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Yadokari Blue: Die magische Reise der Janne O.
Yadokari Blue: Die magische Reise der Janne O.
Yadokari Blue: Die magische Reise der Janne O.
eBook703 Seiten10 Stunden

Yadokari Blue: Die magische Reise der Janne O.

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Über dieses E-Book

Es ist Zeit, so beschließt Janne und macht sich mit ihrem Schneckenhaus auf dem Rücken auf den Weg nach Okinawa. Eigentlich hat sie nichts anderes im Sinn, als Yoshi zu finden - den verschollenen Bruder ihrer verstorbenen Frau Nori.
Mitten im Inselidyll lernt Janne recht bald die Abgründe des Paradieses kennen und dazu einen Yoshi, der es ihr alles andere als leicht macht. Sie stolpert Hals über Kopf in das Leben der geheimnisvollen Yadokari Harue, die als Schamanin ein einsames Leben am Rande des Dorfes führt. Das Abenteuer beginnt...

Die magische Reise der Janne O. erzählt vom Mut, aufzubrechen; von Freundschaft und vom zauberhaften Erwachen einer neuen Liebe.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Dez. 2020
ISBN9783347199637
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    Buchvorschau

    Yadokari Blue - Francis Kaufmann

    1

    Ein strahlend klarer Himmel spannte sich im sattesten Blau über das verschlafene Hafengelände im Nordwesten Okinawas. Seit ich den Flughafen und die Ballungsgebiete im Süden der Insel hinter mir gelassen hatte, waren mir nur noch so wenige Fremde, wie Wolken am Himmel begegnet. Jetzt schien ich sogar die einzige Fremde zu sein, die suchend und ein wenig unbeholfen ihren karierten Rollkoffer über das holprige Hafengelände schleifte. Etwas außer Atem schob ich dem blassen, jungen Mann am Schalter 3600 Yen für eine Überfahrt mit der Fähre unter der Glasscheibe hindurch und folgte einer fröhlich gestimmten Traube einheimischer Okinawa-Japaner zur Anlegestelle. Auf dem übersichtlichen Gelände war es nicht einmal schwer, die richtige Fähre auszumachen. Immerhin gab es nur ein einziges Schiff, das im Hafen lag und gerade noch mit grasgrünen Containern beladen wurde. Wie all die anderen Passagiere hielt ich der rundlichen Kontrolleurin mein Ticket hin. Mit einem energischen Ruck riss sie die Hälfte davon ab und nickte mir mit einem kaum hörbaren „Thank you" auf den Lippen zu.

    Mein Herz klopfte wie verrückt, fast wie vor der Tür einer Bar, in der die Verabredung meines Lebens auf mich wartete. Was für ein Vergleich…, dachte ich bei mir selbst. Seit einer Ewigkeit hatte ich keine Verabredung mehr. Überhaupt hatte ich das ganze letzte Jahr nur einen Fuß vor die Tür gesetzt, um wie ein pflichtbewusster Mensch zur Arbeit zu gehen. Jetzt hatte ich es endlich geschafft, war auf die Reise gegangen. Zum ersten Mal, seit dem Tod meiner geliebten Nori, hatte ich mich über München hinausbewegt. Ich konnte mich noch nicht einmal daran erinnern, wann ich zuletzt alleine, ohne Nori, in einem Flugzeug gesessen hatte. Die Zeit vor Nori war wie verblichen in meinem Kopf und die Zeit nach ihr, sie hüllte mich ein wie ein unwirkliches Vakuum, ganz ohne die rot blinkende Exit-Lampe.

    Nun war ich endlich aufgebrochen, um das schwarze Schaf der Kurota-Familie kennenzulernen. Es hatte einen Namen, das schwarze Schaf – Yoshi Kurota. Yoshi war der verschollene Bruder, der meiner geliebten Nori vor einer halben Ewigkeit auf so schmerzhafte Weise verlorengegangen war. In einer knappen Stunde sollte ich ihm leibhaftig gegenüber stehen. „Kurota, schwarzes Feld…", murmelte ich die Bedeutung der beiden Schriftzeichen vor mich hin. Yoshi, das schwarze Schaf, schien seinem Namenszeichen alle Ehre zu machen.

    Ich deponierte meinen Koffer in einer Ecke der Passagierkabine und stieg die Metalltreppen zum Deck des Schiffs hinauf. Von dort oben hatte ich den besten Blick über den Hafen, auf das glitzernde Meer hinaus. Unter dem endlosen Blau des Himmels leuchtete die rostige Anlegestelle orangerot vor dem pastellgrün gestrichenen Hafengebäude. Alles wirkte auf mich so faszinierend farbig, so neu und zauberhaft, wie in einem fantastischen Film, von dessen Drehbuch ich noch nicht die geringste Ahnung hatte. Erwartungsvoll lehnte ich mich gegen die Reling und atmete die salzige, feuchte Seeluft ein.

    In all den Jahren, die ich mit Nori zusammengelebt hatte, war ich Yoshi kein einziges Mal begegnet. So gut wie nie hatte mir Nori wirklich etwas über das vergangene Leben mit ihrem Bruder erzählt. Das war der Grund dafür, weshalb in meinem Kopf nicht mehr als ein Dutzend vergilbter Fotografien der Kurota-Geschwister existierten. Sobald ich an die geschwisterlichen Bande zwischen Nori und ihrem Bruder dachte, reihten sich vor meinen Augen lediglich ein paar unbewegte Bilder aus Noris hellgrüner Fotokiste auf. Als wären sie ihnen absichtlich zugefügt worden, verrieten die Knicke und Risse in den alten Fotografien unausgesprochene Verletzungen, die sich einst in der Wirklichkeit zugetragen haben mussten.

