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Hoka-Hey: Ein guter Tag zum Sterben
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Hoka-Hey: Ein guter Tag zum Sterben
eBook349 Seiten5 Stunden

Hoka-Hey: Ein guter Tag zum Sterben

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Über dieses E-Book

November 2013. Unbekannte haben aus Protest auf Pfählen aufgespießte Schweineköpfe auf dem künftigen Baugelände eines geplanten Moscheeneubaus im feinen Leipziger Stadtteil Gohlis aufgestellt.
Dr. Bernd Brehm, Dozent am Institut für Sportwissenschaft der Universität Leipzig, ehemals DHfK, ist ein weltoffener Mann, der im festen Glauben an den Rechtsstaat seine Positionen privat als auch öffentlich vertritt. Dann trifft ihn ein doppelter Schicksalsschlag. Sein Leben gerät aus den Fugen, als sich seine Lebenswege zufällig und auf tragische Weise mit denen der Leipziger Unterwelt kreuzen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. Dez. 2016
ISBN9783734580734
Hoka-Hey: Ein guter Tag zum Sterben
Autor

Jens Holger Fidelak

Geboren am 05.03.1967 in Eisenach. Verheiratet. Zwei Kinder. Gymnasiallehrer für Geschichte, Ethik Philosophie, Sport, Deutsch als Fremdsprache

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    Buchvorschau

    Hoka-Hey - Jens Holger Fidelak

    1

    „Moscheeneubau? Wozu braucht Leipzig eine neue Moschee? Soviel ich weiß, gibt es in Leipzig gerade mal 750 Muslime, die regelmäßig in eine Moschee gehen. Überhaupt, dieser Blödsinn von unserem ehemaligen Bundespräsidenten: ‚Der Islam ist ein Teil von Deutschland‘. Da tut mir doch der Sack weh." Micha schüttelte den Kopf und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas.

    „Du verwechselst den Islamismus mit dem Islam als Religion, hob ich an. „Du bist Mediziner Micha. Das was du hier ablässt, ist unterster Stammtisch. Von den rund 1,4 Milliarden Muslimen sind vielleicht Zweihunderttausend militant. Von mir aus auch Dreihunderttausend. Der Rest sind friedliche Menschen, die ihre Religion pflegen. Wenn hunderttausend Deutsche nach Thailand fliegen. Was glaubst du wieviel Kinderschänder darunter sind? Das ist Statistik. Mehr nicht. Mein Lieblingsargument.

    „So. Das ist Statistik. Da bin ich ja beruhigt. Und die, denen die Verrückten vor laufender Kamera den Kopf abschneiden. Die sind ja richtig erleichtert. Abgesehen davon, Bernd du bist auch nicht blöd. Schon mal was von Parallelgesellschaften gehört? Weißt du wie viele arme Mädchen zuhause eingesperrt werden, weil ihre Alten völlig durchgeknallt sind? Die dürfen nicht allein auf die Straße, die haben noch nie ein Schwimmbad von innen gesehen." Micha schüttelte den Kopf. „Bei dreißig Grad im Schatten müssen die mit Kopftuch durch die Kante rennen. Klassenfahrten finden ohne sie statt. Und wenn sie ganz großes Glück haben, dann dürfen sie mit zwölf oder dreizehn ihren vierzigjährigen Cousin heiraten. Irgend so ein Opfer aus Anatolien, weil der Alte sie ihm versprochen hat. Wenn sie sich weigern oder mit gleichaltrigen Jungs abhängen, muss der Bruder sie auf der Straße umlegen. Wegen der Ehre der Familie. Das ist so eine kranke Scheiße und da gibst du diesem korrupten Fatzken Recht, weil er seinen Arsch mit so einer schwachsinnigen Aussage retten will. ‚Der Islam ist ein Teil von Deutschland‘! Den letzten Satz hatte Micha die Stimme verstellt und versucht Wulff nachzuäffen.

    „Also ehrlich Micha, komm mal runter. Natürlich ist das nicht in Ordnung. Und ich sage auch nicht, dass die Integrationspolitik nicht verbessert werden muss. Abgesehen davon hat er das gesagt, als es noch nicht um seinen Arsch ging. Aber Tatsache ist, dass hier in Deutschland ungefähr vier Millionen Muslime leben. Davon vielleicht 7400 Salafisten, laut BKA. Freilich sind längst nicht alle integriert. Aber bei unserer Geburtenentwicklung brauchen wir über kurz oder lang Einwanderer, wenn wir unseren Wohlstand sichern wollen." Ich trank mein Glas aus.

