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Hereroland
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eBook458 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Deutsch-Südwestafrika im Februar 1903. Der Sergeant der Schutztruppe, August Ranke, erwartet die Ankunft seiner Frau Helene in Swakopmund. Auf dem Weg zu seinem Vorgesetzten trifft er zufällig auf die junge Freya von Rieben. Eine Begegnung mit schicksalhaften Folgen.
Noch im gleichen Jahr erheben sich die einheimischen Stämme gegen die deutsche Schutzmacht. Es beginnt ein jahrelanger, unerbittlicher Kampf um die Macht im Schutzgebiet. Nach dessen Ende kehrt trügerische Ruhe ein. Der Erste Weltkrieg wirft seinen langen Schatten bis ins südliche Afrika voraus.
Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen erzählt der Autor eine Geschichte von Schuld, Feigheit und Sühne. Eine Geschichte von der Angst vor dem Fremden, von Liebe und Verzweiflung.
Die Geschichte einer deutschen Familie in Deutsch-Südwestafrika.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Aug. 2017
ISBN9783743949058
Hereroland
Autor

Jens Holger Fidelak

Geboren am 05.03.1967 in Eisenach. Verheiratet. Zwei Kinder. Gymnasiallehrer für Geschichte, Ethik Philosophie, Sport, Deutsch als Fremdsprache

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    Buchvorschau

    Hereroland - Jens Holger Fidelak

    HEREROLAND

    Alles Sinnen und Trachten des Herero dreht sich allein um sein Vieh, besonders das Langhornrind. Alle typischen Kulturelemente stehen in direktem Zusammenhang zur Rinderzucht. Dazu zählen unter anderem das Schlachten von Großvieh nur zu festlichen und kultischen Zwecken, das Waschen der hölzernen Milchgefäße mit dem Urin einer Kuh, das Verbot, in irdene oder metallene Gefäße Milch zu gießen oder diese mit Wasser zu vermischen, die Verbindung des Häuptlings mit dem Rind und sein Begräbnis in der Rinderhaut, die Verwendung der Butter als Salbe, das heilige Dauerfeuer, die Lebensrute - als Teil des Lebensbaumes mit den Kräften des Lebens und der Fruchtbarkeit geladen, die sich durch Berührung fortpflanzen - und der Sündenbock.

    In ihren Trachten bevorzugen die traditionellen Herero die Lederkleidung, und als Waffen werden Wurflanze und Hautschild präferiert.

    Karunga ist die Gottheit der Erde, des Wassers, der Unterwelt und er wohnt als roter Mann und erster Ahnherr im Norden, während Ndjambi der Hochgott im Himmel residiert. So vereinigen sich in Ndjambi-Karunga Himmel und Erde zu einer einzigen Gottheit. Der sendet Regen, Blitz und Donner und gebietet gleichzeitig über Leben und Tod. Die Unterwelt zeigt aber auch versöhnliche Züge, denn aus ihr kommt das Leben. Und Omumborombonga, der mythische Lebensbaum, entfaltet hier seine Zweige. Ihm entsprang dereinst das Stammelternpaar Mukuru und Kamangarunga und mit diesen kamen auch die Ozongombe, die Rinder auf die Erde.

    Der Kult des Urahnen Mukuru und seiner Nachkommen, die die jeweils lebenden Häuptlinge verkörpern, spielt beim Ahnenkult der Herero eine zentrale Rolle. In Mukuru verkörpert sich das Glück des Stammes. Er ist der im Häuptling wiedergeborene Ahne. Sein Symbol ist der mythische Lebensbaum, dem auf der Erde der heilige Omuvapu Strauch entspricht.

    Die Werftanlage der Häuptlinge Onganda, besitzt einen, nach mythischen Gesichtspunkten geordneten, kreisförmigen Grundriss. Um den Kälberkral in der Mitte liegen im nördlichen Halbkreis die Hütten der Frauen, im südlichen die der Männer. Von Norden her betritt man auch die Werft. Im Osten bzw. Nordosten liegen der Pontok des Häuptlings und die Hütte seiner Hauptfrau. In der Häuptlingshütte wacht die älteste, ledig gebliebene Tochter, die Ondangere, über das heilige Feuer, damit es niemals verlöscht. Dieses Feuer ist Symbol des lebenden Mukuru. Früh und am Abend, immer wenn die Kühe gemolken werden, zündet die Ondangere auf dem zwischen dem Kälberkral und der Hütte der Hauptfrau gelegenen Opferplatz Okuruo mit dem Brand vom heiligen Feuer ein neues Feuer an. Ein Verlöschen des heiligen Feuers gilt als größtes Unglück für den Stamm.

    In der glutsengenden Hitze flimmerte der gelbe Sand. Sonnenblumenhelles Licht ergoss sich verschwenderisch üppig über das weite Land. Die wenigen Büsche und Sträucher entlang des Weges im ausgetrockneten Flussbett verschwammen zu dunklen flirrenden Schemen, die der Phantasie des Reiters keinen Müßiggang einräumten. Der junge Mann auf dem Pferd hatte seinen Hut tief in die Stirn gezogen und kauerte sich auf dem Sattel zusammen, um dem allgegenwärtigen leichten Flugsand keine zu große Angriffsfläche zu bieten. Das helle Halstuch war vor Mund und Nase gebunden. Von weitem dachte man, dass die Gestalt auf dem braunen Pferd mit der dunklen Mähne im Sitzen eingeschlafen wäre. Alles in allem ein friedliches Bild. Brav schritt der Braune dahin. Kleine Staubwölkchen bildeten sich da, wo der Hengst seine Hufe in den vertrockneten Boden setzte. Sein Reiter hatte die ledernen Zügel locker um den Sattelknauf gelegt und überließ es dem Pferd, Weg und Tempo selbst zu bestimmen. Seit neun Tagen waren sie jetzt unterwegs und die meiste Zeit waren sie allein gewesen auf ihrem Weg von Omaruru bis hierher.

