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Berlin Kolonnenstraße: Roman der Zeitgeschichte
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Berlin Kolonnenstraße: Roman der Zeitgeschichte
eBook445 Seiten6 Stunden

Berlin Kolonnenstraße: Roman der Zeitgeschichte

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Über dieses E-Book

Die neunzehnjährige Sabine verlässt ihr Elternhaus, um auf eigenen Füßen zu stehen. Sie lernt in Nürnberg einen jungen Mann kennen, der in Kürze nach Berlin ziehen muss, um dort ein Studium aufzunehmen. Ein halbes Jahr später folgt sie ihm trotz der angespannten Lage in der geteilten Stadt, aus der nahezu täglich besorgniserregende Schlagzeilen der Zeitungen bestimmen. Ausgerechnet als Reinhard in den Semesterferien Berlin verlässt, um eine Radtour in der Schweiz zu unternehmen, wird die Mauer zwischen Ost und West errichtet. Sabine ist darum besorgt, ob sie jemals ihren Freund wiedersehen wird. Doch die Lage wird nicht so kritisch wie befürchtet. Reinhard kehrt nach Berlin zurück und das junge Paar verlebt eine verhältnismäßig schöne Zeit. Mittlerweile stellen sich Probleme in ihrer Beziehung ein, die einen äußerst brisanten Höhepunkt erreichen. Wie wird sich die Zukunft der beiden entwickeln? können?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Juli 2016
ISBN9783734538155
Berlin Kolonnenstraße: Roman der Zeitgeschichte

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    Buchvorschau

    Berlin Kolonnenstraße - Anna Maria Luft

    1

    Der Januar 1960 gab sich ziemlich frostig. In Nürnberg zeigte das Thermometer 20 Grad minus. Sabine, die durch die Straßen der fränkischen Metropole schritt, bibberte vor Kälte in ihrem dunkelroten, weitschwingenden Mantel. Ihre Hände waren wie erstarrt. Sie blieb stehen, um ihre Reisetasche auf dem Gehsteig abzustellen.

    Erschrocken blickte sie auf ihre rotgefrorenen Beine, die beinahe gefühllos waren. Trotz der niedrigen Temperatur hatte sie transparente Strümpfe angezogen, weil sie sich, wie viele Frauen, dem Modediktat unterwarf, Perlon- oder Nylonstrümpfe zu tragen, selbst wenn es Winter war. Es nützte nichts, wenn ihre Mutter oft predigte: „Kind, zieh dir endlich dicke Strümpfe an und unter deinem Mantel einen dicken Pullover. Warum hängt er sonst im Schrank? Du ruinierst dich bei dieser Kälte."

    Sabine in ihrem jugendlichen Leichtsinn nahm die Ratschläge der Mutter, aber auch des Vaters, nicht so ernst. Sie hatte mit ihren neunzehn Jahren eine eigene Vorstellung von dem, was Leben bedeutet. Sie war nicht nur voller Lebensfreude und Idealismus, sie konnte auch nachdenklich und in sich zurückgezogen sein, wenn es die Situation erforderte. Es hatte sie nun von daheim fortgezogen, um ihre Vorstellung, auf eigenen Füßen zu stehen, zu verwirklichen. Auch reizte es sie, andere Menschen kennenzulernen. Sie dachte dabei auch an das männliche Geschlecht, weil sie sich nach Liebe sehnte. Keineswegs fürchtete sie sich vor neuen Herausforderungen. Ihr Ziel war außerdem, beruflich vorwärts zu kommen. Bei ihrer Firma in Bayreuth hatte sie zu Ende des Jahres gekündigt. Sie hatte dort eine kaufmännische Lehre absolviert und war danach noch ein halbes Jahr geblieben. Als sie nun vorgestern den Stellenmarkt der Nürnberger Nachrichten studiert hatte, war ihr ein interessantes Inserat aufgefallen. Ungeduldig, wie sie war, wollte sie nicht erst eine schriftliche Bewerbung losschicken, sondern gleich persönlich vorstellig werden.

    So hatte sie sich schon heute am frühen Morgen in den Zug gesetzt und war nach Nürnberg gefahren. Sie war voller Zuversicht, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Auf dem Arbeitsmarkt sah es gut aus, wie sie erfahren konnte.

    Jetzt hob sie ihre Tasche wieder auf und lief mit etwas schnelleren Schritten als vorher ihrem Ziel entgegen. Hatte man ihr den Weg auch richtig beschrieben?

    Ein Radfahrer kam ihr auf dem Gehsteig entgegen. Beinahe wäre sie von ihm umgefahren worden. Ärgerlich rief sie: „Wozu glauben Sie ist die Straße da?"

    Seine Antwort überraschte sie: „Zum Marschieren."

    Sie schüttelte den Kopf, erinnerte sich gleich an die Erzählungen ihres Vaters, die von den mühsamen, qualvollen Märschen des Zweiten Weltkrieges handelten. Dabei lag dies etwa fünfzehn Jahre zurück. Aber seine Gedanken an diese schreckliche Zeit konnten bei ihm deshalb nicht zur Ruhe kommen, weil er damals bei einem Angriff seinen besten Freund verloren hatte.

    Nachdem Sabine noch einen halben Kilometer weitergegangen und nach rechts abgebogen war, entdeckte sie das Fabrikgebäude auf der linken Straßenseite. Gleich stellte sich bei ihr ein mulmiges Gefühl ein, das sich noch verstärkte, als sie das Personalbüro betrat.