    „Gegen Einwanderer, die hier arbeiten und Steuern zahlen, hat auch keiner was. Bernd. Du kennst mich. Ich bin doch kein Fremdenfeind oder irgendwie rechts angehaucht. Fakt ist aber, dass die Muslime hier langsam zu einem Problem werden. Fakt ist, dass verstärkt Straftaten von Nordafrikanern verübt werden. Fakt ist, dass auf der Straße aggressiv für den Islam geworben wird. Wenn du ehrlich meine Meinung hören willst? Wer hier Scheiße baut, muss sofort zurück. So einfach ist das."

    „Micha. Der Rechtsstaat verfügt längst über die Mittel zur Ausweisung. Ich stimme dir zu. Hier müsste man konsequenter geltendes Recht anwenden. Aber denk bitte auch an Artikel Eins des Grundgesetzes. Die Religionsfreiheit ist ein Grundrecht. Und ich finde, ein Rechtsstaat muss diese unbequemen Tatsachen auch aushalten. Das zeichnet ihn übrigens vor anderen Staatsmodellen aus." Ich kam mir selber blöd vor, mit meinen moralischen Appellen. Michas Meinung war ja so verkehrt nicht. Insgeheim stimmte ich ihm in vielem zu. Aber dennoch regte sich in mir ein unbestimmtes Gefühl, mich hier auf die Seite unserer Regierung zu stellen. Nicht weil ich ein besonderer Gutmensch sein wollte. Sondern aus tiefster Überzeugung in einem demokratischen System leben zu wollen und allen extremistischen Anschauungen bereits in den Anfängen mit Vehemenz entgegenzutreten. Und ehrlich. Ich glaubte an die Überlegenheit und den langen Atem des Rechtsstaates. Nur so ließen sich meine unzähligen Leserbriefe zu allen Themen des öffentlichen Lebens erklären.

    Einer dieser engagierten Briefe gegen jede Art von religiöser Intoleranz, der im Spiegel abgedruckt wurde, worauf ich besonders stolz war, sozusagen mein Ritterschlag als Demokrat, war auch der Grund gewesen, weshalb man mich zur Bürgerversammlung eingeladen hatte. Der Iman hatte mich persönlich angeschrieben und hoffte in mir einen rückhaltlosen Unterstützer des Moscheeneubaues im Publikum sitzen zu wissen. Denn noch hatte die Stadt die Pläne nicht genehmigt.

    Das war auch der Grund für unseren außerplanmäßigen Besuch im Pilot. Die zuvor gerade zu Ende gegangene Bürgerversammlung, an der Micha und ich teilgenommen hatten. Im noblen Leipziger Stadtteil Gohlis, wollte die Religionsgemeinschaft Ahmadiyya Muslim Jamaat, eine neue Moschee für einhundert Personen errichten. Der zweite Neubau einer Moschee in Ostdeutschland überhaupt! Mit Minarett! Im Vorfeld gab es kritische Stimmen. Eine Bürgerbewegung hatte sich gegen den Neubau gegründet. Höhepunkt dieser Ablehnung war das Pfählen von blutigen Schweineköpfen auf dem künftigen Baugelände. Der Staatsschutz ermittelte seitdem. Die Religionsgemeinschaft Ahmadiyya Muslim Jamaat, kurz AMJ, versteht sich als weltweite islamische Reformbewegung. In Deutschland hat die Gemeinschaft ungefähr 35.000 Mitglieder. Sie verfügt bundesweit über mehr als 30 Moscheen und etwa 225 Gemeinden. Außerdem betreibt sie einen TV-Sender und einen Verlag. Der Verfassungsschutz stuft sie als konservativ, aber nicht als extremistisch oder gewalttätig ein. Micha und ich waren als Anwohner zur Bürgerversammlung eingeladen worden. Während der Podiumssitzung war es hoch hergegangen. Die Vertreter der Stadt versuchten zu beschwichtigen. Die Muslime freuten sich schon auf den friedensstiftenden Charakter des neuen Gotteshauses. Die Gegner des Neubaus entwarfen Schreckensszenarien von Bürgersteigen voller Burkas, Extremistenrek-rutierung, -ausbildung und ideologischer Indoktrination in Hinterzimmern. Hier argumentierten die Neubaubefürworter durchaus nachvollziehbar mit dem Argument, dass auf dem Bauplan keine Hinterzimmer zu verifizieren seien. Davon unbeeindruckt, wurde der Vorplatz der Moschee von den besorgten künftigen Nachbarn zum möglichen Drogenumschlagplatz und am Wochenende zum Koranmarkt stilisiert.