    Der klagende Schrei einer Möwe zerriss die Stille. Der Reiter straffte sich augenblicklich und richtete seinen Blick in den Himmel. Er fasste die Zügel und zog sanft daran. Willig blieb der Braune stehen. Mit der Linken bedeckte der Mann seine Stirn und spähte mit zusammengekniffenen Augen jetzt geradeaus. Dabei griff er mit der Rechten in die Brusttasche seiner khakifarbenen Uniformjacke und zog eine silberne Taschenuhr hervor. Das grelle Licht brach sich in gleißenden Blitzen, in deren spiegelblank poliertem Gehäuse. Geschickt klappte er mit der einen Hand den Deckel auf und las die Zeit ab. Wieder ging sein Blick nach vorn und er begann kurz zu überlegen. Dann schien er eine Entscheidung getroffen zu haben. Er steckte die Uhr wieder in die Tasche, klopfte dem Braunen den Hals und schwang sich geschickt aus dem Sattel. „Pause, mein Braver", redete er mehr mit sich selbst, als dem Pferd zugewandt. Er warf die Zügel über die Ohren, nahm die Satteltaschen ab und ließ das Pferd frei. Dann machte er sich an den Satteltaschen zu schaffen. Mit einer Feldflasche gab er dem Pferd zu saufen. Gierig nahm das Tier die Flüssigkeit auf. Dabei tropfte das kostbare Nass durch die Hand des Reiters auf den Boden, wo es sofort im Sand für immer verschwand. Dem Reiter schien das nichts auszumachen. Ihn umgab die Aura eines Mannes, der genau wusste, was er tat. Er gab dem Tier solange zu trinken, bis die Flasche komplett leer war. Dann griff er erneut in die Satteltasche und förderte eine kleinere Feldflasche und zwei schrumpelige Äpfel hervor. Mit der flachen Hand reichte er dem Tier einen Apfel und biss selber in den anderen. Danach überließ er das Tier sich selbst.

    Langsam den Apfel kauend, stellte er sich in die Mitte des staubigen Weges und fixierte nun mit seinem kleinen Fernglas wieder den Horizont vor ihm. Zufrieden mit seiner Beobachtung verstaute er das Glas und setzte sich auf den sandigen Boden. Aus der anderen Brusttasche seiner Jacke holte er eine Zigarette und zündete sich diese an. Grauweiß zogen die kleinen Kringel in den hellblauen Himmel über Swakopmund. Nur in der Ferne, über dem Meer, zog sich ein blütenweißes Wolkenband durch das strahlende Blau. Das war ungewöhnlich für diesen Landstrich, der sonst in ein dunstiges, alles verwischendes Grau getaucht war. In zwei Stunden würden sie die Stadt und damit ihr Ziel erreichen. In acht Stunden wurde er am Hafen erwartet. Bis dahin hatte er noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen.

    Als August Ranke aufgeraucht hatte, machte er sich auf die letzte Etappe seiner Reise. Wieder zog er den breitkrempigen Hut tief in die Stirn. Er lief langsam und ohne Eile zu dem Pferd, das neugierig seinen Kopf zu dem ihm vertrauten Reiter drehte. Willig ließ es sich die Zügel über die Ohren ziehen und drehte sich von allein in die richtige Richtung. Ganz so, als hätte es selber ein Interesse, die letzte Etappe in Angriff zu nehmen. Nach fünf Minuten waren Ross und Reiter wieder in den gewohnten Positionen. Nichts mehr erinnerte an die kurze Rast. Weit vor ihnen zogen sich nach links, in feinen, gerippten Wellen, die endlosen graugelben Sanddünen bis nach Walfishbay dahin.

