Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Hermann Rauschning: Ein deutsches Leben zwischen NS-Ruhm und Exil
Hermann Rauschning: Ein deutsches Leben zwischen NS-Ruhm und Exil
Hermann Rauschning: Ein deutsches Leben zwischen NS-Ruhm und Exil
eBook1.063 Seiten13 Stunden

Hermann Rauschning: Ein deutsches Leben zwischen NS-Ruhm und Exil

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Das Leben Hermann Rauschnings liest sich wie eine Achterbahnfahrt durch das extreme 20. Jahrhundert: als Senatspräsident der Freien Stadt Danzig zählte er zu den prominenten Nationalsozialisten, bis ihn sein Bruch mit Hitler zu dessen Todfeind machte. Er floh ins Exil in die Schweiz, nach Frankreich, England und schließlich in die USA. Seine Bücher »Die Revolution des Nihilismus« und »Gespräche mit Hitler« wurden Bestseller, auch wenn diese Gespräche so nie stattgefunden haben. Nachdem der Versuch eines politischen Comebacks nach dem Zweiten Weltkrieg scheiterte, ging er zum zweiten Mal und endgültig ins Exil in die USA, von wo aus er sich bemühte, die politische Entwicklung in Deutschland publizistisch zu beeinflussen. Anhand bislang weithin unbekannter Quellen erschließt die Biographie von Albrecht Hagemann die Höhen und Tiefen eines Lebens, das exemplarisch für die Zerrissenheit und Abgründigkeit der Epoche zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik steht.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum14. Mai 2018
ISBN9783412505684
Hermann Rauschning: Ein deutsches Leben zwischen NS-Ruhm und Exil
Autor

Albrecht Hagemann

Albrecht Hagemann hat in München und Bielefeld Geschichte, Slawistik und Sozialwissenschaften studiert und bei Hans-Ulrich Wehler promoviert. Seite 1985 ist er als Gymnasiallehrer tätig.

Ähnlich wie Hermann Rauschning

Ähnliche E-Books

Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Hermann Rauschning

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Hermann Rauschning - Albrecht Hagemann

    my_cover_image

    böhlau

    Albrecht Hagemann

    Hermann Rauschning

    Ein deutsches Leben

    zwischen NS-Ruhm und Exil

    2018

    BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

    © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Köln Weimar Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

    Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

    Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

    Satz und Reproduktionen: SchwabScantechnik, Göttingen

    EPUB-Produktion: Lumina Datametics, Griesheim

    ISBN 978-3-412-50568-4

    »Wir müssen es wagen, über Undenkbares

    nachzudenken. Denn wenn etwas undenkbar wird,

    setzt das Denken aus und das Handeln wird kopflos.«

    US-Senator J. William Fulbright

    INHALT

    Prägungen

    Eintritt in die Politik

    Die Deutschen in Polen nach dem Ersten Weltkrieg

    Arbeit für die deutsche Minderheit in Polen

    Abschied aus Polen und Neuanfang im Freistaat Danzig

    Als Landwirtschaftsexperte in die NSDAP

    Innerparteiliche Gegner

    Nationalsozialistischer Senatspräsident von Danzig

    Die Volkstagswahlen vom 28. Mai 1933

    Politische Weichenstellungen

    Kein Déjà-vu: die neue Senatspolitik gegenüber Polen

    Rivalität zwischen Partei und Staat an der Mottlau

    Die Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung

    Weitere Felder der Danziger Innenpolitik

    Auf außenpolitischer Bühne

    Wirtschaftliche Probleme

    Riskanter Verständigungskurs gegenüber Polen

    Konfrontation

    Ein Aufstand gegen Gauleiter Forster?

    »Präsidentenkrise« und Rücktritt

    Gefährliches Renegatendasein im Freistaat

    Bilanz der Senatspräsidentschaft

    Kassandra in der Fremde

    Zürich und Die Revolution des Nihilismus

    Paris und die Gespräche mit Hitler

    London und Die Konservative Revolution

    Von New York über Hollywood nach Oregon

    Das Kriegsende und die Nürnberger Prozesse

    Erste Kontakte nach Europa

    Rückkehr in die Alte Welt?

    Aufrichtige Gesinnung und fragwürdige Publikationsorte

    Versuch eines Comebacks in der Bundesrepublik

    Fürsprache bei Bundespräsident Theodor Heuss

    Ein kritisches Urteil mit Folgen

    Privates

    Politisch rastlos in der jungen Bundesrepublik

    Frühe nachrichtendienstliche Beobachtung

    Der Rubikon von Düsseldorf

    Neutralnationalismus und Ostgeschäfte

    Als Publizist bei den Rheinisch-Westfälischen Nachrichten

    Im Fadenkreuz der Regierung Adenauer

    Enthüllungen, Diffamierungen und ein Akt der Notwehr

    Die Wiederzuerkennung des Doktortitels

    Letzte Wochen bei den RWN

    Interesse für religiöse Themen

    Adenauers Moskau-Reise und und der Vorschlag einer »Deutschen Notgemeinschaft«

    Das Verfahren des Bundesgerichtshofes und seine Einstellung

    Das zweite Exil in den Vereinigten Staaten

    Erneuter Neuanfang

    Ein Déjà-vu: Publizieren an einem zwielichtigen Ort

    Um den Reichstagsbrand

    Heinrich Brüning als Bundespräsident?

    Kritik und Selbstkritik, Demut und Zorn – bilanzierende »Episteln«

    Nicht frei von materiellen Sorgen: letzte lange Jahre

    Fazit: zweierlei Odyssee

    Danksagungen

    Abkürzungsverzeichnis

    Quellen- und Literaturverzeichnis

    Ungedruckte Quellen

    Gedruckte Quellen, Nachschlage- und Unterrichtswerke

    Literatur

    Reihen, Zeitungen und Zeitschriften

    Weitere Medien

    Personenregister

    Anmerkungen

    PRÄGUNGEN

    »He Talks«, »er spricht« – in großen Neonbuchstaben wirbt das Broadway Theatre in der City von Portland nahe der amerikanischen Pazifikküste in einer Nacht des Jahres 1940 für Charlie Chaplins berühmte Hitler-Satire Der große Diktator. »Er« – damit ist Hitler gemeint, verfremdet durch Person und Stimme Chaplins. Und noch mehr verheißt die Neonwerbung: »All the World is Laughing again«, »die ganze Welt lacht wieder«. Zumindest die ganze amerikanische Welt, die zu dieser Zeit noch glaubt, sich von dem von Hitler-Deutschland entfesselten Kriegsgeschehen fernhalten zu können.¹ Polen leidet schon längst unter der deutschen Besatzung, Dänemark und Norwegen sehen sich den Invasionstruppen der Wehrmacht ausgesetzt, im Westen fallen ihr das neutrale Belgien, die Niederlande und Luxemburg zum Opfer. Knapp 1000 tote Zivilisten fordert der verheerende deutsche Luftangriff auf Rotterdam am 14. Mai 1940. In Ostasien schickt sich Japan an, nach der Konsolidierung seiner Herrschaft über Teile Chinas in die rohstoffreichen Gebiete Südostasiens vorzudringen.

    Ein knappes Jahr vor dem Start des Chaplin-Films² begann in Europa die Karriere eines anderen Mediums, das angeblich Hitler sprechen ließ: Hermann Rauschnings Buch Gespräche mit Hitler. Es erschien zunächst Ende 1939 in Paris auf Französisch unter dem Titel Hitler m’a dit – »Hitler hat mir gesagt« – und dann im Januar 1940 in der neutralen Schweiz erstmals auf Deutsch in einer auf Druck der deutschen Regierung gekürzten Ausgabe. Mit seinem Bestseller versuchte Rauschning die Mächtigen der Welt aufzurütteln, Hitler nicht als Lachnummer darzustellen, sondern vor seinem buchstäblich grenzenlosen Fanatismus zu warnen. Als politischer Emigrant, der sich selber als nationalsozialistischer Präsident des Senats der Freien Stadt Danzig kurzzeitig mit Hitler eingelassen hatte, gelangte Rauschning im Zweiten Weltkrieg in die Vereinigten Staaten und schließlich in eben jenes Portland, das sein letzter Wohnsitz werden sollte. Doch wir greifen den Ereignissen vor.

    Hermann Adolf Reinhold Rauschning erblickte am 7. August 1887 in der damals westpreußischen Stadt Thorn das Licht der Welt. Sein 1861 geborener Vater Leopold bewirtschaftete das Familiengut Willgaiten bei Königsberg und war darüber hinaus aktiver Berufsoffizier. Die Mutter, die 1866 geborene Clara Dauben, war die Tochter des Thorner Kaufmanns Hugo Dauben. Als preußischer Offizier hatte Hugo Dauben in einem Artillerieregiment gegen die Herero in der deutschen Kolonie Südwestafrika gekämpft.³ Die protestantischen Daubens konnten auf eine lange altpreußische Tradition im katholisch geprägten Ermland zurückblicken.

    Nach den Aufzeichnungen Hermann Rauschnings gehörte die väterliche Familie zu den ältesten nichtadligen, jedoch freien Geschlechtern Preußens.⁴ Das Geschlecht wurde erstmals im Jahre 1360 urkundlich erwähnt, als der Besitz eines Konrad Rauschning in Rauschningken im ostpreußischen Samland von preußischem in deutsches, genauer: kulmisch-magdeburgisches Recht »gebessert« wurde. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts stellte die Familie einen Bürgermeister von Königsberg, der auch an Bemühungen zur Wiedervereinigung des seit dem Zweiten Thorner Frieden von 1466 in einen preußischen Ordensteil und einen polnischen Teil zerfallenen Preußen beteiligt war. Seine Kinder siedelten sich in den wilden, noch ungerodeten Waldgebieten an, welche Preußen von Litauen trennten. Dort lebten die Rauschnings drei Jahrhunderte als freie Bauern; erst Hermann Rauschnings Ururgroßvater kehrte aus dem Grenzgebiet in die Gegend von Königsberg zurück. Hier machte er sich als Landwirt einen Namen und gelangte zu Wohlstand und Ansehen. Der 1788 geborene Urgroßvater Ludwig nahm als preußischer Rittmeister an den Befreiungskriegen gegen Napoleon teil. Er diente als Adjutant unter von Beneckendorff und von Hindenburg, einem Großonkel des späteren Reichspräsidenten Paul von Hindenburg.

