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Psychiater sein: Die Erlebnisse des jungen Peter Quero
Psychiater sein: Die Erlebnisse des jungen Peter Quero
Psychiater sein: Die Erlebnisse des jungen Peter Quero
eBook465 Seiten5 Stunden

Psychiater sein: Die Erlebnisse des jungen Peter Quero

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Über dieses E-Book

"Nein, ein Narzisst ist er nicht, nur sehr selbstbewußt, auch als Psychiater."
Im beschaulichen Rheinland aufgewachsen, zieht es Peter Quero voll Tatendrang in das revolutionäre Berlin der 68iger Studentenbewegung. Bei seinen Streifzügen durch die Stadt wird der unerlaubte Besuch der Anatomie zum Schlüsselerlebnis, den Werdegang zum Arzt einzuschlagen. Doch nicht die nüchterne Medizin fasziniert ihn, sondern die außergewöhnliche Welt der Psychiatrie.
Im Sommer 1976 ist Peter Quero als Psychiater an einer Berliner Klinik tätig. Ein ereignisreicher Bereitschaftsdienst liegt hinter ihm und derMüßiggang eines freien Wochenendes vor ihm. Unverhofft macht er die Bekanntschaft mit dem reisenden Arzt Robert und der Medizinstudentin Uschi aus Freiburg.
Für die erlebnishungrige Uschi ist Berlin der Beginn einer ersehnten Freiheit fernab des Elternhauses und Peter ein willkommener Partner.
Robert, ein Wanderer zwischen den Welten, sucht Halt und Erfüllung in der Freundschaft.
Peter Quero verliebt sich in Uschi und ignoriert Robert. Er ahnt nicht, welches Psychodrama sich entwickelt, das er als Psychiater hätte verhindern können.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Juli 2014
ISBN9783849587420
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    Buchvorschau

    Psychiater sein - Torsten Ewert

    Die Nacht

    In dieser bewegenden Nacht war Dr. Peter Quero, ein junger Psychiater, der in früherer Zeit Irrenarzt geheißen und diese Bezeichnung auch nicht als abfällig empfunden hätte, seinem Beruf zweifellos gerecht geworden. Er hatte die erstaunlichsten Erlebnisse und absonderlichsten Handlungen von Menschen erfahren, die einzig und allein ihrer abenteuerlichen Phantasie entsprungen waren, aus einem leidvollen Kummer, einer überschießenden Laune, einem erworbenen Unverstand heraus. Eine verrückte Welt voll absoluter Gewissheit und unfehlbaren Glaubens, die faszinierend und aufregend, mitunter sogar erheiternd, in der Regel aber verzweifelt, traurig, beklemmend und erschreckend war. Wie von ihm erwartet, hatte er zugehört, gehandelt, dem Irrsinn die Stirn geboten, dabei einen klaren Kopf behalten.

    Gleich zu Beginn seines Dienstes wurde ihm der 18jährige Stefan L. vorgestellt. Schweißnasse Haare umrahmten in verfilzter Lockenpracht ein leichenblasses, knochenbetontes Gesicht, dessen blutleere Lippen stockend Satzfetzen von sich gaben. Gedanken schlugen in akrobatischen Verrenkungen Purzelbäume, liefen ins Leere, wurden schweigend weiterverfolgt, auf Nachfragen wieder aufgegriffen, um sich erneut zu verlieren. Geduldig hörte Quero zu, lenkte vorsichtig das Gespräch, dass Stefan allerdings mit sich allein zu führen gedachte, was interessierte ihn die Vernunft einer korrigierenden Erklärung. Er war sich seiner sicher, sein Erleben unerschütterlich, hörte es ja überall, das Zischeln und Murmeln, einen unverständlichen Dialog in einer fremden Sprache außerirdischer Wesen, die sich im Raume tummelten und von seinem Körper längst Besitz ergriffen hatten, sich seiner Gedanken bemächtigten und ihn zerstören wollten. Warum noch Auskunft geben wie er hieß, wie alt er war und wo er wohnte, da längst ein anderer aus ihm geworden war, keines eigenen Willens mehr fähig, ausgeliefert einer fremden Macht und ihren Befehlen.

    Seit Tagen beobachtete der begleitende Vater eine zunehmende Wesensänderung des Sohnes mit geheimnisvollem Umherschauen, lauerndem Verhalten und suchendem Kramen. Feindselige Blicke erschütterten ihn und die Angst, gefangen genommen zu werden. Nicht ganz grundlos wie es schien, da er nächtens die metallenen Sterne von parkenden Autos der Nachbarn abgerissen hatte, in der Meinung, dass es Funkantennen von Fremdlinge seien. Verärgert hatte der Vater, ein hagerer, asketischer Mann mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen, die Strenge und Autorität vermitteln, den Sohn zur Rede gestellt und dessen unangemessenes Grinsen gerügt, wo er sich doch zutiefst hätte schämen sollen. Dann waren sie gemeinsam herumgezogen, um die Betroffenen zu finden, sich zu entschuldigen und den Schaden zu erstatten, aus Angst vor Verruf, Schande und Scham. Doch ein unverhofft vorbeifahrender Polizeiwagen im Einsatz, mit heulendem Martinshorn und Blaulicht machte die begonnene Mission komplett zunichte, denn Stefan erlebte Dämone, die ihn umheulten und Blitze in seinen Körper schleuderten. Ein wildes Zucken und Winden bemächtigte sich seiner und Flucht schien ihm die letzte Rettung. Nur mit Mühe und kräftigem Zupacken schaffte es der Vater, den Rasenden unter Kontrolle und nach Hause zu bringen. Doch es gelang keine Beruhigung des panisch Getriebenen und nach Rücksprache mit dem Arzt und um wenig Aufsehen zu erregen, erfolgte die eigenhändige Einweisung in die Psychiatrie. Verunsichert, für ihn nicht fassbar, außerstande das Geschehen zu begreifen, verfolgte der Vater stehend vom Ende des Raumes das vorsichtige Fragen des Arztes und die gequälten, oft im Nichts sich verlierenden Antworten seines Sohnes, ohnmächtig, mit einem entschiedenen Machtwort Klarheit zu schaffen.