    Sie stand einem Herrn mit grauen Schläfen gegenüber, der keine Miene beim Vortragen ihres Anliegens verzog. Nach dem Betrachten ihrer Zeugnisse lobte er beinahe tonlos: „Es sind gute Zeugnisse, aber ohne Test gibt es bei uns keine Chance. Eine Frage habe ich noch vorweg: Wann könnten Sie anfangen?"

    „Sofort. Ich habe zum 31.12. bei meiner Lehrfirma in Bayreuth gekündigt und wollte mich auf was Neues einlassen."

    Er nickte und sie war bereit, die geforderte Prüfung über sich ergehen zu lassen. Ihr brach dabei der Schweiß aus den Poren, da ihr einige der Aufgaben so kompliziert erschienen, dass sie glaubte, sie nicht lösen zu können. Sie dachte: reinstes Gehirntraining. Es war ein Feld aufgezeichnet, auf dem die Symbole durch Zahlen ersetzt werden sollten. Außerdem war eine Zahlenreihe angegeben, in der man die nächste Zahl erraten und einsetzen musste. Dazu gab es noch eine Textaufgabe. Den Abschluss bildete ein Brieftext, von dem eine Kurzfassung zu erarbeiten war. Sabine atmete auf, nachdem sie den Test hinter sich gebracht hatte. Sie war zuversichtlich und beinahe davon überzeugt, den größten Teil der gestellten Aufgaben korrekt gelöst zu haben.

    Innerhalb von zwei Tagen sollte sie Bescheid erhalten, ob daran gedacht wurde, sie einzustellen. Herr Billar gab ihr ein Kärtchen mit seiner Telefonnummer mit.

    Gleich darauf trippelte sie wieder den Weg Richtung Stadt zurück.

    Sabine freute sich schon auf die Freiheit in der Großstadt. Was sie sich genau davon versprach, schien sie selbst noch nicht zu wissen. Jedenfalls dachte sie nicht mehr daran, die Bevormundung ihres strengen Vaters zu akzeptieren. Immer noch beanstandete er, dass sie ihre Schule nicht mit dem Abitur abgeschlossen, sondern bereits nach der sechsten Klasse das Gymnasium verlassen hatte. Er hatte dies als Bequemlichkeit bewertet. Ihr jedoch hatten andere Ziele vorgeschwebt. In dieser Hinsicht zeigte Ihre Mutter mehr Verständnis für sie. Sie hatte damals zu ihrem Mann gesagt: „Gregor, warum soll sie nicht gleich einen Beruf erlernen, sondern erst studieren? Ich weiß, als Redakteur setzt du andere Maßstäbe. Aber bedenke, dass nicht alle Menschen gleiche Anlagen ins Leben mitbringen. Unsere beiden Töchter könnten nicht verschiedener sein. Bitte, nimm Rücksicht auf Sabine. Sie ist nicht wie ihre Schwester und will jetzt nicht mehr auf der Schulbank sitzen."

    Sabine hatte sich damals ohne den Segen ihres Vaters zu einer kaufmännischen Lehre entschlossen. Das hielt er ihr heute noch vor. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie noch nicht erkannt, dass ihr genau die gleiche Liebe und Fürsorge galt wie ihrer großen Schwester, die sich für das Berufsleben höhere Ziele gesteckt hatte. Während sie jetzt durch die Straßen ging, drängten sich ihr Gedanken an daheim auf. Künftig würde es bei Vater und Mutter keine so lebhaften Diskussionen mehr wie früher geben, da beide Kinder das Elternhaus verlassen hatten. Marianne, die ältere Tochter, besaß in Bayreuth eine eigene kleine Wohnung. Sie hatte erst kürzlich ihr Studium abgeschlossen und war zur Freude ihres Vaters Gymnasiallehrerin geworden. Und sie als jüngere Tochter war soeben dabei, hier in Nürnberg nach einer Bleibe für längere Zeit zu suchen.

    In diesem Moment bog Sabine in die Jakobstraße ein. Hier befand sich das Wohnheim Sankt Monika, bei dem sie sich eine Unterkunft versprach. Es war ihr von der Freundin ihrer Schwester empfohlen worden, die bei einem Seminarbesuch kurzzeitig hier gewohnt hatte.

    Rasch strich sie mit den Fingern ihre Haare glatt. Dann seufzte sie so tief, als gäbe es eine schwere Entscheidung zu treffen. Als sie läutete, öffnete sich blitzschnell die Tür. Drinnen entdeckte sie das Schild: Anmeldung erster Stock. Sie stieg in die nächste Etage hinauf. Hier in der Diele stand bereits eine Ordensschwester, von der sie lächelnd begrüßt wurde. Sofort fielen Sabine deren große braune Augen auf, die sie fragend anblickten.

    „Bitte, was kann ich für Sie tun?", hörte sie die melodische, sympathische Stimme.

    Sabine trug ihr Anliegen vor, aber die freundliche Frau in der dunklen Kleidung schüttelte heftig mit dem Kopf. „Ich kann Sie nicht aufnehmen, weil Sie keinen Arbeitsplatz haben."

    „Aber ich finde doch leicht eine Stelle, selbst wenn ich den Test bei den Ebertswerken nicht bestehen würde."

    Schwester Mathilde, auf ihrer Oberlippe kauend, stand etwas unschlüssig da. Sogleich bemerkte sie: „Nehmen Sie hier einen Augenblick Platz. Ich spreche mit der Schwester Oberin."