    In dem evangelisch geprägten Elternhaus erfuhr der kleine Hermann eine kräftige Grundierung durch die preußische Geschichte, insbesondere durch jene frühe Epoche der mittelalterlichen Ostsiedlung, die er später als Ordenspreußen bezeichnete und der er einen nicht geringen Teil seines frühen schriftstellerischen Schaffens widmete. Wer jemals den kolossalen Anblick der Marienburg an der Nogat auf sich hat wirken lassen dürfen, bekommt eine Ahnung davon, welchen unauslöschlichen Eindruck dieses Backsteinmeisterwerk auf den heranwachsenden Hermann gemacht haben muss. Noch im Schatten der antipreußischen Hysterie der alliierten Kriegspropaganda während des Zweiten Weltkriegs, aber auch mit kaum verhohlener Ablehnung der in der Historikerzunft der Bundesrepublik in den 1960er Jahren zaghaft beginnenden Preußenkritik, schrieb Rauschning über sein Verständnis dieses Staates: »Ein Preußen, das als Spätblüte des Hochmittelalters für mehrere Jahrhunderte eine Synthese weltlicher und geistlicher Ordnung verwirklichte und den Europa und insbesondere das Reich zerspaltenden Konflikt zwischen Kaiser und Papst in seinem Gebiet zu überwinden verstand«.

    Gemäß dem Beruf des Vaters sollte auch Hermann Rauschning eine militärische Laufbahn einschlagen. Mit elf Jahren trat er in die Potsdamer Vorkadettenanstalt, später in die Großlichterfelder Hauptkadettenanstalt ein. Rückblickend stellte er der Ausbildung in diesen Anstalten ein respektables Zeugnis aus, genauer: Sie sei »besser als ihr Ruf« gewesen: streng monarchistisch der Geist der Erziehung, »mehr Sein als Scheinen« eines ihrer Leitprinzipien, welches dazu führen sollte, »sich nicht selber wichtig zu nehmen, sondern einer Sache zu dienen«. Weniger die Schärfung des Intellekts und die Vermittlung breiten Wissens habe im Vordergrund gestanden, sondern Charakterbildung, die wiederum auf einem ernsten, vom Pietismus geprägten Christentum ruhte. Nicht wenige seiner damaligen Kameraden, so Rauschning, gehörten später zu Offizieren im Umfeld des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944.

    Doch die Dinge entwickelten sich anders als geplant. Während des vorletzten Jahres vor der ersten Offiziersprüfung zum Fähnrich erkrankte Rauschning an Scharlach, der ein schweres Herzleiden, eine Perikarditis, nach sich zog. Die unmittelbaren Folgen bestanden in einem einjährigen Ausschluss vom Schulunterricht sowie im Abbruch der Militärkarriere im Jahre 1903. Im Selbststudium machte sich der Heranwachsende in langen Mußestunden mit den deutschen Klassikern, allen voran mit den Werken Goethes, vertraut. Lange Phasen des Alleinseins infolge der chronischen Krankheit – dies war kennzeichnend für die späte Jugendzeit Rauschnings, und auch jenes: Gesellige Abende im Kreise Gleichaltriger, womöglich garniert mit alkoholischen Getränken, verboten sich aus medizinischen Gründen.

    Um seine Krankheit zu kurieren, verbrachte der Patient mehrere Monate in dem auf über 1000 Metern Höhe gelegenen Dörfchen Habkern oberhalb von Interlaken im Berner Oberland. Jahrzehnte später schrieb Rauschning, dass der Erholungsaufenthalt in Habkern die Weitung seines Horizontes bewirkt habe. Grund dafür war in erster Linie seine herzliche Aufnahme durch den reformierten Ortspfarrer Gottfried Jordi und ganz allgemein die ihm von den Dorfbewohnern entgegengebrachte Gastfreundschaft. Er mochte wohl auch die freudlosen preußischen Kasernen daheim im Sinn gehabt haben, als er notierte: »Kurz, es öffnete sich mir hier so etwas wie eine hellere, eine freundlichere Welt. Ich erfuhr hier so etwas wie eine persönliche Revolution, eine wirkliche Umkehr.« Und wenig später hieß es: »Kurz, mir weiteten sich meine Anschauungen. Ich machte hier eine Wandlung durch wie eine solche in so kurzer Zeit und solcher Tiefe und Tragweite sicher nur selten ist. Die Erinnerung an diese Wohltat ist nie verblaßt.«

    Die Wandlung hatte zunächst ganz konkrete Konsequenzen insofern, als Rauschning sich nun eher musischen Neigungen hingab und entsprechende Berufsziele ins Auge fasste. Nach Intermezzi an Schulen in Glogau und Graudenz wechselte er für die letzten knapp zwei Jahre seiner gymnasialen Ausbildung an das altehrwürdige Katharineum in Lübeck. Zu Ostern des Jahres 1906 erhielt er hier das Reifezeugnis vom realgymnasialen Zweig dieser Schule. Das Dokument, das die Lübecker Feuerstürme des Zweiten Weltkriegs überlebt hat, enthält ganz überwiegend die Note »genügend« – so etwa in den Fächern Deutsch, Geschichte, Englisch, Mathematik und Physik. Während sich in den Kopfnoten unter »Betragen« ein »gut« findet, wird sein »Fleiß« nur mit einem »befriedigend« bewertet. Der Kommentar des die Prüfungsarbeit im Englischen – eine »Über-setzung historischen Inhalts« – korrigierenden Lehrers begründete die vergebene Note »genügend« mit der »anerkennenswerten Geschicklichkeit im Gebrauch des Englischen« durch den Prüfling. Noch besser schnitt Rauschning mit seinem Deutschaufsatz ab, dessen Thema lautete: »Welche Sendung hat Iphigenie in Goethes gleichnamigem Schauspiel zu erfüllen?« Der beurteilende Lehrer Dr. Krüger begründete sein »gut« u. a. mit der eigenen gedanklichen Leistung des Kandidaten und seinem gewandten Stil. Rauschnings Aufsätze »im letzten Jahr« seien »gut und noch besser« gewesen.

    Als angestrebtes Studium Rauschnings nannten die »Schulnachrichten« des Katharineums von 1906 die Fächer Philosophie und Kunstgeschichte.⁹ Er scheint gegen Ende seiner Schullaufbahn zwischen diesen Fächern und der Liebe zur Musik geschwankt zu haben.

    Aus der Feder des späteren Wirtschaftsgeographen und Geologen Hans Spethmann, der zum selben Abiturjahrgang des Katharineums gehörte wie Rauschning, stammt ein aufschlussreicher Bericht über »Geist und Leben im Katharineum« zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Er wurde 1931, also in einem Abstand von einem Vierteljahrhundert zur Reifeprüfung, verfasst.¹⁰ Da er Rauschnings schulisches Umfeld ein wenig ausleuchtet, sollen hier einige Schlaglichter daraus wiedergegeben werden, auch wenn sie Rauschning persönlich nicht erwähnen. Anders als der Realgymnasiast Rauschning absolvierte Spethmann das Gymnasium des Katharineums. Ihm zufolge war die gymnasiale Ausbildung an der Schule außerordentlich stark im Humanismus verankert, die Antike habe nahezu alle Fächer eindeutig dominiert. Bei den alten Sprachen sei nach seinem Urteil in dieser Hinsicht »des Guten zu viel« getan worden. Selbst in den Ferien hätten die Schüler ein ganzes Buch von Homer für den Wiederbeginn des Unterichts vorbereiten müssen. Das Realgymnasium hingegen sei zwar auch vom Geist der Antike geprägt gewesen, jedoch hätten hier die Naturwissenschaften und die neueren Sprachen ein größeres Gewicht besessen. Gymnasiasten blickten in der Regel auf die Realgymnasiasten herab. Arbeit, Ordnung und Disziplin – das war nach Spethmann die vorherrschende pädagogische Trias am Katharineum, dessen Lehrern er durchweg bescheinigt, den Schülern – Mädchen gab es dort noch nicht – menschlich und fair gegenübergetreten zu sein. Kein Schüler sei »wie auf dem Kasernenhof« behandelt worden. Für Spethmann war die Auslesefunktion der Schule offenbar selbstverständlich: »In Untersekunda war ein weiteres scharfes Aussieben nach den Leistungen, wobei das Urteil nicht auf einzelne Klassenarbeiten zurückging, sondern dem Gesamtbild des Schülers entnommen wurde. Hier war eine Abschlußmöglichkeit in dem Einjährigen gegeben, die ich – das ist mein unmaßgebliches persönliches Urteil – noch heute für ausgezeichnet halte, wo alles in Deutschland meint, durch das Abitur zur Universität kommen zu müssen.«

    Nach dem Unterricht habe man mit vielen Lehrern unter vier Augen »als Mensch zum Menschen« sprechen können, so Spethmann. Nicht selten sei es den Schülern gelungen, einen Lehrer vom eigentlichen Unterricht abzulenken, etwa indem von Horaz-Oden auf die »große Politik« eingeschwenkt wurde. Großen Staub wirbelte in der Schule der 1901 erschienene Roman Buddenbrooks des zeitweiligen Katharineum-Schülers Thomas Mann auf. Hanno Buddenbrooks am Ende des Romans ausführlich geschilderter Schultag porträtierte einige leibhaftige Lehrer – peinlich mitunter für diese, jedoch immer zum Gaudium der Schüler.

    Am Schluss seines Rückblicks, der immerhin inmitten der Erschütterungen durch die Weltwirtschaftskrise und angesichts wachsender politischer Radikalisierung in Deutschland entstand, suchte Spethmann noch einmal Trost in der Antike:

    … ganz gleichgültig, ob Herrschaft der Masse oder Diktatur eines einzelnen an der Tagesordnung ist, oder ob sich Staatssozialismus oder freie Privatwirtschaft entfalten will. Für all das bieten uns Rom und Athen, Troja und Karthago die größten Vorbilder und zeichnen uns die Bahnen, in denen sie verlaufen. Die Antike ist ein klarer Spiegel für die Gegenwart und damit auch ihre beste Lehrmeisterin.

    Gegen Ende seiner Schulzeit überwog offensichtlich Rauschnings Interesse an der Musik andere Neigungen. Exakt auf den Tag genau 375 Jahre nach der Gründung des Katharineums durch den Reformator Bugenhagen, am 19. März 1906, hielt Rauschning dort einen Abschiedsvortrag über »Michelangelo und Beethoven«.¹¹ Es war dies auch die Zeit, in der er gelegentlich auf der Orgel der berühmten St.-Marien-Kirche der Hansestadt spielte. Noch Jahrzehnte später erinnerte er sich im amerikanischen Exil mit Wehmut an diese Stunden.

