Deutschland 1800 - 1953: Band 125e in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski
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- Rezension zur maritimen gelben Reihe: Ich bin immer wieder begeistert von der "Gelben Buchreihe". Die Bände reißen einen einfach mit. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechslungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlicht hat. Alle Achtung!
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Rezensionen für Deutschland 1800 - 1953
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Buchvorschau
Deutschland 1800 - 1953 - Jürgen Ruszkowski
Vorwort des Herausgebers
Grafik 54Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche.
Grafik 55Dabei lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.
Im Februar 1992 entschloss ich mich, meine Erlebnisse mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in einem Buch zusammenzutragen. Es stieß auf großes Interesse. Mehrfach wurde in Leser-Reaktionen der Wunsch laut, es mögen noch mehr solcher Bände erscheinen.
Diese Rezension findet man bei Amazon: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe". Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. Danke, Herr Ruszkowski.
Deshalb folgten dem ersten Band der „Seemannsschicksale" weitere.
Hamburg, 2020 Jürgen Ruszkowski
Grafik 35Ruhestands-Arbeitsplatz
Hier entstehen die Bücher und Webseiten weit über 100 Buchbände.
des Herausgebers
* * *
Prolog
Prolog
Die Zeitspanne zwischen dem beginnenden neunzehnten Jahrhundert und den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg war für die Deutschen mit sehr großen Veränderungen und Katastrophen verbunden.
https://www.bpb.de/izpb/142105/1800-bis-1850
Prof. Dr. Jürgen Osterhammel
Der deutsche Nationalstaat ist heute eine Selbstverständlichkeit. Deshalb fällt es schwer, sich ein Europa vorzustellen, in dem es einen solchen Staat noch nicht gab. Der heutige Föderalismus der 16 Bundesländer erinnert an die große Bedeutung, die Länder, Landschaften und unabhängige Städte – davon geblieben ist der Status von Berlin, Hamburg und Bremen als Bundesländer – als eigenständige politische Einheiten in Deutschland von jeher gehabt haben. Die föderale Struktur der heutigen Bundesrepublik vermittelt allerdings einen nur schwachen Eindruck von der kleinstaatlichen Zersplitterung, die um 1800 das hervorstechende Kennzeichen der politischen Landkarte Mitteleuropas war. Viele der Mini-Staaten bestanden nur aus einer größeren Stadt und ihrer ländlichen Umgebung. Durch den Tod des Herrschers, die Spaltung einer Dynastie, durch Vererbung oder eine militärische Niederlage konnten sie von heute auf morgen den Besitzer wechseln.
Diese fragmentierte Staatenwelt war nicht nach außen abgeschottet. Sie stand an ihren Rändern in einer Vielzahl von Beziehungen zu ihren zahlreichen Nachbarn. Im Inneren wurde sie in erster Linie durch eine gemeinsame Sprache zusammengehalten. Um 1800 war „Deutschland zwar kein Nationalstaat, aber eine ziemlich klar identifizierbare Kulturnation, zu der im allgemeinen Verständnis auch die vorwiegend deutschsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie (ab 1804: „Kaisertum Österreich
) gehörten.
* * *
Die „Franzosenzeit" unter Napoléon
Die „Franzosenzeit" unter Napoléon
https://www2.klett.de/sixcms/media.php/8/411660_seite186_187.pdf
Die „Franzosenzeit hat in den besetzten Ländern kräftige Spuren hinterlassen. In Deutschland beendete Napoleon die starke Zersplitterung in eine Vielzahl von kleinen geistlichen und weltlichen Herrschaften und schuf größere politische Gebiete. So wurden 1803 auf Druck von Napoleon 112 deutsche Kleinstaaten und Reichsstädte aufgehoben und den größeren Fürstentümern zugeschlagen. Auch Kirchengut wurde enteignet und Klöster aufgelöst, was als „Säkularisation
bezeichnet wird. Im Zuge dieser „Flurbereinigung" gründete er auch das Königreich Westfalen und setzte dort seinen Bruder als König ein. Westfalen sollte ein Musterstaat werden, mit einer Verwaltung und Rechtsprechung ganz nach französischem Vorbild, d. h. nach dem Code Napoléon. Damit wurden Adelsprivilegien, Zunftzwang und bäuerliche Abhängigkeitsverhältnisse aufgehoben. Wie Westfalen, so übernahmen auch einige andere Rheinbundstaaten den Code Napoléon.