    August erreichte die ersten Baracken am Rande Swakopmunds, das damals noch im Begriff war, eine Stadt zu werden. Immerhin, die unbefestigte Straße war an den Rändern ordentlich mit grauen und weißen Feldsteinen grob begrenzt. Sie bildete so in ihrer geometrischen Ordnung einen scharfen Gegensatz zu den halb verfallenen Baracken mit ihren schiefen Türen und zum Teil mit Brettern vernagelten kleinen Fenstern am äußeren Rand der kleinen Hafensiedlung, die schon jetzt trotzig von sich selbst behauptete, eine Stadt zu sein. Die Tageshitze, jetzt am späten Vormittag, hatte die meisten Bewohner von der Straße in die Häuser getrieben. August atmete in tiefen Zügen die würzige Seeluft, die man hier schon spüren konnte. Er schmeckte das Salz in der Luft, roch den frischen Seetang. Nachdem er die ersten einfachen Hütten passiert hatte, begegneten ihm Einheimische. Vor einem massiven zweistöckigen Holzgebäude luden zwei Neger mit glänzenden schwarzen Leibern einen Ochsenkarren aus und brachten die Ware durch die offenstehende blaugraue Flügeltür in das Ladengeschäft. Warenhaus Köhler stand in schwarzen Buchstaben auf einem hölzernen, handgemalten Schild, das quer über dem Türrahmen an zwei kleinen Ketten befestigt war und sanft in der leichten Brise, die vom Ozean her wehte, schaukelte. Die Schwarzen nahmen August bei ihrer Arbeit nicht zur Kenntnis. Stoisch schulterten sie Bündel um Bündel auf ihre Schultern und trugen es riesigen Ameisen gleich in den Laden, um gleich darauf wieder herauszukommen und die nächsten Bündel abzuladen. Er brachte sein Pferd zum Stehen, legte die Zügel über den Sattelknauf, zog sein Halstuch vom Gesicht und band es sich neu um. Die beiden Ochsen, vorn am Wagen angespannt, schlugen mit den Quasten ihrer Schwänze nach Fliegen und wandten träge ihre Köpfe zu Ross und Reiter. Einer schüttelte sich und das Klirren des Geschirrs ließ den Braunen nervös auf der Stelle tänzeln. „Ruhig, tätschelte August sein Pferd am Hals und stieg ab. Er führte das willig folgende Tier zu der kleinen Balustrade aus Holz, die den Laden von der Straße trennte und band das Pferd lose an. Er straffte sich kurz, blickte noch einmal auf die Straße vor ihm und betrat dann den Laden. Beinahe wäre er mit einem der Neger zusammengestoßen, der im Begriff gewesen war, den Laden zu verlassen, um neue Ware vom Wagen zu holen. Im Laden traf er zunächst niemanden an. Hinter einer kleinen Theke standen mehrere Regale, die ordentlich befüllt und beschriftet waren. Da gab es Eisenwaren jeder Art und Größe. Mehl, Hafersäcke, Lederkleider in verschiedenen Größen, die meisten davon Jacken, aber auch einige gelbbraune Hosen hingen über aus Draht gebogenen Bügeln. Dazu Geschirrtücher, blauweiß karierte Bettwäsche, Hüte. August sah rechts im Regal Kerzen in einem der Fächer. Schön nach Farben und Größen sortiert, standen sie aufgereiht wie Zinnsoldaten in ihrem Fach. Alles wirkte sehr ordentlich und aufgeräumt. Vor der Theke bot sich ein anderes Bild. Hier hatten die beiden Neger vermutlich die neue Ware abgestellt. Überall stapelten sich Ballen und Kisten verschiedener Größe. Rechts neben der Theke, umrahmt von weiteren Regalen mit Gewürzen, irdenen Töpfen, Teekannen und Seilen, die wie Schlangen zusammengerollt lagen, stand eine kleine blau gestrichene Holztür offen, aus der August Stimmen vernahm. Er zögerte, trat einen Schritt in Richtung der geöffneten Tür, entschied sich aber dafür, an seinem Platz zu verharren. Kurz darauf verdunkelte zuerst ein Schatten den Eingang zum Magazin, ehe ein kräftiger, untersetzter Mann mit komplett kahlem Schädel, auf eine Liste in seinen Händen blickend, in den Verkaufsraum trat und sich gleich mit dem Rücken zum Eingang vor seine Regale stellte. Er bemerkte August nicht. Der räusperte sich verhalten, woraufhin der Glatzköpfige missmutig, ohne sich umzudrehen ein „Wir haben noch geschlossen in den Raum raunzte.

    „Verzeihung. Ich möchte nicht stören. Mein Name ist August Ranke. Ich möchte Sie nur kurz etwas fragen."

    „Wir haben noch geschlossen, hab` ich gerade gesagt." Als wäre er noch immer allein, legte der Glatzköpfige den Kopf in den faltigen Nacken und blickte suchend in der Regalwand nach oben.

    „Entschuldigung, ich wollte nur eine kurze Auskunft."

    „Also sagen Sie mal..." Genervt drehte sich der Mann jetzt um. Als er August in seiner Uniform sah, besann er sich, lächelte verlegen oder besser, er versuchte es und wurde sofort umgänglicher. Seine Zornesfalte zwischen den Augenbrauen führte ihren eigenen Dialog.

    „Entschuldigen Sie, Sergeant. Hab` heute ziemlich viel um die Ohren. Mein Name ist Köhler. Armin Köhler. Oder der Waren-Köhler, wie die Leute mich hier manchmal nennen. Ich bin der Besitzer hier. Wie Sie sehen, bekommen wir gerade Ware und wenn ich nicht genau aufpasse und Buch führe, klauen mir die beiden schwarzen Lumpen das letzte Hemd direkt vor der Nase weg. Einer der Angesprochenen schob sich gerade mit einer Kiste auf dem Kopf an August vorbei zum Magazin. „Das bleibt hier vorn! Wie oft soll ich das noch erklären, schnauzte Köhler den Schwarzen an. Der stellte gleichmütig die Kiste zu den anderen, die sich bereits vor der Theke stapelten und ging wieder nach draußen. „Was kann ich für Sie tun Herr."

    „Ranke."

    „Was kann ich für Sie tun, Herr Ranke?" Der Händler schwitzte jetzt erkennbar. Sein Hals war puterrot. Man sah ihm an, dass er sich zur Höflichkeit zwingen musste. August störte ihn mehr als offenkundig. Köhlers Augen flogen wie aufgescheuchte Fledermäuse immer wieder zwischen August und den beiden Schwarzen umher.

    „Ich suche das Büro von Hauptmann von Rieben. Ich habe eine Nachricht für ihn, die ich persönlich überbringen muss."

    „Hauptmann von Rieben? Sofort nahm der Mann, der sich Köhler nannte, devote Haltung an und konzentrierte sich jetzt ganz auf sein Gegenüber. Was ihm immer noch sichtlich schwerfiel. August nahm das befriedigt zur Kenntnis und unterdrückte bewusst den Impuls, freundlich zu lächeln. „Der Herr Hauptmann hat sein Büro direkt am Hafen. Wenn Sie die Straße weiter vor reiten, sehen Sie bald den neuen Leuchtturm. Zwischen Bahnhof und Leuchtturm befindet sich das Hafenamt mit der Hafenmeisterei. Ein weißes, zweistöckiges Gebäude mit schwarzem Fachwerk in der zweiten Etage. Der Herr Hauptmann ist aber viel unterwegs. Es kann sein, dass Sie ihn nicht sofort dort antreffen. Die letzte Aussage hinterließ einen verwirrten Ausdruck in August Gesicht. Diese Möglichkeit hatte er gar nicht bedacht. Das würde seine gesamten Pläne gehörig durcheinanderbringen. Köhler sah ihn entgeistert an und befürchtete schon, etwas Falsches gesagt zu haben.

