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der dämon und die lethargie: Zersetzen
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der dämon und die lethargie: Zersetzen
eBook423 Seiten5 Stunden

der dämon und die lethargie: Zersetzen

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Über dieses E-Book

Das packende Finale von "der dämon und die lethargie"!

"Ewig trauern wir, ewig warten wir auf bessere Zeiten…"

Nachdem Eve glaubte, dass sie nach dem Kampf mit Fior endlich einen Zugang zu Levian gefunden hat, zieht dieser sich nach dem Tod seiner Schwester Nileyn vollkommen zurück; Traian übernimmt nun die Rolle des ansässigen Jägers in Levians Gebiet. Eve widmet sich der Suche nach Imee. Immer wieder streift sie durch die winterliche Einöde, besessen davon, Rache an Nileyns Mörderin zu üben…
…doch was sagt diese Besessenheit am Ende über Eve selbst aus?
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. März 2022
ISBN9783347667372
der dämon und die lethargie: Zersetzen
Autor

Jeanette Y. Hornschuh

Jeanette Y. Hornschuh lebt mit ihrer Familie umgeben von goldenen Feldern und malerischen Wiesen. Schon als Kind zeichnete sie gern Geschichten und betrachtete die Welt hierbei auf ihre ganz eigene Weise. Später studierte sie Finance / Accounting / Controlling / Taxation in Eberswalde; seit 2012 ist sie im Bereich Transfer Pricing tätig und arbeitet außerdem als freischaffende Illustratorin und Autorin. Jeanette bewegt sich in einem interessanten Umfeld zwischen Zahlen und Farben - was für eine Mischung! Sie zieht einen einzigartigen Humor hieraus und verarbeitet ihn zu lebendigen und mitreißenden Geschichten. Ihre Jugendromane schaffen eine Welt, die den Leser vom ersten Augenblick an verschlingen.

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    Buchvorschau

    der dämon und die lethargie - Jeanette Y. Hornschuh

    Teil 2

    1.

    Sein Mund ist rot von der Kälte. Feine kleine Wolken bilden sich als er ausatmet. Sie verlieren sich in der klaren Luft. Er zittert. Die weite Landschaft liegt erstarrt unter dem Frost. Zarte Schneeverwehungen sammeln sich in den Tälern. Alles ist mit feinen unregelmäßigen Kristallen überzogen, welche so schwer auf den verbliebenen Stängeln und abgestorbenen Halmen der Pflanzen wiegen, dass es sie niederdrückt. Wie seltsam der Frost die roten Vogelbeeren an den Sträuchern wirken lässt – giftigen Rubinen gleich prangen sie dort. Der Winter verwandelt diese Gegend in eine unwirkliche, ruhige Welt. Über alles weht ein zerrender Wind. Über alles zieht sich das drückende Grau des Himmels… Sein Zittern wird stärker.

    „Für dich ist es jetzt langsam zu kalt, um draußen zu rasten, mh?" lächle ich. Ich stehe direkt neben meinem Jäger. Unter seinen blauen, unbeständig wirkenden Malen, die sich über die Wangen hinweg ziehen, zeichnet sich seine Haut auch dort in einem kräftigen Rot. Trotz der mit Schafswolle gefütterten dunkelgrauen Jacke und des dicken Schals friert er. Eine Weile schon steht er hier und lässt seinen Blick über das weißgraue Gebiet schweifen. Bis vor Kurzem war dies das Gebiet, das unter seinem Schutz stand… Er zuckt kaum merklich. Erst jetzt scheint er bemerkt zu haben, dass er nicht allein hier draußen ist. Würde er mich anschauen, würde er den Kontrast meiner leichten Kleidung zu seinen dicken Wintersachen vielleicht mit einem Schnaufen quittieren. Im tiefsten Winter stehe ich barfuß, in engen dunklen Shorts und einem leichten schwarzen Langarmshirt neben ihm, ohne Jacke, ohne Schal, denn seitdem ich an meinen Jäger gekettet bin, sehe ich keine Notwendigkeit mehr darin, mich zu verstellen - so zu tun, als wäre ich ein Mensch, als wären meine roten Augen kein untrügliches Zeichen dafür, dass ich nicht mehr wirklich unter den Lebenden weile. Aber er tut es nicht, er sieht mich nicht an. Seit jenem Tag würdigt er mich keines Blickes mehr…

    Seine tiefblauen Augen richtet Levian nun kurz auf den Boden, dann geht er. Schweigend.