Napoleon zieht am 27. Oktober 1806 an der Spitze seiner Truppen in Berlin ein
https://de.wikipedia.org/wiki/Napoleon_Bonaparte#Krieg_gegen_Preu%C3%9Fen_und_Russland
1811 wurde Hamburg direkter Bestandteil des Französischen Kaiserreichs.
Grafik 44Hamburg 1911 zur Franzosenzeit
Am 24. Juni 1812 überschritt Napoleon die Memel. Sein Plan für den Feldzug in Russland, dort als „Vaterländischer Krieg bezeichnet, war es, wie in den bisherigen „Blitzfeldzügen
eine schnelle spektakuläre Entscheidungsschlacht herbeizuführen, die den Krieg bald beenden und Friedensverhandlungen einleiten sollte. Durch diesen Pyrrhussieg gelang es Napoleon zunächst, ohne weiteren Kampf Moskau einzunehmen. Nach dem Einmarsch wurde die Stadt – vermutlich von den Russen selbst – in Brand gesetzt. Die Soldaten der Grande Armée litten unter Hunger, Krankheiten, Schnee und Kälte. Fehlender Nachschub, Krankheiten sowie ständige Angriffe der russischen Kosaken setzten den französischen Truppen schwer zu. In der Schlacht an der Beresina wurde Napoleons Grande Armee endgültig zerschlagen. In Deutschland führte die Niederlage Napoleons zu einem Aufschwung der nationalen Bewegung.
1815 endet in Europa eine Epoche permanenter Kriege. Nun soll die Rückkehr zur fürstlichen Territorialherrschaft inneren und äußeren Frieden gewährleisten. Doch die zunehmende Politisierung breiter Bevölkerungskreise, Bevölkerungswachstum und Massenarmut sorgen für revolutionäre Unruhe und Druck zu Reformen. Die Europäer dringen immer mehr in ferne Weltregionen vor. Dort verschieben sich die Gewichte: Während die westliche Hemisphäre erstarkt, gerät Asien unter den zunehmenden Einfluss der Europäer.
* * *
Das frühe 19. Jahrhundert in Deutschland
Das frühe 19. Jahrhundert in Deutschland
Die Kindersterblichkeit verringerte sich durch bessere Hygiene. Politische Reformen ermöglichten jedermann Heirat und Familiengründung.
Bedingt durch den Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien, einen der stärksten bekannten Vulkanausbrüche überhaupt, wurde so viel Asche in die Atmosphäre geschleudert, dass es auf der nördlichen Halbkugel zu extrem nassen, kalten Sommern kam und die Ernte zweier Jahre ausfiel. Deshalb kam es zu einer großen Emigrationsbewegung.
Gesellschaftliche Veränderungen in Stadt und Land
Gesellschaftliche Veränderungen in Stadt und Land
Willhelm von Humboldt hatte das Bildungsziel: „das Menschenkind zum Menschen zu bilden".
Mit dem Oktoberedikt sollten die gesetzlichen Überreste des „Feudalismus dem Adelsstand entzogen und so die Entstehung einer politisch enger verbundenen Gesellschaft in Preußen erleichtert werden. „Untertanen
sollten zu „Bürgern des Staates umerzogen werden. Dabei erkannten die Reformer, dass weitere Maßnahmen erforderlich waren, um den Patriotismus der Bevölkerung zu mobilisieren. „Vergeblich sind alle Bemühungen
, schrieb Karl von Altenstein 1807 an Hardenberg, „wenn die Erziehung widerstrebt, flache Staatsbeamte gebildet werden [...] und kraftlose Bürger erzogen werden." Neuerungen in der Verwaltung und dem Rechtswesen allein reichten nicht aus; mit ihnen einhergehen musste eine breite Bildungsreform, die der emanzipierten Bürgerschaft Preußens die nötige Kraft für die bevorstehenden Aufgaben verleihen sollte.