    Für mich waren die Geschehnisse hinter der Fotofassade immer ein Geheimnis geblieben, ein verborgener Teil aus Noris Vergangenheit, über den sie niemals auch nur ein einziges Wort verloren hatte. Vor meinem geistigen Auge sah ich zwei spielende Kinder am Meer, zwei lachende Teenager in Schuluniform und zwei Erwachsene, die vor der schneebedeckten Kulisse der Schweizer Alpen eigentümlich entfremdet voneinander in die Kamera lächelten. Das Bild vor dem weißen Gipfelpanorama musste die letzte Fotografie gewesen sein, die von Nori und Yoshi zusammen geknipst wurde. Es unterschied sich von all den anderen Bildern, allein schon durch eine sonderbare Aura der Fremdheit, die es ausdrückte. Mich hatte es damals noch nicht in Noris Leben gegeben. Nicht die geringste Vorstellung hatte ich davon, was sich zwischen zwei so eng miteinander verbundenen Leben hinter den vergilbten Abzügen eingefangener Schnappschüsse abgespielt haben mochte.

    Ich atmete tief durch und spürte, wie die Seeluft meine Lungen mit salziger Lebendigkeit erfüllte. Die Fähre steuerte aus dem Hafenbecken geradewegs weiter und weiter auf das offene, dunkelblaue Meer hinaus. So weit das Auge reichte, überall lag nichts als die dunkel schillernde Oberfläche des Wassers vor mir. Der Bug des Schiffes durchschnitt die Ordnung der Wellen, die Harmonie miteinander schwingender Wassermoleküle, jeden Bruchteil einer Sekunde, immer wieder aufs Neue. In weniger als einer Stunde sollte ich zum ersten Mal in das Gesicht von Noris Bruder sehen. Ich konnte es kaum glauben und selbst die letzte Reiseetappe vor dem Ziel änderte nichts daran, wie unwirklich mir die Begegnung mit Yoshi immer noch erschien.

    Auf dem Dach der blütenweißen Fähre wurde mir plötzlich klar, wie eigenartig wenig ich wusste, über die Familie der Frau, mit der ich über so viele Jahre hinweg ein glückliches Leben geführt hatte. Über Yoshi wusste ich nur, dass er nach der Scheidung der Eltern bei seinem Vater in Japan geblieben war, dass er wie viele andere Durchschnittsjapaner Informatik studiert und in Tokyo für einen der riesigen, gesichtslosen Konzerne gearbeitet hatte. Wie aus heiterem Himmel hatte Yoshi auf irgendeiner Sprosse der Karriereleiter sein Leben in Tokyo aufgegeben, um sich auf einer kleinen Insel im Nordwesten Okinawas niederzulassen.

    Von Nori wusste ich, dass ihr Bruder fünf Jahre jünger war, als sie selbst und ihr in Kinderzeiten sehr nahe gewesen sein musste. Mit dieser einen Hand voll Informationen erwartete ich einen braungebrannten Aussteiger von etwa 30 Jahren und damit endete meine Vorstellung, bevor sie überhaupt erst richtig Gestalt annehmen hätte können. Eigentlich schade, dass Yoshi uns nie in Deutschland besucht hat…, dachte ich und lehnte mich gegen die hellgrüne Reling. Wie so oft ließ ich mich spontan in die Welt meiner Wunschträume fallen und stellte mir vor, Nori könnte einfach so neben mir stehen. Der Gedanke, noch einmal gemeinsam mit Nori auf das Meer hinauszuschauen, weckte nostalgische Reiseerinnerungen tief in meinem Inneren. Ein leiser Seufzer atmete den Schmerz aus meiner Brust in die salzige Freiheit hinaus.

    Eine knappe Stunde sollte die Überfahrt dauern, so glaubte ich zumindest auf dem Schild in der Schalterhalle entziffert zu haben. Meine Nervosität wuchs mit jeder Sekunde, die verstrich. Inständig hoffte ich, Yoshi an der Anlegestelle zu erkennen. Aus seiner letzten Email wusste ich, dass er einen langen Zopf und einen hellen Panamahut tragen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass allzu viele Inselbewohner mit langem Haar und hellem Sonnenhut am Pier stehen würden. Im nächsten Moment wurde mir die Lächerlichkeit meiner Sorge bewusst. Ich fuhr auf eine winzige Insel im Nordwesten Okinawas. Die Vorstellung, dass Yoshi und ich uns am Hafen verpassen könnten, war angesichts der dünnen Besiedelung reichlich idiotisch. Obendrein gab es außer mir keine einzige Europäerin an Bord. Es war nicht nur zu erwarten, sondern sogar absolut sicher, dass Yoshi und ich uns finden würden. Naja…für den Notfall habe ich seine Adresse und ein Taxi wird es wohl geben…, dachte ich und stützte meine Ellbogen auf das Geländer der Reling. Meine absurden Gedanken führten mir vor Augen, wie lange ich nicht mehr einfach so ins Blaue hinein verreist war. Über solche Banalitäten hatte ich mir früher nie Gedanken gemacht.