    Ein paar Minuten lang sehe ich ihm noch nach und beobachte, wie er zurück zu seinem Backsteinhaus läuft. Als sich die unscheinbare grüne Tür hinter ihm geschlossen hat, drehe ich mich wieder der weiten Landschaft entgegen. Ich laufe langsam den Hügel hinunter, auf dem sein Haus steht. Am Fuße des Hügels biegt der Sandweg nach links ab und führt in seichten Kurven an weißen Feldern vorbei ins Dorf. Doch ich gehe vom Weg ab, schlage eine entgegengesetzte Richtung ein. Meine Route führt mich zum Wald. Kahl stehen die knorrigen Laubbäume da, zwischen ihnen lugt vereinzelt das alte Herbstlaub hervor. In den dünnen Schneeverwehungen kann ich frische Vogelspuren ausmachen. Ich laufe den Rand des Waldes entlang. Das gefrorene Laub, die spitzen Reste der Kastanienhüllen, die kleinen Steinchen und Äste… Es knirscht und knackt unter meinen Fußsohlen als würde ich über Glasscherben laufen. Das Geräusch hallt in der Stille des Waldes wider. Aufgeschreckt fliegen zwei Amseln davon, als ich an einem halb entwurzelten alten Ahornbaum vorbeikomme. Bedächtig streiche ich über das knotige Holz des Stammes. Zwischen den wuchtigen verdrehten Wurzeln lasse ich meinen Blick in den Wald hineinschweifen. Seicht malt der feine Schnee weiße Muster auf die dicken Stämme der Kastanien und Buchen, der Ahornbäume und Eichen… Dick ist die weiße Schicht noch nicht. Aber das langanhaltende Grau und die unverkennbaren Orangetöne, die nun häufig des Abends dort im Himmel hineinfließen, verkünden, dass die Schneeschicht vielleicht bald wachsen wird. Mein Blick wandert weiter, vorbei an den Bäumen, zurück zum Haus. Ruhig liegt es auf dem Hügel, aber friedlich ist es dort nicht mehr. Die Stille, die dort zu spüren ist, ist eine andere als früher. Sie ist drückend, kraftzehrend… Der Wald, an dessen Rand ich mich befinde, liegt weit davon entfernt. Von hier aus kann man den Garten nicht erkennen. Diesen Garten… Energisch wende ich mich ab und setze meinen Weg fort. Als ich an einem weißen Baum vorbeikomme, werden meine Schritte schneller. Es ist eine Birke… Je weiter ich laufe, desto mehr von ihnen ziehen an mir vorbei, bis ich schließlich auf eine Stelle am Rand des Waldes treffe, die fast ausschließlich von Birken bestimmt wird. Ich zögere kurz, dann renne ich in den Wald hinein. Eine bestimmte Stelle, ich habe sie genau vor Augen. Wie oft war ich seit jenem Tag hier… Fast ohne mein Zutun tragen meine Füße mich zum Ziel. Und dort ist es, zwischen den dichten Birken… Ein hoher Haufen aus Ästen und Zweigen, den jemand vor vielen Jahren an dieser Stelle aufgeschichtet hat. Ein paar Schritte entfernt bleibe ich stehen. Hier, wo die Birken so dicht stehen, liegt noch weniger Schnee als anderswo im Wald. Auch der zerrende Wind, der über die Felder peitscht, flacht im Schutz der Bäume zu einem leisen Flüstern ab. Trügerisch einnehmend liegt dieser Ort vor mir, an den so verhängnisvolle Kindheitserinnerungen von Levian geknüpft sind. An diesem Ort hatte eine ,Dämonin‘, Helen, die unter dem Schutz der Jäger Zuflucht gesucht hatte, ein Versteck für Levian und seine Schwester Nileyn errichtet. Hier hatten sie gespielt, als ihre Eltern in wilder Sorge um das Wohlergehen ihrer Kinder und des ,Dämons‘ das Gebiet nach ihnen abgesucht hatten. Hier hatten Levian und Nileyn verweilt, als der ,Dämon‘ ihnen in Anwesenheit ihres Lehrmeisters Mael ihre Eltern nahm… Und für so vieles mehr noch steht dieser Ort… Es ist der Ort, zu dem Traian die auf Levian fixierte ,Dämonin‘ Imee hetzte. Hier versteckte sie sich auf dem Weg zu dem alten Backsteinhaus, lauerte Traian auf und fügte ihm diese entsetzliche Wunde am Bein zu. Hier… um ihr Ziel zu erreichen… Nileyn… Mein Herz krampft sich zusammen… Nur mühselig kann ich ein Schluchzen unterdrücken. Ich beiße mir auf die Unterlippe, bis sich mir ein leichter, vertrauter, metallener Geschmack im Mund ergießt. Mit zur Faust geballten Händen laufe ich um das Astgewirr herum. Ja… aber mehr noch… mehr noch erzählt dieser Ort. Dies ist der Ort, an dem auch Traian Imee eine Wunde zufügte. Mit seinem kristallverzierten Messer hatte er im Kampf ihre Hand verletzt.

