und der antisemitischen DNVP. In die engere Wahl fällt die Deutsche Demokratische Partei mit prominenten, allerdings bis 1925 verstorbenen Politikern wie Friedrich Naumann, Walter Rathenau und Max Weber. Erhielt die Partei bei der Wahl zur Nationalversammlung 1919 noch fast 19 Prozent der Stimmen, erzielte sie bei den Reichstagswahlen 1927 nur noch 5 Prozent und blieb fortan politisch bedeutungslos.

    Wirtschaftsliberal zu sein, bedeutete nicht, die Kapitalakkumulation als Selbstzweck anzusehen. Vielmehr schuf die kapitalistische Produktionsweise, in ihren negativen Folgen gemildert durch staatliche Sozialpolitik, die materiellen Voraussetzungen, langfristig

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