* * *
Judenemanzipation
Judenemanzipation
Unter Mendelssohns Einfluss veröffentlichte im Jahre 1781 der Geheime Kriegsrat im preußischen Außenministerium Christian Wilhelm Dohm die Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden". In ihr sprach er sich für die Gleichberechtigung der Juden aus und ermahnte die Christen, ihre Jugend dazu zu erziehen, Juden als Brüder zu lieben. Dies sei im Interesse des Staates.
Der Durchbruch kam mit der französischen Revolution. [...] Die französische Armee brachte die Emanzipation der Juden nach Deutschland. Napoleon schränkte ihre Freiheiten allerdings ein, doch blieb das Prinzip der Emanzipation erhalten. [...] Die Ideen der französischen Revolution hatten in der Bevölkerung solchen Widerhall gefunden, dass Staatskanzler von Hardenberg es unternahm, dem Volk eine „Revolution von oben" zu verordnen. Die Emanzipation der Juden wurde darin ebenfalls festgeschrieben und von König Friedrich Wilhelm III. im Jahre 1812 als Edikt erlassen. Allerdings umfasste dieses Edikt nur die Juden im Kernland Preußens, nicht z. B. in der Provinz Posen, und ließ ihre Zulassung zu Staatsämtern offen. Nun strömten junge Juden in Scharen als Freiwillige in die preußische Armee. Napoleon wurde von den Alliierten, Preußen, Russland und England, in der Völkerschlacht von Leipzig im Jahre 1813 besiegt und im Jahre 1815 bei Waterloo vollkommen geschlagen. [...]
Die Großmächte kamen nun zum Wiener Kongress zusammen, um die alte Ordnung wiederherzustellen. Auch die „Judenfrage stand auf der Tagesordnung. Man beschloss, gegenwärtig den Juden die Rechte, welche ihnen in den von Napoleon eroberten Ländern bereits eingeräumt worden waren, bis auf weiteres zu erhalten. Doch erreichten es die Judenhasser, sie durch Änderung eines Wortes im Protokoll ihrer Bürgerrechte zu berauben. Das Wort „in
wurde durch das Wort „von" ersetzt. Da die Juden ihre Rechte zwar in den Staaten, aber nicht von den Staaten, sondern von Napoleon erhalten hatten, waren diese Rechte aufgehoben. Bayern erließ sofort so harte Judengesetze, einschließlich der Beschränkung jüdischer Ehen, dass viele Juden nach Amerika auswanderten. Die Juden mussten wieder von vorn anfangen, und dies zur Zeit der Romantik, in der die Vernunft vom Gefühl und patriotisch-nationaler Gesinnung abgelöst wurde. Die folgenden Jahrzehnte waren eine Periode der Reaktion, unter der die Juden besonders litten. [...]
Juden schlossen sich der deutschen Freiheitsbewegung an. Ludwig Bamberger (1823-1899) war einer der führenden Kämpfer für Demokratie und wurde wegen seiner Aktivitäten in der Revolution von 1848 zum Tod verurteilt. Er floh ins Ausland, durfte aber 1866 nach Deutschland zurückkehren. Er war einer der Gründer der Deutschen Reichsbank und Schöpfer der einheitlichen Goldwährung. Mehrmals in den Reichstag wiedergewählt, stellte er sich schließlich nicht mehr zur Wahl wegen des wachsenden Antisemitismus in Kreisen der Politiker.
Gabriel Riesser (1806-1863), dem erst nach wiederholter Ablehnung seitens der Regierung in seiner Vaterstadt Hamburg die Zulassung als Anwalt und Notar gewährt worden war, wurde 1848 zum Vizepräsidenten des demokratischen Parlaments in der Paulskirche zu Frankfurt gewählt. Mutig führte er den Abgeordneten, welche gar nicht daran gedacht hatten, den Anspruch der Juden auf Gleichberechtigung vor Augen. Er war Mitglied der Abgesandten des Parlaments, die König Wilhelm IV. von Preußen die Krone eines geeinten Deutschlands anboten. Nachdem der König dieses Angebot als vom Volke, „aus der Gasse kommend", entrüstet abgelehnt hatte, löste sich das Parlament auf. Neue Unterdrückungen und Krawalle gegen die Juden folgten.