    Ich kann es riechen. Nun habe ich gefunden, wonach ich gesucht habe. Diese Stelle, an der ich seit jenem Tag, seit Nileyns Tod, so oft schon war. Die Stelle, an der Imees Blut auf den Boden tropfte… Ich nehme den Geruch in mir auf. Meine Sinne schärfen sich, meine Pupillen weiten sich, der metallene Geschmack wird intensiver. Ich atme tief ein. Dann sprinte ich los. Ich suche sie, immer wieder suche ich sie… Imee…

    2.

    Als ich auf den unebenen Weg zurückkehre, der zum Haus führt, dämmert es bereits. Hastig rasen die dunklen Wolken über das morsche Dach hinweg. Wie schon so oft war auch diesmal meine Suche nach Nileyns Mörderin erfolglos. Ich laufe den Hügel empor und beiße die Zähne zusammen. Natürlich, ich weiß, dass Imee eine Strategin ist, wie sie ihresgleichen sucht. Noch nie habe ich es mit jemandem zu tun gehabt, der die Persönlichkeit und Beweggründe eines Menschen derart schnell zu durchschauen vermagwie sie. Noch nie habe ich einen meiner Gattung getroffen, der sein Handeln derart weit vorausschauend plant. Ein Knirschen ist von meinen Zähnen zu vernehmen, als ich daran zurückdenke, wie sie ihre bisherigen Angriffe gegen Levian eingefädelt hatte. Wie gut sie vorbereitet war… Der erste Überfall damals bei ihm Zuhause, als er bewusstlos im Bett lag und sich von einer schweren Verletzung erholte. Nicht nur, dass sie genau diesen Zeitpunkt abgewartet hatte, um aktiv zu werden… Nein, auch darauf, dass jemand - in diesem Fall ichsie an ihrem Plan hindern und ihr nachsetzen würde, war sie vorbereitet gewesen. Über den gefrorenen Sandboden laufend blicke ich auf mein Schienbein hinunter, in dem mich damals ihr Wurfmesser getroffen hatte. Nach diesem Vorfall wusste sie nun, dass ich, eine ihr weit überlegene Unsterbliche, den Jäger, auf den sie fixiert ist, beschützen würde. So wählte Imee für den zweiten Angriff einen Zeitpunkt, an dem Levian sich kurz von mir entfernt hatte. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass auch der blonde Jäger ein wendiger und schneller Kämpfer ist, der es mit einer jungen und unerfahrenen Untoten leicht aufzunehmen vermag. Ja, Levian ist ein geschickter Jäger… Ich muss es wissen, seit er mich mit dem Bann gefesselt hat, hat er es mehr als deutlich demonstriert… Dieser Bann, der dazu geschaffen ist, ‚Dämonen‘ wie mich auszulöschen, der es jedoch aus unerklärlichen Gründen bei mir nicht vermochte.

    Als ich Levians Haus erreiche, bleibe ich vor dem rostigen Gartentor stehen. Ich streiche über das kalte Metall und lasse meinen Blick über den Vorgarten schweifen, der jetzt im Winter so kahl und trostlos daliegt. Der schmale, unregelmäßig gepflasterte Weg, der zum Haus führt, zweigt jeweils links und rechts noch einmal ab und führt dort in Trampelpfaden um das Gebäude herum. Zur linken Seite erstrecken sich in diesem immer so verwildert wirkenden Garten, der das Backsteinhaus umgibt, verschiedene Zierbüsche und Stauden… Der Weg führt dort zu Gemüsebeeten, vorbei an knorrigen Kirsch- und Apfelbäumen. Doch… nach rechts… dort wo die Holzbank steht, auf der ich diesen sonnigen, zirpenden, duftenden, leuchtenden Sommer verbrachte… Diese Stelle war einst mein Lieblingsplatz hier. Nirgendwo war die Friedlichkeit dieses Hauses für mich so spürbar wie dort… Doch diese Stelle… ich vermag sie bis zum heutigen Tag nicht einmal mehr anzusehen, geschweige denn, ihr nahe zu kommen. An dieser Stelle, wo Imee uns Nileyn nahm…

