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Operation Kopfschere: Roman
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eBook311 Seiten4 Stunden

Operation Kopfschere: Roman

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Über dieses E-Book

Sie wissen was eine Kopfschere ist? Nein? Damit sind sie zum Glück nicht allein. Auch der israelische Geheimdienst, der sagenumwobene Mossad, ist anfangs komplett ratlos.
Die junge Agentin Beth Weiz trifft in Deutschland zufällig auf den midlifekriselnden Marcel Ranke und seine Kumpels aus dem Studium. Sie wird Ohrenzeugin eines seltsamen Gespräches. Was zunächst nach einer Petitesse aussieht, wird bei näherer Betrachtung zu einer internationalen Affäre. In Tel Aviv entschließt man sich zum Handeln.
Der Autor nimmt seine Leser mit auf einen Parforceritt von Missverständnissen, Mutmaßungen, irrwitzigen Zufällen. Ganz nebenbei erzählt er eine Kindheit und Jugend in der DDR und schafft dreißig Jahre nach dem Mauerfall einen Wenderoman, der in seiner Authentizität und Unschuld berührt.
Mit "Operation Kopfschere" erscheint der dritte eigenständige Band der Familiensaga über die Rankes.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Okt. 2019
ISBN9783749746187
Operation Kopfschere: Roman
Autor

Jens Holger Fidelak

Geboren am 05.03.1967 in Eisenach. Verheiratet. Zwei Kinder. Gymnasiallehrer für Geschichte, Ethik Philosophie, Sport, Deutsch als Fremdsprache

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    Buchvorschau

    Operation Kopfschere - Jens Holger Fidelak

    Operation Kopfschere

    Der hässliche, mausgraue Fußbodenbelag war abgelaufen und an manchen Stellen fleckig. Es war viel zu warm. Draußen war das Blattwerk der Bäume mit Staub überzogen. Die graugelben Blätter in den Kronen lechzten nach Regen. Ich zog mein dunkelblaues Jackett aus, hing es über die Lehne des freien Stuhles neben mir. Niemand war mehr auf dem Gang zu sehen. Manchmal klingelte ein Telefon hinter irgendeiner der geschlossenen Türen des Gerichtes. Mein Blick fixierte den hinter einer Plastikfolie angebrachten Zettel der gegenüberliegenden Tür. „ Verhandlung. Bitte Ruhe!", stand da in fetten, schwarzen Druckbuchstaben. Hinter der Tür ging es heute um viel. Es ging um das Schicksal eines Mannes. Es ging darum, ob die Mühen des letzten halben Jahres umsonst waren oder nicht. Darum, ob sich die Puzzleteile unseres Planes zusammenfügen, alles vergeblich war oder wir am Ende zusammen knietief in der Scheiße auf den Abgrund zu wateten.

    Der Klimawandel zeigte bereits Wirkung im Leben meines Cousins, lange bevor kleine Schwedinnen weltweit zum Schule schwänzen am Freitag aufriefen. Insbesondere das Klima seiner Beziehung zu Johanna hatte sich schon vor Jahren gewandelt. Vom stabilen Kontinentalklima mit vorhersehbaren Stimmungswechseln je nach Jahreszeiten, hin zu einer unberechenbaren Abfolge von Gewittern, Stürmen und teils heftigen Orkanen. Inwieweit die beiden selbst verschuldet den Klimawandel herbeiführten? Um diese Frage zu beantworteten, fehlte zumindest Marcel das neurologische Grundgerüst oder, wie er es selbst formulierte, ein X- Chromosom. Immerhin war er sich sicher, dass die frühere ausschließlich feminine Benennung der Tiefdruckgebiete in der Meteorologie kein Zufall gewesen sein konnte. Tief Johanna lag schon nach wenigen Jahren schwer über dem ehelichen Kontinent und Hoch Marcel verkümmerte zusehends. Umso eindrucksvoller pflegte Johanna, seinen Anteil am Klimawandel im Hause Ranke hervorzuheben. Da trösteten ihn auch die mahnenden Worte seines Freundes Swen nicht, dass Männer und Frauen den Begriff Wechseljahre zunehmend unterschiedlich definierten.