    Sabine murmelte „danke". Sie setzte sich auf die Bank, auf das weiche, karierte Polster, während die Nonne die Treppe hinabstieg. Sie fasste sich an die Magengegend, wo sie einen leichten Schmerz fühlte. Am Vormittag, ehe sie von Frankenbronn weggefahren war, hatte ihr die Mutter ein Wurstbrötchen eingepackt, das sie im Zug verzehrt hatte, aber jetzt war es bereits Nachmittag, und sie hatte nichts weiter zu sich genommen.

    Kurz darauf kehrte Schwester Mathilde wieder zurück. „Kommen Sie bitte mit", bat sie, und Sabine stieg mit ihr ins Parterre hinab in den Aufenthaltsraum, wo sie von der Heimleiterin freundlich begrüßt wurde. Nachdem sie noch einmal ihr Anliegen vorgetragen hatte, genehmigte ihr bereits jetzt die Schwester Oberin den Aufenthalt in diesem Heim.

    Wie befreit hauchte Sabine: „Danke. Vielleicht habe ich sogar den Test bestanden."

    Die Heimleiterin lächelte. „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Und lassen Sie sich jetzt von Schwester Mathilde in ein Zimmer einweisen."

    Die Nonne stand daneben und führte Sabine wieder die Treppe hinauf in einen Raum, den sie mit drei anderen Mädchen zu teilen hatte. „Hier ist Ihr Bett, das ich gleich beziehen werde, und das hier ist Ihr Schrank. Sie können einräumen, wenn Sie wollen. Benötigen Sie Handtücher und dergleichen?"

    „Nein, danke. Ich habe alles dabei: Seife, Zahnpasta, Zahnbürste, Waschhandschuh und zwei Handtücher."

    Die Ordensfrau nickte, worauf sich Sabine erst einmal umsah. Ein Tisch mit vier Stühlen stand in der Mitte des Raumes. Darauf lag ein buntes Strickzeug, vielleicht wurde daraus ein Pullover. Über den Betten waren Regale angebracht, die mit Büchern vollgeladen waren. Auf einer Buchreihe saß eine kleine Puppe. Das Wandbrett, das jetzt zu ihrer Schlafstätte gehörte, war noch leer. Augenblicklich fiel ihr ein, das Lexikon daheim gelassen zu haben. Sogar auf Reisen schleppte sie es mit. Ihr Vater verstand dies, aber ihre Mutter schüttelte darüber den Kopf. Einmal hatte sie gemeint: „Warum nimmst du dieses dicke Buch mit? Nachblättern kannst du doch daheim. „Nein, Mama, inzwischen habe ich vergessen, was ich suchen will und schon ist wieder eine Bildungslücke entstanden. Papa legt ja großen Wert darauf, dass ich mich weiterbilde. „Aha, dein Papa hat dir das eingeimpft. Bildungslücken hat doch jeder. Na ja, er wahrscheinlich nicht. Jedenfalls glaubt er das felsenfest."

    So zu reden, fand Sabine nicht nett von ihrer Mutter. Sie hörte jetzt die Ordensschwester erklären: „Das Waschbecken ist für die Morgen- und Abendtoilette. Sie können den Vorhang vorziehen. Das WC ist draußen im Flur."

    Sabine dachte: Wie umständlich. Für vier Personen ein Waschbecken. Wie soll das gehen? Muss man dann ungewaschen zur Arbeit gehen?

    „Zum Baden müssen Sie sich anmelden. In jeder Etage gibt es ein Bad."

    Sabine nickte.

    „Und Abendessen gibt es von 18 Uhr bis 18.30 Uhr. Wer nicht anwesend ist, bekommt sein Essen, das heißt sein belegtes Brot, ins Zimmer gestellt. So ist das bei uns", erklärte Schwester Mathilde. Sie erkundigte sich, ob sich Sabine zurecht finde.

    „Ja, schon", erwiderte sie leicht nachdenklich und setzte sich auf das Bett, das jetzt ihr gehörte. Sie warf einen Blick auf die anderen Schlafstätten, bei denen die Zudecken und Kopfkissen zusammengerollt nach hinten an die Wand geschoben waren, sodass die Liegestatt auch als Sitzplatz benutzt werden konnte.

    Als der Abend nahte, erschienen Sabines zukünftige Zimmerkolleginnen. Nachdem sie alle drei anwesend waren, begrüßte die älteste der drei den Neuankömmling, der sich vorgestellt hatte. „Herzlich willkommen. Ich bin die Hildegard. Das nächste Mädchen, es war sehr groß und schlank, schloss sich ihr gleich an. „Ich bin Elke aus Düsseldorf. „Und ich bin die Manuela, die Jüngste, hörte Sabine das dritte Mädchen sagen und bemerkte sofort den bitteren Zug um deren Lippen. Manuela fügte auch gleich hinzu: „Ich laufe hier als schwarzes Schaf herum. Und wenn dir mal was fehlen sollte, komm zu mir. Vielleicht habe ich es unter der Matratze versteckt.

    Sabine schwieg dazu. Sie blickte diesem Mädchen über die Schulter, um zu erfahren, wie die beiden anderen auf diese Worte reagierten, entdeckte aber nur Teilnahmslosigkeit.

    Drei Tage später erhielt Sabine von den Ebertswerken den Bescheid, ihren Test bestanden zu haben. Überglücklich teilte sie dies der Heimleitung und ihren Eltern mit.