    Okinawa Mainland war längst aus meinem Sichtfeld verschwunden. Vor dem azurblauen Horizont zeichnete sich vage die grüne Silhouette einer bergigen Insel über der Wasseroberfläche ab. Die gesamte Ostseite der Insel lag wie eine symmetrisch geformte Erhebung vor mir, eingebettet in den feinen Dunst der Tropen. In weiter Ferne sah die Insel geradezu winzig aus und ich fragte mich, ob es wirklich drei Dörfer auf so einer begrenzten Landfläche geben konnte. Das behauptete zumindest Google Maps. Vor meiner Abreise recherchierte ich im Internet, um alles Wissenswerte über Yoshis Wahlheimat zusammenzutragen. Zu meiner Überraschung war die Recherche beendet, bevor ich sie richtig begonnen hatte. Mehr als ein paar unwesentliche Auskünfte über Flächenmaße, Besiedelung, Flora und Fauna war im gesamten World Wide Web nicht aufzutreiben. Wenigstens weiß ich, wo ich einen Campingplatz und einen Zeltverleih finden kann…nur falls Yoshi es sich doch noch anders überlegt hat…, dachte ich und wunderte mich über meine eigene Skepsis. Ganz so unbegründet erschien mir mein lausiges Misstrauen allerdings nicht. Immerhin hatte Yoshi über die ganzen Jahre hinweg keinen einzigen von Noris Briefen beantwortet. Nicht das geringste Lebenszeichen hatte er von sich gegeben. Noch nicht einmal der nahende Tod seiner einzigen Schwester konnte ihn dazu bewegen, sich auch nur ein einziges Mal bei uns zu melden.

    In meiner Handtasche trug ich Noris Vermächtnis an ihren Bruder. Ich griff nach dem kleinen, dunkelblauen Päckchen, das mit bunt geblümtem Klebeband fest versiegelt war. Wenige Tage vor ihrem Tod hatte mir Nori eines Morgens ihren letzten Wunsch anvertraut. „Bitte Janne…versprich mir, Yoshi zu besuchen und ihm etwas von mir zu überreichen…", hatte sie mich mit schwachen Atemzügen gebeten. Obwohl ihr jedes Wort eine unermessliche Anstrengung abzuverlangen schien, hatte sie ihre Bitte mit einer unüberhörbaren Eindringlichkeit ausgesprochen. Ich brauchte ihr nur in die Augen zu schauen, um zu begreifen, wie wichtig mein Versprechen für Nori an jenem Morgen gewesen sein musste. Das Sterben hatte an jenem Morgen längst begonnen und mit Nori starb ein Stück von mir. Ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, hatte ich ihr mein Wort gegeben, hatte ihr versprochen, Yoshi zu besuchen, um ihm die blaue Schachtel zu überreichen.

    Niemals hatte Nori in meiner Gegenwart auch nur ein einziges böses Wort über Yoshi verloren. Sie hatte die Hoffnung nicht aufgeben, dass Yoshi plötzlich durch die Tür kommen würde, wie ein für immer verschwunden geglaubter Überraschungsgast in einer sonderbaren TV-Show. An jenem Morgen musste sie verstanden haben, dass ihr Wunsch sich nicht mehr erfüllen würde. Enttäuschung und Traurigkeit standen ihr in das blasse Gesicht geschrieben. Trotz allem blieb sie so korrekt und bescheiden, wie sie immer gewesen war. Sie schluckte die Enttäuschung zusammen mit den pastellfarbenen Pillen im Plastikbecher und spülte mit einem Schluck Wasser nach.

    Ich hatte weder eine Ahnung davon, was ich Yoshi sagen sollte, noch wusste ich, was ich ihm in der blauen Schachtel überreichen würde. Mit Sicherheit wusste ich nur eins – es gab Zeiten, da wollte ich Yoshi einfach nur am Kragen packen und seine Ignoranz mit ganzer Kraft aus ihm herausschütteln. Er war nicht greifbar und irgendwann drängte sich mir die Frage auf, ob es nicht auch etwas ganz anderes als Ignoranz gewesen sein mochte, die Yoshi dazu bewog, wie ein Unsichtbarer zu schweigen. Gar nichts wusste ich, außer dass Noris Briefe Rufe in eine gähnende Leere geblieben waren. Yoshi schien sein eigenes Leben zu führen und schließlich war ich mehr als überrascht, als er so prompt auf meine Anfrage reagierte.

    Über ein Jahr hatte ich es vor mir hergeschoben, an Yoshi zu schreiben. Eines Morgens im Frühling fasste ich einen Entschluss. Ich nahm meinen Mantel vom Haken, atmete die frische Frühlingsluft in den Straßen und machte mich auf den Weg zu Mariko, Noris Mutter. Ich konnte ahnen, wie schwer es für sie gewesen sein musste, ihren Sohn auf Noris Beerdigung nicht an ihrer Seite gehabt zu haben. An jenem Frühlingstag besuchte ich Mariko, um mit ihr über meine Pläne zu sprechen. „Mach dir nicht zu viele Hoffnungen, Janne…, warnte sie mich mit einer unendlichen Müdigkeit in den Augen und notierte mir Yoshis Email-Adresse mit grünem Kugelschreiber in meinen Taschenkalender. Selbst Mariko erhielt nicht mehr als die üblichen Standardgrüße von ihrem Sohn. „Ich habs Nori versprochen, Mariko…und selbst wenn ich auf dieser Insel jedes Haus abklappern muss…ich finde ihn…, erwiderte ich mit aller Entschlossenheit und entlockte Mariko zumindest ein sanftes Lächeln.

    Den ganzen Abend hatte ich über passende Worte gegrübelt und schließlich an einer Email an Yoshi herumgebastelt, um mich mehr oder weniger selbst einzuladen. Es war ein unglaublich befreiendes Gefühl, auf Senden geklickt zu haben. Endlich war ich einen winzigen Schritt weiter gekommen. Als mich nur zwei Tage später eine halbwegs freundliche Einladung in einem ungewöhnlich saloppen Japanisch erreichte, war meine Überraschung umso größer. So ignorant und zugeknöpft, wie ich ihn mir vorgestellt hatte, schien Yoshi gar nicht zu sein. Zumindest hieß er mich willkommen und meine Bitte verhallte nicht unerwidert im Leeren. Nun stand ich an Deck der Fähre und war so gut wie angekommen, um mein Versprechen zu erfüllen.