    „Danke, presste August hervor und deutete ein Nicken an. „Dann will ich Sie nicht länger stören, Herr Köhler. Vielen Dank. Auf Wiedersehen. Die Erleichterung in Köhlers Gesicht äußerte sich im Schließen der Augen, einhergehend mit einem tiefen Atemzug. Als er die Augen wieder öffnete, war er wie ausgewechselt.

    „Grüßen Sie den Herrn Hauptmann. Und vielleicht kommen Sie ja mal vorbei, wenn Sie was suchen. Bei mir bekommen Sie alles, was Sie in dem verdammten Land brauchen. Und auch das, was Sie nicht brauchen. Ab morgen haben wir wieder geöffnet." Dann hatte er August auch schon wieder den Rücken zugedreht und hakte weiter in seiner Liste ab.

    Dank Köhlers Wegbeschreibung gelangte August schnell zum Ziel. Seit seiner Ankunft in Deutsch-Südwest vor einem Jahr hatte sich die Gegend um den Hafen total verändert. Am auffälligsten war der neu errichtete, massive Leuchtturm, der sich fast zwölf Meter in die Höhe streckte. Als August vor gut einem Jahr nach Afrika kam, befand sich der Leuchtturm noch im Bau. Der weiß rote Turm mit den in Rot gehaltenen charakteristischen Zinnen unterhalb des Lichtfensters und der grünspanüberzogenen Kupferkuppel wies August den Weg zur Mole und zum Büro von Hauptmann von Rieben, in der ebenfalls neu errichteten Hafenmeisterei. Rund um das Hafenbecken war das Land mit verstreut stehenden, trostlosen Baracken und Bretterbuden bebaut, die dem ganzen einen noch unfertigen, provisorischen Eindruck gaben. Weiter hinten stand mit dem neu erbauten Bahnhofsgebäude ein weiteres repräsentatives Bauwerk. An einer Stelle sah August, wie schwarze Arbeiter unter der Aufsicht eines Schutztrupplers den Bretterzaun ausbesserten. Als der Gefreite August sah, nahm er sofort Haltung an und salutierte. August grüßte zurück und ritt weiter zur Reede. Hier direkt am Hafen herrschte ein reges Gewühl. Überall tummelten sich Menschen. Die meisten nahmen von August keinerlei Kenntnis. Jeder hatte seine eigenen Geschäfte und Tätigkeiten zu erledigen. Im Hafenbecken lagen knapp ein Dutzend Schiffe und schaukelten im leichten Wellengang. Ein großer Schlepper und mehrere kleine. Aber es gab noch einen anderen Grund, warum heute so viele Menschen in Swakopmund am Hafen zu tun hatten. Heute, am 25. Februar 1903 wurde am späten Nachmittag die Eduard Bohlen erwartet. Auch August war genau deswegen heute nach Swakopmund gekommen. Denn mit der Eduard Bohlen reiste auch Helene, seine Frau, die zum ersten Mal afrikanischen Boden betreten würde.

    Neben der Hafenmeisterei, dort wo früher die Baracke mit den Büros der Woermann Linie waren, entstand gerade ein weiterer, für hiesige Verhältnisse prunkvoller Steinbau. August ließ seinen Blick schweifen. Am Hafen entwickelte sich Swakopmund noch am schnellsten. Trotzdem konnte man dieses Sammelsurium aus den vereinzelten Steinbauten und den ringsum verstreuten Baracken und Holzhütten inmitten dieser Sandwüste nicht mit einer deutschen Stadt vergleichen.

    Weiter hinten, in der langen Schlange der hölzernen Lagerhäuser, die wie ein riesiger Wurm neben dem Ufer lagen und sich direkt neben den neu verlegten Eisenbahngleisen befanden, betrat August eine Schmiede. Mit dem Schmied, einem kräftigen Württemberger mit borstigem Schnauzbart und riesigen Händen, die mit Schwielen übersät aussahen, wie die Hände eines Aussätzigen, wurde er sich schnell einig, seinen Braunen im Stall des Geschäftes unterzubringen. Der Schmied pfiff mit zwei Fingern. Sofort kam aus dem Stall ein kleiner Negerjunge in abgeschnittenen Stoffhosen herbeigesprungen und übernahm das Pferd. August drückte ihm einen Groschen in die Hand und wies ihn kurz an, sich gut um das Pferd zu kümmern. Die weißen Zähne des Jungen blitzten auf, als er die Münze in seiner Tasche verschwinden ließ.

    Ohne sein Pferd machte sich August auf den Weg zurück zur Hafenmeisterei. Er verdrängte die Möglichkeit von Rieben nicht anzutreffen einfach. Leutnant von Stein hatte ihn so zur Vertraulichkeit in der Sache gedrängt, dass die Nachricht, die er ihm für Hauptmann von Rieben mitgegeben hatte, von höchster Dringlichkeit zu sein schien. Und August hatte nicht vor, das Vertrauen des Leutnants zu enttäuschen. Vor dem riesigen Portal aus dunklem Tropenholz prüfte August noch einmal den Sitz seiner Uniform, als die große Tür aufschwang und eine junge Dame mit fliegendem Rock die Treppe herabeilte. Im Laufen öffnete sie ihren kleinen geblümten Schirm. So einen, wie ihn die weißen Frauen hier gegen die Sonne trugen. August riss sich den Hut vom Kopf und deutete eine kleine Verbeugung an, welche die Dame mit überraschtem Nicken erwiderte und zu einem kurzen Zögern veranlasste, ehe sie stehen blieb. Ihr Gesicht war leicht gerötet. Wie von Anstrengung oder leichtem Ärger. Und es war schön.

    „Kennen wir uns?", fragte sie und besah August neugierig mit offenem Blick.

    „Sergeant Ranke, gnädige Frau. Nein. Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet." Langsam setzte August seinen Hut wieder auf. Und deutete eine weitere Verbeugung an. Er war auf alles vorbereitet gewesen, aber nicht darauf, dass die Dame ein Gespräch mit ihm führte.