    Quero versuchte, so gut es ihm gelang, dem Vater das Verhalten des Sohnes zu erklären: „Eine Psychose liegt vor. Die Diagnose stützt sich auf die Symptome: abnorme Erlebnisweisen, abnormer Ausdruck, Störungen des Denkens, Fühlen und Wollens, akustische Halluzinationen, Ichstörungen, Wahn. Stefan fühlt sich leiblich beeinflusst, leidet unter Gedankenentzug, Gedankenabreissen, ist geplagt von seinen Wahnwahrnehmungen, bedarf der Behandlung.

    Mechanisch und fassungslos nickte der Vater, nur wenig drang zu ihm durch. Stefan selber wollte rein gar nichts verstehen, lebte in seiner Welt, was interessierte ihn die Realität. Nur die Angst und die nervenzerreißende Anspannung, die ihn quälte, verlangten nach Hilfe. Quero sollte sie ihm nehmen, das war der Grund für ihn zu bleiben.

    Brigitte, die nächtliche Stationsschwester wurde verständigt, ein Bett zu beschaffen. Ein gebrochener, erschöpfter Vater verabschiedete sich, schaute Quero nicht in die Augen, seine Lippen zitterten. Ein halblaut gemurmeltes „Auf Wiedersehen" war sicherlich ganz und gar nicht nicht in seinem Sinne und dennoch würde er nicht darum herumkommen. Davor graute ihm.

    Bekümmert schaute ihm Quero nach. Brigitte, um ihn aufzumuntern und abzulenken, bot einen frisch gekochten Kaffee an, dazu schokoladenüberzogene Pfefferminzplätzchen, die Nacht war noch lang. Es belebte Peter und erfrischte ihn, ebenso Brigittes Anblick mit dem langen geschmeidigen, blonden Haar, das von einem Seitenscheitel geteilt ihr ebenes Gesicht umrahmte, über die Schultern, am Ende gelockt, bis auf die Brust fiel. Quero würde ihr als einzige, die heute Nacht zusammen mit ihm Dienst tat, ganz sicherlich nicht den Vorwurf machen, die Haare nicht zu einem gewohnheitsmäßigen Knoten oder mit einem Haarband gebändigt zu haben. Auch das dezente Make-up gefiel ihm.

    Vertrauensselig unterhielt sie ihn. Ihr Partner und sie hätten eine neue, größere Wohnung bezogen, diese eigenhändig, total poppig renoviert. Eine Einweihungsparty würde demnächst steigen, seine Einladung sei hiermit vorab schon einmal ausgesprochen. Der Freund habe sich außerdem seinen lang gehegten Traum erfüllt, ein nagelneues schwarzes Auto der Golfklasse gekauft, mit einem Automatikgetriebe, „…denn er ist einarmig."

    Quero war betroffen, fing sich, Brigittes letzte Aussage hatte ihn berührt, vor allem deren fast beiläufige Selbstverständlichkeit, vorgetragen ohne Scheu. Ihr machte die Behinderung des Partners nichts aus, Stefans Vater musste noch lernen, derartiges zu akzeptieren.

    „Das schwarze Auto, klingt nach schwarzem Ritter, kann aber auch Trauer bedeuten. Wie verlor er seinen Arm?"

    Noch bevor Brigitte antworten konnte, schrillte das Telefon, eine Neuaufnahme wurde gemeldet.

    Ein handfester Ehekrach hatte der Pförtner beiläufig verlauten lassen, und die laute bassige Stimme eines Mannes sowie die erregthochschwingende einer Frau waren bereits vom Flur her unüberhörbar. Brigitte eilte ihnen entgegen, führte sie ins Aufnahmezimmer, geräuschvoll schlug die Tür zu.

    „Das kann ja heiter werden, ahnungsvoll-neugierig machte sich Quero auf den Weg. Der Patient, ein freundlich aufgeregter Pykniker mit breitrundem Gesicht war durchaus guter, ja sogar gehobener Laune. Leutselig nahm er den Arzt in Augenschein und bedachte ihn mit einem Wortschwall: „Endlich ein vernünftiger Mensch…, Himmel Herrgott, lass doch das Gezerre Elfriede…, was soll der Blödsinn mich hierher zu bringen…, ich brauche weder Ruhe noch eine Schlaftablette, höchstens einen Drink oder zwei. Einem Jäger wie mir ist Schlaf fremd, ich verbringe, wenn es sein muss, die ganze Nacht auf dem Hochsitz… Lass uns ein wenig Pokern mein Freund, als Einsatz Bares oder Gold. Ich bin Zahnarzt, der Gottfried, nenne mich ruhig Goldzahn…. Eine einladende Bar ist das hier nun gerade nicht, da gibt es bessere Orte…, komm schlag ein, dann lass uns gehen.