    Eben noch zogen sich kleine bunte Schuhschachtelhäuschen über den weit entfernten Südhang des kleinen Eilands. Während ich gedankenversunken an der Reling lehnte und meinen Erinnerungen nachhing, hatten sie sich klammheimlich in richtige Gebäude mit Fassaden, Fenstern und Gärten verwandelt. Ziegelrot leuchteten die Dächer der Häuser vor dem satten Grün dicht bewaldeter Hügel. Endlich wurde die Insel lebendig vor meinen Augen, zeigte mir ihr Gesicht. Die farbigen Punkte vor dem Hafengebäude waren zu bunt gekleideten Menschen geworden, die mit erhobenen Armen winkten und dem Schiff wartend entgegenblickten. Mit gedrosselter Maschinenleistung nahm die Fähre langsam und behäbig Kurs in das Hafenbecken. Kaum hatten wir die Hafenmauern passiert, stieß das Horn ein langgezogenes, tutendes Signal aus, nur um das weiße Monstrum von Schiff anzukündigen, dem ohnehin jeder am Hafen voller Ungeduld entgegenblickte.

    Meine Augen wanderten über jeden der Wartenden hinweg, versuchten vergeblich einem jungen Mann mit Panamahut auszumachen. Vielleicht hat er den Hut vergessen…oder er hat es sich in letzter Minute anders überlegt…, schoss es mir durch den Kopf. Immerhin hatte er keine Skrupel, Nori mit ihrer Bitte um ein letztes Wiedersehen am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen. Es war Yoshi zuzutrauen, so kurz vor meiner Ankunft die Flucht nach hinten zu ergreifen, das sagte mir mein sechster Sinn. Schon wieder stieg der Groll in mir auf, als ich die Metalltreppen zum Ausgang der Fähre hinunterstieg.

    Ein beklemmendes Gefühl beschlich mich. Es war das Gefühl, von niemandem erwartet zu werden und in weniger als zwei Minuten ganz alleine mit meinem karierten Koffer zwischen all den glücklichen Menschen zu stehen. Betrübt zog ich meinen Rollkoffer hinter mir her und lief die Ausstiegsrampe hinunter. Wie befürchtet, schien niemand nach einer Fremden mit hellem Haar Ausschau zu halten. Na großartig…das kann ja heiter werden…, dachte ich und sah mich noch einmal hilflos um. Verloren stand ich in der Menschenmenge und sah all die glücklichen Gesichter an mir vorbeiziehen. Um mich herum freuten sich Menschen überschwänglich, wieder vereint zu sein. Fröhliche Männer und Frauen nahmen den Angekommenen das Gepäck ab und verstauten es in ihren Fahrzeugen. Mütter schlossen ihre Kinder in die Arme und Freunde jubelten aufgekratzt über das Wiedersehen.

    Ich hasste Reinfälle dieser Art und die Tatsache, gerade irgendwo am Ende der Welt versetzt zu werden, ließ mich innerlich fast explodieren. Mit grimmiger Miene und wüsten Verwünschungen im Kopf stand ich wie bestellt und nicht abgeholt neben meinem Koffer, bis sich die Menschenmenge um mich herum langsam aber sicher auflöste. Nur ich ganz allein blieb zurück am Hafen, stand vor der leeren Fähre, wie bestellt und nicht abgeholt. „Verdammte Sch…, zischte ich wutentbrannt und trat erzürnt in meinen Koffer. Mariko hatte mich vor der Unzuverlässigkeit ihres Sohnes gewarnt. Naiv wie ich war, hatte ich es verdient, so blind ins Messer zu laufen. Ratlos raufte ich mir die Haare, als plötzlich ein hagerer Kerl mit kurzem Bürstenschnitt vor mir stand. „Bist du Janne…Janne Olsen?, fragte mich der Fremde mit undeutlicher Stimme, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen, die Hände aus den Taschen seiner labbrigen Hose zu nehmen.

    „Yoshi?, entgegnete ich skeptisch und scannte den dürren Kerl von Kopf bis Fuß ab. Er entsprach kein bisschen der Beschreibung, die Yoshi mir von sich selbst geschickt hatte. Andererseits schien er um meine Japanischkenntnisse zu wissen und versuchte es erst gar nicht mit Englisch. „Ah…nein…nicht Yoshi…ich bin Tatsu…ich soll dich abholen…, erklärte mir der Mann in den schlabbrigen Hosen und deutete mit einer sparsamen Geste auf einen hellblauen Mini-Transporter mit rostigen Beulen, die mir schon von weitem ins Gesicht sprangen. „Okay…und ich dachte schon…, murmelte ich und war erleichtert, dass überhaupt irgendjemand auf der Insel am Ende der Welt auf mich gewartet hatte. „Ein Tank ist kaputt…in der Fabrik…also Yoshi repariert noch dran…, erklärte er mir, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Eine Fabrik…mitten im Paradies…, dachte ich und konnte mich nicht entsinnen aus der Ferne so etwas wie rauchende Schlote gesehen zu haben. Irritiert zuckte ich mit den Achseln und beschloss, die Dinge auf mich zukommen zu lassen.

    Mit seinen dunkelbraunen, hageren Armen griff Tatsu nach meinem Koffer und trug ihn zum Wagen. Von den Rollen, über die mein Trolley verfügte, nahm er erst gar keine Notiz. Er stieß ein ächzendes Stöhnen aus und wuchtete das Gepäck hinten auf die Ladefläche seines Pickups. Dort landete mein Koffer auf einem schmutzigen Haufen verhedderter Fischernetze und anderen Gegenständen, die ich nicht zu identifizieren vermochte. „So, dann mal los…", kündigte er an und öffnete mir die Beifahrertür. Dankbar stieg ich in den Wagen und lehnte mich zurück. Den Gedanken, dass mein Koffer nach dieser Fahrt stinken würde wie ein alter Fischkutter, schob ich beiseite. Was solls…, dachte ich und zog am Gurt, um mich anzuschnallen.