    Micha und ich blieben noch eine ganze Weile im Pilot hängen. Im weiteren Verlauf des Abends wandten wir uns verstärkt klassischen Männerthemen zu. Micha war frisch getrennt und konnte so einige erfrischend neue Thesen zur Nichtkompatibilität von Mann und Frau beisteuern. Umso origineller sein Lösungsmodell. Er versuchte mit einer zwanzig Jahre jüngeren Gefährtin, der Manu, den kompletten Neuanfang. Für mich noch überraschender war der Fakt, dass er als Sportmediziner sich wegen einer Beziehung zur neuen Krankenschwester des Institutes von seiner zukünftigen Exfrau, ebenfalls Krankenschwester am Institut, trennte. Die räumliche Nähe der beiden Rivalinnen am Arbeitsplatz erleichterte nicht unbedingt den aktuellen Alltag Michas. Als guter Freund hörte ich einfach zu und gab ihm den einzig mir vernünftig erscheinenden Rat. Saufen und Abwarten. Ansonsten Abwarten und notfalls Saufen. Ich hätte auch ehrlich sein können. Hätte Micha sagen können, dass er bescheuert ist zu glauben, mit der neuen Schnalle auch nur einen Deut glücklicher zu werden. Hätte von seinen beiden kleinen Kindern anfangen können, die jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit ohne Vater aufwachsen werden. Schon die Anfänge des aufziehenden Rosenkrieges zwischen Micha und seiner Ex malten dieses Bild mit Gewissheit in Michas aktuell noch schwanzgesteuerten Himmel voller Geigen. Ich ließ es bleiben. Ich empfand es als anmaßend mich in Michas Beziehungskiste einzumischen. Seine Frau Marion kannte ich auch. Abgesehen davon, dass ich sie nie geheiratet hätte, tat sie mir leid.

    Ich bestellte noch zwei Bier bei Marcel.

    2

    Er war Anne sofort aufgefallen, als er mit seinem Freund Ingo über den Flur in die kleine Küche eintrat, in der sie gerade damit beschäftigt gewesen war, einen Aschenbecherersatz zu suchen. Sie griff nach einer kleinen, blaugrauen Untertasse in dem Regal schräg über der Spüle, als die beiden, offensichtlich auf der Suche nach Getränken, diskutierend in den Raum traten.

    „Die Migrationsbewegungen in Nordafrika sind erst der Anfang sagst du. Heißt das, es kommen noch mehr Flüchtlinge übers Mittelmeer oder über den Balkan nach Europa?" Ben - den Namen hatte Ihr ihre Freundin Christin später auf der Couch im sogenannten Wohnzimmer, dem eigentlichen Zentrum der Party zugeraunt, kurz bevor Sie an diesem Abend die einzigen drei Worte miteinander gewechselt hatten - schien sie gar nicht zu bemerken. Er antwortete aus ihrer Sicht ziemlich aufgedreht.

    „Alter. Das ist erst der Anfang! In zehn oder fünfzehn Jahren kommen hier Massen. Nur wegen des Wassers. Die haben dort irgendwann kein Wasser mehr! Und rate mal, wo sie dann hinkommen? Genau! Hierher kommen sie. Denn wir haben Wasser. Mehr als alle anderen."

    „Darf ich?, fragte sie und drängte sich an Ingo vorbei in den großen Raum um Christin den Aschenbecher zu bringen. Ben hockte mit dem Rücken zu ihr vor der geöffneten Kühlschranktür und suchte offensichtlich Bier. Dabei fiel ihr Blick auf mehrere aufgerissene Wurstpackungen, die ungeordnet in den Schüben des Kühlschrankes vor sich hin gammelten. Ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase. Er schien sie völlig zu ignorieren. „Das meiste Trinkwasser ist an den Polkappen gefroren und steht somit nicht zum unmittelbaren Verbrauch zur Verfügung. Und wenn es schmilzt, dann wird es vom Meerwasser versalzen, hörte sie ihn beim Hinausgehen weiter dozieren.