    Der Personalchef bat sie, gleich mit in die Abteilung zu kommen, in der sie künftig arbeiten sollte, nämlich in der Rechnungsprüfstelle. An der Stirnseite des Großraumbüros saß ein Herr mit ziemlich kurzen Haaren, einem vollen Gesicht und Augen, die alles aufzunehmen schienen. Er war der Abteilungsleiter. Sabine sah sich einen kurzen Augenblick um. Sie überschlug momentan, dass in diesem Raum mindestens zehn bis zwölf Personen saßen.

    „Herr Mittler, das ist Ihre neue Angestellte, Fräulein Gartner", wurde sie vorgestellt.

    Der künftige Vorgesetzte reichte Sabine die Hand. „Freut mich, endlich die Lücke auffüllen zu können", äußerte er, worauf sich Sabine verängstigt duckte. Der durchdringende Blick und die energische Stimme waren es, die sie etwas einschüchterten. Zu einem späteren Zeitpunkt sollte sich herausstellen, dass dieser Herr nicht so streng war wie sie anfangs vermutet hatte, aber auf gewissenhafte Arbeit größten Wert legte.

    Jetzt blickte sie sich genauer um. Alle Augen, das waren sechzehn Mal zwei, waren auf sie gerichtet. Sie gewann den Eindruck, dass dies durchweg freundliche Gesichter waren. Von Großraumbüros hatte sie bereits Negatives gehört, aber sie wollte unbedingt vorurteilsfrei bleiben.

    Schneller als Sabine vermutet hatte, gewöhnte sie sich an ihren neuen Arbeitsplatz. Die Angestellten waren altersmäßig gemischt, auch mehr Männer als Frauen. Bis auf die Geräusche, die die Rechenmaschinen verursachten, herrschte hier Ruhe. Sobald jedoch Herr Mittler den Raum verließ, standen die Maschinen still. Jetzt entspannten sich die Angestellten und unterhielten sich leise miteinander. Aber jedes Mal wenn der Chef wieder im Türrahmen erschien, wurde das Gemurmel und Getuschel schlagartig beendet. Ein süffisantes Lächeln erschien dann auf den Lippen des Abteilungsleiters, der soeben noch ein paar Wortfetzen aufgenommen hatte, wusste er doch, dass seine Abwesenheit als Erholungspause genutzt wurde.

    Ab und zu gab es eine Verzögerung beim Nachschub der zu überprüfenden Rechnungen. Was konnte man gegen diese Langweile tun, fragten sich einige Angestellte, so auch Sabine. Nichts, wurde ihr bald klar, denn der Chef behielt jeden seiner Mitarbeiter im Auge.

    Im Mädchenwohnheim konnte Sabine nach dem Auszug von Elke mit Hildegard und Manuela in ein Dreibettzimmer überwechseln. Sie verstand sich jetzt besonders gut mit Hildegard, aber Manuela war ihr ein Dorn im Auge. Als sie einmal später heimkam, hatte ihr dieses Mädchen das Marmeladenbrot, ihr Abendessen, weggegessen. Ein andermal war es das Wurstbrot, und sie musste hungrig schlafen gehen. Außerdem legte Manuela ihre schmutzige Wäsche oder alte Zeitschriften auf das Bett ihrer Nachbarin. Als Hildegard Sabine Das Tagebuch der Anne Frank zum Lesen gab, äußerte Manuela grinsend:

    „Glaubst du dieses Märchen? Es hat doch nie eine Judenverfolgung gegeben. Mein Vater hat gesagt, dass die Juden einander selbst verfolgt haben."

    Daraufhin rief Sabine ärgerlich: „Wie kannst du das behaupten? Und die Gaskammern hat es deiner Meinung nach wohl auch nicht gegeben, wie?"

    „Hat es auch nicht. Du glaubst wie alle hier jeden Unsinn."

    „Unsinn, sagst du? Weißt du was, Manuela. Jede Minute, in der ich mich mit dir unterhalte, empfinde ich als verlorene Zeit."

    Oh, das war hart!

    Dass Manuela auf diese Worte hin grinste, begriff Sabine nicht. Sie hörte ihre Zimmerkollegin sagen: „Habe ich dich nicht gleich darauf hingewiesen, dass ich das schwarze Schaf bin und kein weißes Lämmchen wie du? Dabei wird es immer bleiben."

    „Wundert dich das, wenn du solche Sachen von dir gibst und mir laufend das Brot wegisst?"

    Manuela kaute auf ihren Lippen herum, ehe sie mit Bitterkeit äußerte: „Du bist immer satt geworden, nehme ich an. Hättest du in deinem Leben einmal richtig gehungert, würdest du anders reagieren. Du kannst dich nicht über Gefühle erheben, die du nicht selbst empfunden hast."

    Sabine stutzte über diese bemerkenswerte Aussage. Sie fragte sich in diesem Augenblick, was sich in Manuelas Leben Schlimmes ereignet haben musste. Sie verfiel in kurze Nachdenklichkeit. Aber gleich darauf stieg von neuem Wut in ihr auf, die sie nicht zu unterdrücken vermochte.

    Im Fasching besuchte Sabine mit Hildegard den Blunaball. Heute spielte der bekannte Hasy Osterwald mit seinem Quartett. Sabine hatte ein Hawai-Röckchen aus Schilf angezogen, wozu sie eine rote Bluse und schwarze Netzstrümpfe trug. Auf dem Kopf thronte eine Perücke mit langen schwarzen Haaren. Dies alles hatte sie von ihrer älteren Schwester erhalten, als sie zwischenzeitlich daheim gewesen war. Sie wusste bislang noch nicht, ob diese Faschingssachen geschenkt oder ausgeliehen waren.