    „Zigarette?, fragte Tatsu und hielt mir eine rot-weiße Schachtel mit Seepferchen-Print hin, während er lässig mit einem Arm die Ausfahrt hinaus steuerte. „Danke…aber ich rauch nicht mehr…hab vor zwei Jahren aufgehört…, gab ich ihm zu verstehen und hoffte, er würde nicht jeden Moment den Wagen vollqualmen. „Aufgehört? Das gibt’s auch? Er warf mir einen zwiespältigen Blick von der Seite zu. „Naja…es gab gute Gründe dafür…, entgegnete ich, ohne die Absicht, ihm auch nur einen einzigen davon anzuvertrauen. „Aha…verstehe…aber…warum spricht eine Fremde so gut Japanisch?", wollte Tatsu schließlich wissen.

    „Naja…ich habe im Studium etwas Japanisch gelernt…aber hauptsächlich von meiner Freundin…also von Yoshis Schwester…, antwortete ich ganz der Wahrheit entsprechend. Ich bemerkte Tatsus neugierigen, spitzen Blick und sah, wie er die Brauen nach oben zog. „Aha…mhh hmm…, grummelte er kurz angebunden vor sich hin und starrte weiter nach vorne auf die Straße. „Nun ja…wirklich gut ist mein Japanisch nicht…und mit dem Lesen hapert es ehrlich gesagt auch…, spielte ich meine Sprachkenntnisse auf ganz japanische Art und Weise herunter. „Mhh…, brummte Tatsu und sah mich noch einmal skeptisch an. Er zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt, wie gut ich die typisch japanische Selbstdegradierung beherrschte. Ich entschied mich dafür, erst einmal den Mund zu halten und sah schweigend zu, wie die ziegelroten Felswände mit den kleinen knorrigen Bäumen an uns vorbeizogen. Die kurvige Straße führte am Meer entlang über die karge Felsenlandschaft.

    „Wahnsinn…das ist ja ein gigantischer Ausblick…, staunte ich irgendwann fasziniert und betrachtete von dort oben den türkisblauen Saum, der sich wie eine Sichel um die halbe Insel zog. Tatsu nickte kurz und stieß eine Art bejahenden Grunzlaut aus. „Überall Riffe…, bemerkte er ein wenig wortkarg und ich spürte, dass sein Wunsch nach Unterhaltung über Ästhetisches damit offenbar gedeckt war. Ganz unbedarft zeigte er mit ausgestrecktem Mittelfinger nach vorne und grummelte vor sich hin. „Da unten…da ist das Dorf…", ließ er mich schließlich wissen und lenkte seine Rostlaube mit einer Hand am Steuer um die Kurve, ohne seinen Fuß auch nur für eine Sekunde auf die Bremse zu bemühen.

    Hinter einer Reihe sattgrüner Zuckerrohrfelder erstreckte sich eine Siedlung, wie eine Ansammlung kleiner weißer Spielzeughäuschen mit ziegelroten Dächern bis zu einer fast symmetrisch geschwungenen, halbmondförmigen Bucht. In kräftigem Türkisblau leuchtete mir das vorgelagerte Riff im Schutz der weißen Sandbucht entgegen. Dort unten lebte also Noris Bruder, dort war er durch die Straßen gelaufen, während seine Schwester fünfzehn Flugstunden weit weg die Welt jeden Tag ein bisschen mehr verließ. Vielleicht stand Yoshi dort unten in der Bucht, als Nori starb und blickte hinaus aufs Meer. Ein seltsames Gefühl ergriff mich, wie eine Art von bitterer schmeckender Nostalgie, ohne die dazugehörige Vergangenheit. Ich war gespannt auf Yoshi, freute mich mittlerweile sogar ein wenig auf die Begegnung mit ihm und gleichzeitig ängstigte mich die Vorstellung, einem Ebenbild von Nori gegenüberzutreten.

    Das einzige große Gebäude, das es in der Gegend zu geben schien, lugte wie eine Lagerhalle mit hohen Fenstern ebenso stattlich wie hässlich hinter einem dichten, sattgrünen Waldabschnitt hervor. „Ein ziemlich großer Zementbau mit Meerblick…, bemerkte ich, vor allem um das stoische Schweigen im Auto zu beenden. Tatsu schien mir nicht der gesprächigste Zeitgenosse zu sein und ein schweigsames Nebeneinander mit mir beeindruckte ihn offenbar in gar keiner Weise. „Das ist die Fabrik…, erwiderte er, ohne ein Wort zu viel zu verlieren.

    „Die Fabrik, in der Yoshi arbeitet? Neugierig versuchte ich im Vorbeifahren etwas vom Fabrikgelände hinter den Sträuchern zu erkennen. „Genau…Mosuku…, sagte Tatsu noch knapper als vorhin. „Mosuku? Es kam nicht mehr so häufig vor, dass ich einen japanischen Begriff überhaupt nicht einzuordnen wusste. Von Mosuku hatte ich allerdings noch nie im Leben gehört. „Eine Art von Seetang…den gibt’s nur hier…frag Yoshi…, half er mir auf die Sprünge und warf einen Blick auf die Zeitanzeige über dem Schalthebel. „Er wird so wie so schon zu Hause sein…", fügte er schließlich wie in einer Art von Selbstgespräch hinzu. Sich noch weiter mit mir zu unterhalten, kam ihm gar nicht in den Sinn.