    Sie merkte, dass sie schon ganz schön angetrunken war. Muss halt auch mal sein, beruhigte sie sich. Im Wohnraum angekommen, stellte sie den Unterteller bei Christin ab. Die nickte nur kurz und war weiter in ihr Gespräch mit On Off Martin vertieft. Anne konnte Martin nicht leiden. Sie wusste genau, ein Zeichen von ihr und er würde, ohne mit der Wimper zu zucken, mit der besten Freundin - für die hielt sie sich nämlich - seiner Freundin Christin ins Bett steigen. Zum Glück für alle Beteiligten wusste nur Anne, dass es zu Beginn der Beziehung zwischen den beiden zunächst sie es war, die verzweifelt auf ein Zeichen von Martin gewartet und gehofft hatte, dass er mit ihr - also der besten Freundin von Christin - ins Bett steigen wolle. Aber dieses arrogante Arschloch hatte sie mit Absicht ignoriert. Stattdessen betrog er seine Christin mit der Schnepfe aus der Unibibliothek. Sie hatte die beiden Händchen haltend im Café gesehen. Und für das erste Off in Christins und Martins Beziehung gesorgt. Aber nicht aus gekränkter Eitelkeit. Sie musste damals schon gespürt haben, was für ein widerliches Schwein dieser Martin war. Damals, das war, als sie sich zu ihrer 24 Stunden Observation entschloss. Nein. Christin hatte sowas einfach nicht verdient. Und auch wenn es ihr verdammt schwer gefallen war, Anne hatte tapfer zu ihrer Freundschaft gestanden und Christin alles erzählt. Zum Glück war Christin so fertig und völlig am Boden zerstört gewesen, dass sie gar nicht nachfragte, wer die Fotos von den Beiden geschossen hatte. Und warum ausgerechnet ihre beste Freundin Anne auch beim zweiten Off in der Beziehung der Beiden, eine mit ihren zufälligen Fotos vom Tatort - diesmal waren es Fotos vom Einchecken in eine Hotellobby mit der Tussi hinter der Bar im Mediziner Studentenclub - mehr als glaubwürdige Zeugin war. Stattdessen hatte Martin dieser Arsch noch am selben Abend bei ihr vor der Tür gestanden und sie angeschrien, sie solle ihn endlich in Ruhe lassen. Sie sei eine völlig kranke und durchgeknallte Stalkerin. Dabei wäre sie eigentlich eine ganz arme Sau. Und eigentlich tue sie ihm leid! Seitdem strafte sie ihn damit, dass sie so tat, als wäre er Luft. Er versuchte das gleiche natürlich mit ihr. Aber sie wusste es besser. Ein Zeichen und er würde auf Knien vor ihr kriechen. Aber nein Freundchen! Den Zahn würde sie ihm schon noch ziehen. Aber jetzt galt ihre ganze Aufmerksamkeit zunächst den beiden Neuankömmlingen, die beide mit einem Bier in der Hand eingetreten waren. Ben lehnte lässig an einer Anrichte und hörte konzentriert zu, als Ingo auf ihn einredete. Hin und wieder hob er seinen gebräunten Arm und führte die Bierflasche zum Mund. Beim Trinken schloss er jedes Mal die Augen. Süß. Sie stellte sich zu der Gruppe von Laura, Jenny, Diana, Oskar und Tom. So, dass sie ihn ungestört betrachten konnte und dennoch den Eindruck erweckte, an dem Gruppengespräch über die nächste Semesterabschlussparty teilzunehmen. Gerade, als sie mit sich zufrieden konstatierte, einen idealen Beobachtungspunkt eingenommen zu haben, um ungestört Ben zu betrachten, drehte der sich um und sah ihr direkt in die Augen.

    „Ey! Geht`s noch, pass doch auf", zeterte Jenny, der sie beim abrupten Abwenden ihren halben Gin Cola über die hellgrüne Jeans geschüttet hatte.