Zahlreiche Juden ließen sich nun taufen, um damit, in den Worten Heinrich Heines, „das Entréebillet zur Gesellschaft" zu erwerben. Wie Heines Beispiel zeigt, half es nicht viel. (Im Gegensatz dazu wurde der als Kind getaufte Benjamin Disraeli Premierminister des britischen Empire und enger Vertrauter von Königin Viktoria. Disraeli betonte sein ganzes Leben lang in Wort und Schrift sein jüdisches Erbe.)
* * *
Johann Hinrich Wichern in Hamburg-St.-Georg
Johann Hinrich Wichern in Hamburg-St.-Georg
Grafik 45In seinen Notizbüchern und in einem umfangreichen Manuskript „Hamburgs wahres und geheimes Volksleben" hat der junge Wichern viel von der schreienden Armut und der trostlosen sittlichen Verwahrlosung festgehalten, die ihm auf seinen Besuchen im ‚Gängeviertel’ Hamburgs entgegentraten. Er fertigt Protokolle an, wobei er in Kontenbüchern auch die familiären und gesundheitlichen Zustände der Kinder vermerkt. Diese Aufzeichnungen suchen an Schärfe der Beobachtung und an der Hingabe am Einzelfall ihresgleichen. Hier findet man eine interessante Parallele zu dem Bild, das etwas später Friedrich Engels von der Lage der arbeitenden Klasse in England entwirft.
Grafik 53Großfamilie in einem Hinterhof in Hamburgs Gängevierteln
Was hindert uns, hineinzugehen in die Hütten des Unheils, an welche wir hier gedenken, den Jammer mit eignen Augen zu sehen und die armen Leute zu bitten und zu ermahnen, dass sie sich selbst, dass sie mindestens doch ihre unglücklichen Kinder retten lassen aus den Stricken des Todes?...
Dieser von Rautenberg schon 1830, als Wichern noch in Göttingen studierte, begründete, und von dem jungen Wichern geführte Besuchsverein, stößt hinein in die entlegensten Hinterhöfe der Armut und des Elends, in die dunkelsten Schlupfwinkel leiblicher und seelischer Verwahrlosung, in einen bisher nicht für möglich gehaltenen, von einem wohlbehüteten und wohlsituierten Bürgertum bisher nicht gekannten Abgrund sozialer Verlorenheit und menschlicher Verkommenheit. In einem späteren Bericht ist zu lesen: „Das ganze sittliche Leben der Leute schlägt sich nieder in die Leidenschaft des Magens, und ihr ganzer Himmel schrumpft zusammen in eine Semmel. Die rohe Befriedigung der niedersten Bedürfnisse ist’s allein, was sie noch suchen. Alles andere haben sie aufgegeben. Für sie gibt’s keinerlei Ordnung mehr in der Welt, nur Auflösung, Anarchie und Verwirrung.
Grafik 56Familie in einem Hof in Hamburgs Gängevierteln
Innerhalb ihrer Kreise zerstören sie alle Ordnung völlig und am letzten Scheit lodert das Gesetzbuch häuslicher Zucht und Sitte auf. Vom Greise bis zum Kinde, das am Boden kriecht, geht jeder seinen eigenen Weg nach des bösen Herzens Lust. Genug, sie führen ein Leben, wie die Raben auf unseren Türmen." Wichern zog selbst durch die Elendsquartiere und Lasterhöhlen, und sah in die tiefsten Tiefen der Not und des Unglaubens hinein. Er gewann Eindrücke von der Verelendung und Gefährdung, Abstumpfung und Verbitterung der breiten Masse, die ihn nicht mehr losließen und für die Zukunft seinen Weg und sein Werk bestimmten und prägten.