    Trennung ist wie Urlaub, dachte Marcel und trank aus seiner Bierbüchse. Man hat seine Ruhe. Alle Sorgen sind auf Reisen und mit sich selbst beschäftigt. Seit er und seine Frau nicht mehr kommunizierten, waren die Probleme nicht mehr präsent, fasste er für sich seine Situation zusammen. Für meinen Cousin stand daher fest: Frauen? Nur noch ambulant. Nicht mehr stationär. Das Leidige an Urlauben war aber auch, zumindest ging es Marcel spätestens nach drei Wochen so, dass man irgendwann wieder nach Hause wollte. Nur ein solches gab es für ihn nicht mehr. Sehnsucht nach den Kindern. Auch so eine typische Urlaubserscheinung. Normalerweise kam er jetzt immer an den Punkt, sich im Selbstmitleid zu baden und sein Beziehungsverhalten zu reuen. In Ansätzen. Doch seit Johanna den Scheidungsprozess, nicht zuletzt mit Blick auf die endgültige Gütertrennung anstrebte, war sein Glauben an Gerechtigkeit und Rechtsstaat dahin. Dabei wollten sie doch ursprünglich wegen der Kinder trotz Trennung verheiratet bleiben. So war die gemeinsame Abmachung, auf Initiative Johannas wohlbemerkt, vor fünf Jahren gewesen. Weshalb sie ihm trotzdem das Umgangsrecht einschränkte, wo und wann sie nur konnte, ließ sie in der geheimnisvollen Schwebe, auf der nach Marcels Empfinden nur Frauen ihre widersprüchlichen und unlogischen Gedanken vor sich hertragen konnten, als wären es unumstößliche Gesetzmäßigkeiten. Das Schreiben ihrer Anwältin verstand er sowieso nur zur Hälfte. Aber was mit seiner Hälfte des gemeinsamen Vermögens passieren sollte, immerhin knapp 600 000 Euro, kapierte selbst er beim ersten Lesen. Es sollte ihn nämlich genauso verlassen, wie zuvor Johanna mit den Zwillingen. Fassungslos machte ihn die Begründung der feinen Dame. Er hätte sie über Jahre angelogen und betrogen, dabei gesellschaftlich isoliert und um ihre Karrierechancen gebracht. Machten das nicht alle mal in einer Beziehung? Fünfzehn Jahre an Johannas Seite waren nicht nur Zuckerschlecken. Jedenfalls hatte ihm dann sein Anwalt eröffnet, dass der Zugewinnausgleich in einer Ehe bei besonderen Härten entfalle. Irgend so ein Juristenscheiß, den er noch weniger verstand, als das Geschreibe der unbefriedigten Furie von Rechtsanwältin, die sich um Johannas und das Kinderwohl kümmerte, wie sie stets betonte. Nur dass er seinen Anwalt für diese unverständliche Nummer noch bezahlen durfte. Fakt war jedenfalls, wenn Johanna die Klage nicht zurückzog, stand er vor dem Ruin. So oder so. Sie habe ihm vertraut und er hätte ihr gegenüber behauptet hochbegabt zu sein. Daraufhin sei sie von der eigenen Karriereplanung zurückgetreten, um ihm den Rücken freizuhalten und die Kinder aufzuziehen. Ironischerweise bezifferte sie den so entstandenen Verlust genau auf die Hälfte ihres gemeinsamen Vermögens. Und in Deutschland gab es Richter, die diesen Mist mitmachten. Anstatt sich mal um die richtigen Probleme im Land zu kümmern. Davon gab es seit Merkels Geniestreich mit den Flüchtlingen ja wohl mehr als genug. Aber nein! Er, der anständige Bürger Marcel Ranke, wurde für jedes noch so kleine Vergehen zur Kasse gebeten. Ob zehn Kilometer pro Stunde zu schnell auf der Autobahn oder beim Fahren in der Straßenbahn mit einem Ticket, das nur in eine bestimmte Zone des Nahverkehrs reichte. Jedes Mal kam man sich vor wie ein Schwerverbrecher, während Nafris und Freunde, Clans und Tralala die deutsche Justiz verarschten. Dass er schon ewig Grün wählte, ehrenamtlich in der Betreuung von Flüchtlingen tätig und überzeugter Demokrat war, interessierte keines von diesen bornierten Arschlöchern. Andere sperrten Autobahnen für einen kleinen Hochzeitskorso und schossen mit scharfer Munition in ihren Kalaschnikows in die Luft. Terrorisierten ganze Wohnviertel. Handelten mit Drogen, Frauen und unterstützten Terrornetzwerke. Wenn er als Deutscher mit dem Fahrrad auf dem Seitenstreifen der Autobahn fahren würde, wäre er hinterher wahrscheinlich vorbestraft. Wenn Marcel einmal richtig in Fahrt kam, fiel ihm manches auf, was im Jahre 2019 in Deutschland mal kritisch hinterfragt werden könnte.