    Über die Kirchenmusik fand Rauschning Zugang zum Werk Richard Wagners und damit nach eigenem Bekunden auch zu antisemitischen Schriften seiner Zeit. Wieder einmal an seinem Herzleiden erkrankt und »für längere Zeit isoliert, öffneten sich mir musikalisch und vor allem ideologisch ganz neue Landschaften«: Schriften Wagners wie Das Judentum in der Musik, Oper und Drama, darüber hinaus sein durch die Bayreuther Blätter gewecktes Interesse an Arthur Schopenhauers pessimistischer Philosophie führten ihn zu weiteren antisemitischen Klassikern. Er kam in Berührung mit den Ideen des Grafen Gobineau und mit Houston Stewart Chamberlains Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts sowie, so Rauschning,

    mit der für den Nationalsozialismus grundlegenden Rassenlehre vom nordischen Menschen als dem Träger aller Hochkulturen und dem Judentum als Gegenrasse, als dem »Ferment der Dekomposition«. Diese früh übernommenen Lehren, die aus Wagners Dichtungen dunkel und mystisch durchleuchteten und welche die klare Welt Goethes in den Hintergrund drängten, haben zweifellos in mir den Boden dafür vorbereitet, daß ich später dem Nationalsozialismus nicht mit der Kritik entgegentrat, die seine Weltanschauung verdiente, und daß ich nicht allein aus Zweckmäßigkeitsgründen, sondern auch aus einem Verständnis und einer gewissen Billigung für seine sonstige »Mission« ihm beitrat.¹²

    Indes: Empfänglich für die Aufnahme völkischen Gedankengutes, erklärte Rauschning, sei er bereits zuvor durch eine Island-Reise gemacht worden, die ihm sein Vater noch während der Schulzeit geschenkt hatte. Hier entflammte sein Interesse für die nordischen Sagas, die isländischen Bauerngeschichten und die Heldentaten der Wikinger. Es habe seiner Phantasie geschmeichelt, von einem isländischen Lokalhistoriker zu erfahren, dass die Rauschnings in ältesten Urkunden auch Russenigk hießen und einer im Pruzzenland hängen gebliebenen nordischen Erobererhorde der Warägerzeit entstammten.¹³

    Noch im Jahre 1906 siedelte Rauschning nach München über, um sich an der dortigen Universität für ein Musikstudium einzuschreiben. Als Nebenfächer wählte er Philosophie und Germanistik.¹⁴ Rund zwei Jahre blieb der junge Student in der bayerischen Metropole. Freimütig bekannte er später, dass er sein Studium nicht so sehr zum Zwecke der Vorbereitung späteren Broterwerbs betrieben habe. Vielmehr habe er diese Zeit als »gewährte Freiheit« begriffen, um sich ein umfassendes Wissen anzueignen. Unter seinen Münchner Musikdozenten sind insbesondere Ludwig Thuille (1861–1907) und der Schweizer Walter Courvoisier (1875–1931) hervorzuheben. Es war weniger die musikwissenschaftliche Ausbildung während der überschaubaren Münchner Episode, die Rauschning etwas Bleibendes mitgab, als vielmehr die Prägung durch die Neoromantik jener Jahre. Er selber schreibt dazu:

    München war damals die Stadt der Neoromantiker. Ich geriet dort unter den Einfluß der großen deutschen Tradition der Romantik. Die bedeutende Dichterin Ricarda Huch (ihr sollte Rauschning zeitlebens größte Verehrung entgegenbringen, A. H.) hatte ihr Werk über die Früh- und Spätromantiker vor wenigen Jahren veröffentlicht; Friedrich von der Leyen lehrte an der Universität über sie und führte in die Welt der Märchen und Sagen ein; mein Lehrer Thuille wie nach dessen frühem Tode Walter Courvoisier hatten Opern nach Märchen- und Sagenmotiven geschaffen … Es war die Zeit, in der die deutsche Jugend aus den engen Grenzen eines utilitaristischen Bürgertums in einer eigenen Bewegung aufbrach, um aus Volksüberlieferung und freier Natur eine eigene Sinngebung des Lebens, neue Formen des Gemeinschaftslebens und eine verläßlichere Grundlage der politischen und sozialen Ordnung zu gewinnen.

    Rauschning beschäftigte sich in seiner Münchner Zeit auch mit philosophischen und religiösen Fragen, erst später gerieten politische und soziale Probleme in seinen »Blickkreis«, wie er es nannte. Seine Lektüre umfasste jetzt zunehmend Werke der klassischen deutschen Transzendentalphilosophie mit Autoren wie Fichte, Hegel und Schelling. Über die antike Philosophie gewann er Zugang zur abendländischen Mystik, vornehmlich Meister Eckarts, Heinrich Seuses und Johannes Taulers. Mit Hilfe der Schriften der beiden Ostpreußen Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder sowie durch den Einfluss Friedrich Schleiermachers erarbeitete sich Rauschning ein neues Verhältnis zum christlichen Glauben, der, so seine eigenen Worte, »in richtiger Aufklärung verstanden, in innerster Übereinstimmung mit dem deutschen Idealismus zu stehen schien«. Damit war auch der Weg geebnet zu einer allmählichen Lösung von Richard Wagner und Schopenhauer und zu einer neuerlichen Hinwendung zur Kirchenmusik, zur »musica sacra«¹⁵.

    Mit dieser Entwicklung war auch sein Wechsel von München nach Berlin verbunden, wo er sich am 29. April 1908 an der Friedrich-Wilhelms-Universität, der Humboldt-Universität seit 1949, im Fach Musik immatrikulierte.¹⁶ Zu den bedeutendsten unter den insgesamt 19 Professoren, deren Veranstaltungen Rauschning in den nächsten drei Jahren besuchte, zählten der Schubertforscher Max Friedlaender, der Begründer der Tonpsychologie Carl Stumpf und der Mittelalterexperte Johannes Wolf. Vor allem aber hörte er bei dem Musiker, Dirigenten und Musikwissenschaftler Hermann Kretzschmar, der einem größeren Publikum durch seinen Führer durch den Konzertsaal (Leipzig 1887) geläufig war; seit 1909 war er darüber hinaus Direktor der Berliner Musikhochschule. Kretzschmar übernahm auch die Betreuung der Doktorarbeit Hermann Rauschnings, die sich mit der Musikgeschichte Danzigs befasste. Im Jahre 1911 wurde Rauschning schließlich promoviert – Bewertung »summa cum laude« für die Arbeit –, dabei hatte er jedoch erst das vierte Kapitel über die Anfänge des öffentlichen Konzertwesens in Danzig publiziert. In seinem Gutachten lobte Kretzschmar die Dissertation in höchsten Tönen; für die Nachwelt sollte hingegen von besonderer Bedeutung sein, dass Rauschning für seine Arbeit unwiederbringliche Archivalien Danzigs auswertete, die dann im Zweiten Weltkrieg entweder verbrannten oder anderweitig verloren gingen. Nach mehreren Überarbeitungen erschien Rauschnings Doktorarbeit im Jahre 1931 in Danzig unter dem Titel Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig. Das Buch diente fortab als einschlägiges »nützliches und übersichtliches Nachschlagewerk«, das auch über ein sorgfältig erarbeitetes Namens- und Sachregister verfügte.¹⁷

    Rauschning eröffnete sich nun die Laufbahn eines Musikhistorikers, als er den Auftrag zur Mitarbeit an dem großen Sammelwerk Denkmäler deutscher Tonkunst erhielt. Doch erneut machte sich sein Herzleiden bemerkbar und er sah sich gezwungen, den Auftrag aufzugeben. Auch die Vollendung von Skizzen zu romantischen Opern und polyphonen Chorwerken, die er bereits begonnen hatte, gelang nicht. Er verzettelte sich nach eigener Aussage durch ständige Selbstkritik in immer neuen Überarbeitungen und trieb so in eine bedrohliche Existenzkrise:

    Ich erkannte, daß meine musikalischen Fähigkeiten nicht ausreichten, um als schöpferischer Musiker Höchstes leisten zu können. So befand ich mich in den letzten Jahren vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges in einer durch Aussichtslosigkeit und Unentschlossenheit fragwürdigen persönlichen Lage. Ich erkannte mich später in dem Schicksal jenes jungen Mannes Castorp in Thomas Manns »Zauberberg« wieder und empfand wie dieser den Ausbruch des Krieges als eine Art Erlösung aus Ratlosigkeit und Ausweglosigkeit.¹⁸

    Trotz seines labilen Gesundheitszustandes meldete sich Rauschning als Kriegsfreiwilliger bei dem alten Regiment seines Vaters, das nun zur 8. Armee, der sogenannten Njemenarmee, gehörte.¹⁹ »Gleich anderen jungen Männern« in jener Situation, schreibt er, »befreite mich der Krieg vor dem Schicksal eine jener ›problematischen Naturen‹ zu werden, die mit nichts zufrieden zu stellen waren«. Der Krieg habe ihm fortab Richtung gegeben, er vermittelte ihm das Gefühl der »Schicksalsgemeinschaft einer Nation« und forderte »ein politisches Bewußtsein heraus«, das ihm bisher völlig gefehlt hatte.²⁰

    Wie die meisten Soldaten nahm auch Rauschning eine kurze Dauer des Krieges an. Und nicht um Eroberungen in der Welt, so seine Meinung in der Rückschau, sei es dem Kaiserreich gegangen, sondern »wir wußten uns angegriffen, seit langem umzingelt, eingekreist und am notwendigen Wuchs zu eigener Größe von außen gehemmt«. In seinen Reflexionen über den Ersten Weltkrieg weist Rauschning die lange Zeit populäre These zurück, wonach die Mittelmächte »fahrlässig in den Krieg hineingeschliddert« seien. Nach seiner Auffassung lag das Hauptproblem am Vorabend des Krieges in der »Furcht voreinander, vor der wachsenden Macht und Rüstung der anderen; die Sorge, daß ein langes Zuwarten die Lage noch verschlimmern würde, daß der eigentliche, der günstigste Moment, den Gegner in die Schranken zu weisen, bereits verpaßt sei«. Deshalb habe das Militär auf Handeln gedrängt, ehe die Politik »mit ihrem Verhandeln zu einem Ziel kommen konnte«. Und weiter: »Die diplomatischen Bremsvorrichtungen, die in den Beziehungen der Nationen zueinander katastrophale Beschleunigungen von Entwicklungen verhindern, konnten nicht in volle Funktion treten.« Zu den tiefer liegenden Ursachen für den Kriegsausbruch zählte er vor allem den Konflikt zweier Machtgruppen in Europa: Auf der einen Seite, so seine Analyse, standen im Zentrum des Kontinents das wirtschaftlich kraftstrotzende Deutschland und die Habsburgermonarchie und auf der anderen Seite Frankreich und England, die beide das Heranreifen ebenjener mitteleuropäischen Machtballung zu verhindern suchten. Für Rauschnings wenige Jahre später so eminent wichtiges Verhältnis zu Polen liest sich seine Beurteilung Russlands in diesem Szenario aufschlussreich: Russland habe im Ersten Weltkrieg nicht nur die Unterwerfung der »slawischen Gebiete Österreichs, die Vereinigung aller Slawen gemäß den panslawischen Träumen, sondern auch seit dem 18. Jahrhundert schon Königsberg und die nordöstlichen Teile Ostpreußens, und im Namen eines seiner Herrschaft einverleibten wiedervereinigten Polens die Gebiete bis zur Oder, das heißt, genau die Territorien, die infolge des Zweiten Weltkrieges von Deutschland abgetrennt wurden«, erstrebt.