Da ist das berüchtigte Gängeviertel in Hamburg, eine dunkle Ecke, ein muffiges Hinterhaus. „Durch den lichtlosen Flur muss man sich nach der Tür tasten. Hinter der Tür: nur trübes Licht im dunklen Raum. Schnapsflaschen auf schmutzigem Tisch. Und ein Geruch von Verwesung und Moder. Kartenspielende Männer. Eine Frau rekelt sich winselnd auf der wackligen Bettstelle, wirr hängen ihr die öligen Haare ungemacht um den Kopf. „Du versoffenes Aas! schimpft einer der Männer, dem selbst der Trunk und das Laster im Gesicht geschrieben stehen. In einer Ecke ein Knäuel sich balgender Kinder. Gezänk um eine Kruste Brot. In den Augen der offene Hunger. Auf dem Tisch der Schnaps. Nur fluchende Männer und ein heulendes, betrunkenes Weib, das den Namen „Mutter
kaum noch verdient. „Guten Tag – wir kommen von der Sonntagsschule – wir möchten Ihre Kinder abholen! Spottende Flüche und höhnisches Gelächter – und dann die Antwort von einem der Männer: „Meinetwegen – Ihr könnt sie haben – alle! Haut ab – dann sind sie aus dem Wege.
Und einer der Schnapsbrüder schreit: „Ihr könnt sie behalten – umsonst – Ihr könnt sie geschenkt bekommen. Beklommen trippeln die Kinder an der Seite des fremden freundlichen Mannes – es ist der junge Wichern – zur „Sonntagsschule
. Dort werden sie gewaschen und gespeist und lernen singen, beten, auch schreiben, rechnen und lesen, und lernen fröhlich und dankbar sein.
Freilich, viele Bemühungen, leiblich und geistlich zu helfen, sind oft wie Tropfen auf heißem Stein, und helfende Hände werden von den Verständnislosen in Verbitterung und mit Hohn zurückgewiesen: „Baut diesen Versunkenen die schönsten Schulen vor die Tür, ihre Kinder werden den Weg darüber hin durch Fenster oder Ziegel finden. Bauet sie mit derselben ein; sie werden euch die Kinder mit List und Gewalt entführen. O fürwahr, Freunde, wenn der Geist christlicher Gemeinschaft und Zucht nicht besondere starke Dämme gegen diesen reißend wachsenden Strom des Unheils aufführt, so mögen wir zehn Schulen in jeder Gasse errichten – ein großer Teil des aufkeimenden Geschlechts wird doch nicht viel besser werden."
So war die Einrichtung der Sonntagsschule – das erkannte Wichern sehr klar – für die gefährdete Jugend zunächst nur eine halbe Hilfe. Was war damit schon viel getan, wenn man die Kinder nur am Sonntag für kurze Stunden aus den Gassen und Gossen herausholte, und wenn man sie dann die ganze Woche über wieder in den Schmutz und das Laster ihrer Umwelt zurückschickte.
Wenn man diesen jungen Menschenkindern wirklich helfen wollte, war ein dauerndes Herauslösen aus dem verderblichen Einfluss und ein Verpflanzen in einen neuen Mutterboden dringend von Nöten. So reifte denn bei Wichern und bei seinen Freunden und Mitarbeitern der Plan, nach dem Beispiel des Grafen von der Recke in Düsseltal, und eines Johannes Falk in Weimar, und nach dem Vorbild des Halle’schen Waisenhauses, zur Gründung eines Rettungshauses aufzurufen. Ihm schwebte eine freundliche Heimstatt vor, in der die verlorenen und verirrten Kinder zu kleinen Familiengruppen zusammengefasst, wieder Elternliebe und Heimatgefühl erfahren dürfen, und in Geborgenheit und Nestwärme, aber auch in Ordnung und Pflichterfüllung Vertrauen zu sich selbst und zu den andern finden, und wie Kinder fromm und fröhlich sein können.
In einem Brief schildert Wichern seine Hoffnungen und Pläne: „Ich denke an eine kleine christliche Kolonie, wo Haus an Haus steht, und die Häuser unter Hilfe von Knaben aufgebaut werden; und soll sich die Anstalt zu einem Mittelpunkt eines christlichen Lebens bilden, von welchem aus unser Volk im tiefsten Grunde erfasst und aus seinem Sumpf heraus in die neue Welt Gottes hineingestellt wird. Wer ein solches Kind jemals gesehen, der würde die Angst und Tiefe des Bedürfnisses in den Seelen dieser Kinder begreifen, und könnte dem heiligen Triebe, zu retten nicht widerstehen. Wer wollte nicht teilhaben am Werk der Rettung, wer nicht helfen, Hütten der schützenden, bessernden, der Leben bringenden Liebe zu bauen." Wichern wirbt und wartet und bittet.