    Mit einem mir nur allzu vertrauten Quietschen öffne ich die Gartentür. Ich schreite durch den Vorgarten und lege meine rechte Hand an die Klinke der grünen Haustür. Bevor ich sie hinunter drücke, schaue ich noch einmal in den Himmel hinauf. Nein, Imee ist niemand, der sich einfach so aufspüren lässt. Sie bestimmt, wann sie in Erscheinung tritt. Aber was sollte ich sonst tun, als sie zu suchen? Wo mir doch jede Minute, die ich in diesem Haus verbringe, seit Nileyns Tod so schwer fällt…

    Als ich das Haus betrete, klopfe ich mir im tieferliegenden Eingangsbereich kurz Schnee und Dreck von meinen nackten Füßen.

    „Es ist schon verrückt, dass du stets hierher zurückkehrst, Dämon. Warum tust du das immer wieder?"

    Mit einem genervten Seufzen ob dieser netten Begrüßung laufe ich die zwei Stufen hoch, die den Eingangsbereich vom Rest des Raums trennen, und schreite den Dielenweg entlang, der sich mittig durch den großen Hauptraum erstreckt. Auf der linken Seite des Hauptraums liegt das offene Wohnzimmer und dort auf dem selbstgeschusterten Sofa sitzt Traian mit einem Buch auf dem Schoß und blickt mich skeptisch an. Ich lasse mich auf den abgewetzten, graublau gestreiften Sessel neben dem brennenden Kamin plumpsen, puste mir eine weiße Strähne aus dem Gesicht und haue meine Füße auf den Wohnzimmertisch.

    „Ich ergötze mich gern daran, dich leiden zu sehen. Ist das nicht Grund genug, hierher zurückzukehren?" frage ich.

    Ein Lachen ausstoßend erwidert der braunhaarige Jäger mit den grünen Malen: „Hahaha, wo leide ich denn bitteschön? Deine Anwesenheit ist zwar lästig, Eve, aber so viel brauchst du dir nicht einbilden… Tse, zu glauben, ich würde deshalb ‚leiden‘…"

    Jetzt gerade ist mir ganz und gar nicht danach, mich der ewigen Zwietracht hinzugeben, die Traian zu betonen niemals müde wird.

    Nach Nileyns Tod hat er sich kein bisschen verändert. Immer noch tut er genauso fröhlich und gibt sich auch genauso kindisch wie zuvor. Immer, wenn ich ihn anblicke, diese naiven, blaugrünen Augen sehe, steigt die Erinnerung an jenen Tag in mir hoch und ich sehe, wie er blutend auf dem Dielenweg sitzt und schluchzt, weil Nileyn ermordet wurde und auch, so denke ich, weil er ihr nicht helfen konnte. Unerbittlich hatte Traian Imee verfolgt und doch konnte er Nileyns Ermordung nicht verhindern. Nicht einmal ihren… Körper… hatte Imee uns gelassen… Ich hatte erwartet, dass er lange daran zu knabbern haben würde. Aber nach zwei Tagen war er wieder ganz der Alte…

    Mit verkniffenem Gesicht starre ich auf seinen Oberschenkel: „Wie geht es dir heute?"

    Seine Augen verengen sich. Er macht eine Schnute und antwortet: „Gut. Wie soll es mir schon gehen? Und außerdem hat dich-"

    „-dich das nicht zu interessieren…, beende ich den Satz für ihn, „…jaja, spar dir das. Warum antwortest du dann auf meine Frage?