    „Was ist denn mit der los?", hörte sie auf ihrer panikartigen Flucht zur Toilette Oskars Stimme hinter sich im allgemeinen Lärm aus Musik, sinnlosem Getratsche und Gläserklirren, untergehen. In ihrer Hektik hatte sie verpasst, draußen das Licht anzuschalten. Auf keinen Fall wollte sie jetzt noch mal raus. Mit vor Aufregung zitternden Händen, kramte sie im Dunkeln aus ihrer Handtasche eine Zigarette. Wo war denn nur das verdammte Feuerzeug? Sie brauchte mehrere Versuche, das Ding endlich anzuzünden. Schließlich gelang es ihr und sie inhalierte einen tiefen Zug. Geraucht werden sollte zwar nur auf dem Balkon, so die ungeschriebene Regel bei den Partys in Toms und Oskars Studenten WG-Wohnung, aber die beiden Schwuchteln sollten sich mal nicht so haben. Wegen des bisschen Zigarettenqualms so einen Aufriss zu machen. Hoffentlich hatte Ben nicht mitbekommen, wie sie ihn angestarrt hatte. Sie wusste, dass diese Frage nur mit einem eindeutigen ‚Nein‘ beantwortet werden konnte und schüttete kopfschüttelnd den Rest Gin Cola, den sie im Glas vorsichtig neben dem Toilettenbecken abgestellt hatte, in sich rein. Zog an ihrer Zigarette und nahm den Kopf nach hinten in den Nacken.

    Angetrunken und nach etwas Entspannung suchend, lehnte sie sich an die Wand hinter ihr. Die Rauchwolke über ihrem Kopf sah aus, als ob sie in regelmäßigen Abständen die Farbe veränderte. Von grauweiß zu rotgrauweiß und wieder zu grauweiß und wieder zu rotgrauweiß. Wo zu Teufel kam denn plötzlich dieses unerträgliche Piepen her? Und warum klopften draußen welche wie besessen an die Toilettentür?

    Dass Schwuchteln so grob sein können, wenn sie mit Frauen sprechen, sollte man ruhig mal ein bisschen unter die Leute bringen, dachte sie, als sie sich zwei Stunden später - der ganze Trubel schien sich endlich zu beruhigen - auf dem Sofa halb zusammengrollt in die Ecke gehockt hatte. Von wegen kultiviert.

    „Wie doof muss man sein, auf der Toilette zu qualmen, wenn man vorher gesagt bekommen hat, dass die ganze Wohnung mit Feuermeldern ausgestattet ist? Dass man deshalb nur auf dem Balkon rauchen soll, der ja nun wahrlich groß genug ist." Als ob sie jedes Mal zuhört, wenn einer einen belehrt. Am liebsten hätte sie Oskar angeschrien, ob er seinen Freund auch jedes Mal belehrt wie man AIDS verhindert, bevor er sich über seinen Arsch hermacht. Irgendein Instinkt hatte sie aber davon abgehalten den beiden Wichsern den Spiegel vors Gesicht zu halten. Nein. Da war sie einfach zu clever. Stattdessen heulte sie ein bisschen und meinte, es tue ihr so leid. Sie wisse selber nicht, was sie geritten habe, bla bla bla. Jedenfalls hatte sich die Lage jetzt beruhigt. Sie beobachtete, wie Martin mit Jenny quatschte und hätte wetten können, dass die nächste Demütigung ihrer besten Freundin und damit ja auch irgendwie ihrer selbst, bereits in Arbeit war, als Christin mit zwei neuen Drinks in den Händen auf sie zukam und sich neben ihr, aufs weiche, dunkelgraue Sofa, fallen ließ.

    „Hier trink was. Das beruhigt." Dankbar schüttete sie den halben Drink mit einem Zug in sich hinein, als links aus der Terrassentür Ben und Ingo ins Zimmer traten und sich an dem langen Esstisch niederließen. Offenbar ging es immer noch um Politik oder so was. Jedenfalls hörte sie beim Eintreten der beiden, wie Ingo zu Ben sagte:

    „Glaubst du wirklich, 14 Milliarden Menschen bis 2100? Das wäre ja der blanke Irrsinn. Eine einzige Katastrophe für unseren Planeten" oder irgend sowas in der Richtung. Ben hatte eifrig genickt und dabei ihren Blick aufgefangen. Hatte er sie angelächelt? Oder hatte er gelächelt, weil er die Verrückte in ihr identifiziert hatte, die erst abgehauen ist, als er sie angeblickt hat. Um fünf Minuten später die Party spektakulär zu würzen, indem Sie den Feueralarm ausgelöst hat? Hat er sie etwa mitleidig angelächelt?

    „Sag mal, wer ist eigentlich der komische Typ, mit dem Ingo dort abhängt?", hörte sie sich Christin fragen.