    Die Ehefrau, klein und pummelig, ein wütendes Energiebündel, hätte es besser unterlassen, seiner ausfahrenden zum Gruß gebotenen Hand Einhalt zu gebieten. Denn indem sie dieser in die Quere kam, benutzte Gottfried die Gelegenheit, mit ein wenig mehr an Kraftaufwand die Gattin ärgerlich beiseite zu schubsen. Diese taumelte, fing sich und wutschnaubend brach es aus ihr heraus: „Schluss jetzt mit dem irrsinnigen Reden und Benehmen, merkst du denn gar nicht, wie lächerlich du dich machst? In bebender Entrüstung wandte sie sich Quero zu: „Seit zwei Tagen, besser gesagt Nächten geht das nun so, von einer Bar in die andere, kein Casino oder Spieltisch ist vor ihm sicher, und in den Puff will er gehen, ich soll mitkommen, zugucken. Stellen sie sich das vor. Zum Heulen ist mir zumute. Gewiss, er ist ein geselliger Mensch, ich gönne ihm Spaß und Freude, aber das geht entschieden zu weit. Er ist Zahnarzt, ein sensibler Beruf, die Patienten erwarten Fingerspitzengefühl und jetzt dieser ungehobelte, vulgäre Ton, das prahlerische, aufdringliche Benehmen. Einige Patienten haben sich bereits aus dem Staub gemacht, und es fehlt nicht viel, ich auch. Zornesfalten meißelten sich in ihre Stirn, ihr Mund war nur noch ein rasiermesserscharfer Strich, ihre Augen zeigten kalte Entschlossenheit und hart herrschte sie ihren Ehemann an: „Du hast die Wahl, entweder du bleibst hier, oder ich lasse mich scheiden."

    Quero hatte keinen Zweifel an dieser kompromisslose Entschlossenheit. Jegliches anfängliches verständnisvolle, ja sogar heitere Entgegenkommen, geboren aus der bestehenden Situationskomik heraus, wurde von der offenkundigen brutalen Sinnlosigkeit der Situation erstickt, nötigte zu entschlossenem Handeln. Sie hatte Recht, auch Quero würde bei erwarteter seriöser Behandlung im Zahnarztstuhl und statt dessen erlebter frivol-fröhlichen Enthemmung und Taktlosigkeit umgehend die Flucht ergreifen.

    „Ich kenne da eine gute Zigarrenlounge…", versuchte der selbst ernannte Goldzahn vorsichtiger geworden und mit unsicherem Blick wieder Boden gut zu machen und vor allem Queros Komplizenschaft zu gewinnen. Der furiose Auftritt seiner Gattin hatte ihn nicht unberührt gelassen, beeindruckt war er zurückgewichen.

    Dies war die Chance für Quero, den Augenblick zu nutzen, keine törichten Äußerungen und kein eheliches Kriegsgeschrei mehr zu dulden, vielmehr die Wogen glätten und Brücken bauen. Zunächst schien es ihm angebracht, eine kollegiale Verbundenheit herstellen, an das ärztliche Ehrgefühl zu appellieren und die verpflichtende medizinische Ethik zu betonen, danach in pastoraler Würde an das Gelübde der Ehe erinnern.

    „Lieber Kollege, von Arzt zu Arzt, wir sind dem Wohle der Patienten verpflichtet, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln, darum ist es mehr als wünschenswert und erforderlich, diszipliniert und engagiert seine Arbeit zu tätigen und nicht durch Liederlichkeit und Ausschweifungen zu gefährden. Auch in der Ehe gelten Regeln, Nachsicht und Toleranz miteinander zu haben, sich in respektvoller Achtung zueinander zu verhalten, Nachsicht zu zeigen. In aller Ruhe sollte jetzt ein jeder für sich nachdenken, wie die nächste Zeit rechtschaffen und sinnvoll gestaltet werden kann."

    Seinem Gegenüber schlug er die Aufnahme vor, dessen Ehefrau den häuslichen Heimgang und wünschte ihnen letztendlich ohne weiteres Federlesen: „Eine angenehme Nacht und ein vertrauensvolles Wiedersehen am nächsten Tag."

    Beeindruckt oder vielmehr von einem plötzlich gegen sich selber gerichteten Schuldgefühl berührt und der aufkeimenden Ernüchterung womöglich über das Ziel hinausgeschossen zu sein, schmolzen die protzig-prollig, lautstark und hemmungslosen Äußerungen des durchaus Hochgestimmten dahin. In einem letzten Aufbegehren zitierte er: „Ohne Wein und ohne Weiber, hol der Teufel unsere Leiber, und gab nach, „heute bin ich ihr Gast, aber morgen lade ich sie ein. Handschlag!

    Diesmal fuhr die Gattin nicht dazwischen. Erschöpft, so gut es ging gefasst, wünschte sie ihrem Mann und Quero „Eine gute Nacht" und verließ gesenkten Hauptes die Station, nachdem sie ihrem Mann einen letzten verzweifelten Blick zugeworfen hatte. Dieser folgte verunsichert Brigitte und ließ sich ein Nachtlager herrichten.

    Quero benötigte weitere von Brigitte dargebotene Pfefferminzplätzchen mit Schokoladenüberzug und diesmal dazu einen starken Tee.

    Schwester Brigitte zeigte sich belustigt beeindruckt: „Ich bin ja schon des öfteren von Männern eingeladen worden, aber noch nie in ein Bordell, und nach kurzem Zögern und mit einem schelmischen Augenzwinkern platzte es aus ihr heraus, „aber warum nicht, allerdings nur um den Horizont gemeinsamen Erlebens zu erweitern.