    „Hng… Halt doch die Klappe." gibt Traian kleinlaut zurück. Fast automatisch zieht sich meine linke Augenbraue nach oben. Er ist so berechenbar…

    Die Wunde, die Imee Traian auf der Hetzjagd zu Levians Haus zugefügt hatte, war nur langsam verheilt - Kein Wunder in Anbetracht der Größe und des Umstandes, dass es ein dreckiger ausgefranster Ast war, den Imee in seinen Oberschenkel gebohrt hatte. Auch heute noch beeinträchtigt ihn die Verletzung… Ob Traian wohl für den Rest seines Lebens humpelnd durch die Welt ziehen muss? Aber all das scheint ihn nicht zu bekümmern. Immer noch liegt ihm stets dieses dämliche Liedchen auf den Lippen, das vor allem dann ertönt, wenn er sich auf irgendetwas konzentriert. So wie jetzt, während er auf dem Sofa sitzt und weiter summend in seinem Buch blättert. Dabei sind Levian und Nileyn doch nach dem Tod ihrer Eltern zusammen mit Traian bei Mael aufgewachsen, soweit ich weiß… Und er sitzt hier und summt vor sich hin. Zugegeben, meine Erinnerungen an menschliche Tage liegen in weiter, weiter Ferne und wie die Menschen üblicherweise über den Verlust eines anderen hinwegkommen, ist mir somit nicht bekannt - naja, nicht mehr… Aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was besorgniserregender ist: jemand, der nach dem Verlust eines Nahestehenden so tut, als wäre alles wie immer oder jemand, der sich seiner Trauer in tiefster Depression hingibt…

    „Levian ist in seinem Zimmer, nehme ich an?" will ich wissen. Doch eigentlich ist diese Frage ja unnötig.

    „Wo sollte er sonst sein?" meint Traian weiter blätternd.

    Ja, wo sollte er sonst sein… Nach dem Tod seiner Schwester ist Levian zusammengebrochen. Tagelang lag er in seinem Zimmer, wollte nur wenig essen und niemanden sehen… Ich dachte es würde nicht nur mir, sondern auch ihm helfen, über den Verlust zu reden. Doch er reagierte nicht darauf, wenn man ihn ansprach. Einer leblosen Puppe gleich lag er auf seinem verwühlten Bett und blickte ins Leere… Nicht eine Träne habe ich ihn vergießen sehen, auch nicht als wir von Nileyns Ermordung erfahren haben. Immer nur starrte er vor sich hin. Erst vor wenigen Tagen hat er damit angefangen, sich für mehr als nur ein paar Minuten aus dem Bett zu erheben. Zwar verbringt er immer noch die meiste Zeit in seinem Zimmer, aber nun kommt er auch manchmal heraus und läuft ein kleines Stück vor dem Haus herum. Haha, vielleicht gibt dies ja Anlass zur Hoffnung, dass er die Suche nach einer Lösung des Bann-Problems aufgegeben hat. Ich würde es jedenfalls vorziehen, nicht ausgelöscht zu werden, nur damit er die Fähigkeit zurückerlangt, seine Jägergabe wieder gegen andere Meinesgleichen ausüben zu können. Auch wenn ich schon viele Jahrhunderte als wandelnder Rachegeist auf dieser Erde weile, hänge ich doch irgendwie an meiner Existenz…

    Jemand räuspert sich. Ich blicke auf. Skeptisch starrt Traian mich an, offensichtlich verwundert darüber, dass ich mit einem bitter-debilen Grinsen auf dem Gesicht vor mich hin schweige. Bevor er anheben kann, irgendetwas ermüdend Stichelndes zu krähen, deute ich auf das Buch auf seinem Schoß und sage: „Weißt du, dies ist ein Buch - so richtig mit Text. Ergo soll man darin l-e-s-e-n. Ich gehe stark davon aus, dass du des Lesens nicht mächtig bist, sonst hättest du dir wohl kaum ein Buch über PFLANZENKUNDE auf den Schoß gelegt, in der Hoffnung, durch wildes Blättern den Eindruck zu erwecken, dass du dich neben deiner eigenen Person auch nur für irgendetwas anderes auf der Welt interessieren könntest."

    Eine Falte bildet sich zwischen Traians Brauen. Sichtlich verärgert antwortet er: „Und das von dem so ziemlich arrogantesten, überheblichsten und selbstverliebtesten Wesen, das ich kenne! Wann hast DU bitte das letzte Mal ein Buch gelesen, Dämon?!"

    „Nicht nötig, ich weiß bereits alles., lächle ich süffisant, „Beispielsweise, dass es das Wort ‚selbstverliebtesten‘ gar nicht gibt.

    Plötzlich fliegt mir ein braunes rundes Kissen entgegen. Ich wehre es gerade noch rechtzeitig ab…

    „Hahahahaha, schon gut, liebster Traian! Ich ergebe mich, bevor mich noch die ‚Große Sammlung der Wild- und Heilkräuter‘ trifft."