    Rauschning verwirft in der Rückschau zumindest für den Kriegsbeginn die Vorstellung, das Kaiserreich habe expansionistische Ziele in Osteuropa verfolgt. Schon gar nicht sei es angemessen, die spätere Lebensraumpolitik Hitlers in Russland bereits in der deutschen Kriegszielplanung des Ersten Weltkriegs nachweisen zu wollen. In Anspielung auf die bahnbrechende Studie des Hamburger Historikers Fritz Fischer von 1961 (Griff nach der Weltmacht) wendet er sich dagegen, zeitgenössische Beurteilungsstandards an die politische Situation zur Zeit des Kriegsausbruches im Jahre 1914 anzulegen. Damals sei »Handeln aus Macht für Macht« gängige Münze gewesen und das Denken in Kategorien wie Machtgewinn, Expansion und Herrschaft über unterworfene Völker durchaus üblich – in Frankreich, England, Russland ebenso wie Deutschland. Das Kaiserreich habe dem zufolge vor allem Gebietserweiterungen »im Osten« fordern müssen, genauer: »die Herauslösung des ganzen Polens aus Rußland« sowie die Erhebung der baltischen Provinzen zu »selbständigen Staatswesen«. Vermutlich eingedenk des Friedens von Brest-Litowsk mit dem revolutionären Russland von 1918, durch den das kaiserliche Deutschland der am Boden liegenden Sowjetmacht Gebietsabtretungen aufzwang, die einer territorialen Auflösung Russlands nahekamen, bezweifelte Rauschning jedoch gleichzeitig, ob es aus deutscher Sicht tatsächlich sinnvoll gewesen sei, die Ukraine aus dem russischen Staatsverband herauslösen zu wollen oder überhaupt eine »Aufgliederung Rußlands in mehrere nationale Staaten« anzustreben.

    Rauschning vertrat hinsichtlich seiner Ostmitteleuropa-Vorstellungen grosso modo die liberal-imperialistische Konzeption Bethmann Hollwegs; er selber sah sich als Anhänger der Mitteleuropa-Ideen Friedrich Naumanns, der in seinem 1915 erschienenen, viel beachteten Buch Mitteleuropa einen engen militärischen Zusammenschluss der zentraleuropäischen Länder unter deutscher Führung gefordert hatte. Rauschning machte sich nach eigenem Bekenntnis Naumanns Ideen zu eigen, sie wurden nach seinen Worten zur Grundlage seiner politischen Vorstellungen, die ihn noch während seiner »Zugehörigkeit zum Nationalsozialismus bestimmten und meinen konkreten politischen Versuchen im Ausgleich mit Polen Richtung gaben«. Er sah in einem solchen Gemeinwesen »die späte Erfüllung, wenn auch in anderen Formen, jener Bestrebungen des Frankfurter Paulskirchenparlamentes von 1848/49«.²¹ Ein großes »zentral-europäisches Commonwealth aus einer Konföderation des deutschen Reiches mit Österreich-Ungarn als Basis nach monarchischem Prinzip durch Sekundogenituren der Hohenzollern, Habsburger und anderer regierender Häuser« schwebte Rauschning noch während des Ersten Weltkriegs vor. Dabei ignorierte er souverän ebenjene Kritik an dieser Konzeption, die sich auch Naumann hatte gefallen lassen müssen, wonach es nämlich durchaus zweifelhaft war, ob die zahlreichen Nationalitäten Mittel- und Ostmitteleuropas viel Begeisterung für eine deutsch-österreichische Hegemonie, ihren gleichsam »sanften Imperialismus«, aufbringen würden. Für Rauschning stand während der ersten Kriegsjahre fest: »Es bestand gute Aussicht, daß auch ein umfassender zentraleuropäischer Staatenbund auf solcher Grundlage lebensfähig sein und die rechte Mitte zwischen Zentralismus und Dezentralisation halten werde.« Der Fehler der Mittelmächte habe nicht darin bestanden, sich überhaupt solche Kriegsziele gesetzt, sondern an ihnen festgehalten zu haben, als ein vollständiger militärischer Sieg ausgeschlossen war. Spätestens mit dem Kriegseintritt der USA an der Seite Englands infolge des unbeschränkten deutschen U-Boot-Krieges hätte eine politische Lösung gefunden werden müssen – nun allerdings unter Verzicht auf jeden politischen Zugewinn des Reiches.²²

    Seine eigene politische Einstellung bei Kriegsende formulierte Rauschning als Konservativer rückblickend bündig so: »Das monarchische Prinzip hielt ich zu jener Zeit nicht nur für das deutsche Volk als das einer republikanischen Ordnung überlegenere.« In der Gedankenwelt Rauschnings überlebte am Tage des deutschen Zusammenbruchs auch die Vorstellung von einem starken Mitteleuropa. Mehr noch: Gerade weil die Siegermächte »alte Politik« jetzt endgültig durchzusetzen versuchen würden, nämlich die europäische Mitte und damit Deutschland schwach zu halten, müsse das Ziel eine »Regeneration der Mittelmächte« sein, einschließlich eines militärischen Wiederaufstiegs Deutschlands. Es überrascht daher nicht, dass der Konservative die von ihm so bezeichneten »Pariser-Vorort-Friedensdiktate für Österreich und Deutschland« kategorisch ablehnte und natürlich auch das »Versailler Friedensdiktat« insgesamt demselben Urteil verfiel. Nur kurz sei hier daran erinnert, dass die vehemente Ablehnung des Versailler Vertrages quer durch alle deutschen Regierungsparteien verlief. Berühmt wurde der Ausruf des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Philipp Scheidemann: »Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fessel legt?«

    Der Vertrag war in Rauschnings Augen nicht nur ein »ungerechter Gewaltfriede«, sondern »in seinem Niveau tief unter solchen Friedensverträgen, wie der Westfälische Frieden 1648 oder der Wiener Kongress 1815«. Unklug sei er insbesondere deshalb gewesen, weil Gewalt erneut Gewalt hervorrufen musste, die Kränkung der deutschen Ehre erst jenes deutsche Volk geschaffen habe, »das der feindlichen Kriegspropaganda zu ähneln begann«. Und in summa: »In der Erkenntnis solcher Zusammenhänge bin ich Nationalsozialist geworden.«²³

    Nicht nur die Gedankenwelt Hermann Rauschnings sah sich während der vier Kriegsjahre mancher Prüfung ausgesetzt – auch das Privatleben des nun rund 30-Jährigen erfuhr wichtige Weichenstellungen.²⁴ Im letzten Sommer vor dem Kriegsausbruch im Jahre 1914 hatte er in seiner Heimatstadt Thorn die rund acht Jahre jüngere Anna Schwartz kennengelernt. Ihr Großvater mütterlicherseits hatte einst die Geschicke der Stadt Thorn als Bürgermeister geleitet, ihr Vater zählte zu den Thorner Honoratioren.

    Anna und Hermann fanden im Gespräch über die Musik zueinander, denn auch Anna widmete sich in Berlin der Musik: Sie nahm Klavierunterricht und spielte gelegentlich in Konzerten. Auch ein gemeinsames Interesse an der Landwirtschaft führte die beiden zueinander, wie sich Anna erinnerte. Als sich Hermann Rauschning ebenso wie sein Vater bei Kriegsbeginn als Freiwillige bei ihrem alten Regiment meldeten, verließ Anna kurzzeitig Thorn, um zu ihrer Tante Berta nach Berlin zu gehen. Wenig später kehrte sie jedoch zu ihrem Vater in ihre Heimatstadt zurück. In den ersten Kriegsjahren seien die Deutschen in Thorn regelmäßig in Jubel ausgebrochen, sobald die Kirchenglocken einen Sieg verkündeten. Man habe sich über die Ursachen des Krieges keine Gedanken gemacht und außerdem: Junge Mädchen hatten keine eigene Meinung zu haben, so Anna.

    Ihr Hermann schrieb noch Briefe von der Front in Polen, dann hörte Anna lange Zeit nichts mehr von ihm. Voller Sorge machte sie sich auf den Weg nach Berlin, um Neuigkeiten in Erfahrung zu bringen. Hier erfuhr sie von einer Verwundung ihres Angebeteten und von einem wochenlangen Lazarettaufenthalt in Berlin-Charlottenburg, in dessen Verlauf auch eine Operation erforderlich wurde.²⁵ Nach seiner Erholung begleitete Anna ihren Hermann zu seinem Regiment nach Thorn. In dieser Zeit baten die jungen Leute ihre Eltern um das Einverständnis für ihre Hochzeit, das freudig gegeben wurde. Als Ort der Trauung Anfang 1915 wählten die Brautleute das schlesische Krummhübel, wo sich Hermanns Mutter aufhielt. Unmittelbar nach der Hochzeit kehrte Hermann zu seinem mittlerweile in Litauen stationierten Regiment zurück, während Anna noch eine Weile bei ihrer Schwiegermutter in Schlesien blieb, bevor sie im Frühjahr 1915 nach Berlin wechselte. Hier brachte sie ihr erstes Kind, ein Mädchen, zur Welt. Mit ihrer nur wenige Monate alten Heilwig brach Anna Rauschning ins ostpreußische Tilsit auf, wo ihr Ehemann inzwischen stationiert war. In der Stadt mietete die kleine Familie, die sich 1916 um die Tochter Luise (»Ise«) vergrößerte, eine enge Wohnung. Anna Rauschnings Erinnerungen an die folgenden Monate spiegeln in dürren Worten den sich wandelnden Kriegsverlauf: Eintreffende Briefe von Freunden und Verwandten lasen sich immer weniger euphorisch und immer öfter war vom Tod die Rede sowie »von der großen Ehre, für sein Land gefallen zu sein«. Bei Kriegsende schließlich, so Anna, herrschten tiefe Erschütterung und Hoffnungslosigkeit angesichts der Zukunft Deutschlands.

    Hermann Rauschning befand sich bei Kriegsende nach eigener Erinnerung in »einer persönlichen Lage wie Hitler, der, im Lazarett liegend«, beschlossen hatte, »Politiker zu werden«.²⁶ Sein politisch-ideologisches Koordinatensystem trug dem deutschen Zusammenbruch nur teilweise Rechnung. Nach wie vor empfand er sich als Monarchist. Darüber hinaus jedoch verspürte er durchaus das Verlangen nach etwas radikal Neuem. Für ihn hatte die bürgerliche Welt abgewirtschaftet, hatten die einst tonangebenden Schichten, denen er selber entstammte, das Recht auf politische Führung verwirkt. Dass aber, wie manche Intellektuelle forderten, das deutsche Bürgertum eine Revolution quasi nachholen und geistig-ideologisch zum Westen aufschließen sollte, fand Rauschning nicht. Als Konservativer, als welcher er sich selber bezeichnete, sah er sich widerspruchslos an der Seite des Sozialismus. Denn, so Rauschning, das konservative Denken stehe »von jeher sozialistischen Gedankengängen näher als liberalen«, und zwar insofern, als »daß Konservatismus wie Sozialismus beide auf ihre Weise die Pflicht des Dienstes dem Recht auf individuelles Glücksstreben voranstellen«. Ohnehin erwartete er angesichts der desaströsen Lage Deutschlands die Regeneration seines Volkes »nur durch die Dienstpflicht für das Gemeinwesen, nicht durch die Entbindung der individuellen Schöpferkräfte allein«. Es bedurfte nach seiner Auffassung einer »Art Revolution«, einer völligen »sozialen Neuordnung«, jedoch nicht unter marxistischem Vorzeichen. Ständestaatliche Ideen, Korporatismus und Monarchismus – dies waren Fixpunkte, die Rauschnings künftiges politisches Denken bestimmen sollten. Wohl gestand er rückblickend ein, dass er im Sog »unausgegorener« korporatistischer »Ideen« gefangen gewesen sei, einem Sog, der »letzten Endes zum Nationalsozialismus« geführt habe, doch habe für ihn auch dies gegolten: Die Neugestaltung der künftigen Ordnung müsse von der »Gerechtigkeit und der Verpflichtung« getragen sein, »der Arbeiterschaft die ihrem Gewicht entsprechende Bedeutung im Prozess der politischen Willensbildung zu geben«.²⁷

    Alles Klagen über den Zusammenbruch und alle theoretischen Gedankenspiele hinsichtlich der Zukunft Deutschlands vermochten jedoch ein ganz profanes Problem Rauschnings nicht zu beheben. Er hatte nun eine Familie zu versorgen.