    „Freya von Rieben, angenehm, stellte sie sich vor. „Ein junger Sergeant mit Manieren. Sie schürzte kokett die Lippen, drehte leicht den Kopf schräg und nickte anerkennend. „Ich nehme an, Sie wollen zur Hafenmeisterei?" August musste kurz räuspern, ehe er sprechen konnte.

    „Das ist richtig. Ich habe eine persönliche Nachricht des Herrn Leutnant von Stein an den Herrn Hauptmann von Rieben."

    „Leutnant von Stein? Dann sind Sie aus Omaruru gekommen? Und Sie sagen es ist dringend?"

    „Ja, gnädige Frau. Vor neun Tagen bin ich losgeritten und seit etwa einer Stunde hier in der Stadt."

    „Sie sind allein von Omaruru hierher geritten? Ein ungläubiges Staunen huschte über ihr feines Gesicht und wurde von einem anerkennenden Lächeln abgelöst. „Hauptmann von Rieben ist mein Ehemann. Er ist aber im Moment nicht hier in der Hafenmeisterei. August zuckte ungewollt mit dem rechten Lid, als er diese unerfreuliche Information bekam. „Ich habe es auch gerade eben erst erfahren. Er soll aber in der nächsten halben Stunde zurückkommen." Seine Züge entspannten sich. Der Rest seines Körpers hielt weiter gegen seine Willen Spannung.

    „In einer halben Stunde, sagen Sie. Da werde ich die Zeit nutzen und mich nach einem geeigneten Quartier umsehen. Vielen Dank für Ihre Auskunft, Frau von Rieben." August versuchte, wenigstens entspannt zu klingen und deutete eine weitere kleine Verbeugung an. Immerhin. Die angedeutete Verbeugung gelang.

    „Gern geschehen. Falls Sie noch nicht in Swakopmund waren, empfehle ich Ihnen übrigens das Gasthaus Köhler. Die haben dort noch die erträglichsten Zimmer. Das ist übrigens gleich da vorn. Kurzes Zögern. Ihr Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm. „Wenn Sie möchten, dürfen Sie mich begleiten, dann zeig ich es Ihnen. Ich muss auch in diese Richtung. Scheu drehte sie den Kopf zu August und sah ihn an. Sie sah einen überforderten August, der blöd zurückblickte. Dafür gab es keine elegante Lösung.

    „Danke. August wurde verlegen. „Verzeihung, Frau von Rieben. Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen. Unmöglich dieses Angebot auch nur zu Ende zu denken. Oder doch? Niemals! Wozu auch? Er hatte einen Auftrag zu erledigen. Nachher kam Helene. Schluss. Aus. „Ich kann Sie aber nur begleiten, wenn Sie mich ausdrücklich darum bitten, Ihnen Schutz zu gewähren." Oh mein Gott. War er verrückt geworden? August blickte zu Boden. Freya lachte laut auf.

    „Na dann, Sergeant Ranke. Beschützen Sie mich mal vor den Eingeborenen und all den Strauchdieben, hier in Swakopmund." Aufatmen auf beiden Seiten lag in der Luft.

    „Es ist mir eine Ehre, Frau von Rieben." Die beiden liefen äußerlich entspannt nebeneinander auf der staubigen Straße am Hafen entlang und bogen dann am Leuchtturm nach links in die Poststraße zurück in das kleine Zentrum der werdenden Wüstenstadt am Meer. Zusammen blieben sie kurz am Leuchtturm stehen und betrachten ihn. Freya lächelte, als August zufällig ihren Blick erhaschte. Trotz des geschäftigen Treibens auf der Straße nahm von den beiden niemand wirklich Notiz. Alle waren irgendwie mit sich oder anderen, für sie wichtigen Dingen beschäftigt. Da August es tunlichst vermied, ein Gespräch mit der Frau eines Vorgesetzten zu beginnen, schwieg er. Trotzdem begann er, unter seinen strahlend kornblumenblauen Kragenspiegeln zu schwitzen. Mit beiläufigen Blicken musterte er verstohlen die junge Frau. Freya von Rieben war eine natürliche Schönheit. Unter ihrem eleganten kleinen Hut quoll das goldblonde lockige Haar hervor.

    Schon während ihres kurzen Gespräches war August das eigenwillige helle Leuchten ihrer grauen Augen aufgefallen. Kerzengerade schritt ihre zierliche, harmonische Gestalt gemächlich über die Straße.

    „Gleich da vorn ist es., riss sie ihn aus seinen stillen Betrachtungen. „Sehen Sie, dort das einstöckige Gebäude mit der blauen Tür. Ihr gebeugter Arm zeigte nach vorn.

    „Ja. Danke, ich sehe es", wandte er sich ihr zu und ihre Blicke trafen sich erneut. Den Bruchteil einer Sekunde zu lang verfing sich August im Leuchten ihrer Augen. Erschrocken blickte er schnell zur Seite. Ohne sich zu trauen auch nur noch einmal in ihre Richtung zu denken, spürte er, wie ihr entspanntes reizendes Wesen einer höflichen Förmlichkeit wich.

    Endlich erreichten sie das Gasthaus Köhler. August war unter seiner Uniform klatschnass.

    „So, hier finden Sie bestimmt eine Unterkunft. Vielen Dank für Ihre Begleitung und Ihren Schutz, Sergeant."

    „Ich muss Ihnen danken, Frau von Rieben. Es war mir eine Ehre, Sie begleiten zu dürfen. Die Höflichkeit zwang August dazu, sie beim Sprechen anzusehen. Zeitgleich blickten beide so schnell wie möglich zur Seite. „Dann versuche ich mal mein Glück, sprach August und schritt zur Tür.