    „Im Horizontalen?, Quero tauchte das Plätzchen in den Tee, ein aromatischer Geruch erfüllte den Raum, „Verführerisch. Auf welche Ideen manch einer kommt.

    „Ich habe sie nur aufgegriffen."

    Auf Gedanken ganz anderer Art war Elisabeth A. gekommen und die trug ihr Sohn vor, zweifellos ein Dandy mit Blazer und Goldkettchen, dessen Gehabe einer spätpubertären Profilierung entsprach, statt altersentsprechender Männlichkeit.

    „Um Himmelswillen kümmern sie sich um meine Mutter. Sehen sie doch diesen trostlosen Verfall der einstmaligen Grande Dame zur grauen Betschwester."

    Theatralisch hob er beide Hände, stieß das Wort Mutter mit gespitzten Lippen aus und legte los. In den letzten Tagen hätte sie ihn mit einem endlosen, nervtötenden Gejammer in die Verzweiflung getrieben, aber jetzt noch viel schlimmer, unnahbar in ein Schneckenhaus zurückgezogen, ohne Rede und Antwort zu stehen und still vor sich hin zu starren, als wäre er Luft. Dabei brauche er dringen ihre Hilfe, „…und die verweigert sie mir! Seine Stimme überschlug sich: „Sie ist paranoid, zweifellos! Ich kann es beweisen! Was anderes wären diese unsinnigen, ständig wiederholten Selbstbezichtigungen krank zu sein und zu versagen, im Haushalt, in ihren Beziehungen und vor allem ihm gegenüber, den sie in egoistischer Gleichgültigkeit vernachlässigt hätte.

    „Das mag ja sein, stört mich aber überhaupt nicht und vor allem nicht im Augenblick. Sie ist alt, ja, aber nicht krank wie sie behauptet, lässt eine Heerschar von Ärzten für ihre Gesundheit sorgen. Verarmen könne sie gar nicht bei dem hinterlassenen Vermögen des verstorbenen Vaters, auch wenn es ihr dieser bigotte Antiquar durch den Verkauf seiner Heiligenbildchen von Himmel und Hölle, dem Jüngsten Gericht und den Ikonen aus der Tasche ziehe, anstatt es…, eine grün-gelbliche Galligkeit verfärbte sein Gesicht, „in ihren leiblichen Sohn zu investieren.

    Früher, wenn Geldnöte ihn schon mal plagten, und sie ihm Vorwürfe machte, nicht ordentlich zu wirtschaften und zu sehr dem Luxus zu frönen, hätten sie sich noch immer einigen können. Aber diesmal komme er überhaupt nicht mehr an sie heran, müsse sich diese blödsinnigen Verarmungs- und Versündigungsideen anhören und zuletzt ihr beharrliches Schweigen ertragen. „Zweifellos sind ihr die religiösen Motive in den Kopf gestiegen, die heilige Jungfrau und die grinsenden Teufelsfratzen. Alles Hirngespinste, während die wahren Teufel, meine Gläubiger, gegenwärtig und leibhaftig sind, mir die Daumenschrauben ansetzen, das Blut aussaugen."

    Versündigen könne sie sich lediglich an ihm, wenn sie das dringend benötigte Geld nicht herausrücke. „Die nehmen mich wahrlich in die Zange, und sie lässt mich im Stich. Empört schnaubte er durch die Nase, blies die eingefallenen hohlen Wangen auf, lies die angestaute Luft ab. „Zuerst habe ich gedacht, sie will mich nur ein wenig zappeln lassen, aber dann wurde mir klar, dass sie krankhaft verbohrt ist, keinerlei Argumenten zugänglich, deshalb habe ich sie hierher gebracht, und drohend-verzweifelt, „sie müssen sie auf andere Gedanken bringen und zwar rasch, sonst bin ich erledigt." Aufgeregt ruckte sein schmaler Kopf auf langem Hals gockelhaft hin und her, hackte nach seiner Mutter, die in traurig-umflorter Versunkenheit leise vor sich hinmurmelte.

    Quero beugte sich vor, um besser zu hören. „Mea culpa, mea maxima culpa…, und: „Maria, du bist gebenedeit unter den Weibern…

    Sinnlos mit der sich selbst Kasteienden kommunizieren zu wollen. Sie konnte in diesem Zustand ihrem Sohn nicht helfen. Ihr Kind hatte über die Stränge geschlagen, dafür musste er und sie jetzt büßen.

    „Ihre Mutter leidet unzweifelhaft unter einer schweren endogenen Depression mit Wahnideen. Sie ist suicidgefährdet und in ihrem jetzigen Zustand unfähig, angemessen zu reagieren. Ich werde mich ihre Mutter kümmern."

    „Und ich, was wird aus mir?" Ein verzweifeltes Augenpaar, welches seinen Höhlen zu entweichen drohte, starrte Quero an.

    „Selbstverständlich können sie ihr Gesellschaft leisten."

    „Und wer bezahlt meine Schulden?"

    „Sie werden etwas Geduld haben müssen."

    „Die meine Gläubiger nicht haben. Ich kann mir den Strick nehmen."

    „Ein Grund mehr hier zu bleiben."

    „So ein Quatsch!"

    Was blieb Quero zu tun? Sich einarbeiten in eine langjährige, schwierige und komplexe Familientragödie, die die Mutter nicht mehr aushielt, in die Psychose flüchtete und den Sohn ins Unglück mitriss.