    EINTRITT IN DIE POLITIK

    Nach der deutschen Kapitulation kehrte Rauschning gemeinsam mit seiner Frau zunächst in das Haus seiner Schwiegereltern in Thorn zurück. Nach unbestätigten Gerüchten soll er noch vor der Demobilisierung als Offizier in Freikorps- und Grenzschutzeinheiten gegen polnische Aufständische gekämpft haben.²⁸ Er trug sich dann offenbar mit dem Gedanken, nach Berlin zu gehen, jedoch überzeugte ihn im Jahre 1920 der aus Ostfriesland stammende Volkswirt und Funktionär im Verband Deutscher Genossenschaften im Posener Gebiet, Friedrich Swart, die Leitung des deutschen Büchereiwesens in Posen zu übernehmen.²⁹ Rauschning entschied sich damit für die Arbeit zu Gunsten des Deutschtums in einer Region, die soeben die totale Umkehrung der politischen Herrschaftsverhältnisse erlebte. Um die Rahmenbedingungen seines mehrjährigen Wirkens in Posen, aber auch später in Danzig, besser verstehen zu können, sollen die Hintergründe dieser Kehrtwende kurz umrissen werden.

    Die Deutschen in Polen nach dem Ersten Weltkrieg

    124 Jahre nach dem endgültigen Untergang der polnischen Adelsrepublik infolge dreier polnischer Teilungen stieg Polen durch den Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919 wie ein Phoenix aus der Asche zu neuer Staatlichkeit empor. Einigermaßen entsetzt und verbittert sahen sich die Deutschen in Galizien, Oberschlesien, Posen und Westpreußen von einem Tag auf den anderen auf den Status einer Minderheit gedrückt, nachdem sie ihrerseits zuvor jahrzehntelang das Staatsvolk gebildet hatten. Es war kaum zu erwarten, dass die Deutschen diese radikale Umwälzung der Machtverhältnisse widerspruchslos hinnehmen würden. So entwickelte sich nach Inkrafttreten der Vertragsbestimmungen am 10. Januar 1920 das, was im Deutschen Volkstumskampf und im Polnischen Grenzkampf genannt wurde.³⁰ Marian Wojciechowski weist darauf hin, dass beide Bezeichnungen Mystifizierungen bedeuteten, sowohl der Deutschen, die nun polnische Staatsbürger, als auch der Polen, die nun Angehörige des Staatsvolkes waren. Denn, so Wojciechowski,

    unbeschadet der irredentistischen Einstellung der deutschen Bevölkerung auf ehemaligem Reichsgebiet und unbeschadet einer polnischen Politik, die alle Zeichen einer nationalen Unterdrückung trug, doch auch die Irredenta bekämpfte, lebten Polen und Deutsche einträchtig nebeneinander, wie unberührt vom Volkstumskampf, den deutsche Minderheitsorganisationen propagierten, und gleichsam unabhängig vom Grenzkampf, den die polnischen Behörden führten und polnische nationalistische Organisationen ausriefen. Ähnlich hatte in diesen Gebieten der Alltag der Deutschen und Polen vor 1914 ausgesehen, nur unter anderem Vorzeichen, als die von Bismarck ausgehende Germanisierungspolitik des preußischen Staates das Zusammenleben der Völker vergiftete. Sie lebten vor dem Ersten Weltkrieg und nach dessen Ende innerhalb eines Staatsverbandes: zunächst im preußischen, dann im polnischen; sie lebten nicht nur nebeneinander, sondern auch miteinander, und das Resultat dieser Osmose waren unter anderem zahlreiche Mischehen.³¹

    Das Deutschtum unter polnischer Herrschaft lebte nach dem Ersten Weltkrieg in sechs verschiedenen Regionen, und zwar erstens in Polen und Pommerellen mit vorwiegend bäuerlichem Grundbesitz (80 %) und einem gut entwickelten Genossenschaftswesen, zweitens in Oberschlesien mit seinem Industriegebiet, drittens in der 700 Jahre alten deutschen Sprachinsel Bielitz-Biala im ehemaligen österreichischen Schlesien, jetzt Westgalizien, viertens in Mittel- bzw. Kongresspolen, fünftens in Wolhynien und schließlich, sechstens, in Galizien.³²

    Im Verlauf des Sommers 1919, als in und bei Paris um die zukünftigen Grenzen in Mittel- und Ostmitteleuropa und damit auch um die Zugehörigkeit von Minderheiten zu Staatsvölkern gerungen wurde, versuchten polnische Kreise die alliierten Verhandlungsführer von weitreichenden Polonisierungsabsichten hinsichtlich der Konkursmasse der Romanows, der Hohenzollern und der Habsburger zu überzeugen. Die polnische Delegation wurde dabei von dem Ministerpräsidenten und weltberühmten Pianisten Ignacy Paderewski angeführt. Tatsächlich jedoch standen sich in Paris auf polnischer Seite zwei Gruppen gegenüber. Jozef Pilsudski, seit 1920 Marschall, inspirierte jene Kreise, die größeres Interesse an östlichen Gebieten, mithin an einer Wiederherstellung der historischen »jagiellonischen Hegemonialstellung« der Polen über Litauer, Weißrussen und Ukrainer hatten. Auf der anderen Seite stand das von dem Nationalisten Roman Dmowski geführte polnische Nationalkomitee, das die Überlassung ganz Oberschlesiens, der Provinzen Posen und Westpreußen (künftig Pommerellen genannt) einschließlich Danzigs, des südlichen Ostpreußens sowie einiger niederschlesischer und ostpommerscher Kreise als »urpolnische Gebiete« forderte, die insgesamt eine Fläche von rund 84.000 Quadratkilometern ausmachten.³³ Vor allem dem Einfluss des britischen Premierministers Lloyd George verdankten es die Deutschen, dass sich Dmowski mit seinen Vorstellungen nur etwa zur Hälfte durchsetzen konnte. So fiel nur Posen mit Ausnahme einiger westlicher Kreise sowie der größte Teil Westpreußens an Polen. Danzig, und darauf wird noch zurückzukommen sein, wurde zum Freistaat unter Völkerbundstatut erklärt, womit eine staatsrechtliche Konstruktion erreicht wurde, die jener in vorpreußischer Zeit ähnelte, als Danzig eine deutsche Stadtrepublik innerhalb Polens bildete.

    Dmowski hatte in Paris für die Pläne des Nationalkomitees weithin ungehindert agitieren können, da sein Kontrahent Pilsudski im Frühjahr 1920 damit beschäftigt war, seine ostpolnischen Träume mit militärischer Gewalt zu verwirklichen. Dabei erzielten seine Truppen zunächst auch enorme Erfolge, standen zeitweilig vor Kiew, wurden dann aber von den Russen bis Warschau zurückgeworfen. Der Rigaer Frieden von 1921 zwischen Polen und Sowjetrussland rettete die junge polnische Republik denkbar knapp vor einer Niederlage. Naturgemäß sah man auf deutscher Seite die polnische Bedrängnis durch Russland keineswegs ungern. In rechten Kreisen der Weimarer Republik kam damals das Wort vom polnischen »Saisonstaat« auf, der seine Existenz nur der augenblicklichen Schwäche Deutschlands und Russlands verdanke. Um es vorwegzunehmen: Der Konservative Hermann Rauschning hat, bei aller Kritik an der Polonisierungspolitik Warschaus gegenüber den Deutschen in der neuen Republik, die Vorstellung von einer bloß vorübergehenden Staatlichkeit Polens immer abgelehnt.

    Wir erwähnten bereits, dass in Deutschland der Versailler Vertrag quer durch die politischen Lager einhellig abgelehnt wurde. Aber auch in Polen reagierte man vielfach mit Enttäuschung angesichts der von den Nationalisten um Dmowski geschürten Erwartungen. Insbesondere ein geplantes Plebiszit zur künftigen Staatsangehörigkeit der Bewohner Oberschlesiens sowie die für Danzig gefundene Lösung riefen Erbitterung hervor. Ministerpräsident Paderewski sprach von einem »grausamen Schlag«, den er nur mit »tiefem Bedauern« annehmen könne.³⁴

    Doch es sollte noch schlimmer kommen. Zusammen mit dem Versailler Vertragswerk musste die polnische Regierung einen Minderheitenschutzvertrag unterzeichnen. Es war insbesondere dieses Abkommen, das in Polen als Verletzung der Souveränität, ja als blanke Demütigung empfunden wurde. Das Land verpflichtete sich, allen Einwohnern »ohne Unterschied der Geburt, Nationalität, Sprache, Rasse und Religion« volle Freiheit und staatsbürgerrechtliche Gleichberechtigung sowie das Recht auf eigene Schulen und die eigene Sprache zu gewähren. Rund ein Drittel der 27 Millionen Einwohner der neu gegründeten polnischen Republik gehörte einer Minderheit an, darunter vor allem Ukrainer, Deutsche, Litauer und Juden. Nach Martin Broszat war der Minderheitenschutzvertrag namentlich auf Betreiben jüdischer Organisationen zustande gekommen. Eingedenk antijüdischer Pogrome von polnischer Seite im 19. Jahrhundert fürchteten sie nationalistischen Druck im neuen polnischen Staat.