    Dabei könnte er mit all dem leben. In guten Momenten begriff er die Trennung von Johanna als Befreiung. Lebte Marcel seinen Traum als Europäer in einer freien Demokratie, engagierte er sich. So ein Mensch durfte doch wohl auch Schwächen haben. Blöd nur, dass eine dieser Schwächen jetzt Mutter aller Sorgen Marcels war. Aber auch da war die Politik am Ende schuld. Wieso durften überhaupt Bulgaren hier heimliche Glücksspielringe und andere mafiöse Strukturen aufziehen und dann noch Schulden eintreiben? Ach es war kompliziert. Wenn er die 600 000 Euro hätte, wäre wieder Frieden in seiner Seele. Boris bekäme seine Kohle und er, Marcel, würde sich Besserung verordnen. Vorher brauchte er aber den Beweis seiner Hochbegabung neu. Die Schwester der Mutter aller Probleme.

    Es war ein Donnerstag. Am Abend zuvor waren wir beim Billard. An Eier mit Speck, erinnere ich mich. Die ganze Wohnung roch nach ausgelassenem Speck. Ich machte das Fenster zum Balkon auf. Unten schlug eine Autotür zu. Nicht weiter darauf achtend, schaltete ich den Fernseher ein. Und freute mich darauf, meinen dampfenden Teller, garniert mit ein bisschen Unterschichten TV, in mich rein zu löffeln. Das Pilsner Urquell stand noch vom Nachmittag auf dem Tisch, als ich, meinen Dämonen nachgebend, gleich nach dem Unterricht heimgekommen, ein Sixpack geschnappt hatte und erst mal mit Eurosport entspannte. Eine Flasche war noch zu. Der Kühlschrank zu meiner Beruhigung gut gefüllt.

    Das heiße Ei fiel mir zur Hälfte aus dem Mund, als meine Klingel plötzlich läutete. Mit den Fingern las ich die gelbweißen Klumpen vom Tischrand und vom Fußboden auf, schnell noch mal mit der Adilette drüber und dann zur Tür. Wenn ich damals gewusst hätte, was in den nächsten Wochen und Monaten auf mich zukommen würde, wäre ich einfach sitzen geblieben und hätte mein Rührei mit Speck weiter in mich reingeschaufelt. Als ich öffnete, blickte ich in das gehetzte Gesicht eines Mannes, der gerade durch die schweren Zeiten der vermeintlichen Lebensmitte gehen musste. Und dabei erkennbar in sehr schweres Fahrwasser geraten war.

    „Komm rein!", sagte ich zu meinem Cousin Marcel.