    Eine Woche später besuchte Sabine allein einen Ball. Den jungen Mann, der sie zum Tanz bat und mit ihr Foxtrott tanzte, fand sie sehr sympathisch. Er wollte wissen, ob sie eine Nürnbergerin sei.

    „Nein, ich komme aus Frankenbronn, das liegt nur ein paar Kilometer von Bayreuth entfernt. Und von woher kommen Sie?"

    „Gebürtig aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, die jetzt zu Polen gehören. Aufgewachsen bin ich in der Nähe vom Chiemsee in einem kleinen Ort. Wir sind später nach München gezogen, wo meine Eltern jetzt leben."

    „München, wie schön!"

    „Hier in Nürnberg wohne ich in der Kaiserstallung auf der Burg."

    Sabine lächelte ihn an. „Sie sind also ein Burgherr?"

    Er lachte laut. „Ja, leider ein armer. Wir wohnen zu viert in einem Zimmer. Zwei davon, dazu gehöre ich, schlafen in einem Stockbett. Ich mache bis zum Herbst ein Praktikum. Danach werde ich studieren."

    Sabine wurde neugierig. „Was werden Sie studieren? „Ingenieur der Fernmeldetechnik. Leider gibt es nur eine einzige Ingenieurschule der Deutschen Bundespost und die ist ausgerechnet in Berlin, wo es so kriselt.

    „Oh, das ist ja bitter für Sie."

    „Kann man wohl sagen. Ich hoffe doch sehr, dass sich dort die politische Lage etwas ändern wird."

    Von nun an wurde Sabine oft von diesem jungen Mann zum Tanz aufgefordert. Er begleitete sie auch später zu ihrem Heim. Sie besprachen, sich beim nächsten Ball in der Messehalle zu treffen. Aber Sabine konnte ihn dort nirgends entdecken. Als dann Damenwahl angekündigt wurde, sah sie sich nach einem Partner um. Ihre Wahl fiel auf einen jungen Mann, der sich als Mafioso verkleidet hatte. Schwarzes Schnurrbärtchen, dunkles Hemd, weiße Krawatte, Sonnenbrille, beinahe Respekt einflößend. Als sie mit ihm die Tanzfläche betrat, bemerkte er zu ihrer großen Überraschung: „Ich staune, dass Sie mich trotz meiner Verkleidung gleich erkannt haben."

    Sabine fiel es wie Schuppen von den Augen. Doch sie dachte nicht daran zuzugeben, dass es Zufall gewesen war, ihn erwählt zu haben und nicht, weil sie ihn als ihren Tänzer vom Blunaball erkannt hatte.

    Es wurde ein wundervoller Abend. Sie drehten sich im Dreivierteltakt, tanzten Rumba und Tango, aber auch Rock’n Roll, wobei so mancher Jugendliche außer Rand und Band geriet. Sabines Tanzpartner besaß auch viel Temperament. Sie stoppte ihn kurz. „Bitte, nicht so wild tanzen. Ich komme sonst nicht mit. Außerdem wackeln schon die Wände", kicherte sie.

    Er lachte über ihre witzige Bemerkung. Sie redeten jetzt von Elvis Presley. Das amerikanische Rock‘n Roll-Idol war im hessischen Friedberg im Rang eines Sergeanten stationiert gewesen und erst kürzlich nach zweijähriger Dienstzeit entlassen worden.

    Eine Solo-Sängerin beeindruckte mit der Interpretation des Schlagers „Tanze mit mir in den Morgen, tanze mit mir in das Glück. In deinen Armen zu träumen…"

    Sabine fand es „himmlisch", mit diesem jungen Mann einen Langsamen Walzer zu tanzen. Der Text des Schlagers passte zu ihrer verliebten Stimmung. Bei dem anschließenden Slowfox schmiegten sie sich beide eng aneinander. Etwas später gingen sie bei einem Glas Wein auf das „Du" über. Gerne hätte Reinhard seiner Bekannten einen Kuss auf die Lippen gedrückt, aber er wagte es nicht. Stattdessen streichelte er ihre Hände.

    Auf dem Heimweg blieb er einmal stehen, um Sabine in die Arme zu nehmen. Er drückte seine Lippen fest auf ihren geschminkten Mund. Für Sabine war es der erste Kuss und somit einzigartig. Sie fühlte bereits, dass es nicht der letzte sein würde. Doch gerne hätte sie erfahren, ob er schon einmal ein Mädchen geküsst hatte.

    Von der Heimleiterin hatte Sabine ausnahmsweise den Hausschlüssel erhalten. So konnte sie länger ausbleiben als üblicherweise gestattet war. Leise schlich sie in ihr Zimmer, um ihre beiden Mitbewohnerinnen nicht zu wecken. Plötzlich rührte sich etwas im Nebenbett.

    „Meine Güte, du bist ja unter die Nachtschwärmer gegangen", flüsterte Hildegard. Doch ehe Sabine etwas erwidern konnte, rief Manuela:

    „Diese Hure hat wieder Sonderrechte erhalten. Immer ist sie eine Ausnahme."