    „Das hätte mir mal einfallen sollen…" murmelt er nun missmutig vor sich hin. Zwar bleibt die Zornesfalte auf seinem Gesicht bestehen, aber er senkt halbwegs besänftigt den Blick auf das Buch und übt sich weiter im Verständnis der Kräuterkunde… naja… oder er schaut sich nur weiter die schönen Bildchen an… Manchmal, in solchen Momenten, kommt mir der Gedanke, dass Traians Anwesenheit eigentlich gar nicht so… - Arg… nein! Diese Aussage mag ich beim besten Willen nicht treffen…!

    Auch nachdem Traian sich halbwegs von seiner Verletzung erholt hatte - soweit man das sagen kann - blieb er hier in Levians Haus. Natürlich könnte er sich auch einfach eine Kutsche bestellen und sich zurück zu Maels Stadt fahren lassen. Schließlich befand sich Traian vor Imees Angriff noch in der Ausbildung und war erst seit kurzer Zeit ohne seinen alten Lehrmeister auf der Jagd. Aber Traian bleibt - und das hat einen Grund: auch nachdem Levian mich genötigt hatte, ihn auf der langen Reise zu verschiedenen Jägern zu begleiten, um nach einer Lösung für unsere Verkettung zu suchen, hatte er keinen Erfolg. Der Bann ist nach wie vor auf mich fixiert und niemand weiß wieso. Somit scheint es, als sei der für dieses Gebiet zuständige Jäger wohl langfristig nicht in der Lage, die hier lebenden Menschen vor Meinesgleichen zu beschützen. Da dachte sich der autoritäre Greis dann wohl, dass ein anderer Jäger einspringen sollte und was ist naheliegender, als den humpelnden, selbstüberheblichen und bislang wenig erfahrenen Lehrling als Vertretung zu ernennen… Nachdenklich kratze ich auf der Armlehne des gestreiften Sessels herum. Wie alles hier im Haus, so hat auch dieses Stück hier schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel. Dass der Stoff auf der Armlehne schon ziemlich löchrig ist, ist aber vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass ich häufig auf diesem Sessel sitze… Als ich einen langen Faden vom Stoff um den Finger zwirbele, denke ich darüber nach, wie Traian reagierte, als er die Nachricht über seine Ernennung erhalten hat. Klar freut er sich, dass er sich nun endlich als Jäger beweisen kann. Der Stolz über seine Ernennung scheint ihm unpassenderweise regelrecht aus den Ohren herauszuglitzern… Aber dass die Wahl ausgerechnet auf ihn gefallen ist, lässt nur zwei mögliche Schlussfolgerungen zu: entweder herrscht gerade ein akuter Jägermangel in der Gegend, sodass die Ernennung Traians die einzig mögliche Option darstellte oder Mael will ihn loswerden. Mh… Und nein, dass der Greis tatsächlich an Traians Fähigkeiten als Jäger glaubt, halte ich nicht für wahrscheinlich! Mael ist zwar ein überheblicher, autoritärer, narzisstischer, grausamer, gefühlskalter, berechnender, manipulativer Despot - aber er ist kein Dummkopf. Aber es bringt mich nicht weiter, darüber zu grübeln. Mit einem Ruck rupfe ich den Faden von der Armlehne ab. Dann stelle ich mich vor den großen offenen Kamin und schnipse den Faden in die kleine Flamme. Da das Holz im Kamin bald vollständig verglüht ist, lege ich noch zwei neue Scheite nach und beobachte, wie das Feuer langsam anwächst. Nach einer Weile drehe ich mich um und laufe in Richtung Küche.

    „Ich mache mir einen Tee, willst du auch einen?" frage ich Traian.