    Marcel ist hochbegabt! Das hat er schriftlich! Dabei ist mein Cousin Marcel eigentlich nur das Opfer einer Verwechslung. Genauer das Ergebnis, einer als Übersprunghandlung einzuordnenden menschlichen Schwäche, der damals frisch von ihrem Freund in die unwirtliche Welt der Singles zurückgestoßenen Praktikantin Michelle. Bereits am zweiten Tag ihres dreiwöchigen Schnupperpraktikums am privat geführten Institut für Hochbegabtenforschung, unter der Leitung des renommierten Institutionsgründers Professor Kirchner, unterlief ihr der für Marcel so folgenreiche Lapsus. Sie war gerade dabei gewesen, die frisch eingetroffenen Fragebögen alphabetisch zu sortieren und in einer Excel-Tabelle für ihren Chef statistisch aufzubereiten, als das Handy in der Handtasche vibrierte. Erfüllt von der Hoffnung, der Taugenichts Lars habe es sich noch einmal anders überlegt, ließ sie alles fallen und bückte sich nach ihrer Handtasche am rechten Fuß des hölzernen Drehhockers. Ihr Arm streifte dabei die noch dampfende Kaffeetasse neben dem Bildschirm. Mit verheerenden Folgen für Hand, Handtasche und Handy. Und für Marcel. Bis heute weiß Michelle nicht, wer da am anderen Ende der Leitung das Gespräch mit ihr suchte. Mit der gleichen Vehemenz, mit der Polizeimeister Lars sie aus ihrem Leben verbannt hatte, drang jetzt die Feuchtigkeit in ihr Mobiltelefon und löschte einen Großteil ihres digitalen Lebens unwiederbringlich aus. Nicht eines ihrer zweihundertvierundzwanzig Selfies blieb der Nachwelt erhalten. Nicht die fast schon prosaischen Texte der umfangreichen Kommunikation mit ihren Freundinnen. Ja nicht mal die Telefonnummern der engsten Vertrauten konnten, trotz verzweifelter Versuche Michelles, wiederhergestellt werden.

    In dieser emotionalen Ausnahmesituation fiel erst ihr zweiter Blick auf die von Kaffee gefluteten, noch nicht im System erfassten Fragebögen aus ökologisch korrektem – darauf legte Kirchner besonderen Wert – braunem Recyclingpapier. Sie war gerade beim Buchstaben „R" gewesen. Der Testbogen von Ranke, Marcel, der ganz oben gelegen hatte, sah aus wie ein auf alt getrimmter Papyrus. Wellig, schrumpelig, knittrig, mitgenommen und durchnässt, so als wäre eine Kreuzung aus Keith Richards und Iggy Pop gerade am Beckenrand aufgetaucht. Normalerweise hätte sie es witzig gefunden, wenn beim Intelligenztest Idioten auftauchen, die mit Tinte auf das braune Recyclingpapier schrieben. In diesem besonderen Fall jedoch ging die Tinte mit dem Kaffee eine unheilige Allianz ein und löste sich auf wie der Rauch einer Zigarre. Verzweifelt fummelte sie das vollgesogene Etwas vom restlichen Stapel und verhinderte so zunächst Schlimmeres. Doch bei aller Vorsicht – zudem war Eile geboten – das wertvolle Papyrus war für immer verloren. Und Schnupperpraktikantin Michelle hatte plötzlich noch ein Problem. Dieser Scheißkerl Lars (sie flehte noch immer, dass er es wirklich war) versaute ihr jetzt auch noch das Praktikum und so vielleicht ihre ganze Zukunft. Dem war wirklich nichts heilig. Mittlerweile traute sie ihm alles zu. Nicht mit ihr. Angestrengt versuchte Michelle, die letzten Blicke auf Marcels Testbogen zu rekonstruieren. Zunächst vergeblich. Doch dann war ihr irgendwie… Sie starrte auf den Computer. Gott sei Dank! Sie hatte den Rankel, Raffke oder wie der hieß, doch schon längst eingegeben. Fehlte nur noch das Endergebnis. Ein letzter Klick. Den Rest übernahm das System. Wow! Einhundertsechsunddreißig. Na das war doch mal was. Der Maximalwert bei diesem Testverfahren lag bei Einhundertvierzig. Bisher bewegten sich die Topergebnisse zwischen Einhundertfünfzehn und Einhundertzwanzig.

    Und so wurde mein Cousin Marcel hochbegabt. Der wirklich hochbegabte, ein gewisser Marcus Ranfke aus Dessau, war für immer aus dem System gelöscht wurden, als Michelle beim hektischen Räumen auf dem Flutgebiet ihres Schreibtisches ein Kugelschreiber auf die Maus gefallen war. Dabei mit einem unabsichtlichen „Rechtsklick" die Spalte mit dem Namen Ranfke, Marcus blau markierte, ehe ein zärtlicher Kontakt Michelles mit der Löschtaste beim verzweifelten Wischen mit ihrem gebrauchten Tempo über der kaffeebespritzten rechten Tastaturhälfte Marcus Ranfke auf ewig vom Bildschirm verbannte und Ranke, Marcel in besagter Excel-Tabelle automatisch die erste Stufe der Karriereleiter hochrückte.