    Sabine war nahe daran, Manuela zu schlagen, so wütend war sie. Zu ihrer Überraschung knipste Hildegard das große Licht an, zog Manuela die Zudecke vom Leib und zerrte sie aus dem Bett. „Jetzt will ich dir mal was sagen. Die Hure bist du. Zweimal bist du nachts nicht heimgekommen und hast wahrscheinlich bei einem Mann geschlafen. Und einige Male habe ich dich mit verschiedenen Männern am Frauentorgraben gesehen. Und noch etwas: Ständig klaust du uns das Abendessen, sodass wir hungrig ins Bett gehen müssen. Ich mache Meldung."

    Diese Beschwerde hatte zur Folge, dass Hildegard und Sabine in ein erst gestern freigewordenes Zweibettzimmer umziehen durften.

    Sabine genoss diese fröhliche Faschingszeit mit Reinhard sehr. Noch mehr erfreute sie sich jedoch an den herrlichen Frühlingstagen, an denen allmählich die Natur zu erwachen begann. So unternahmen sie zum Wochenende stundenlange Spaziergänge durch Wald und Wiese und erzählten einander von ihren Familien. Einmal sprach Reinhard von seinem Vater, einem Konstrukteur in der Autobranche. „Er hat die besten Ideen. Mir hat er ein kleines Radio gebaut, meiner Mutter eine Küchenmaschine, die so ähnlich wie ein Mixer funktioniert."

    „Und wie ist deine Mutter?"

    „Sie ist strenger als mein Vater. Die beiden ergänzen sich gut. Sie leiden darunter, dass ich nicht mehr daheim sein kann. Ich habe keine Geschwister."

    „Mein Vater hätte mich auch gern daheim. Er wollte, dass ich wieder in Bayreuth eine Stelle annehme, aber ich möchte frei sein. Ich habe noch eine ältere Schwester, die bereits eine eigene Wohnung hat. Sie ist Gymnasiallehrerin in Bayreuth. In den Augen meines Vaters ist sie etwas Besonderes."

    Reinhard zog die Augenbrauen hoch. „Bist du deshalb eifersüchtig? Es klingt jedenfalls so."

    Sabine fühlte sich ertappt und erwiderte ungehalten: „Und wenn schon."

    Sofort entschuldigte sich Reinhard. „Hätte ich nicht sagen sollen. Tut mir leid."

    Sie erwiderte mit einem gezwungenen Lächeln: „Muss dir nicht leid tun. Ich habe auf deine Frage zu heftig reagiert. Ja, ich bin eifersüchtig, weil sie bei meinem Papa mehr gilt als ich. Immer stellt er ihre gute Bildung heraus, die ich in seinen Augen verpasst oder verpatzt hab."

    „Du meine Güte, kam es ihm über die Lippen. „Jeder sollte das machen können, was er selbst möchte.

    Sabine nickte, und sofort wurde das Thema gewechselt.

    Der Wind wurde heftiger, allmählich artete er in Sturm aus. Die Bäume schüttelten ihre Zweige, als wollten sie sie von sich stoßen. Sie bogen sich hinüber und herüber. Plötzlich brach ein dicker Ast ab und wäre beinahe Sabine auf den Kopf gefallen. Sie hatte sich gerade noch retten können. Erschrocken flüchtete sie in Reinhards Arme. „Das ist gerade noch einmal gutgegangen, stöhnte sie. Er hielt sie fest und nützte die Gelegenheit zu einem raschen Kuss. Danach rief er: „Schnell weg, schnell raus aus dem Wald.

    Sie spazierten den Weg zurück zur Wiese. Das Wetter war so unangenehm, dass sie sich zum Besuch eines Cafés entschlossen. Hier begann Sabine aus ihrer Kindheit zu erzählen. „Vorhin bei dem starken Wind hab ich an ein Erlebnis denken müssen. Mit sechs Jahren hab ich zusammen mit meiner Mutter einen Sturm erlebt. Ich hab geglaubt, der Wind reißt mich gleich um und nimmt mich mit sich fort. Ich hab nach meiner Mutter geschrien, aber sie war schon weitergegangen. Schnell hab ich mich am Zaun angehalten, aber, o weh, die morsche Latte brach ab, und meine Mutter fand mich mit diesem Stück Holz weinend am Boden liegen."

    Reinhards Erlebnisse waren viel dramatischer. „Als wir Ende des Krieges flüchten mussten, ist meine Mutter im Flüchtlingslager schwer erkrankt, und ich habe gedacht, sie muss jetzt sterben. Aber sie ist bald wieder gesund geworden. Mein Vater hat uns nach dem Krieg vom Roten Kreuz suchen lassen. In Oberbayern hat es dann ein glückliches Wiedersehen gegeben. Ich erinnere mich noch daran, dass bei meinem etwas rührseligen Vater die Tränen gekullert sind. Es war unglaublich schön gewesen, wieder eine vollständige Familie zu sein. Leider mussten wir in dem kleinen Ort zeitweise sogar hungern."

    „Wir hatten Glück und konnten uns einigermaßen über Wasser halten, erzählte Sabine. „Als Bayreuth in Schutt und Asche fiel, haben wir die Detonation bis nach Frankenbronn gehört, ließ ich mir sagen. Ich war ja erst drei Jahre alt und habe fast nichts mitgekriegt. Viele Ausgebombte haben nach einer neuen Unterkunft gesucht. Wir haben auch eine dreiköpfige Familie aufgenommen, die fünf Jahre lang in unserem Häuschen gelebt hat. Später sind die meisten Bayreuther wieder in ihren Heimatort zurückgegangen. Es war in dieser Stadt sehr viel aufzubauen gewesen.