    „Nein, danke…" blafft er. Ich verdrehe die Augen und beschließe, ihn einfach für den Rest des Abends zu ignorieren. Die Küche des Hauses liegt im großen Hauptraum, direkt gegenüber dem Wohnbereich. Ich laufe links am selbstgezimmerten wuchtigen Esstisch vorbei und stelle mich neben den eckigen Waschplatz. Mein Blick wandert nach oben. Der gesamte Ess-Wohnbereich ist von dicken Balken durchzogen, welche die holzbeschlagene Decke stützen. Zwischen diesen Balken sind unzählige Schnüre gespannt, an denen Kräuter, Rüben, Wurzeln und vielerlei andere Pflanzen zum Trocknen aufgehängt sind. Die Gerüche dieser getrockneten Pflanzen sind vielfältig und intensiv, würzig oder süßlich - in jedem Fall aber angenehm. Ohne sie wäre dieses Haus wohl nicht das, was es ist. Ich seufze als ich nach oben greife, um mir ein paar Blätter von der getrockneten Pfefferminze abzuzupfen. Wie viel Mühe und Zeit es Nileyn gekostet haben muss, dies alles hier zu präparieren. Diese Sammlung hat sie für die Winterzeit angelegt - es ist ihr ganz persönliches Vermächtnis… Für den nächsten Winter wird sich wohl niemand mehr die Arbeit machen, einen neuen Vorrat anzulegen. Ich muss ein erneutes Seufzen unterdrücken, als ich mir vorstelle, wie kahl diese Balken-ja dieses ganze Haus wohl nächstes Jahr wirken wird, wenn Nileyns getrocknete Pflanzen nicht mehr hier hängen.

    Ich fülle eine kleine gusseiserne Kanne mit frischem kaltem Wasser und öffne eine Schranktür des mintgrünen Büffetschranks, der neben dem Waschtisch steht. Die unscheinbare weiße Tasse mit dem feinen Sprung scheint mir fast entgegenzulächeln. Diese Tasse hat Nileyn früher immer gern benutzt. An Tagen wie diesen, an denen ihr Verlust mir so furchtbar schmerzlich scheint, hilft es mir, mich an die Kleinigkeiten zu erinnern, die sie uns hinterlassen hat. Diese Tasse, die getrockneten Kräuter und Wurzeln, den kleinen messingfarbenen Kerzenhalter auf dem Wohnstubentisch, in dem sie abends immer eine Kerze anzündete, den …Garten…Ja, diesen wundervollen wilden Garten… Aber auch so vieles mehr… Es sind so schöne Erinnerungen… Diese Kleinigkeiten… mit ihnen scheint es, als wäre der Abschied von Nileyn nur von kurzer Dauer. Ich weiß ja, das ist ein seltsamer Gedanke für jemanden, der nahezu unsterblich ist…

    Bedächtig brösle ich die getrockneten Blätter in ein kleines Sieb und lege es auf die Tasse. Unerwartet erklingt ein lautes Knarzen aus dem hinteren Hausbereich. Ich halte inne und starre zum Durchgang, der vom Hauptraum heraus zu den drei Schlafzimmern und dem Waschraum des Hauses führt. Ein blonder Schopf betritt den Raum. Vermutlich war der Hunger nun so groß, dass er es im Bett nicht mehr ausgehalten hat.

    „Oh, guten Abend, Levian!" trötet es vom Sofa her. Langsam schlendert Levian an den Balken vorbei und betritt die Küche. Eine Antwort bleibt aus, so wie sonst auch… Es scheint, als würde er uns gar nicht richtig sehen, geschweige denn hören…

    An einem Regal neben dem Büffetschrank bleibt er stehen und greift in eine Vorratskiste, in der Brot aufbewahrt wird.

    „Na, kleines Menschlein, ob eine trockene Scheibe Brot wohl genügt, um deinen bedürftigen Organismus aufrechtzuerhalten?" grinse ich meinen blonden Jäger von der Seite an. Doch natürlich ignoriert er mich vollkommen.

    Als er sich umdreht, um den Rückweg zum Bett anzutreten, murre ich: „Ein kleiner Kräutertee würde sicherlich auch dir guttun…"

    Plötzlich bleibt Levian stehen. Langsam dreht er sich in meine Richtung. Seine tiefblauen Augen fixieren mich. Überrascht stehe ich vor ihm und weiß nicht recht, wie ich reagieren soll. Als hätte er zum ersten Mal die Augen geöffnet, stiert er mich mit einem derart kalten Ausdruck an, wie ich ihn seit unserem Kennenlernen nicht mehr gesehen habe. Sein Blick wandert auf die feine weiße Tasse, die ich in der Hand halte.

    „Was… hast du was?" stammle ich.

    Doch statt zu antworten, senkt er nachdenklich den Blick und wandert bestimmten Schrittes zurück in sein Zimmer. Die Tür fällt geräuschvoll ins Schloss. Dann ist es still.

    „Tja, wenigstens hat er mal mit seiner Außenwelt Kontakt aufgenommen…" meint Traian und widmet sich wieder seinem Buch.

    Meine Stirn liegt in Falten. Ich greife nach der Zuckerdose und gebe ein leises „Mh…" von mir…

    3.