Wichern erkennt die Aussichtslosigkeit, sittlich bedrohten Kindern in der Sonntagsschule durchgreifend zu helfen, wenn sie im Bannkreis ihrer zerrütteten Familie bleiben. Was hatte er denn gesehen? In einer Lumpensammlerfamilie schliefen vier Personen auf einem Strohsack unter einer Decke. Viele Kinder liefen fast nackt herum. Knaben banden ihre zerlumpten Sachen mit Bindfäden zusammen. Ein sechzehnjähriges Mädchen hatte sich seit seinem fünften Lebensjahr ohne jede Aufsicht herumgetrieben. Kinder wuchsen ungetauft, unkonfirmiert und ohne Schulunterricht auf. Wenn junge Burschen mit jungen Mädchen zusammenliefen, dann unterblieb fast selbstverständlich die Trauung. Einen zwanzigjährigen jungen Mann fand Wichern mit einem sechzehnjährigen Mädchen und mit einer öffentlichen Dirne zusammen hausen. Kindesmisshandlungen fielen nicht auf. Einmal traf Wichern selbst die Kinder eines Trunkenboldes betrunken an. Furchtbare Frauenschicksale entrollten sich vor seinen Augen.
Durch diese Arbeit lernt Wichern die schreiende Armut, die Wohnungsnot, die geistige und sittliche Verwahrlosung in Hamburg kennen. Hier tut sich für Wichern eine entsetzliche, kaum beschreibbare und ihm bis dahin völlig unbekannte Elendswelt auf, und er gewinnt Einblick in sie auf seinen Wegen in die Hütten der Armut, in die Kellerwohnungen und die Hinterhäuser, wie sie außer in Hamburg wohl damals kaum zu gewinnen war. Er sieht das Kinderelend jener Zeit, da die Kinder von früh auf zum Broterwerb der Eltern beitragen mussten. Sie gingen in Fabriken, boten Grünwaren und Früchte an, Schwefelhölzer und Zigarren, Kalender und viele andere Dinge. Die Schule konnten sie nicht besuchen, weil sie keine Zeit dazu hatten, keine Schuhe an den Füßen und nur notdürftige Kleidung auf dem Leib. Einen dieser Jungen, den Wichern als „Findling irgendwo aufgelesen hatte, wird er ein Jahr darauf als ersten Zögling mitnehmen in das neu zu gründende Rettungsdorf in Horn. Wichern fand diesen Jungen in der Wohnung und in den Händen eines ‚Trunkenboldes’. „Der 16jährige Knabe war fast so tierisch roh, wie man uns die in den Wäldern der Ardennen früher eingefangenen Kinder geschildert hat. In dem armen Jungen hatte sich kaum die erste Regung des Schamgefühls entwickelt, und sein Sprachschatz bestand aus sehr wenigen, seltsam gestalteten Wörtern. Über seine uns lange dunkel gebliebene Abkunft hat uns erst ein schmutziges Papier belehrt, welches sich in der Rocktasche des bald danach verstorbenen sauberen Pflegevaters vorfand. Er gehört zu den unglücklichen Kindern sträflicher Verbindung, welche von ihren verbrecherischen Eltern schon gleich nach der Geburt, mit einem dürftigen Reisepfennige versehen, auf die Wanderschaft geschickt, das heißt samt einer geringen Mitgift für immer armen Leuten übergeben werden, welche des blanken Sümmchens froh, ohne Zaudern allerlei Verpflichtungen unterschreiben, die sie so wenig kennen als zu halten imstande sind. Die Eltern hatten sich von ihren Pflichten auf rechtliche Weise losgekauft und bekümmern sich um ihr Fleisch und Blut nicht mehr!
Auch der