    Diesmal bei vollem Bewusstsein und wohl wissend, was sie da tat, markierte Michelle die ganze Spalte rot, damit sie Professor Kirchner morgen gleich in den Fokus seiner Aufmerksamkeit fallen sollte.

    Rausgekommen war die ganze Sache, als der promiskuitive Professor Kirchner vergeblich versuchte, bei Marcel mit einem weiteren Test das außergewöhnliche Ergebnisse zu bestätigen. Mein Cousin entzog sich erfolgreich weiteren Tests. Der misstrauisch gewordene Professor setzte sich auf der Suche nach einer Lösung für das ihn umtreibende Problem deshalb vor das umfangreiche Bildmaterial seiner Überwachungskamera im Labor. Ursprünglich zur Befriedigung seiner niederen Triebe installiert, leistete die unter einem präparierten Lampenschirm versteckte Hikvision DS-2CE56DOT-IRMM Turbo HD in diesem speziellen Fall einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung. Die gestochen scharfen Bilder, die sonst Kirchners Praktikantinnen zu dessen Obsession rund um die Uhr für ihn zugänglich machten, zeigten unmissverständlich das Malheur mit dem Kaffee. Den Rest reimte sich der Professor zusammen. Sein habilitierter Intellekt erfasste schnell, dass diese Art Beweismittel besser nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. So beließ er es bei einem persönlichen Brief an Marcel, um diesen von den unglücklichen Umständen zu informieren und er unterstrich den letzten Satz, in dem es hieß: „Somit bleibt also festzuhalten, dass Sie Herr Ranke, trotz des von meinem Institut bereits ausgestellten, anderslautenden Zertifikates, nicht hochbegabt sind." Diesen Brief, der mir zufällig bei einem Saufabend in Marcels Wohnung, auf der Suche nach einem Tempotaschentuch in irgendeiner Schublade in die Finger kam, riss mir der Hochbegabte mit mürrischem Blick aus der Hand und verbrannte ihn vor meinen Augen. Knapp sechs Jahre war das jetzt her, glaube ich.

    Marcel sah wahrlich nicht gut aus an jenem Donnerstagabend auf meiner Couch. Seine Augenringe - modelliert wie aufgeschnittene Autoreifen. Die Haut blass. Die hellbraunen Augen glänzten wie benutztes Schleifpapier. Wortlos griff er sich das letzte Bier aus dem Sixpack. Ich ließ ihn gewähren, hoffend, dass man mir in einer Ausnahmesituation gegenüber ähnlich verständnisvoll reagierte. Als er das halbleere Bier wieder absetzte, fiel sein Blick auf mein Ei. Stumm reichte ich ihm mit großer Geste meinen Teller. Erschrocken wich er zurück.

    „Hau bloß ab. Wenn ich daran denke, dass Sie mir auch immer Rührei mit Speck gemacht hat, könnte ich gleich losheulen." Erleichtert zog ich mein Angebot zurück und begann zu genießen. Marcel pfiff sich die andere Bierhälfte in den Hals. Mit vollem Mund deutete ich nur mit der Gabel Richtung Kühlschrank. Der Hochbegabte verstand erst beim zweiten Mal. Dann setzte er sich aber in Bewegung. Während Marcel draußen in der Küche rumfuhrwerkte, sah ich auf den Fernseher, den ich beim Läuten zuvor automatisch auf Leise gestellt hatte. Irgendeine Schnalle in kurzem Rock und Netzstrumpfhosen schrie sich mit einer anderen Tusse an, die genauso gekleidet war, ihre Mutter hätte sein können und vermutlich auch ihre Mutter war. Unten rechts stand der Titel der Sendung: „Verklag mich doch!" Zu gern hätte ich gewusst, weshalb die minderjährige Braut ihre auf minderjährig getrimmte Alte verklagen will. Doch bevor ich der Versuchung erlag, dem Geschehen auf dem Bildschirm Ton zu verleihen, kam Marcel zurück. Im Arm hatte er alle Biervorräte meiner bescheidenen Sammlung gehortet. Ein längerer Abend deutete sich an. Schnell überschlug ich die morgige Arbeitsbelastung. Vier Stunden. Davon drei Stunden Sport. Eine Stunde Geografie. Ich sah noch einmal zu Marcel, der mit der Leidenschaft eines Künstlers die Flaschen vor sich auf dem Tisch platzierte und verspürte ein Kratzen im Hals. Unter diesen Umständen konnte ich morgen unmöglich vor der Klasse stehen, ging es mir auf. Bei Marcel gegenüber gingen zwei Flaschen auf.