    Die alternde Henne, sie legte dem jungen Gockel keine goldenen Eier mehr, wie sehr er auch krähte und mit den Flügeln schlug, am Ende nur noch erlahmen konnte, um seinen Kopf fürchten musste.

    Und wenn ein Hahn kräht, stimmt schon bald der nächste ein, der vor Schwester Brigitte balzte und nach einem Arzt gierte. „Diese Kopfschmerzen, das muss ein Tumor sein, Aspirin, das ist lächerlich, ich brauche Gewissheit."

    Brigittes Stereotypes: „Warten sie, der Doktor kommt gleich, bewirkte ein ärgerliches Aufbrausen, „nicht gleich, sofort, und das meine ich ernst Schwesterchen, bevor mein Kopf platzt.

    „Warum nicht, arroganter Kerl, dachte Brigitte, „eine Schönheit geht dabei nicht verloren. Das Schwesterchen wird nicht nach deiner Pfeife tanzen. Verächtlich bot sie dem vierschrötigen Mann mit dem kantigem Gesicht, den abstehenden Ohren und Bürstenhaarschnitt Paroli, wehrte sich seiner pfeilharten Blicke: „Der Doktor kommt so schnell er kann." Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

    Doch der Aufgebrachte war nicht bereit zu harren. Jetzt erst recht und durch die Trostlosigkeit des geweißten Raumes verstärkt, begann sein Gemüt hochzukochen. Er riss die Tür auf, erstürmte den Gang, suchte die Konfrontation: „Ich lass mich nicht abspeisen. Wo ist der Doktor?"

    Dieser, vom lauten Geräuschpegel alarmiert, erschien im Flur, musste aufpassen, nicht umgerempelt zu werden, wurde ins Visier genommen.

    „Na endlich, ich nehme an, sie sind der Arzt, tun sie etwas für mich."

    „Ja gerne."

    „Handeln sie!"

    Brigitte zog mit abweisendem Gesicht die Schultern hoch und erklärte lapidar: „Er hat Kopfschmerzen."

    „Wie rasend und unerträglich."

    „Schlagartig wie mit der Keule?", Quero ärztliches Interesse war geweckt, vielleicht eine akute, lebensbedrohliche aneurysmatische Hirnblutung?

    „Nein, seit Tagen, aber es wird immer schlimmer, hoffentlich kein Tumor."

    „Schauen wir mal, Schwester Brigitte wird sie ins Untersuchungszimmer bringen, sie legen dort die Oberbekleidung ab, und dann komme ich sie untersuchuen."

    Quero kannte den bisherigen Verlauf nicht. Sein jovialer Ton, seine gelassene Haltung, ein vertrauliches Nicken Brigitte zugeworfen und der Versuch sich zu entfernen, wurden als verschwörerische Hinhaltetaktik erfasst. In einem Tobsuchtsanfall wurde nicht nur die Menschenwürde, sondern vor allem die Würde eines Patienten beschworen, der sich nicht länger hinhalten lasse, augenblicklich die Untersuchung wünschte, die Diagnose und eine Therapie. „Dazu sind sie als Arzt verpflichtet".

    „Schluss jetzt, ich komme sobald sie sich beruhigt haben, eine andere Möglichkeit gibt es nicht, lassen sie die Drohungen und das Geschrei."

    Das entschlossenes Machtwort zeigte Wirkung, widerwillig grollend fügte sich der Gescholtene und folgte Brigitte, die hochnäsig voranschritt: „Sie haben gehört was der Doktor sagte."

    Die Untersuchung war unauffällig, keine Nackensteife, kein Fieber, der Augenhintergrund unauffällig.

    „Alles auf den ersten Blick soweit gut, ich verschreibe ihnen Paracetamol."

    Kaum ausgesprochen fuhr der Patient in die Höhe und brüllte. „Das ist alles? Sie wollen mich mit harmlosen Medikamenten abspeisen? Sie sind ja noch schlimmer als diese impertinente Krankenschwester, die schlug wenigstens noch Aspirin vor. Ich will wissen, ob ich einen Tumor im Kopf habe und wie man den behandelt."

    „Um Mitternacht?"

    „Ja, auch um Mitternacht. Ich mache sie für alles verantwortlich."

    „Suchen sie morgen den Hausarzt oder einen Spezialisten auf."

    Weiter kam Quero nicht. „Nein, den Rechtsanwalt! Sie hören von mir!"

    Der Rahmen hielt der knallend zugepfefferten Tür stand. Eine erschrockene Brigitte erschien. „Alles in Ordnung Doc?"

    „Ja, nur eine psychopathische Gemütsverpuffung aufgrund der Unfähigkeit einer adäquaten emotionalen Steuerung, die sich einer Sozialisierung widersetzt und Erziehung, moralischen Ansprüchen sowie Gesetzen trotzt."

    „Und uns das Leben mit Wutausbrüchen schwer macht".

    „Da hilft nur, gelassene Selbstbeherrschung zu zeigen."

    Quero hatte gut reden, mag sein, dass er über eine entsprechende Fähigkeit verfügte, nicht aber das junge Mädchen, das ohne viel Federlesen zu machen, kurzentschlossen aus dem Fenster sprang, als ihr der Freund die Trennung verkündete. Eine Aggression gegen sich selber, aus dem Affekt heraus, mit der unbewussten Absicht ihn mit einem schlechten Gewissen zu bestrafen.