    Eine halbe Stunde später stand er mit frisch gewichsten Stiefeln wieder vor dem Quartier des Hafenmeisters. Im Gasthaus Köhler hatte er sofort ein Zimmer bekommen. Wie sich herausstellte, war die Namensgleichheit mit dem Warenhändler Armin Köhler kein Zufall. Es handelte sich bei dem Inhaber des Gasthauses und dem Inhaber des Warenladens um ein und dieselbe Person. Stolz hatte der schlaksige junge Mann mit der schlechten Gesichtshaut, der sich als Walter vorstellte und der, so wie August vermutete, sein Leben lang und das womöglich auch noch freiwillig in diesem Gasthaus bleiben würde, hinter dem Tresen noch weitere Besitztümer seines Chefs aufgezählt, ohne dass August danach gefragt hätte. Aber während er für August die Anmeldung in seinem großen, in Leder eingebundenen Gästebuch ausfüllte, plauderte er munter drauf los. So erfuhr August, dass Armin Köhler neben seinen Geschäften in Swakopmund noch andere Dependancen unterhielt und im nächsten Monat ein Warenhaus in Windhuk eröffne. Dieses Gästehaus noch in diesem Jahr aufgestockt werden solle und mehrere große Farmen mit Vieh zum Besitz des emsigen Kaufmannes gehörten.

    Mit jedem Schritt zwei Stufen auf einmal nehmend, erklomm August die kleine Treppe und betrat die Hafenmeisterei. Im Innern sah er, wie zwei Nama Frauen in weißen Putzkleidern auf Knien die dunklen Holzfußböden schrubbten. Rechts neben dem Eingang befand sich der Empfang. Hinter einer Scheibe, in die unten ein kleines Loch geschnitten war, das, mit gestanztem Blech verkleidet, die Kommunikation zwischen Davor und Dahinter verbessern sollte, saß ein älterer Zivilist mit Nickelbrille über dem wuchtigen Kaiserbart, der sein pockennarbiges Gesicht in großen Teilen dominierte, wie in einem Aquarium und sah August mit prüfendem Blick an.

    „Sergeant Ranke", stellte sich August vor. „Ich möchte in einer dringenden Angelegenheit zu Hauptmann von Rieben.

    „Da hamm`se Glück. Der Herr Hauptmann ist vor fünf Minuten rein. Sein Büro ist im ersten Stock. Wenn`se die Treppe hochgehen, die erste Tür links." Der Pförtner griff in seine Hosentasche und zog ein Taschentuch hervor. Damit wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn. August dankte und ging zur Treppe.

    Schon nach dem ersten zaghaften Klopfen donnerte von drinnen ein kräftiges „Herein!". August öffnete die Tür und trat in das Büro von Hauptmann von Rieben.

    „Sergeant Ranke vom Kommando Omaruru, salutierte August, die Hacken zusammenschlagend. „Gestatten Herr Hauptmann, dass ich Ihnen eine wichtige Nachricht von Leutnant von Stein überbringe.

    „Rühren. Na dann zeigen Sie mal her, was Sie für mich haben. August griff in die Innentasche seiner Uniformjacke und entnahm ihr das versiegelte Schreiben. Er trat zwei Schritte auf von Rieben zu, der hinter seinem Schreibtisch saß und in einer Zigarrenkiste wühlte. Dann hielt er ihm den Brief über den Tisch. Mit der freien linken Hand nahm von Rieben das Schreiben entgegen und legte es vor sich auf den Stapel anderer Papiere. Mit derselben Hand wedelte er und bedeutete August, sich auf einen der Stühle zu setzen, die vor seinem Schreibtisch für Besucher aufgestellt waren. „Hinsetzen, Sergeant.

    „Vielen Dank, Herr Hauptmann." August nahm steif auf dem ihm zugewiesenen Stuhl Platz und sah zu von Rieben. Der war mittlerweile fündig geworden und steckte sich in aller Ruhe eine Zigarre an. Erst nachdem er ein paar Züge gepafft hatte, griff er nach dem Umschlag und erbrach das Siegel.

    „Muss ja verdammt wichtig sein, wenn von Stein kein Telegramm schickt, murmelte er vor sich hin. Konzentriert begann er zu lesen. August beobachtete, wie die strengen Züge des Hauptmannes das Gelesene verarbeiteten. Seine Kiefermuskeln kontrahierten leicht - von ihm selbst unbemerkt. Unaufhaltsam zogen sich zwischen den Augenbrauen zwei kleine Stirnfalten zusammen. Ganz langsam wurden sie immer tiefer. Als von Rieben den Brief ablegte, blieben die beiden Stirnfalten, als wären sie schon immer da gewesen. Er griff nach einer kleinen, durchsichtigen, gläsernen Glocke und läutete. Sekunden später flog die Tür auf und ein Gefreiter salutierte. „Zur Stelle, Herr Hauptmann!

    „Klüver. Ich möchte die nächste halbe Stunde nicht gestört werden und suchen Sie mir den Telegrafenfritzen, diesen Feldmann oder wie der heißt. Verstanden?"

    „Jawohl, Herr Hauptmann", brüllte Klüver und schon flog die Tür wieder zu.

    „Kennen Sie den Inhalt des Schreibens, Sergeant? Hat Ihnen von Stein gesagt, womit er Sie hier losgeschickt hat?", wandte sich der drahtige von Rieben wieder August zu. Mit seiner tadellos sitzenden Uniform, dem vollen Haar und seinen vielleicht knapp fünfunddreißig Jahren war der Hauptmann eine respekteinflößende Erscheinung. Der Dienstgrad eines Hauptmannes in so jungen Jahren war sichtbare logische Konsequenz all seiner Fähigkeiten und Qualitäten.

    „Nein, Herr Hauptmann. Der Herr Leutnant hat mich nur gebeten sicherzustellen, dass dieser Brief persönlich und ungeöffnet von mir an Sie übergeben wird." Von Rieben strich sich nachdenklich über den gezwirbelten Oberlippenbart.