    Die erste Fahrt durch das kleine Fischerdorf war so faszinierend und aufregend, dass ich gar nicht wusste, wohin ich zuerst sehen sollte. Enge holprige Straßen führten durch Reihen von bunten, traditionellen Häuschen, umgeben von tropischen Gärten und anthrazitgrauen Mauern aus versteinerten Korallenbrocken. Hie und da zierten riesige weiße Schneckenmuscheln oder pinkfarbene Drachenfrüchte an emporwachsenden Kakteen das dunkelgraue Korallengestein. Ich bestaunte die kunstvollen Ziegeldächer auf den flachen Häusern und verspürte schon bei der Ankunft die Lust, das Dorf zu erkunden. In satten Rottönen leuchteten die rundlichen Schindeln in der Sonne. Ihr kräftiges Orangerot sorgte unter dem azurblauen Himmel für einen wunderbaren Kontrast, an dem ich mich gar nicht sattsehen konnte. Meine Seele war soeben dabei, die Farben der Welt wiederzuentdecken. So viele Farben waren mir seit langer Zeit nicht mehr aufgefallen.

    Fast die ganze Straße hatten wir hinter uns gelassen, als Tatsu endlich vor einem pastellgelben Haus mit schlichten, blauen Dachziegeln hielt. Auf dem Weg durchs Dorf waren mir sogar einige Häuser mit weißen Dächern aufgefallen, ein blaues Dach schien es allerdings nur einmal zu geben. Mit dem blauen Dach ist das Haus auf jeden Fall leicht wiederzufinden…, dachte ich im Stillen, während Tatsu die Einfahrt hinein fuhr, um im Garten zu parken. Der hagere Tatsu pfiff durch die Zähne und sprang in einem Satz aus dem Wagen. „Yoshi! Yoshiiiii! Dein Besuch ist hier…", rief er lauthals durch den Garten. Ohne auf eine Antwort zu warten, hievte er mein Gepäck von der Ladefläche und stellte es vor die weit geöffnete Eingangstüre.

    Yoshis lichtdurchflutete Küche lag offen vor uns, wie eine unausgesprochene Einladung einzutreten und es sich gemütlich zu machen. Doch trotz der offenen Türen wirkte das Haus leer und von Yoshi fehlte jede Spur. „Noch nicht da…, grummelte Tatsu und setzte sich auf eine orangefarbene Bierkiste im Garten. „Na, weit kann er nicht sein…immerhin steht das Haus sperrangelweit offen…, wunderte ich mich. Tatsu grinste süffisant und musterte mich von Kopf bis Fuß. „Das bedeutet nichts…hier schließt man nichts ab…, klärte er mich auf und zog mit Hingabe an der glühenden Zigarette. Irritiert starrte ich ihn an. „Wirklich keine?, fragte er nur und hielt mir abermals die zerbeulte Schachtel hin. „Nein danke…wirklich nicht…", erwiderte ich gereizt, ließ mich auf dem schmalen Holzsteg vor dem Hauseingang nieder und betrachtete verdutzt die weit offenen Türen.

    „Das Leben hier ist einfach…deshalb gibt es auch keine Kriminalität…, setzte mich Tatsu über den Hintergrund der offenen Türen ins Bild und sah nervös auf die Uhr. Der Gedanke, dass es auf dem Planeten tatsächlich einen Ort ohne Kriminalität geben sollte, faszinierte mich. „Also irgendwie ein Paradies…, sagte ich und streckte meine müden Beine aus. Tatsu zuckte die Achseln. „Kann sein…vielleicht. Sein zerfahrener Blick wanderte immer wieder über die Hofeinfahrt und zurück. Mürrisch zog er schließlich sein Handy aus der Hosentasche und strich hastig mit dem Finger über das Display. „Was ist da los in der Fabrik…, murmelte er vor sich hin und tippte eine kurze Nachricht in sein Handy.

    Es war offensichtlich, dass Tatsu auf Kohlen saß, egal ob er nun gleich eine andere Verpflichtung haben mochte oder mich und meine Gesellschaft einfach nur schnellstmöglich loswerden wollte. Besonders scharf auf ein Gespräch mit mir war er jedenfalls nicht, so viel hatte ich begriffen. „Du musst nicht unbedingt mit mir warten, wenn du es eilig hast…ich komme klar. Erstaunt sah er mich an und räusperte sich verlegen. Die coole Machoaura, die den wortkarten Tatsu eben noch umgab, war mit einem Mal verflogen. „Eh…ja…oder nein…also…es ist nur meine Frau…, erwiderte er fast so kleinlaut wie zerknirscht. Sein Tonfall verriet mir, dass es für ihn im Moment wohl nichts anderes als die Wahl zwischen Pest oder Cholera zu geben schien. Die Vorstellung, sich auf den Heimweg zu seiner Frau zu machen, zeichnete ihm ebenso wenig Begeisterung ins Gesicht, wie die lästige Pflicht, mit mir im Garten herumzusitzen, um auf Yoshi zu warten.

    „Du brauchst deine Frau nicht warten zu lassen…Yoshi kommt bestimmt jede Minute…, sagte ich und rang mir ein höfliches Lächeln ab. „Wenn es nichts ausmacht? Er warf mir einen prüfenden Blick zu. „Es ist okay…keine Sorge…hier klaut mich ja keiner…, sagte ich und bemerkte den Anflug von Grinsen um seine Mundwinkel. Er drückte seine Zigarette auf einem Ziegel aus und seufzte. „Puh…sie versteht keinen Spaß, wenn ich sie den ganzen Fischfang allein putzen lasse…, verriet er mir mit zerknittertem Gesichtsausdruck.