    Einer Polizeistreife waren die beiden aufgefallen, als sie am Straßenrand kauerten und einander umschlungen hielten, das Mädchen verweint, mit blutverschmierten Schrammen im Gesicht und den Armen, zerrissener Kleidung und barfuß, der Junge im Schock, entsetzt und wortkarg.

    Auf den zweiten Stock zeigte er, wo der Lichtschein aus dem weit geöffneten Fenster drang und auf das dichte übermannshohe Rhododendrongebüsch. Dort heraus hatte er sie befreit. Wenn auch wackelig auf den Beinen, konnte sie alles bewegen, ein paar Schritte tätigen und die Arme heben. Eine psychologische Betreuung erschien im Moment das einzig Wahre.

    Brigitte nahm sich des Mädchen, Quero des Jungen an. Er erfuhr weniges, aber Wesentliches, vom Mädchen dann, dass es ihr leid täte, sie schämte sich wegen der Unannehmlichkeiten, die sie bereitete.

    „Die spielen keine Rolle, Hauptsache sie sind am Leben."

    Auch sie schien nach und nach zu dieser Einsicht zu kommen. Ihrem Freund wurde gestattet neben ihrem Bett, solange er wollte, Platz zu nehmen und Händchen zu halten. Ein rührendes Bild.

    Brigitte schüttelte den Kopf: „Könnte mir nicht passieren, dummes Ding, damit muss man fertig werden."

    Leider wird nicht jeder mit den Widerwärtigkeiten des Lebens fertig, ist triebhaft oder zwanghaft veranlagt und schadet sich selber. So endete die Reise einer alleinstehenden Dame mittleren Alters nicht, wie im vollmundig gerühmten Programmheft vorgesehen, am Golf von Neapel, auf Capri oder Ischia mit Aussicht auf den Vesuv und der Besichtigung von Pompeji, sondern in der umsorgenden Station der Psychiatrie, wohin sie ein genervter Taxifahrer und eine besorgte Nachbarin brachten. Gemeinsam mit dieser hatte Frau Dorothea K. sorgsam ihren Koffer gepackt und die Reiseunterlagen mit allen Vouchern in der eigens dafür angeschafften mehrfächrigen, rosaroten, ledernen Handtasche nach einem wohldurchdachten Plan eingeordnet. Die Vorfreude war riesig, seit Tagen gab es keinen anderen Gesprächsstoff mehr und pünktlich stand das Taxi bereit, zum Start einer exakt geplanten Reise, mit Treffen der Reisegruppe am Flughafen. Noch nie hatte Frau K. eine derart große Reise unternommen. Mit „Glückliche Reise und „was soll schon schiefgehen, wurde sie von der Nachbarin verabschiedet.

    „Alles", wie ein verärgerter Taxifahrer später berichtete.

    Sie waren kaum losgefahren und in ein kleines Schwätzchen verwickelt, als die Dame in ihrer Handtasche zu wühlen begann.

    „Anhalten!, befahl sie und gemeinsam suchten sie nach dem Flugticket. „Ich habe es zuletzt der Nachbarin gezeigt, es muss noch in der Wohnung sein.

    Rückfahrt. In der Wohnung war es nicht, sondern zwischen zwei Vouchern.

    „Jetzt aber Gas gegeben."

    „Anhalten!, kam nach kurzer Wegstrecke erneut der Befehl, „ich vergaß die Wohnung abzuschließen. Rückkehr. Die Wohnung war abgeschlossen.

    Erneut Gasgeben, wahrscheinlich zu viel, der Fahrgast erbrach, sackte bewusstlos in sich zusammen, ein säuerlicher Geruch verpestete die Luft. Das scharfe Abbremsen verursachte beinahe einen Auffahrunfall, eine Hupe wütete. Verzweiflung ergriff den Taxifahrer. Am Erbrochenen, soviel wusste er, konnte man ersticken, doch die Betroffene lebte, über und über besudelt wie das Polster.

    „Nach Hause", bat sie flehentlich, und er kam ihrem Wunsch nach, forderte sein Geld, einen höheren Betrag für die Reinigung, doch die völlig Hilflose war unfähig zu reagieren.

    „Ins Krankenhaus, entschied die resolute Nachbarin, „alles weitere kann dort geregelt werden.

    Schwester Brigitte nahm die Personalien auf, Habseligkeiten und Gepäck in Empfang, säubert die Patientin und brachte sie zu Bett. Quero versuchte ein Gespräch, doch aus bebenden Lippen kamen nur Wortfetzen. Er verordnete ein Schlafmittel. Kopfschüttelnd und fassungslos entfernte sich der Taxifahrer.

    Diesem entgegen näherten sich zwei in neonorangenen Westen gekleidete Feuerwehrleute, die auf einer fahrbaren Liege eine vergnügt dreinschauende, in einen Morgenmantel gekleidete Greisin hereinfuhren und zu Protokoll gaben, dass sie das Weibchen in gekonnter Weise aus ihrer Wohnung befreit hatten, indem sie kurzerhand die Tür einschlugen. Es war auch höchste Zeit gewesen, um den sich stauenden Wassermassen freien Ablauf zu gewähren, die aus einer überfließenden Badewanne stammten und bereits als muntere Rinnsale im Treppenhaus die Mieter in Alarmstimmung versetzt hatten, nicht aber die Verursacherin, die verwundert in den Pfützen herumtapste. Erheitert begrüßte sie Quero mit Hänschen und dass sie sich freue, ihn wiederzusehen. Alles was sie bräuchte, wären ein Paar Hausschuhe, sie könnte doch nicht mit nackten Füßen herumlaufen. Ihren Namen hatten die Feuerwehrleute der Türklingel entnommen, die Nachbarn erzählten von einem entfernt lebenden Sohn, die Polizei wäre dabei ihn aufzuspüren. Als sie erfuhr, dass Quero ihr behandelnde Arzt sei, bat sie ihn hocherfreut, doch einmal ihre Beine anzusehen, wegen einer bestehenden offenen Wunde. Die Enttäuschung war groß, als dieser nur einen kurzen Blick auf ihre dünnen Unterschenkelchen warf und Brigitte die Arbeit der Aufnahme übertrug. Entsprechend beklagte die Alte sich bitterlich bei dieser und verwechselte sie mit ihrer Tochter.