    „Hören Sie genau zu. Das ist ein Befehl. August straffte sich und blickte aufmerksam zu dem Offizier. Alles was ich Ihnen jetzt sage, ist streng vertraulich. Außer mit mir und Leutnant von Stein reden Sie mit niemanden über diese Angelegenheit, bis ich es Ihnen erlaube."

    „Jawohl, Herr Hauptmann."

    „Wenn das stimmt, was von Stein mir hier berichtet, hat er den Verdacht, dass bei den Herero verstärkt deutsche Waffen auftauchen. Und diese Waffen müssen irgendwoher kommen. Diese Neger sind ja wohl schlecht selbst in der Lage, Waffen zu bauen. Außer ihren Speeren und Pfeilen. Kurzes Lachen über seinen eigenen gelungenen Scherz. August lächelte brav. Von Rieben schüttelte verächtlich den Kopf. August tat es ihm gleich. „Zudem befürchtet Leutnant von Stein, dass die Stimmung bei einigen Herero sich gegen unsere Landsleute richtet. Ganz konkret deutet er mir an, dass er es für durchaus möglich hält, dass diese Primitiven zu gewalttätigen Handlungen fähig wären. Er fordert von mir Verstärkung für das Kommando in Windhuk und die umliegenden Feldposten. In Omaruru sind im Augenblick unter Hauptmann Franke genug Kräfte, glaubt er. Gleichzeitig soll ich versuchen herauszufinden, wo diese Kaffern die Waffen herbekommen. Dabei haben wir hier unten zurzeit immer wieder selber genug Ärger mit den Nama. Diesem störrischen alten Witbooi und seinen Hottentotten traue ich keinen Meter über den Weg. Verträge hin oder her. Er zog an seiner Zigarre und blickte in Gedanken versunken aus dem Fenster auf das Hafenbecken. „Was halten Sie von der Sache Ranke? Sie kennen die Umstände in Omaruru doch sicher auch schon eine Weile?"

    „Seit einem knappen Jahr bin ich dort, Herr Hauptmann. Das mit den Waffen kann ich bestätigen. Auf Nachfrage behaupten die Neger stets, sie hätten sie ehrlich mit Handel erworben und benutzen sie nur für die Jagd oder um ihr Vieh zu verteidigen. Von einer erhöhten Gewaltbereitschaft gegenüber unseren Landsleuten weiß ich nichts. Und das eine oder andere Feldkommando im Hererogebiet kann tatsächlich noch ein paar tüchtige Männer gebrauchen. Die Missionsstationen ziehen immer mehr Herero in die unmittelbare Gegend um Windhuk."

    „Mhm. Hauptmann von Rieben überlegte. „Schöner Mist. Von Stein schreibt, dass ihn Hauptmann Franke mit der Aufklärung dieser Sache betraut hat, weil er im Moment selber mit Aufrechterhaltung der Einsatzbereitschaft seiner Kompanie und Verwaltungsaufgaben voll ausgefüllt ist. Kann ich gut verstehen. Geht einem ja hier nicht anders. Ich muss mich auch um tausend Dinge gleichzeitig kümmern. Genervt trommelte er mit den Fingern auf seinen mit Akten überladenen Schreibtisch.

    „Falls Herr Hauptmann gestatten?" Von Rieben nickte und erteilte mit der Zigarre in der Hand August die Erlaubnis, weiter zu reden. „Ich habe in meiner Tasche die Abkommandierung auf die Feste Windhuk. Mein Befehl lautet, mich morgen nach der für heute erwarteten Ankunft der Eduard Bohlen mit der neuen Bahn nach Windhuk zu begeben und dort bei Oberleutnant Stehle zu melden. Das heißt für das Kommando in Omaruru noch ein Mann weniger."

    „Das heißt, Sie reiten gar nicht nach Omaruru zurück? Von Rieben war sichtlich verärgert. „Das wird ja immer schöner.

    „Nein, ich reite nicht direkt nach Omaruru zurück." Kurze bedeutungsschwere Pause. Erstaunt blickte von Rieben zu August. Dann nickte er erst und danach begann er zu schmunzeln.

    „Guter Mann Ranke. Solche wie Sie können wir hier unten brauchen. Was denken Sie, wie lange werden Sie brauchen, um von Windhuk nach Omaruru zu gelangen?"

    „Das hängt davon ab, wie der Herr Oberleutnant Stehle Verwendung für mich geplant hat. Von Windhuk schaffe ich es allein in vier bis fünf Tagen nach Omaruru, Herr Hauptmann."

    „Gut. Dann melden Sie sich bei Ihrer Rückkehr von dort sofort wieder bei mir. Bis dahin werde ich auch in Windhuk meine neue Funktion als Leiter der Ortskommandantur angetreten haben. Sie sagten, bis morgen sind Sie noch hier Swakopmund?"

    „Abfahrt ist acht Uhr morgens, Herr Hauptmann." Von Rieben überlegte. Dabei zwirbelte er mit den Fingern seinen Bart. Unter dem Schreibtisch bemerkte August erst jetzt ein ununterbrochenes Wippen mit dem linken Bein.

    „Ich muss morgen früh zu unseren englischen Freunden nach Walfishbay reiten. Vorher werde ich Ihnen noch heute zwei Schreiben aufsetzen. Eines für den Oberleutnant und eines für von Stein. Ich erwarte von Ihnen auch hier eine persönliche Übergabe und strengste Vertraulichkeit."

    „Jawohl, Herr Hauptmann." Von Rieben nickte wie zur Bestätigung vor sich hin. Dann stand er plötzlich auf und schritt an das kleine Fenster. Mit dem Rücken zu August stand er da und blickte auf das Hafengelände. Er schien nach wie vor über eine nicht abgeschlossene Sache nachzudenken. Dann straffte er sich und drehte sich um.

    „Haben Sie bis heute Abend noch weitere Aufgaben in Swakopmund zu erledigen?"