    „Komisch? Wieso komisch? Der ist doch ganz nett. Um nicht zu sagen, der ist doch eigentlich total süß. Das ist Ben. Und wenn ich nicht mit Martin gerade so glücklich wäre…- ihr Blick musterte Ben ungeniert von oben bis unten - ich würde für nichts garantieren", kicherte Christin, die sich bei den letzten Worten verschwörerisch zu ihr gebeugt hatte. Anne nahm ungewollt den alkoholgeschwängerten Atem ihrer Freundin wahr. Ein Seitenblick auf Martin, der mittlerweile immer näher an Jennys Ohr zu rücken schien, ließ sie innerlich aufstöhnen. Bei dem Gedanken, wieder tagelang Martin und dieser doof-geilen Jenny hinterher spionieren zu müssen, was sich angesichts seines letzten, unmöglichen Auftrittes vor ihrer Wohnungstür ungleich komplizierter gestalten würde als bisher, wurde ihr schlecht. In der Küche knallte ein Sektkorken. Zunehmend betrunken, drängte Anne sich durch die Menge zur Garderobe und wühlte in den Taschen ihres Parkers eine neue Schachtel Zigaretten hervor. Auf dem Rückweg zum Sofa gelang es ihr einen unauffälligen Blick auf Ben zu erhaschen. Dieser hatte unterdessen einen größeren Zuhöreranhang gefunden. Am Tisch saßen jetzt sieben Leute. Darunter die grenzdebile Caro und der dicke Steffen. Auch die beiden Turteltauben Martin und Jenny hatten Platz genommen. Alle schienen an einer Diskussion beteiligt zu sein. Es ging um den Moscheeneubau in Gohlis. Ben und Ingo vertraten leidenschaftlich den Standpunkt, dass das Grundgesetz allen Menschen die freie Ausübung ihrer Religion zusicherte. Der dicke Steffen nannte sie daraufhin politisch korrekte Schwätzer. Martin klopfte ihm dafür anerkennend auf den Rücken. Er fände ohnehin, dass schon genügend Fidschis und Türken in Leipzig leben würden. Man müsse bloß mal in die Eisenbahnstraße gehen. Auch an der Uni laufen immer mehr von denen rum.

    „Stimmt. Gestern habe ich zwei von denen gesehen, wie sie mit Turban in den Hörsaal gekommen sind." Caro machte ihrem Ruf wieder alle Ehre.

    „Mensch, das sind Inder. Die sind Hindus. Die meisten jedenfalls." Ingo wirkte genervt. Jenny kicherte blöd dazu. Anne war entsetzt. Die arme Christin. Dieser Martin war nicht nur ein Arschloch. Er war ein fremdenfeindliches Arschloch, das zu allem Überfluss auch noch Jura studierte. Wo sollte das alles Mal hinführen. Sie selber machte sich nichts aus Religion. Ein typisches Kind des Ostens. Für sie war das alles suspekt. ‚Schönen Gruß an den Weihnachtsmann!‘ So hatte ihr Vater damals, als sie noch eine Familie waren, die Ankündigung seiner Schwester kommentiert, Ostern die Kirche zu besuchen.

    Ben, ein hellblaues Polo von Lacoste spannte sich über seinen definierten Oberkörper und passte, wie sie später herausfand wunderbar zu seinen blauen Augen, blickte Steffen ins Gesicht und hörte ihm aufmerksam zu, als der von seinen Erfahrungen im letzten Türkeiurlaub berichtete. Den Trick mit der Kleidung die Augenfarbe zu unterstreichen, kannte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Überhaupt spielte Mode für sie höchstens eine Nebenrolle im Leben. Nicht, dass sie nicht eitel gewesen wäre. Zum Glück hatte sie eine Figur, die ihr erlaubte, ziemlich alles zu tragen. Mit ihren langen, leicht gewellten, aktuell etwas zu dunkel gefärbten Haaren, weil diese blöde Friseuse nur hell und dunkel konnte und dafür auch noch 60 Euro von ihr verlangt hatte, sah sie eigentlich recht hübsch aus. Ihr Äußeres sei auch nicht das vordringlichste Problem ihrer Beziehung, hatte Justus vor einem halben Jahr zu ihr gesagt, bevor er sich mit seiner dürren, bebrillten Annika, aus ihrer Sicht einem echten Problem zugewandt hatte. Angeblich seien die beiden sehr glücklich, glaubte Christin neulich mal in einem Nebensatz fallen lassen zu müssen. Ausgerechnet Christin! Bestimmt waren die beiden glücklich. Glücklich, wenn sie ihre nichtssagende ‚Wir-studieren-beide-Pharmazie-Konversation‘ führten. Glücklich, wenn sie gemeinsam zum Fußball latschten. Wo sie sich dann mit den anderen Freunden von Justus trafen. Seinen ach so tollen Kumpels vom Fußballverein. Die hatte sie zur Genüge ertragen. Ihr Fazit schon damals: Zusammen noch blöder als in der Gruppe!