    In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen führten die ca. 1,1 Millionen Deutschen in Polen einen hartnäckigen defensiven Kampf gegen die Assimilierungspolitik der polnischen Behörden, so der Politikwissenschaftler Hans-Adolf Jacobsen.³⁵ Für alle Minderheiten in Polen hatte Kultusminister Stanislaw Grabski die Vorgabe gemacht, ihr Anteil müsse auf eineinhalb Prozent der Gesamtbevölkerung gedrückt werden. Und Grabski weiter: »Das fremde Element wird sich umsehen müssen, ob es sich anderswo besser befindet. Das polnische Land ausschließlich für die Polen!«³⁶ Immer wieder findet sich in polnischen Stellungnahmen der 1920er Jahre der reflexartige Hinweis, man betreibe gegenüber den Deutschstämmigen im Lande nur jene Politik, die Preußen gegenüber den Polen vor dem Ersten Weltkrieg durchgeführt habe – nun aber mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Warschauer Regierung übernahm beinahe wörtlich das preußische Sprachengesetz von 1876, mit dem einst die polnische Sprache unterdrückt werden sollte; im Gesetzestext wurde lediglich das Wort »deutsch« durch »polnisch« ersetzt.³⁷ Deutsche Schulen sollten nach dem Minderheitenschutzvertrag eingerichtet werden, wenn die Eltern von mindestens 40 schulpflichtigen Kindern dies wünschten. Örtliche Behörden übten häufig Druck auf die Eltern aus, damit diese Zahl nicht erreicht wurde. Auch kam es vor, dass tatsächliche oder angebliche bauliche Mängel die Unterrichtsaufnahme verhinderten. Verboten war auch die Erteilung von häuslichem Deutschunterricht und reichsdeutsche Lehrer erhielten in der Regel keine Zulassung.

    Großen Unmut unter der deutschstämmigen Bevölkerung Polens erregte die Bodenreform aus dem Jahre 1925, die insbesondere sozialistische Wünsche bediente. Sie gestattete die Enteignung von Grundbesitz von mehr als 180 Hektar und seine Aufteilung in Siedlerparzellen. Von deutscher Seite wurde die Agrarreform als ein einseitig gegen den deutschen Großgrundbesitz gerichtetes Instrument gesehen. Die Zahl von 734.000 neuen Bauernstellen, die infolge dieses Gesetzes geschaffen wurden, zeigt, dass dies so nicht zutraf. Denn so viel deutschen Großgrundbesitz gab es nicht; richtig sei aber, so Jobst Gumpert, dass das Gesetz gegen Deutsche stärker angewandt worden sei als gegenüber Polen.³⁸ Auch Hermann Rauschning sollte sich noch mit der polnischen Agrarreform befassen, wie zu zeigen sein wird.

    Aus Furcht vor »Geheimbündeleien und Sabotage« verbot Warschau in den 1920er Jahren jede politische Volkstumsorganisation. Die 17 deutschen Sejmabgeordneten und die fünf Senatoren im Warschauer Parlament standen denn auch auf ziemlich verlorenem Posten, während der vom Völkerbund garantierte Minderheitenschutz auch deshalb versagte, weil die Deutschen in Polen mehr die Summe von Individuen waren, nicht aber eine festgefügte, willensstarke Gemeinschaft, die ihre Interessen im Rahmen der Gesetze mit Nachdruck zu vertreten suchte.³⁹ Hermann Rauschnings Arbeit in Posen seit 1920 galt in nicht geringem Maße dem Kampf gegen diese Zersplitterung des Deutschtums in den neuen polnischen Grenzen.

    Der Versailler Vertrag und der Minderheitenschutzvertrag sahen vor, dass die Deutschen ohne Weiteres die Möglichkeit haben sollten, die polnische Staatsangehörigkeit zu erwerben. Sie konnten jedoch auch für die deutsche Staatsbürgerschaft optieren. Von dieser zweiten Möglichkeit machte ein erheblicher Teil Gebrauch und wurde daraufhin im Laufe der nächsten Jahre zur Auswanderung gezwungen. Denn dies war der Streitpunkt hinsichtlich der »Optanten«: Nach deutscher Ansicht hatten die »Optanten« zwar das Recht, nach Deutschland überzusiedeln, mussten es aber nicht. Nach polnischer Auffassung hatten sie zwingend das Land zu verlassen. Wesentliche Ursache für den Streit war der Umstand, dass die Option im Versailler Vertrag einerseits und im Minderheitenschutzvertrag andrerseits jeweils etwas unterschiedlich geregelt war. Ausgenommen vom schnellen Erwerb der polnischen Staatsangehörigkeit waren diejenigen, die erst nach dem 1. Januar 1908 ihren Wohnsitz in die polnisch gewordenen Gebiete verlegt hatten. Damit hing es vom Belieben der polnischen Behörden ab, ob sie diesem Teil der Deutschen in Posen, Westpreußen und Oberschlesien die polnische Staatsbürgerschaft oder eine Aufenthaltsgenehmigung erteilen wollten.

    Arbeit für die deutsche Minderheit in Polen

    Als gebürtiger Thorner (Westpreuße) hatte Hermann Rauschning Anspruch auf die polnische Staatsbürgerschaft und er beantragte sie auch. Sie wurde ihm jedoch verweigert, wohl deshalb, weil der polnischen Seite seine Arbeit für das Deutschtum in der Deutschen Bücherei zu Posen ein Dorn im Auge war. Die Regierung wollte sich die Möglichkeit offenhalten, Rauschning notfalls ausweisen zu können, was sie auch wiederholt versuchte, um schließlich in Form eines »befristeten Aufschubs« doch darauf zu verzichten.⁴⁰

    Zusammen mit seiner Frau und den Töchtern Heilwig und Luise zog Rauschning Ende 1919 aus dem schwiegerelterlichern Haus in Thorn nach Posen, wo die Familie zunächst eine winzige Wohnung bezog. Anfangs half Anna Rauschning ihrem Mann bei der Arbeit in der Deutschen Bücherei, während die Kinder im sonnendurchfluteten Hof des Gebäudes spielten, in dem die Bücherei untergebracht war. Mit dem ersten nahenden Winter machten sich in der Wohnung Heizprobleme bemerkbar, sodass die Rauschnings beschlossen, ein geräumigeres Quartier in der Posener Altstadt zu mieten. Fünf Stockwerke mussten hier jeweils erklommen werden, dann erfolgte die Belohnung der Mühen in Gestalt eines herrlichen Ausblicks über die Stadt. Anna Rauschning, der allein wir die Informationen über das Leben ihrer Familie in Posen verdanken, hat, wie erwähnt, ihre Erinnerungen an diese Zeit während des Zweiten Weltkriegs im Exil für ihre amerikanische Leserschaft geschrieben und dabei versucht, den von den Deutschen im wiedererstandenen Polen als harsch empfundenen Wechsel von der deutschen zur polnischen Herrschaft anschaulich zu machen – einen Wechsel, von dem sie annahm, dass er in Amerika nur schwer verständlich gewesen sein dürfte.⁴¹ Dort, so Anna, wo in Posen bis vor wenigen Wochen Denkmäler und Straßennamen an deutsche Geistesgrößen und militärische Helden erinnert hatten, wiesen nun polnische Namen den Weg. Da ihre eigenen Kinder noch nicht schulpflichtig waren, blieb den Rauschnings der Kampf um eine deutschsprachige Schulausbildung zunächst erspart. Folgt man ihren Erinnerungen, empfanden viele Deutschstämmige in Posen dies jedoch nicht als allzu bedrückend. In jener Weltgegend seien Herrschaftswechsel eben nichts Außergewöhnliches: Wer heute »oben« sei, wisse, dass er sich morgen schon wieder »unten« wiederfinden könne. Es scheint, dass dieses milde Urteil ein wenig dem Ort und den Zeitumständen ihrer Veröffentlichung geschuldet war – deutlichere Worte über den Wechsel von deutscher zu polnischer Herrschaft wären 1942 beim amerikanischen Publikum wohl kaum angekommen. Für sich und ihre Familie kam Anna Rauschning denn auch zu dem Schluss, dass sie »very unhappy in Posen« gewesen seien, und zwar gerade wegen des Umstands, dass sie nun von einer feindlich gesinnten Regierung in Warschau beherrscht worden seien.⁴²

    Hermann stürzte sich mit Verve auf seine neue kulturpolitische Aufgabe als Leiter der Deutschen Bücherei; bezahlt wurde er für diese Tätigkeit vom Reich über die dort im Auswärtigen Amt angesiedelte Deutsche Stiftung und ihren energischen Leiter Erich Krahmer-Möllenberg sowie über die »Deutsche Vereinigung in Sejm und Senat« in Warschau.⁴³ Die politische Führung der deutschen Minderheit lag Anfang 1926 bei dem sog. Fünferausschuss. In diesem Gremium hatten die Deutschtumsführer aus Bromberg mit Oberstleutnant a. D. Kurt Graebe das Übergewicht. Dass Rauschning seine Tätigkeit in Posen nicht nur als Übergangslösung ansah, erhellt aus dem erst vor wenigen Jahren (wieder)entdeckten Umstand, dass er am 21. Mai 1924 in die örtliche Loge »Zum Tempel der Eintracht« aufgenommen wurde und dort am 20. Oktober 1926 den Meistergrad erhielt – just in jenem Jahr, als er Posen und Polen den Rücken kehrte, um sich im Danziger Werder als Landwirt niederzulassen. Nationalsozialistischer Senatspräsident von Danzig wurde er demnach als Freimaurer im Meistergrad.⁴⁴ Doch greifen wir den Ereignissen vor.

    Mit seiner Arbeit im Vorstand der »Historischen Gesellschaft in Posen«, der Pflege und Erweiterung der Bibliotheken in Posen und anderen Orten sowie reger Vortragstätigkeit sah Rauschning sich als eine Art »kleiner Kulturattaché« beim »Deutschtumsbund« zur Wahrung der Minderheitenrechte in der Aleja Chopina.⁴⁵ Oder anders ausgedrückt: Erstmals in seinem Leben betrat er eine politische Bühne. Nicht ohne Stolz wird er das dienstliche Briefpapier benutzt haben, das oben links folgender Kopf zierte: »Hermann Rauschning. Herausgeber der Deutschen Wissenschaftl. Zeitschrift für Polen, Deutschen Blätter in Polen, Monatshefte f. d. geistigen Aufbau des Deutschtums in Polen, Leiter der Deutschen Bücherei Posen, des Verbandes Deutscher Büchereien in Polen, Bromberg«.⁴⁶ Die Herausgabe zweier Zeitschriften diente ihm als Vehikel, um die von ihm als so dringend erachtete kultur- und volkspolitische Aufklärungs- und Erziehungsarbeit unter den Deutschen in Polen bewerkstelligen zu können. Dabei wandte sich die Deutsche Wissenschaftliche Zeitschrift für Polen eher an ein intellektuelles Publikum, während die seit 1924 erscheinenden Deutschen Blätter in Polen zweifellos eine größere Breitenwirkung erzielten. Rauschning selber steuerte zahlreiche Beiträge zu den Publikationen bei, dabei wagte er sich auch auf ihm eigentlich fremdes Terrain, wie etwa bei wirtschaftspolitischen Fragen.