    Auf dem Weg zu Sabines Heim waren sie sich beide einig, dass es ein angenehmer, unterhaltsamer Nachmittag gewesen war. Reinhard drückte ihr wie so oft einen Kuss auf den Mund. Hinterher stellte er ihr überraschend die Frage, ob sie ihn heiraten wolle. Ihre Augen nahmen daraufhin einen traurigen Ausdruck an. Sie klagte: „Aber Reinhard, das ist doch utopisch, ich meine, aussichtslos. Du wirst in Berlin sein und ich hier in Nürnberg bleiben. Wie soll das gehen?"

    Verlegen biss er sich auf die Lippen, ehe er erwiderte: „Aussichtslos ist es sicher nicht. Ich könnte öfter zu dir nach Nürnberg kommen, vielleicht alle vier Wochen. Und nach meiner Ausbildung heiraten wir. Dann sind wir für immer zusammen."

    Sabine schwieg, aber hinter ihrer Stirn arbeitete es ununterbrochen. Gab es wirklich keine andere Möglichkeit, als in der Ferne auf ihn zu warten? Über diesen Punkt dachte sie lange nach, weil sie Reinhard nicht mehr verlieren wollte.

    „Liebling, du willst also nicht auf mich warten?, erkundigte er sich enttäuscht, worauf sie entgegnete: „Doch, das will ich. Ich möchte auch für immer bei dir bleiben.

    Er zeigte ihr sein schönstes Lächeln, als er meinte: „Wir werden einen Weg finden, um unsere Liebe zu erhalten."

    Sie nickte und flüsterte: „Das hoffe ich auch."

    Trotz ihrer Hoffnung, zusammenbleiben zu können, gingen sie an diesem Nachmittag traurig auseinander.

    Doch am nächsten Tag strahlten Sabines Augen bereits wieder. Sie teilte Reinhard ihre Absicht mit, im Frühjahr zu ihm nach Berlin übersiedeln zu wollen. Dass sich seine Begeisterung über ihre Idee in Grenzen hielt, darüber war sie verblüfft. Er äußerte seine Bedenken: „Liebling, Berlin ist für dich zu gefährlich. Viele Menschen verlassen die geteilte Stadt. Der Russe hätte jederzeit die Möglichkeit, die Zufahrtswege dicht zu machen. Was dann?"

    Sie zuckte mit den Schultern. „Glaubst du wirklich, dass er das tun wird? Und wenn das zutreffen sollte, bin ich doch bei dir."

    „Was glaubst du, was Chruschtschow noch alles bewirken könnte."

    Du musst doch dieses Risiko auch eingehen. Warum nicht ich, wo ich zu dir gehöre?"

    Er blickte ihr tief in die graugrünen Augen. „Liebling, für mich gibt es doch keine andere Wahl. Ich muss. Du könntest auch in Nürnberg auf mich warten. Für deine große Bereitschaft, dein großes Vertrauen, danke ich dir. Ich möchte dich aber in keine missliche Lage bringen, verstehst du das nicht? Was würden deine Eltern dazu sagen?"

    Sabine verschränkte die Arme und blickte Reinhard fragend an. „Du denkst an meine Eltern? Nicht an mich? Warum müssen die etwas dazu sagen? Es ist meine Entscheidung. Oder findest du es aufdringlich, wenn ich zu dir nach Berlin komme?"

    Über seinen ernsten Blick erschrak sie. „Aufdringlich? Niemals, Sabine. Im Gegenteil: Ich finde es sehr mutig von dir. Unter anderen Voraussetzungen wäre ich glücklich darüber, dass du in meine Nähe kommen möchtest. Aber ich versichere dir, dass ich dir auch in der Ferne treu bleibe. Er blieb stehen und legte zärtlich seinen Arm um sie. „Ich möchte dich für immer festhalten, mein geliebtes Mädchen, und zwar für ein ganzes Leben lang, flüsterte er.

    „Das möchte ich doch auch. Deshalb komme ich zu dir nach Berlin. Ich habe Angst, dass wir sonst einander verlieren."

    Reinhard spürte, wie ernst ihr dieses Vorhaben war. Er riet ihr, sich noch etwas Zeit für eine Entscheidung zu nehmen.

    Inzwischen unternahmen die beiden lange Spaziergänge. Sie suchten an einem Samstagnachmittag das Märzfeld auf. Reinhard war die damit verbundene Geschichte bekannt. Auf diesem Gelände, das größer war als achtzig Fußballfelder, wollte einst Hitler ein bombastisches Aufmarschgelände errichten. 24 Türme hätten entstehen sollen, aber 12 waren nur gebaut worden. Einen von diesen bestiegen jetzt die beiden jungen Leute. Es war beinahe dunkel darin. Schritt für Schritt kamen sie nur vorwärts. Auf einmal blieb Sabine stehen und klammerte sich an ihren Freund. Sie stöhnte: „Ich fürchte mich. Gehen wir schnell wieder hinaus. Man fühlt sich hier wie eingesperrt, beinahe wie in einem Konzentrationslager."

    Reinhard hielt Sabine einige Augenblicke fest. „Liebling, hab doch keine Angst. Hier passiert uns doch nichts. Ja, die Konzentrationslager waren eines der traurigsten Kapitel der deutschen Geschichte. Was du vielleicht nicht weißt: Es gibt immer noch Menschen, die diese Tatsache leugnen. Mein Zimmerkollege behauptet, dies hätte es nie gegeben. Es sei die Erfindung einfallsreicher Leute."