    Bens Haare waren kurz und dunkelblond, die Augen schmal. Sein Gesicht wirkte männlich und irgendwie doch nicht. Nicht androgyn. Männlich, aber irgendwie nicht hart. Beim Lachen blitzten seine gleichmäßigen Zähne. Wenn er konzentriert sprach, so wie jetzt, zur ihn wahrscheinlich am liebsten gleich in ihr Bett zerren wollenden Jenny, dann kräuselte seine Stirn. Die Augen wurden zu regelrechten Schlitzen. Sie konnte eine Ohnmacht gerade noch verhindern, als er zu ihr aufsah und sein Blick sie fixierte. Sie hielt wider Erwarten diesem Blick stand. Die Gefahr einer Ohnmacht war aber noch nicht gebannt, wie sie entsetzt merkte, als er ihr plötzlich freundlich zulächelte. Sie nickte knapp wie eine Angestellte, der man mitgeteilt hatte, sie habe morgen kein frei, sondern muss vier Stunden länger arbeiten. Dann rettete sie sich auf die Terrasse. Dort nahm sie Tom das Glas aus der Hand und schüttete es auf ex runter.

    „Na na na junge Frau. Jetzt ist wo innen auch der Feuermelder angegangen und du musst löschen?"

    „Gib mir lieber mal Feuer", versuchte sie die Situation einigermaßen zu entschärfen, bevor ihr noch was rausrutschte, zu der Unverschämtheit von vorhin. Denn eigentlich mochte sie Tom und seinen Freund Oskar. Aber für Sentimentalitäten war hier und jetzt kein Platz. Er hatte sie angelächelt, so viel war sicher. Und sie hatte, wie auch immer, reagiert. Hatte ihm mitgeteilt, sein Lächeln war angekommen.

    „Tom. Ich könnte noch was zu trinken gebrauchen", schnurrte sie versöhnlich und lehnte kokett ihren Kopf an seine Schulter.

    „Bist du sicher?", schmunzelte der und begab sich auf den Weg nach drinnen. Durch die Tür konnte sie sehen, wie sich Ben und Ingo erhoben und sich aller Wahrscheinlichkeit nach verabschieden wollten. Sie warf die Kippe zu Boden. Dachte kurz über die Verschwendung nach. Denn von ihren paar Kröten waren Zigaretten aus der Packung eigentlich Luxus. Sie hatte sich extra für die Party eine Schachtel für fünf Euro (!) gekauft, um auf das nervige Selberdrehen zu verzichten. Und um nicht ständig Tabakreste von der Lippe zupfen zu müssen. Rasch und möglichst unauffällig huschte Anne in den Flur. Um dort, wie zufällig, in ihrer Jacke zu kramen.

    „Das nächste Mal bei uns. Da feiern wir dann hoffentlich die bestandenen Klausuren. Vorausgesetzt, die Profs von der Uni haben sie von ihren Lakaien schon korrigieren lassen", redete Ingo grinsend auf Tom ein. Der kam gerade mit zwei Drinks in der Hand aus der Küche und hatte sich den beiden in den Weg gestellt. Oskar und Ben umarmten sich kurz. Danach umarmte Ben Tom, der dabei die beiden Drinks - wie ein Pinguin seine Flügel - seitlich von sich streckte. Ingo umarmte solange Oskar und dann auch noch Tom und schließlich öffnete Ben die Tür. Anne hatte mittlerweile alle Taschen ihres Parkas von oben nach unten ‚durchsucht‘ und begann gerade wieder von vorn, als sie sich plötzlich zur Tür drehte und ihr Blick heute schon zum vierten Mal auf den von Ben traf.

    „Also dann", sagte Ben und hob lässig die linke Hand und winkte ihr kurz mit den Fingerspitzen zu, ohne sie aus den Augen zu lassen.