    Rauschnings vermutlich früheste Veröffentlichung auf polnischem Boden war die »Einführung« zu einem Text mit dem Titel Wanderspiele des Deutschen Kulturausschusses in Polen. Programm für alle Spiele aus dem Jahre 1922.⁴⁷ Hier zeigte sich der Autor als deutlich von der Neoromantik geprägt, als Konservativer und Kritiker der städtischen Moderne. Nur ein Jahr später lieferte er im »Nachwort« zu dem aus unbekannter Feder stammenden Beitrag Nicolaus Coppernicus (sic) aus Thorn. Über die Umdrehungen der Himmelskörper. Aus seinen Schriften und Briefen⁴⁸ ein Porträt des berühmten Astronomen, das vor allem darauf abzielte, Kopernikus als zweifelsfrei preußischstämmig darzustellen. Man mag das Porträt insofern als einseitig kritisieren, sein heutiger unschätzbarer Wert liegt aber ebenso zweifelsfrei darin, dass Rauschning für diese Arbeit offenbar eine Fülle im Zweiten Weltkrieg für immer verloren gegangener Quellen heranziehen konnte, deren Fundort er jedoch leider nicht angab.

    Es ist hier nicht der Ort, Rauschnings zahlreiche Aufsätze vor allem in den Deutschen Blättern detailliert zu analysieren. Es handelt sich ganz überwiegend um Texte, die sich mit Gegenwart und Zukunft der deutschen Minorität in Polen befassten. Daneben nutzte Rauschning die Deutschen Blätter auch für die Veröffentlichung von Aufsätzen über die Geschichte Ordenspreußens im Mittelalter – zweifellos sein Lebensthema, das jedoch nie die Form eines Buches gefunden hat.⁴⁹ Exemplarisch sollen im Folgenden einige wenige Texte vorgestellt werden, die sein damaliges Denken einereits und die Richtung seiner Tätigkeit für die Deutschen in Polen andrerseits typisch erscheinen lassen.

    Zu Recht hat Richard Breyer darauf hingewiesen, dass mit Rauschnings Beitrag im zweiten Heft der Deutschen Blätter ein »irrationaler Ton angeschlagen« worden sei, »der im gesamten Schaffen Rauschnings nie verklingen sollte«. Er hatte dort unter dem Fichte-Wort geschrieben: »Nicht die Gewalt der Arme, noch die Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft des Gemütes ist es, welche Siege erkämpft.«⁵⁰

    Rauschnings Vorstellungen hinsichtlich eines künftigen Staatsaufbaus – in welchen Grenzen auch immer – kreisten um ständestaatliche Ideen mit romantischer Färbung. So schrieb er in den Deutschen Blättern im Februar 1925 unter der Überschrift »Nationale Gemeinwirtschaft«, dass »die Staatstheorie immer wieder zum Ständegedanken zurückgekehrt« sei. Der Romantik, der »großen Erneuerungsbewegung auf allen Gebieten des deutschen Geisteslebens«, sei der »Staat ein Organismus« gewesen. Keineswegs gehe es dabei um die »alten Formen des mittelalterlichen Ständestaates«, sondern darum, aus »dem alten organischen Bildungsgedanken neue Formen zu schaffen«. Die Kette der Theoretiker des neuen Ständegedankens reiche, so Rauschning, »von Schlegel« über Adam Müller »bis in die Gegenwart hinein, bis zu Othmar Spann, dem Theoretiker des neuständischen Aufbaus«. Und er schloss seinen Artikel mit der Feststellung: »Wir stehen an dem Ende einer Zeit: der Zeit des unbeschränkten Individualismus. Wir stehen am Beginn einer neuen: der des genossenschaftlichen Gemeingeistes.«⁵¹

    Immer wieder dokumentieren die Beiträge Rauschnings in den Deutschen Blättern seine kulturpessimistische, antimoderne und damit im Zweifel antiurbane Einstellung. So machte er sich in dem Aufsatz »Bildungsziel und Bildungsgemeinschaft« die Thesen des Dresdners Wilhelm Borée zu eigen, der unter dem Pseudonym A. L’Houet schrieb und der in seiner Psychologie des Bauerntums das Ende des deutschen Bauerntums prognostiziert habe.⁵² L’Houet folgend, erkannte auch Rauschning einen Niedergang des deutschen Bauerntums durch dessen Vermischung mit Angehörigen höherer Schichten. In den Worten Rauschnings: »Der Bauer behält vom Bauerntum das Schnapstrinken und lernt von der Kultur her das Weintrinken dazu, und trinkt dann Wein und Schnaps zusammen.« Auf die Deutschen in Polen angewandt bedeutete dies ihm zufolge:

    Ist doch ein Ergebnis, wie das unlängst bekannt gegebene, daß schon jetzt nach fünf Jahren in unserem Gebiet etwa 4000 zum Konfirmandenunterricht angemeldete evangelische Kinder weder lesen noch schreiben konnten, noch einen Bibelspruch, noch ein Kirchenlied auswendig wußten, nur möglich durch eine völlige Zersetzung der bäuerlichen Familie und Lebensgemeinschaft, eine fast unglaubliche Verrohung.

    Allerdings war sich der Autor im Klaren darüber, dass »die Forderung nach strengerer Scheidung der natürlichen Lebensgemeinschaften voneinander auf kulturellem Gebiet nicht eine völlige Isolierung derselben« bedeuten könne, vielmehr stünden »die natürlichen Lebensgemeinschaften durch Symbiose miteinander in lebendiger Wechselwirkung«.⁵³ Nicht lange muss man in Rauschnings Beiträgen auch nach völkischen Begründungszusammenhängen suchen. So hieß es in dem zuletzt genannten Aufsatz zunächst unter Berufung auf Friedrich Naumanns Wort von deutscher »Qualitätsarbeit«: »Die geschichtliche Aufgabe des Deutschtums in Polen und Osteuropa ist es in allen Jahrhunderten der Vergangenheit gewesen, die Träger höherqualifizierter Arbeit zu sein«, die Herstellung von »geringer Ware« solle man, so Rauschning, Naumann zitierend, »halbgebildeten Völkern« überlassen. Hinsichtlich der aktuellen Leistungsfähigkeit der Deutschen in Osteuropa gebe es leider, so Rauschning in Anlehnung an L’Houet, »Hemmungen, die uns aus einem vielfach disqualifizierten Material« erwüchsen. In früher Antizipation nationalsozialistischer Diktion fuhr er dann fort: »Hier gilt es, rücksichtslos und unsentimental alles Minderwertige aus unserer Gemeinschaft auszuschließen und mit dem im Verfolg der Ostmarkenpolitik großgezüchteten wirtschaftlichen Schmarotzerwesen zu enden.«⁵⁴

    Nach der überwiegenden Zahl seiner Beiträge in den Deutschen Blättern zu urteilen, galt Rauschnings Sorge offenbar in erster Linie dem modernen Trend zur Individualisierung, zur Vereinzelung und dem möglichen Aufgehen der Deutschen im polnischen »Wirtsvolk«, wie er es biologistisch formulierte.⁵⁵ Um dem entgegenzuwirken, verfasste er ein umfangreiches »Merkblatt für die Heimatforschung«, das dem Forscher dazu dienen sollte, nicht Heimatforschung um ihrer selbst willen zu betreiben, sondern das gesammelte Material dafür zu nutzen, »die Heimat zu einer biologischen und sittlich geistigen Gemeinschaft« zu machen.⁵⁶ In insgesamt 36 Oberpunkten, die jeweils durch erläuternde Stichworte untergliedert waren, versuchte dieses Kataster der deutschen Minderheit in Polen alles zu erfassen, was nach Rauschning zu ihrer Stärkung und Erhaltung unerlässlich schien. Der Oberpunkt »Das Haus« umfasste etwa folgende Einzelaspekte: Beschreibung der Hausform, Typen, Größe, Einrichtung, Bauweise, Einzelhaus, Gehöft. Die Häuser des Gehöfts, äußere Ausschmückung. Grundriss und Inneneinrichtung, Herdanlage, Art der Unterbringung, Nutzung. Der Oberpunkt »Volkslieder« lieferte diese Stichworte: »Sammeln des gesamten Bestandes; fremder Einfluß, modisches Stadtgut. Stets Melodie mitsammeln, auf charakteristische Abweichungen achten.« Beim »Aberglauben« sollte sich der künftige Forscher an diesen Gesichtspunkten orientieren: Zauber und Hexenwesen, Gespenster und Spukwesen, Feuerzauber, Wetterzauber, naturkundlicher Glaube, Liebeszauber, Zahlenaberglaube. Und schließlich das Beispiel des Oberpunktes »Anthropologie«: Hier sollte »Rassenforschung« sowie die »Aufnahme und Vermessung nach biologischen Grundsätzen« stattfinden.

    Atmeten diese Richtlinien eine gewisse Enge, ja einen Hang zur totalen Erfassung, dokumentierten Rauschnings Gedanken über »Stand, Ehrbegriff und Nationalgefühl« der deutschen Minderheit in Polen, die er ein Jahr zuvor in den Deutschen Blättern veröffentlicht hatte, eine nur als schiere Angst zu bezeichnende Sorge um die Zukunft »von uns« als »Auslandsdeutschen«, wie er bei dieser Gelegenheit großzügig formulierte.⁵⁷ Zunächst wiederholte Rauschning in diesem Aufsatz die Forderung nach einer strikt ständischen Gliederung des künftigen Gemeinwesens, um dann in seltener Schärfe die Zukunft derjenigen anzudeuten, die sich eine andere Art des Zusammenlebens vorstellten. Eine nationale Minderheit stehe und falle mit einem »stark ausgeprägten Ehrgefühl«, schrieb er. »Wo aber ein Ehrgefühl, eine besondere Ehre vorhanden sein soll, bedarf es eines Zwanges, eines Drucks der Gemeinschaft auf den Einzelnen«, fuhr er dann fort, »um ihn gegebenenfalls maßregeln oder ausstoßen zu können.« Es sei notwendig, »den Dingen ins Antlitz zu schauen«. Schon jetzt »haben wir in unseren Reihen Laue, Abtrünnige, Flaumacher. Wir haben die große Zahl der gedankenlosen Mitläufer, der Unsicheren, Halben.« »Volksgenossen«, erklärte der Autor, »die ihre Pflichten nicht erfüllen«, müssten sich der »gesellschaftlichen Verfemung aussetzen. Mischehen, Erziehung der Kinder in andersvölkischem Geiste, sie werden allein innerhalb ständischer Lebenskreise zu verhindern sein, wenn wir sie zu Trägern unserer sittlichen und völkischen Erziehung machen.« Rauschning stellte nicht in Abrede, dass es innerhalb der Stände zu »notwendig vorhandenen Interessengegensätzen« kommen werde, doch müssten sich diese »innerhalb erträglicher Grenzen abspielen«. Immer wieder erscheint das Wort »Disziplin« dann am Ende des Beitrags, offenbar um der Leserschaft deutlich zu machen, dass dies allein das Instrument sei, mit dem die deutsche Minderheit »der geschickten gegnerischen Politik« Warschaus widerstehen könne.⁵⁸

    Bereits im Novemberheft der Deutschen Blätter des Jahres 1924 ließ Rauschning in einem Beitrag resignative Töne hinsichtlich der einheitlichen Ausrichtung des Deutschtums vor allem im sogenannten Kongresspolen anklingen. »Wird unser Deutschtum in Polen sechs Jahre nach der Liquidation des Weltkrieges beginnen, sich als Einheit zu fühlen?«, fragte er rhetorisch. Nicht der Parlamentarismus mit seinen »gestalt- und antlitzlosen Wählermassen« hinter einer politischen Fraktion könne dies leisten, schrieb er, sondern allein »unsere deutsche Kultur« sei in der Lage, »den Lodzer Arbeiter mit dem Großgrundbesitzer des ehemaligen preußischen Teilgebiets … auf einer gemeinsamen Plattform zu verbinden«. »Fast sechs Jahre« habe man »verstreichen lassen«, ohne dass wesentliche Aufgaben wirksam in Angriff genommen worden seien.⁵⁹

    Abschied aus Polen und Neuanfang im Freistaat Danzig

    Der Freistaat Danzig und der »Korridor« nach dem Ersten Weltkrieg

    Karte aus: Hugo Rasmus, Pommerellen. Westpreußen 1919–1939, München 1989.