    „Kann ich irgendwie verstehen…, erwiderte ich und stellte mir eine zierliche Japanerin mit pinkfarbenen Gummihandschuhen und gelben Gummistiefeln vor. Wie in einem schlechten Film, sah ich sie verzweifelt und angewidert in einem Haufen toter Fische stehen. Ich wollte nicht mit ihr tauschen und spürte, wie der aufsteigende Ekel meinen Körper einmal von oben bis unten durchschüttelte. „Also dann! Tatsu verabschiedete auf seine wortkarge Art und stieg mit lustlosem Gesicht in seinen hellblauen Pickup. Der Wagen verschwand schon im nächsten Augenblick röhrend hinter den rot blühenden Hibiskusbäumen. Ein Loch im Auspuff…, dachte ich und blieb allein im Garten zurück.

    Als ich so allein in der Stille des Gartens stand, begann mein Herz mir vor Aufregung bis in den Hals hinauf Hals zu schlagen. Ich versuchte, mich abzulenken und spazierte ein wenig herum. Von außen betrachtet versprach Yoshis Zuhause eine Portion natürlich gewachsenes Chaos und strahlte das Flair eines typischen Junggesellenhaushalts aus. Sobald ich von draußen auf die bunt gestapelten Kochtöpfe, auf die unzähligen kleinen Döschen, Schälchen und Körbe sah, wirkte das Haus auf mich wie ein sympathischer, hübscher Ort mit ausreichend Platz für zwei. Ich fragte mich, ob Yoshi tatsächlich allein lebte, oder ob es in seinem Haus noch jemanden gab. In seinen wenigen Emails verlor er kein Wort darüber, ob es noch einen Menschen in seinem Leben gab.

    Die Papayabäume in Yoshis Garten trugen dicke, runde Früchte. Manche der überreifen, gelben Früchte erschienen mir schon drauf und dran, jeden Moment vom Stamm zu fallen. Nur wenige Male im Leben hatte ich süße, voll reife Papaya genossen und umso mehr wunderte ich mich darüber, dass niemand die köstlichen Früchte zu ernten schien. An die Rückseite des Hauses grenzte ein saftig grünes Zuckerrohrfeld. Die hochgewachsenen Pflanzen überragten mich noch um zwei Köpfe und bewegten sich sanft im Wind. Ich war so beeindruckt von der einzigartigen Idylle in Yoshis Garten, dass ich gar nicht hörte, als ein Auto in die Einfahrt rollte. Erst das laute Zuschlagen einer Wagentür ließ mich mitten in der Stille aufschrecken.

    Die Befürchtung, sogleich beim Herumspionieren ertappt zu werden, brachte mich dazu, mit einem Schritt zur Seite hinter einem Hibiskusstrauch zu verschwinden. Vorsichtig lugte ich durch die Zweige und spähte in den Hof. Neben einem hellgrünen Suzuki erkannte ich einen hochgewachsenen, schlanken Japaner mit Strohhut und gestreiften Bermudas. Sein schlaksiger Gang wirkte beinahe komisch und auf eine gewisse Weise unsicher. Der Mann im Hof konnte nur Yoshi sein, da war ich mir ziemlich sicher. Sogar das lange, zum Zopf gebundene Haar passte zu der Beschreibung, die ich von Yoshi hatte.

    Während er sich am Kofferraum seines hellgrünen Suzukis zu schaffen machte, versuchte ich angestrengt, sein Gesicht zu erkennen. In mir bohrte die Frage, wie ähnlich Yoshi wohl seiner Schwester war, ob ich in seinem Gesicht gleich Noris Züge wiedererkennen würde? Aus meinem Versteck heraus beobachtete ihn dabei, wie er Kartons aus dem Kofferraum hob und vor dem Hauseingang abstellte. Sein Blick fiel unmittelbar auf mein Gepäck. Er näherte sich meinem Koffer, ließ seine Augen über das Grundstück wandern, bis er direkt in meine Richtung sah. Als er mir so entgegenblickte, fiel mir auf, wie kantig sein Gesicht um die Kinnpartie war. Auch Yoshis Mund war deutlich breiter und schmaler geschwungen als der seiner Schwester.

    Eine ganze Weile stand er mit suchenden Blicken neben meinem karierten Koffer. Jetzt nur nicht rascheln oder niesen…, dachte ich und machte mich in meinem Versteck so klein, wie es mir nur irgend möglich war. Endlich hob er einen der Kartons hoch und verschwand damit im Haus. Jetzt Janne…gib dir einen Ruck…, fuhr es mir durch den Kopf. Unbeholfen sprang ich in einem Satz hinter dem Strauch hervor, just in dem Moment, als Yoshi wieder aus der Küche in den Garten kam. Wie es der Teufel haben wollte, stolperte ich geradewegs über einen dunkelgrünen Rechen, der perfekt getarnt wie ein Chamäleon im hohen Gras lag. Mein Schnürsenkel musste sich in den Zinken des Rechens verfangen haben und so segelte ich geradewegs im flachen Anflug in den Rasen.

    Als hätte er Wurzeln geschlagen, stand Yoshi regungslos im Hof und starrte mich mit weit aufgerissenem Mund an. Ich konnte spüren, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Wie eine Tomate musste ich ausgesehen haben, als ich mit weit von mir gestreckten Armen auf dem Boden lag. Am liebsten wollte ich direkt in der Erde versinken, an Ort und Stelle. Langsam rappelte ich mich auf und sah an meiner Hose hinunter. Zwei sattgrüne Flecken und der Abriss von Grasbüscheln zierten meine Knie und selbst im Gesicht hingen mir vertrocknete Grashalme. Als wäre ich soeben über einen Trainingsplatz der Bundeswehr gerobbt, versuchte ich mich vom Gras zu befreien und bemühte mich obendrein um ein entschuldigendes Grinsen. Es hätte mich nicht einmal gewundert, wenn mein Gegenüber hemmungslos in schallendes Gelächter ausgebrochen wäre, doch Yoshi stand nur regungslos vor mir und glotzte mich an.