    „Tschüss", krächzte sie hervor und zwang sich seinem Blick standzuhalten. Dann trat Ingo zwischen die beiden. Schob Ben die Treppe hinunter und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

    Ungefähr vier Wochen sah und hörte sie nichts von ihm. Dabei hatte sie das Gefühl verraten worden zu sein. Immerhin hatte er sie angelächelt und zum Abschied ‚Also dann‘ zu ihr gesagt. Klar, die anderen hatte er auch angelächelt, an diesem Abend. Aber erstens nicht so wie sie, da war sie sich absolut sicher. Zumindest immer am Anfang ihrer permanent wiederkehrenden Rekapitulationen der Geschehnisse, jenes für sie schicksalhaften Abends. Mit Sicherheit hatte er zu keinem der anwesenden Mädchen ‚Also dann‘ gesagt. Für sie stand außer Zweifel, dass er ihr damit sagen wollte ‚Also b i s dann‘. Und wenn das keine Verabredung für später gewesen sein soll? Was denn dann bitteschön? So unauffällig wie möglich, kam sie deshalb beim Zusammentreffen mit den anderen Partygästen, immer wieder gern auf die Geschehnisse des Abends zu sprechen. Aber egal, ob mit Christin in deren Zimmer beim Lernen für die Romanistik Klausur, mit Tom in der Mensa zu ungenießbarem Jägerschnitzel mit Makkaroni oder mit der blöden Jenny, der sie einmal nicht mehr ausweichen konnte, während einer Observation im Kaufhaus, als sie offenbar nur noch halbherzig bei der Sache gewesen war. Immer beschränkten sich die Gespräche auf die Nummer mit dem Feuermelder. Tapfer hörte sie zu. Und sagte dabei Sätze wie: ‚Ich bin ja manchmal so blöd, das gibt es gar nicht‘ oder ‚Bloß gut, dass keine Sprinkleranlage in der Toilette oder in der Wohnung installiert war‘. Und musste dann auch noch mitkichern und mitlachen, wenn die anderen ihre billigen Vorlagen genüsslich um weitere mögliche Katastrophen oder Beispiele ihrer einzigartigen Blödheit ergänzten. Insgeheim erhoffte sie sich von diesen Gesprächen vielmehr den Hinweis: ‚Du, weißt du eigentlich, dass der Ben sich nach dir erkundigt hat. Musst ja mächtig Eindruck auf den gemacht haben. So wie der hinter deiner Telefonnummer her ist‘. Stattdessen fabulierte sie Sätze wie: ‚Wie geht`s eigentlich Ingo? Das war ja ein Typ, den der da auf der Party mit im Schlepptau gehabt hat. Der hat mich immer so komisch angesehen. Also ganz dicht war der nicht‘. Darauf wurde ihr meist mehr oder weniger offen mitgeteilt, dass Ben allgemein ein sehr beliebter Mitstudent war, den viele sympathisch fanden und sie offensichtlich über gestörte Wahrnehmungsfähigkeiten verfügte. So kam sie also nicht weiter.

    Bis ihr der Zufall, sie nannte es das Schicksal, ausgerechnet in Form ihrer besten Freundin Christin, helfen sollte. Das Schicksal nahm seine Wende im Kino, als die beiden nebeneinander, eine mittlere Portion Popcorn und zwei Cola Zero in den Händen, der Werbung folgten. Natürlich war sie vorher wieder auf die Party zu sprechen gekommen. Hatte über ihre eigene Dämlichkeit mit Christin lachen müssen und sich dabei gedacht, dass die blöde Kuh wahrscheinlich gar nicht weiß, dass ihr Martin hinter Jenny her ist. Auch wenn die aktuelle Beweislage dünn war. Die Observationen hatten bislang noch keine eindeutigen Belege geliefert. Aber sie war an der Sache dran. Und dann Schätzchen, öffnen wir dir mal die naiven Augen. Und mal sehen, wer dann lacht. Aber das war jetzt zweitrangig.

    „Findest du?", antwortete Christin, als die Finalfrage: ‚wer denn nur dieser komische Vogel gewesen sei, mit dem Ingo sich da abgegeben hatte‘, erneut von ihr geschickt an das Ende des Gespräches lanciert worden war. Dabei griff sie gelangweilt in den kleinen Eimer mit Popcorn und steckte eine halbe Handvoll in den Mund. Dann, noch kauend: „Ich find den total sympathisch und unheimlich scharf. Sein Vater ist an der Uni im Hochschulsport. Und soviel ich weiß,

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