    In dieser Nacht schläft Levian sehr unruhig. Alle paar Minuten dreht er sich von einer Seite auf die andere. Decke und Kissen hat er im Schlaf schon aus dem Bett befördert. Jetzt gerade liegt er auf dem Bauch, die linke Bann-Hand lässt er von der Matratze herunterbaumeln. Sicherlich träumt er schlecht… Von meinem Stammplatz aus beobachte ich, wie seine Augen unter den Lidern unruhig hin und her wandern. Mein ,Stammplatz‘ - das ist genauer gesagt jene Stelle in Levians Zimmer, von der ich den besten Blick auf den schlafenden Jäger habe: auf dem Boden vor dem weißen Schrank sitzend, der sich direkt gegenüber der langen Seite seines Bettes befindet. Es ist wahrlich nicht sehr bequem, aber hier finde ich die Ruhe, die ich benötige, um meine Gedanken ordnen zu können. Levians gleichmäßige Atmung, der unbedarfte Gesichtsausdruck, dies alles wirkt sonst so beruhigend… Aber heute liegen seine stets zusammengezogenen Brauen selbst im Schlaf noch verkrampft über seinen Augen.

    Als ich das erste Mal Levians Zimmer betreten habe, war ich über die Einrichtung wenig überrascht gewesen. Alles darin wirkt so unpersönlich, fast so, als würde er es kaum bewohnen. Die holzumrahmten Lehmwände sind kahl, nicht ein Bild hängt daran. Im Zimmer befinden sich genau vier Möbelstücke: gegenüber der Tür und somit direkt unterhalb des einzigen Fensters im Raum steht sein massives Bett aus dunkelbraunem Holz, daneben ein unscheinbarer beigelackierter Nachttisch, auf dem er des Nachts stets sein Messer abzulegen pflegt. Links und rechts neben der Tür stehen zwei alte weißlackierte Schränke, in denen, unter anderem, seine Kleidung verstaut ist. Das wars. Nichts weiter. Absolut nichts, kein Teppich auf dem rilligen Dielenboden, kein Regal mit Büchern drin, keine Pflanzen auf dem Fensterbrett, keine Gardinen, nichts… Mein erster Eindruck von seinem Zimmer damals war, dass es seine verschlossene Persönlichkeit perfekt widerspiegelt…

    Wieder beginnt Levian sich unruhig herumzuwälzen. Langsam erhebe ich mich von meinem Platz, schlendere zur Tür herüber und verlasse leise das Zimmer. Der Morgen dämmert bald und ich möchte, dass meine nächtliche Anwesenheit im Zimmer meines Jägers auch weiterhin unbemerkt bleibt…

    Nachdenklich begebe ich mich in die Küche und hole Nileyns weiße Tasse aus dem Schrank. Ich gebe getrocknete Hagebutten hinein und gieße alles mit heißem Wasser aus der kleinen gusseisernen Kanne auf, die ich am Abend zuvor in die warme Kaminglut gestellt hatte. Mit meiner Teetasse in der Hand und der Zuckerdose auf dem Schoß sitze ich auf dem löchrigen Sessel und beobachte durchs Wohnzimmerfenster hindurch, wie die Sonne beginnt, den Himmel langsam rosa zu färben.

    Als sich das zarte Rosa verzogen hat und zum ersten Mal seit Wochen nun ein leuchtend klares Blau den Himmel tränkt, betritt Traian verschlafen den Wohnraum.

    „Guten Morgen, Hackschnitzelgesicht!" begrüße ich ihn gewohnt freundlich.

    „Hgdnndlchnnndklppn… brabbelt er unverständlich vor sich hin. Mit seinem üblichen grummeligen Morgengesicht humpelt er in Richtung Küche, um sein Frühstück vorzubereiten. Grinsend erhebe ich mich vom Sessel und laufe ebenfalls zur Küche hinüber. Als ich die leere Tasse in die Spüle und die Zuckerdose auf die Ablage darüber stelle, schaut mich der grünäugige Jäger mürrisch an und schnauft: „Ist da überhaupt noch Zucker drin?

    „Ein bisschen, zwei Würfel vielleicht. Du solltest mal wieder neuen besorgen."

    „Die Leute vom Dorf geben uns das Zeug nicht, damit wir damit einen Dämon durchfüttern…"

    „Sie sollten dankbar sein, dass ich ihnen nur den Zucker nehme." grinse ich

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