    „Ein Mädchen aus meinem Heim denkt genauso. Warum machen sich diese Menschen etwas vor?"

    „Was mein Zimmerkollege denkt, ist katastrophal. Beinahe hätte ich dieses arrogante Miststück verhauen. Ausziehen aus diesem Zimmer kann ich nicht. Ich muss noch mein Praktikum zu Ende führen."

    Sie verließen den Turm wieder und warfen einen Blick über das ganze Gelände, das einmal den Eindruck einer Festung erwecken sollte.

    Reinhard hatte über die Geschichte Nürnbergs schon einiges gelesen. Diese mittelalterliche Stadt war einst Ort der NSDAP-Reichstage, und 1945-1946 Schauplatz der Nürnberger Prozesse gewesen. Sie hatten mit 12 Todesurteilen gegen Nazigrößen geendet. 1946-1949 hatten auch noch zwölf Nachfolgeprozesse vor amerikanischen Militärgerichten stattgefunden.

    Nürnberg war im Zweiten Weltkrieg erheblich zerstört worden. Auch jetzt gab es hier noch Ruinen. An einer kamen die beiden öfter vorbei. Reinhard hatte das letzte Mal, als sie vorübergegangen waren, gemeint: „Man sieht, dass es einmal ein herrschaftliches Haus gewesen war. Sieh dir doch mal das halb zerstörte Türmchen an."

    Sabine meinte, dass es sich lohnen könne, dieses Gebäude wieder aufzubauen und warum das nicht längst geschehen war.

    „Vielleicht sind die ehemaligen Besitzer im Krieg umgekommen oder das Geld ist ihnen ausgegangen."

    „Nun steht es als Ruine da. Ich finde das furchtbar traurig?"

    „Ich auch. Ach ja, der Krieg. Was hat der nicht alles angerichtet. Er hat Tod, Not, Elend und Einsamkeit bei manchen Menschen zurückgelassen. Manche Spuren verwehen nie."

    Sabine lächelte. „Heute erscheinst du mir als Philosoph, mein Liebling"

    Inzwischen war es September geworden. Ein Sommer mit Spaziergängen, Besuchen von Tanzveranstaltungen und Theateraufführungen war zu Ende gegangen. Sie hatten Die Meistersinger von Nürnberg erlebt und waren auch im Germanischen Nationalmuseum gewesen. Über die von Peter Henlein erfundene Taschenuhr, es nennt sich Das Nürnberger Ei, schüttelte Sabine den Kopf. „Ich begreife nicht, warum die Uhr nur einen Zeiger hat. Ist die kaputt gegangen?"

    „Nein. In der Uhrenmechanik war der Mensch damals noch nicht so weit."

    Dies leuchtete Sabine ein.

    An einem noch verhältnismäßig warmen Abend unterlagen sie dem Zauber Nürnbergs bei Nacht. Sie suchten den Schönen Brunnen, die Frauenkirche und den Kettensteg auf. Diese Sehenswürdigkeiten waren mithilfe von Scheinwerfern in ein sanftes Licht getaucht. Reinhard fand interessante Motive zum Fotografieren. Nachdem er seinen Apparat wieder eingesteckt hatte, legte er seinen Arm um Sabine und flüsterte: „Ich trenne mich so schwer von dir, Liebling, und von dieser interessanten Stadt."

    Ebenso traurig dachte auch sie an den bevorstehenden Abschied. „Wie soll ich es so lang ohne dich aushalten? Deshalb habe ich mich endgültig dazu entschlossen, im Mai zu dir nach Berlin zu kommen."

    Ein tiefer Seufzer war zu vernehmen. „Sabine, dort sieht es zurzeit sehr schlecht aus. Das Innenministerium der DDR hat für die Bundesbürger ein fünftägiges Verbot der Einreise nach Berlin-Ost verhängt. Die DDR nennt den Tag der Heimat, der jetzt im September stattfinden soll, ein Revanchistentreffen. Jetzt hat unsere Regierung das Interzonenhandelsabkommen gekündigt. Wo soll das alles noch hinführen? Die Lage ist sehr bedenklich."

    Sie verdrehte die Augen und murmelte enttäuscht: „Du willst also nicht, dass ich zu dir komme."

    Er fasste sich an die Stirn und überlegte, was er sagen sollte. „Du verstehst das falsch, aber da du meinetwegen nach Berlin kommen willst, bin ich in gewisser Weise auch verantwortlich dafür."

    „Verantwortlich für meine Entscheidung?"

    „Ja, so fühle ich mich. Deshalb breche ich nicht in Jubel aus, weil du kommen willst."

    Als sie weitergingen, stolperte er über ihre flachen, spitzen Schuhe. „Entschuldige bitte."

    „Nichts passiert, murmelte sie. „Es war meine Schuld. - Und wenn ich bei dir in Berlin sein sollte und es würde etwas geschehen, bin ich doch selbst dafür verantwortlich. Du hast mich oft genug gewarnt.

    Er schwieg, bis sie vor dem Heim standen. „Danke für die schönen Stunden mit dir, erklärte er, als sie sich voneinander verabschiedeten. „Und überlege dir noch einmal ernsthaft, ob du wirklich nach Berlin kommen willst.

    Ärgerlich entgegnete sie: „Ja, hör mal, ich

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