    „Weißt du überhaupt, was ich gerade für eine Scheiße am Hals habe?", eröffnete der Sohn meiner Tante das Gespräch. Oh, da wusste ich einiges. Geldsorgen nahm ich schon gar nicht mehr ernst. Probleme mit Vorgesetzten und Kollegen? Bei einem Hochbegabten so alltäglich wie bis vor kurzem „Die Lindenstraße". Weiber? Bitte nicht schon wieder. Mit seinen Ex-Freundinnen gab es eigentlich immer Stress. Und das, obwohl Marcel seit der dritten oder vierten Trennung glaubhaft von festen Beziehungen Abstand halten wollte. Trotzdem gab es weiterhin genug Ärger und Aufregung im Zusammenhang mit seinen libidinösen sozialen Beziehungen. Mal die eine, mal die andere. Wenn gar nichts lief, war da noch seine Ex Johanna. Der Ärger mit ihr gehörte zu den wenigen Konstanten im Leben des jungen Herrn Ranke. Wahrscheinlich würde sie Marcel bis in die Kiste dafür büßen lassen, dass er sie damals vor fünf oder sechs Jahren für Mona, seine achtundzwanzigjährige Referendarin in Geschichte, mit den damals gerade zehnjährigen Zwillingen Jonas und Josepha sitzen ließ. Dass er Mona nach sechs Monaten gegen die Kauflandkassiererin Nadine eintauschte, zuvor eine Rückkehr zu der ebenso erfolgreichen wie ehrgeizigen Juraprofessorin Johanna weiter kategorisch ausschloss – oder war es andersrum? -, machte seinen Stand gegenüber der weidwunden Ex nicht einfacher. So zeigte sein Deckhaar denn auch deutliche Spuren. Als fraßen Johanna und der Unterhalt für die Kinder ihm tatsächlich die Haare vom Kopf. Natürlich war die aus vermögendem Hause kommende Johanna mit den Kindern in der üppig bemessenen, gemeinsam gekauften Sechsraumwohnung im feinen Waldstraßenviertel geblieben, als er erst zu Mona in die WG, später dann zu Nadine in eine kleine Erdgeschossbutze mit Blick auf Fahrradständer im Hof in Engelsdorf flüchtete. Als kleines Dankeschön hatte Johanna, die sich wegen der Kinder auf keinen Fall scheiden lassen wollte, schon im sogenannten Trennungsjahr eine Art Umgangsverbot beim Jugendamt erwirkt. Das war so schwer nicht gewesen. Zwei frische Handyvideos kurz nach dem Ende der Beziehung von hilfreichen Bekannten aufgenommen, hätten auch den liberalsten Familienrichter davon überzeugt, dass bei Marcel aktuell das Kindswohl etwas gefährdet schien. Sein fast schon exhibitionistischer Auftritt in der Straßenbahn mit 3,8 Promille war legendär. Auch das öffentliche Urinieren auf dem Dach eines Polizeiwagens, direkt vor der Polizeiwache in der Weißenfelser Straße, Ecke Gleisstraße, genoss bei seinen Kumpels Kultstatus. Zudem kam es für Marcel besonders bitter, da die mit seinem Fall betraute Chefin des Jugendamtes, Dr. Helga Schauer-Kram, nicht zum liberalen Flügel ihres Berufstandes gezählt wurde. Und selber frisch für eine jüngere Kollegin beim Jugendamt Chemnitz, die ihr Mann bei einer ausgerechnet noch von ihr persönlich initiierten Fortbildung kennengelernt hatte, nach gescheiterter dritter Ehe verlassen, seine Videoperformance zu Gesicht bekam. Zum Glück konnte ich ihm einen befreundeten Gutachter besorgen, der Marcels emotionale Ausnahmesituation attestierte. Anfangs noch skeptisch, wühlte ich mit beiden Händen in Marcels Kindheit und konnte so meinen ehemaligen Zimmergenossen im Wach- und Sicherstellungsbataillon 23, Diplompsychologe Thomas Kösser, schnell von Marcels erblich bedingtem Alkoholproblem überzeugen. Mit anderen Worten hatte ich dem Hochbegabten mal wieder Arsch und Job gerettet. Für sein Umgangsrecht waren die Messen jedoch vorerst gesungen. Wieso die beiden trotzdem verheiratet geblieben sind weiß Gott allein.