    Quero schenkte sich ein großes Glas Sprudel ein und verfocht die These, einmal das Spektrum der Psychiatrie durch die Generationen versorgt zu haben. Brigitte hörte ihm aufmerksam zu, fand es spannend, keineswegs langweilig. „So geht der Dienst im Nu herum. Dem vermochte Quro nicht zuzustimmen, er hätte gern nach regulärem Tagesdienst, nachfolgendem Nachtdienst und nochmals kommenden Tagesdienst zwischendurch gern ein wenig geschlafen, „sich in die Horizontale begeben. Eine Aussage, die Brigitte ein verschmitztes Lächeln entlockte.

    Doch sein Wunsch blieb noch unerfüllt, der nächste Zugang kam. Ein paar gutgelaunte Sanitäter, die sich des breiten Grinsens nicht enthalten konnten, schoben einen rotbackigen, knollennasigen, wild um sich blickenden etwa fünfzigjährigen Mann auf einem Sitzwagen herein, begleitet von einer wütenden, überforderten Ehefrau, die ihn statt zu beruhigen, lauthals aufforderte, endlich mit dem Quatsch aufzuhören.

    „Er ist Gastwirt, dem Alkohol gegenüber nicht abgeneigt und und dabei sage ich ihm immer, trink nicht so viel. Nicht das er trunken erscheint, nein, das ist es ja gerade, sie merken es ihm nicht an. Nach getaner Arbeit schläft er wie ein Stein, aber heute, heute Nacht, das war der Horror. Hören sie sich das einmal an, sie glauben es kaum, ich jedenfalls nicht."

    Quero erschien ihr wie eine Rettung. Entgeistert starrte sie ihn aus tabakgezeichnetem, faltigem und erschlaffen Gesicht an, einem anderen Laster verfallen.

    Der Gescholtene rollte mit den Augen, sein Schnauzbart bebte, in fassungsloser Ergebenheit krallte er sich im Stuhl fest, blickte immer mal wieder scheu um sich, schüttelte den Kopf und legte los: „Die Wölfe, diese Biester, ich habe sie gesehen und ihr Heulen gehört. Heute ist Vollmond."

    „Unsinn, unterbrach ihn wütend die Gattin, „vielleicht ein paar rollige Katzen und ein liebestoller Kater, die da rumgefaucht haben. Wölfe, seit wann gibt es Wölfe in unserer Gegend?

    „Ich habe aber mit meinen eigenen Augen gesehen, wie sie am Fenster vorbeihuschen, hörte ihr Kratzten an den Wänden, ihren Versuch einzudringen."

    „Und wissen sie was er gemacht hat?, fuhr sie dazwischen, „im Keller eine Axt geholt. Da bin ich aus Angst vor ihm und seinem Wahnsinn hinausgerannt und habe die Feuerwehr gerufen. Über die Feuerwehrmänner hat er sich gefreut, wollte mit ihnen gemeinsam die Wölfe vertreiben.

    Die anwesenden Feuerwehrleute grinsten. „Keine Wölfe."

    „Sicherlich eine Alkoholhalluzinose, lebhaftes szenisches Erleben, Akoasmen, die psychotische Erlebniswelt eines Alkoholikers, erklärte Quero, stellte an Brigitte die Frage nach einem Männerbett und verabschiedete die Ehefrau, „das Einzige was ich uns beiden und ihrem Mann nach ereignisreichem Geschehen im Augenblick wünsche ist ein wenig geruhsamer Schlaf. Morgen sehen wir weiter.

    Die verwunderte Begriffsstutzigkeit der Frau verflüchtigte sich rasch.

    „Sie behalten ihn hier?"

    „Ja, mir bleibt nichts anderes übrig. Gute Nacht."

    Dr. Peter Qwero bekam sie, wenigstens für den Rest der Nacht. Nicht sofort war an ein Einschlafen zu denken, dazu war er zu aufgewühlt. Aber nach und nach überkam ihn das beruhigende Gefühl, hingebungsvoll und allen seinen Möglichkeiten entsprechend gehandelt zu haben, Menschen gegenüber, deren Verhalten inadäquat oder überzogen war, aus einer Trauer, Verzweiflung oder Verwirrung heraus, die sich ängstlich, grundlos heiter, depressiv, aggressiv, verzweifelt, gequält, ratlos und erregt verhielten, einschließlich deren Begleitern und Angehörige. Noch einmal gingen ihm die Diagnosen durch den Kopf. Ein wahnhafter Psychotiker, ein antriebsgesteigerter Maniker, eine jammerige Depressive, ein explosibler Psychopath, eine liebeskranke Suicidale, eine gequälte Zwanghafte, eine senile Demente und ein halluzinierender Alkoholiker. Langsam erloschen ihre Bilder vor seinen Augen, ein letzter Tanz der irrenden, verwirrten Geister, die größer und kleiner wurden, ineinander verschmolzen, zu einem wurden, er selber. Allen hatte er seine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt, Verständnis für ihre Wahrnehmungen, Empfindungen, Probleme und Nöte gezeigt, mit Wort und Tat geholfen, Medikamente verabreicht, versucht ihnen gerecht zu werden, in seiner Bestimmung als Arzt gehandelt, jetzt brauchten sie ihn nicht mehr. Der Schlaf konnte kommen, beruhigen, vergessen machen.