    „Jawohl, Herr Hauptmann. Meine Frau erwartet mich auf der Eduard Bohlen. Wir müssen heute noch ein paar Formalitäten erledigen, damit uns das Gepäck und unser Hausrat nach Windhuk nachgeschickt werden."

    „Ihre Frau? Von Rieben blickte überrascht auf. „Tüchtig, junger Freund. Sie haben also vor, in Afrika zu bleiben?

    „Wir möchten uns hier niederlassen. Sobald wir das Geld zusammengespart haben, möchten wir uns ein kleines Stück Land kaufen, Herr Hauptmann." Augusts Gesicht begann zu leuchten, wenn er an seine Pläne dachte, die er mit Helene noch in Deutschland geschmiedet hatte, bevor er nach Afrika eingeschifft wurde.

    „Tüchtig, sehr tüchtig. Freut mich zu hören, dass so ein patenter junger Herr mit seiner Frau die deutsche Gemeinschaft stärken will. Wissen Sie was Ranke? Ich würde mich freuen, wenn Sie heute Abend, wenn Sie ihren ganzen Kram erledigt haben, mit Ihrer Frau bei uns zu Abend essen. Meine Frau ist auch noch neu hier und freut sich bestimmt über ein wenig kultivierte weibliche Unterhaltung. Und ich kann Ihnen dann die vertraulichen Schreiben gleich mitgeben, ohne vorher noch mal in dieses Büro zu müssen." Der Verweis auf den Unterhaltungsbedarf seiner Frau durch den Hauptmann brachten Augusts Schweißdrüsen erneut auf Trab. August war überrascht. Er fühlte sich, wie von einem Ochsengespann angefahren. Für den Moment war er orientierungslos, verwirrt. Abgesehen davon, dass ein Hauptmann mit aristokratischer Herkunft ihn und seine Frau zu sich nach Hause zum Abendessen eingeladen hatte. Schon das war mehr als ungewöhnlich. Das war eigentlich gegen jede gesellschaftliche Regel. Aber zu seinem Erstaunen war es das nicht allein, was bei August sofort ein unangenehmes Gefühl hervorrief. Vielmehr die Erwähnung Freyas von Rieben verunsicherte ihn plötzlich. Ihm wurde schlecht. Die Ereignisse von vorhin holten ihn ein. Er wusste nicht warum, kämpfte aber auf einmal gegen ein Erröten an.

    „Nun gucken Sie nicht so bedeppert. Keine Widerrede, Sergeant. Heute Abend neun Uhr. Das ist ein Befehl."

    „Jawohl, Herr Hauptmann. Vielen Dank für die Einladung. Es wird mir und meiner Frau eine Ehre sein."

    „Na also. Geht doch. Und jetzt machen Sie sich auf die Socken und nehmen Sie die verehrte Frau Gemahlin gebührend in Empfang. Sie können wegtreten."

    Entlang der hölzernen Landungsbrücke reihten sich die Schaulustigen und malten bunte Punkte in das Hafengelände. Pünktlich vier Uhr nachmittags erschien am Rande der Bucht weißer Kesseldampf am Himmel, ehe das riesige schwarze Ungetüm des Dampfers der Woermann-Linie in die Bucht einfuhr und rund 900 Meter vom Ufer entfernt im tieferen Wasser ankerte. Die Eduard Bohlen grüßte mit einem lauten Signal, das frenetisch mit wedelnden Tüchern und Hüten von der Mole beantwortet wurde. Die Passagiere der ersten, zweiten und der dritten Klasse standen ausnahmslos an der Reling und winkten schon von weitem der am Hafen wartenden Menge zu. Obwohl die Reederei Woermann regelmäßig die Häfen in den Kolonien, genauer den Schutzgebieten des Reiches ansteuerte, war die Ankunft eines solchen Schiffes immer noch ein Ereignis in der überschaubaren Welt der Kolonisten. Viele der deutschen Einwohner Swakopmunds waren zum Hafen gekommen. Kinder liefen aufgeregt durch die Reihen der Erwachsenen. Manche Familien hatten auch ihr schwarzes Personal mit zum Hafen gebracht. Ein paar Damara- und Hottentottenkinder streunten umher und waren genauso aufgeregt, wie die Kinder ihrer Herrschaften.

    August selbst hielt sich zurück. Er hatte sich einen Platz an einem der Laternenpfeiler am Fuß der Landungsbrücke gesichert. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er zur Reling und suchte nach seiner Helene. Sein Herz schlug vor Freude und Aufregung schneller. Hoffentlich würde es Helene hier in der Fremde gefallen. Bestimmt, beruhigte er sich. Endlich kämpfte sich der kleine Schlepper durch die flache Uferbrandung mit den ersten Passagieren immer näher. Inmitten der dicht vor ihm auf der Kaimauer stehenden und mit ihren Hüten und Tüchern winkenden Menschen konnte er unmöglich seine geliebte zierliche Helene auf dem Boot ausmachen. Er zwang sich zur Ruhe und Geduld. Spätestens wenn Helene die Mole betreten würde, musste er sie erkennen. Dann hätte er genug Zeit, seinen Platz aufzugeben und hinzueilen, um sie in seine Arme zu nehmen. Die Matrosen warfen jetzt schon die dicken, schwarzen Taue über den Rand des Schleppers, wo sie unten geschickt von schwarzen Hafenarbeitern aufgefangen und an den großen Pollern befestigt wurden. Auf dem Zubringerschiff machten sie sich jetzt zu schaffen, die Landungstreppe herunterzulassen. Unter dem Jubel der Wartenden schritten die ersten Ankömmlinge vom Schiff. August war angespannt.

    „Kommen Sie, liebe Helene. Lassen wir die Herren für einen Moment allein." Von Rieben und August setzten sich wieder auf ihre geschwungenen Stühle. Freya von Rieben hakte Helene unter und zog sie weg von dem noch immer üppig eingedeckten Tisch in

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