    Wir alle hatten irgend sowas wie eine Familie. Etwas, worauf wir stolz waren, wo wir uns geborgen fühlten. Marcel hatte einen Makel. 1976 in der Deutschen Demokratischen Republik Scheidungskind zu sein, war keine freudbetonte Veranstaltung. Scheidungskinder kamen sich im günstigsten Fall vor wie eine blaue Mauritius. Meistens aber fühlten sie sich ausgestoßen. Allein wie Aussätzige. Wo Geld ist, ist auch Patchwork! Sagt man heute. Und es ist reichlich Geld im Umlauf. Aber auch hier holen die bildungsfernen Schichten auf, ist unser Land auf dem Weg in eine bessere, gerechtere Gesellschaft. Marcels Resilienz war zu der Zeit übersichtlich. Erschwerend hinzu kam, dass seine Eltern bewusst auf eine friedliche Trennung verzichteten. Es sich bei seinem Vater um ein besonders intelligentes, vermutlich ebenso hochbegabtes Exemplar wie seinen Sohn, handelte. Um von eigenen, ausgelebten moralischen Wertvorstellungen abzulenken, die nicht im Einklang mit der Moral der entwickelten sozialistischen Gesellschaft standen, stilisierte er, mit tatkräftiger Unterstützung seiner Mutter Elisabeth Ranke und der neuen Frau an seiner Seite, deren optische Reize und charakterliche Schönheit sich nur ihm und wenigen Eingeweihten erschlossen, Marcel zum Symbol der latenten Untreue seiner Noch-Ehefrau und Mutter seiner leiblichen Kinder Pascal und Marcel. So wurde aus meinem Cousin über Nacht ein Bastard. Das Motiv für diesen genialen Schachzug seines Vaters und dessen Beraterinnen erklärte sich mutmaßlich darin, Unterhalt einzusparen und außerehelichen Verkehr als festen Bestandteil in der Beziehung zu Marcels Mutter zu deklarieren. Immerhin galt dieses Stigma nicht für Marcels dreieinhalb Jahre älteren Bruder Pascal. Heinz-Jürgen Ranke war eben doch ein Ehrenmann. Einer mit Format. Es spricht für Marcels Gleichmut oder Hilflosigkeit, trotz liebevoller väterlicher Aufforderung seinen Nachnamen zu ändern, von dieser schriftlich geäußerten Form der Abnabelung Abstand genommen zu haben. Obwohl Marcel behauptet, heute über das Gröbste hinweg zu sein, bin ich mir nicht immer sicher. Falls doch mal aus Versehen das Gespräch auf seinen Alten kommt, egal ob nüchtern oder sturzbesoffen - für einen Moment, wirklich nur ein Wimpernschlag - funkelt da was in seinen Augen, das mir Angst macht.