    Bereits früh weckte ihn ein Eimergeklapper und das notorischschimpfende Gemurmel der Putzfrau Johanna über die Pflegers, die Flegels, welche sie für grobschlächtige Kerle hielt, Kraftprotze, die besser in der Fabrik oder bei der Müllabfuhr aufgehoben wären, anstatt im Krankenhaus überall ihren Dreck zu verbreiten. „Eine Krankenschwester tut so etwas nicht, die räumt und putzt selber alles weg, und ich hätte nicht so viel zu tun."

    Das Laster und der Schnaps hatten sie ausgehöhlt. Die Klinik duldete ihr einen letzten Halt. Mit penibler Langsamkeit, mit sich und Erinnerungsfetzen beschäftigt, putzte sie jeden Vormittag den Korridor. Queros Morgengruß schreckte sie auf, ihr eingefallenes, lappiges Gesicht erstrahlte kurz wie ein angerissenes Streichholz, ein freudiges „Guten Morgen, Herr Doktor" straffte ihre Züge, dann versank sie wieder in die Armut nicht mehr vorhandener Freuden.

    Routiniert brachte Qwero die Ereignisse der Nacht zu Protokoll, das oberste Blatt für den Ärztlichen Direktor, bevor es in die Akte ging, der Durchschlag diente ihm als Gedächtnisskript. Gewiss, die Fülle seelischer Variationen in dieser Nacht waren vielfältig gewesen, wenn auch nicht absolut ungewöhnlich für einen Psychiater, der sich im nächtlichen Dienst einer Großstadt befand, deren irrende und verwirrte Geister die Nacht durchstreiften.

    Die Morgenvisite war angesagt. Schwester Annemarie erwartete ihn schon, Brigitte hatte ihr ausführlich berichtet. „Ganze Arbeit Herr Doktor".

    Es folgte im Wesentlichen ein Erkunden über den Schlaf, das Wohlbefinden und die Medikamentenverträglichkeit, erhobene Befunde und Labordaten wurden bewertet und Therapiegespräche festgelegt. Annemarie, eine herrische Mitvierzigerin, schob gewissenhaft den Visitenwagen, reichte die Krankenakte und kritzelte Anordnungen in ihr Merkheftchen, um sie später zu übertragen und auszuführen. Ein geschäftiges, gut eingespieltes Zeremoniell, welches mit einer Tasse Kaffee im Stationszimmer belohnt wurde und in einem Allerweltsgespräch endete.

    Dann bat Quero zum ersten Gespräch mit der jungen Suicidalen, um ihr seelisches Empfinden, die Not, welche diesen Schritt bedingt hatte, zu erkunden und zu fragen, ob sie sich von ihrer Handlung distanzieren könne. Das einigende Ergebnis war, ein paar Tage mit der Aufarbeitung des Geschehens zu verbringen und den Freund hinzuzuziehen.

    In der Mittagskonferenz, im wissenschaftlichen Kreuzfeuer von Terminologie, Diagnose und Therapie seiner ausgeruhten Vorgesetzten, die jedes gesprochene Wort zerpflückten und das niedergeschriebene auf die Briefwaage legten, referierte Quero vor den versammelten, mitunter gleichgültigen Assistenzarztkollegen die Ereignisse der Nacht. In Anbetracht der intensiven Inanspruchnahme wurde ihm zunehmend durch interessiertes Zuhören und wohlwollendes Nicken Anerkennung für seine Leistung vermittelt, wobei im Stillen jeder froh war, selber von diesem Dienst verschont worden zu sein. Diesmal hatte es halt ihn erwischt. Die feststellende Bemerkung des Chefarztes, dass es auch ruhigere Dienste gäbe, konnte als Lob aufgefasst werden.

    Mit dem Oberarzt wurden am Nachmittag die einzelnen Patienten konsultiert, Entscheidungen getroffen und Therapiepläne entworfen. Als letztes widmete sich Quero fürsorglichen und aufgeregten Angehörigen und versprach sowohl ihnen als auch seinen Patienten, ausführlich am nächsten Tag wieder zur Verfügung zu stehen.

    Dr. Peter Queros Einsatz war beendet, 32 Stunden Klinikaufenthalt vorbei, und die abgegebene Verantwortung als diensthabenener Psychiater demonstrierte sein am Haken baumelnder Kittel.

    „Ganz einfach abhängen."

    Er betrachtete sich ausgiebig im Spiegelbild und stellte lediglich einen Zug melancholischer Nachdenklichkeit fest, unzweifelhaft hervorgerufen durch die bewegenden nächtlichen Erlebnisse. Die turbulente Nacht hatte ihn nicht gezeichnet und die erkennbaren Bartstoppeln des Kinnes im oval sich verjüngenden Gesicht mit der kräftigen Nase nicht altern lassen, sondern unterstrichen eher noch eine energische Standhaftigkeit und Maskulinität, ebenso wie die hohe Stirn, aus der er das volle, dunkelblonde Haar scheitelte, während das

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