    Es scheint, als hätten Streitigkeiten unter den mit der Deutschtumsarbeit in Polen befassten Persönlichkeiten und Gremien, verbunden mit unterschiedlichen Finanzierungsvorstellungen, Rauschning dazu gebracht, seine Arbeit in Posen zu beenden und im Herbst 1926 gemeinsam mit seiner Familie in das Gebiet der Freien Stadt Danzig umzuziehen. Ob es zutrifft, dass er auch einer der Beschuldigten in dem polnischen Prozess gegen den »Deutschtumsbund« als angebliche Außenstelle der Reichsregierung mit Spionagetätigkeit auf polnischem Boden war und er deshalb polnisches Territorium verließ, lässt sich nicht bestätigen.⁶⁰ Dass er überhaupt für den »Deutschtumsbund« arbeitete, geht nur aus sehr wenigen überlieferten Schriftstücken hervor. Im Jahre 1978 erwähnte Rauschning in einem Brief an seinen Wirtschaftsreferenten aus seiner Zeit als Danziger Senatspräsident, Bechmann, eher beiläufig, dass er »auf Anregung und Vermittlung Ihres Bruders Wilhelm als Geschäftsführer … im offiziellen ›Deutschtumsbund‹ gearbeitet« habe.⁶¹

    Hermann Rauschning und die »Deutsche Vereinigung in Sejm und Senat« als Nachfolgeorganisation des »Deutschtumsbundes« nach 1923 forderten von Berlin, dass ihr für ihre Arbeit direkt finanzielle Hilfe in größeren Summen zur Verfügung gestellt werde, die dann vor Ort in Polen von Ortskundigen den deutschen Einrichtungen zugänglich gemacht werden sollte. Dokumenten des Auswärtigen Amtes zufolge sympathisierte der neue deutsche Konsul in Posen, Philipp Vassel, mit dieser Forderung nach größerer Autonomie und Eigenverantwortlichkeit der in Polen tätigen Deutschtumsfunktionäre. Es könne nicht sein, so stellte er fest, dass ein »ferner Hofkriegsrat« (gemeint war Krahmer-Möllenberg) von Berlin aus Anweisungen für jedes kleine Detail gebe. Er gab zu bedenken, dass Rauschnings Resignation wohl in erheblichem Maße auf seine Enttäuschung hinsichtlich der von Berlin gesteuerten Hilfe zurückzuführen sei und dass andere Minderheitenpolitiker seinem Beispiel folgen könnten.⁶² Wojciech Kotowski hat den langen Abschiedsbrief Rauschnings an Krahmer-Möllenberg vom 21. August 1926 sowie eine Denkschrift Rauschnings zur Deutschtumsarbeit in Polen, die er dem AA in Berlin jedoch separat zukommen ließ, veröffentlicht. Beide Dokumente spiegeln in aller Ausführlichkeit des Verfassers Zorn über die ausbleibende bzw. verfehlte Mittelvergabe für die Arbeit, die in ihrer gegenwärtigen gießkannenartigen Verteilung unfruchtbar sei und lediglich Unfrieden zwischen den verschiedenen Gruppen von Deutschen in Polen erzeuge. Seinen Brief an Krahmer-Möllenberg schloss Rauschning mit diesen Worten: »Indem ich Sie hiermit von meinem unwiderruflichen Entschluß in Kenntnis setze, möchte ich nicht verfehlen, darauf aufmerksam zu machen, daß ich stellungslos und ohne Sicherung abwandere. Man ist in unserer Volksgemeinschaft sehr schnell mit Argumenten bei der Hand, daß sich unbequeme Elemente nur einen Abgang verschaffen wollen. Ich stehe nicht an zu bekennen, daß ich mit Schmerz und Verbitterung meine mehr als sechsjährige Arbeit niederlege, bei der ich beste Mannesjahre und Gesundheit zugesetzt und nicht mein Weiterkommen gesucht habe«⁶³. Von Leo Wegener, dem ehemaligen Posener Organisator des deutschen Genossenschaftswesens in Polen, stammt eine aufschlussreiche Stellungnahme zum Abgang Rauschnings, die er Dr. Zechlin vom AA mit Datum vom 18. September 1926 übermittelte, und in der er die Gegner Rauschnings scharf angriff, u. a. Eugen Naumann, Domherr Joseph Klinke sowie die Bromberger Deutschtumsführer. Wegener schrieb: »… Heute nur die betrübende Nachricht, daß Dr. Rauschning-Posen, der Organisator unserer Deutschen Bücherei, Posen verlassen will. Darüber bin ich sehr betrübt, denn er ist fähiger und zielsicherer als viele Andere. Wenn er von Naumann und Klinke als Stänker hingestellt wird, so geschieht ihm Unrecht. Der Mann will eben etwas schaffen, während Naumann mit seiner Tapferkeit ohne Ziel und Plan herumfegt. Ich habe mit Herrn Rauschning sehr gern gearbeitet und ihn sehr geschätzt. Es ist Jammer, daß die Sejmabgeordneten keine bessere Meinung dulden wollen …«⁶⁴

    Soweit ersichtlich, hat sich Rauschning selber später nur bei einer Gelegenheit zu den Hintergründen seines Weggangs aus Posen geäußert, und dies auch nur in sehr knapper Form. In der umfangreichen Schrift »Einige Bemerkungen mein Leben betreffend«, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA entstand, schreibt er zunächst von persönlicher finanzieller Unsicherheit angesichts der wiederholten Ausweisungsversuche der polnischen Seite, um dann hinzuzufügen: »Es war mir zudem zum Bewußtsein gekommen, daß man als Angestellter eines Verbandes keine Politik betreiben konnte, die nicht von diesem gutgeheißen ist.«⁶⁵ Zur Zeit seines Fortgangs aus Posen machte Rauschning gegenüber dem Herausgeber der Deutschen Rundschau, Rudolf Pechel, eine verklausulierte Andeutung über die Motive seiner Demission, die wiederum die Vermutung nähren könnte, dass sie doch mit dem polnischen Verfahren gegen den »Deutschtumsbund« zusammenhing. In seinem Brief vom 28. Januar 1927 aus Berlin brachte sich Rauschning bei Pechel zunächst kurz in Erinnerung – »Darf ich annehmen, daß Sie sich meiner erinnern …« –, um dann fortzufahren: »… und flüchtige Kenntnis davon haben, aus welchen Gründen ich vorläufig meine Arbeit in Posen habe niederlegen müssen.«⁶⁶ Die hier von Rauschning gewählte Formulierung deutet darauf hin, dass möglicherweise noch keine endgültige Entscheidung über seine Arbeit in Polen gefallen war. Zusammen mit dem Ausdruck »niederlegen müssen« legt sie die Deutung nahe, dass er offensichtlich nicht ganz freiwillig gegangen war und eine Entscheidung von dritter Seite – dem Ausgang des polnischen Verfahrens? – erwartet wurde. Anlass des Schreibens von Rauschning an Pechel waren im Übrigen die in einer Anlage beigefügten »Bruchstücke« seiner Arbeit über Ordenspreußen im Mittelalter. Pechel möge ihm doch mitteilen, wo er »das Ganze unterbringen« könne, oder aber, ob sich nicht das »eine oder andere Bruchstück zum Abdruck« in der Deutschen Rundschau eigne. Nach seiner Auffassung wirkten die mittelalterlichen Ereignisse »noch in die Gegenwart« fort, weshalb seiner »Arbeit ein gewisses Interesse nicht abzusprechen« sein dürfte. Um aber gerade »auf die Gegenwart wirken (im Original unterstrichen, A. H.)« zu können, habe er einen Stil gewählt, der nicht »einen kleinen Kreis von Fachgenossen«, sondern breitere Leserschichten anspreche. Wenn man so will, ist bereits hier das Muster künftiger literarischer Arbeit Rauschnings erstmals zu erkennen: politisch-historische Werke für ein größeres Publikum oder gar für propagandistisch-aufklärerische Zwecke zu schreiben. Nicht genug mit seinem Ordenspreußen bot Rauschning Pechel gegen Ende seines Briefes noch »eine größere historisch-politische Darstellung über die litauische Politik des Deutschen Ordens« an. Auch hier folgte eine politisch-pädagogische Begründung: »Die Ursachen des Verfalls der Ordensherrschaft sind ja mannigfache«, ließ er Pechel wissen, »nicht wertlos« erscheine es ihm aber, »auch einmal zu verfolgen, wie die verfehlte Litauerpolitik gewirkt« habe. Gerade »hier« seien »Beziehungen aufzuzeigen, die für die Gegenwart wertvoll sein könnten. Ich denke da an neueste Erwägungen, die Litauer an Polen preiszugeben, was eine gar nicht abzusehende politische Schädigung Deutschlands zur Folge haben würde. Die Problemlage findet eine überraschende Parallele in der ausgehenden Ordenszeit.«⁶⁷

    Die Deutschen Blätter äußerten sich auffallend einsilbig zu Rauschnings Weggang. Unter der Überschrift »Zum Geleit« bezeichnete Paul Zöckler das Erscheinen der Blätter als das »Verdienst Rauschnings«, »Monatshefte für den geistigen Aufbau des Deutschtums in Polen«, habe er sie genannt. Eine »Führerzeitschrift« sollte sie sein, »der Aussprache über all die wichtigen Fragen des Aufbaus dienen«. Und dann erst erfuhr der Leser das Wesentliche: »Dr. Rauschning kann die Blätter nicht weiter herausgeben; er ist in eine neue Lebensstellung gegangen. Dank schulden wir ihm alle.«⁶⁸ Anna Rauschning widmet in ihren Erinnerungen den Gründen für den Fortgang der Familie aus Posen ebenfalls nur wenige Zeilen, doch fällt auf, dass sie keinerlei Reibungen ihres Mannes mit anderen Deutschtums-politikern und -organisationen erwähnt. Stattdessen

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1