    Mit Blick auf die Gemengelage war es nicht immer leicht für meinen fast gleichaltrigen Cousin, als er in der fünften Klasse der 11. Polytechnischen Oberschule, frisch von Arnstadt in seine Geburtsstadt Eisenach weggezogen, in einer fremden Klasse, in einer ihm fast fremden Stadt, mit dem Kainsmal des Scheidungskindes auf der Stirn, aus dem Fenster blickte und oben auf der Kasseler Straße einen alten Mann beobachtete, der mit gehöriger Schlagseite und wehendem, offenen Mantel den wenigen Verkehr in die Bredouille brachte. Er war der einzige im Raum, der diesen alten Mann heute noch wiedersah. Seine neue Klassenlehrerin, Frau Petri, hatte ihn der 5d vorgestellt und neben ein Mädchen gesetzt, das Natalie hieß. Auch das noch. In der ersten Hofpause kam ein Trupp Jungs aus seiner neuen Klasse auf ihn zu. Da stand er nun in seiner Pfeffer-und-Salz-Hose, die er hasste, weil sie kratzte und überhaupt alle anderen Jeans oder Cordhosen trugen, aber die - mit dem Verweis seiner Mutter, sie sei schick, sie sei aus dem Westen - getragen werden musste. Aus seinem bunt geringelten Strick-Shirt hingen die schmächtigen Arme wie abgestorbene Äste. Unter- und Oberarme hatten exakt den gleichen Durchmesser. Marcel schlug das Herz bis zum Hals. Als sie ihn fragten, ob er mit Antippen spielen wolle, hätte er fast losgeheult. Frau Petri beobachtete zufrieden vom Fenster ihre pädagogische Meisterleistung. Diese Frau Ranke war ihr vorige Woche am Telefon ganz schön auf den Docht gegangen. „Ich bin auch vom Fach! Kümmern Sie sich bitte um meinen Marcel. Das ist so ein sensibler Junge…"

    Seine Mutter war wie er in der Schule. Ursula Ranke arbeitete als Berufsschullehrerin für Schreibmaschine und Stenografie. Zum Mittagessen musste er zu seiner Großmutter, die im gleichen Neubauviertel an der Thälmannstraße in Eisenach wohnte, wie Marcel und seine Mutter. Pascal war auf einem Gymnasium, damals Erweiterte Oberschule, im Grenzgebiet und lebte im Internat. Von ihrer Wohnung in der Clara-Zetkin-Straße war es nur ein Katzensprung hoch zu Oma Margarethe, die wir sechs Cousins alle nur „Oma Perle" nannten und die in der Wilhelm-Pieck-Straße wohnte.

    Als er seinen ledernen Schulranzen auf die viel zu schmalen Schultern warf, verabredete er sich noch für den Nachmittag zum Fußball auf der Wiese hinter seinem Haus mit Vanne und Röttel, den neuen besten Freunden. Beide nur ein bzw. zwei Blöcke von ihm entfernt in identischen Wohnverhältnissen sozialisiert.

    Erleichtert, fast schon beschwingt, lief er von der Schule, vorbei am Elefantenspielplatz, der seinen Namen einem lebensgroßen Betonelefanten verdankte dessen Rüssel als Rutsche konzipiert war, die zwei Minuten hoch zur Oma. Der erste Schultag, vor dem er so höllische Angst gehabt hatte und der ihn die letzten Wochen nicht schlafen ließ, war geschafft.

    Die Perle, die das Kochen nach eigener Aussage einst auf der Kochschule erlernte, empfing ihn mit der Herzlichkeit einer stolzen Köchin, die gleich die Früchte ihrer Mühen würde ernten können, wenn der heranwachsende Marcel unglaubliche Mengen ihres an den Nachkriegsjahren orientierten kulinarischen Könnens vertilgte. Weder sie noch Marcel wären je auf den Gedanken gekommen, dass Marcel nicht nur so viel aß, weil er Hunger hatte. Spätestens die vierte, fünfte Bockwurst, der siebte, achte, neunte kugelstoßkugelgroße Kloß oder die Krautrouladen (Typ Fundmunition) Nummer vier und fünf, waren nichts anderes als gemampfte Schreie nach Liebe und Anerkennung. Fiel dann endlich der Satz: „Dein Vater hat auch so viel gegessen, zehn Klöße auf einmal hat der mal…" dann, erst dann, war Marcel satt. Ich selber war nicht so ein Anhänger der frühen antifaschistischen Kost auf sozialistischem Boden. Bis auf Marcel waren wir alle fünf das nicht. Vielleicht deshalb, weil wir einfach nicht so kaputt in der Birne waren. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. In

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