    „Hallo…, faselte ich und zupfte mir die letzten losen Grashalme von der Hose. „Janne Olsen? Mit erstauntem Gesicht kam er direkt auf mich zu. „Willkommen…ich bin Yoshi…, sagte er mit unerwartet weicher Stimme und streckte mir, wie viele Japaner, wenn sie Fremden aus dem Westen begegneten, die Hand entgegen. „Freut mich ebenfalls…also…tut mir echt leid, dass ich hier so…, stammelte ich verlegen herum und verfluchte insgeheim meine eigene Schusseligkeit. „Ähh ja…nein…ich muss mich entschuldigen…ich bin unpünktlich…, erwiderte Yoshi verlegen und musterte mich von Kopf bis Fuß. „Ähm…ja…da ist eine Toilette zwischen Haus und Schuppen…, fügte er so verhalten hinzu, als wollte er den Hinweis so schnell wie er ausgesprochen war, wieder im toten Winkel präkerer Unerhörtheiten verschwinden lassen. Jetzt wollte ich endgültig im Erdboden versinken.

    „Nein nein…ich meine…also ich wollte nur…ach egal…", suchte ich nach Worten, um mich zu rechtfertigen und ließ es im nächsten Moment bleiben. Es war nicht schwer einzusehen, dass meine Ankunft sich durch nichts mehr in ihrer Peinlichkeit überbieten ließ. Der Fettnapf war zu groß, um sich einfach so, mit Elan und Leichtigkeit aus der Nummer herauszumanövrieren. Die Tatsache, Yoshi durch das Gebüsch hindurch heimlich beobachtet zu haben, war ebenso lächerlich und absurd, wie seine Interpretation der Dinge. Sollte er doch glauben, was er wollte.

    „Ah…ja…es tut mir wirklich leid, dass ich dich warten ließ…, entschuldigte er sich und musterte mich erneut mit einer zwiespältigen Befangenheit. „Kein Problem, ist schon okay…Tatsu hat mich gut hergebracht. Ich bemühte mich, so normal wie möglich zu klingen und hoffte, der erste Eindruck war nur halb so bedeutungsvoll, wie die Menschheit ihn normalerweise einstufte.

    Yoshi nickte immer noch verlegen und vergrub seine Hände so tief es ging in den Hosentaschen. Noch immer standen wir im Garten und Yoshi benahm sich beinahe so, als hätte er seit einem halben Jahrzehnt keinen Gast mehr empfangen. „Es ist…also…ich arbeite da vorne in der Mosuku-Fabrik und da…da funktioniert jeden zweiten Tag etwas nicht…, brachte er unnötigerweise zu seiner Entschuldigung vor. „Wirklich…es ist okay…ich habe die Fabrik sogar auf der Herfahrt gesehen…, erwiderte ich und hoffte, wir würden uns bald irgendwo setzen. „Sie ist alt, die Fabrik…aber eine der wenigen Fabriken, in der Mosuku gezüchtet wird…es schmeckt ausgezeichnet." Yoshi griff sich meinen Koffer und gab mir einen Wink, ihm zu folgen. Mit grasgrünen Knien lief ich hinter ihm her und sehnte mich danach, die Relikte meines Missgeschicks möglichst rasch in Seifenlauge einzuweichen.

    „Hmm…ich hab noch nie Mosuku gegessen…und auch noch nie davon gehört…, musste ich zugeben. Sobald die Sprache auf Mosuku, das mysteriöse Algenprodukt kam, wurde Yoshi augenblicklich locker und entspannt. Er schien in seinem Element zu sein. „Du wirst es bald kennenlernen…mit und ohne Kimuchi…frittiert, in der Misosuppe und…ja…einfach so…, kündigte er mit begeistertem Gesicht an. „Aha…okay…dann bin ich wirklich gespannt…, erwiderte ich und atmete erleichtert auf. Mein peinlicher Aufritt schien dank der mysteriösen Algen vorerst vergessen zu sein.

    „Ja dann…nochmal willkommen in meinem Haus…es ist etwas schlicht hier…und nicht grade groß…aber naja…für mich ist es genug…, sagte Yoshi mit betonter Bescheidenheit. „Och…es ist total hübsch…wirklich…und du hast ein ganzes Haus für dich allein…sogar mit Garten…ich finds traumhaft. Yoshis Zuhause gefiel mir auf Anhieb und ich konnte mir vorstellen, dass es sich auf der Insel wunderbar leben ließ, im Vergleich zu Orten wie Tokyo. Das kleine, traditionelle Haus strahlte so eine ursprüngliche Gemütlichkeit aus, wie ich sie lange nicht mehr wahrgenommen hatte. „Hier auf der Insel ist das die typische Art zu leben…so etwas wie Mietwohnungen kennen die Leute hier nicht…", erklärte mir Yoshi.

    „Da versäumen sie wohl nichts…diese Häuser hier, die sind einfach genial…der Hammer." Ich war hingerissen von der schlichten Holzbauweise, von den rötlich-braunen Balken, in welche raffinierte Schienen für die blütenweißen Papierschiebetüren - in Japan Shôji genannt - eingearbeitet waren. Die Küche und der Flur zum Badehäuschen waren die einzigen Räume, die mit einem glatt geschliffenen, tiefbraunen Holzboden versehen waren. Alle anderen Räume waren bis zum hintersten Winkel mit dunkelgrün gesäumten Tatamimatten ausgelegt. Sobald die Shôjis im vorderen Bereich des Hauses geöffnet waren, gab es nur einen einzigen großen Tatami-Raum. Erst wenn man die mit Papier bespannten Holzschiebetüren schloss, wurden aus dem großen Raum zwei kleine Zimmer.

    Yoshi zog die Shôjis zu und zeigte mir mein Zimmer, direkt hinter der Papierwand. Auf der rechten Außenseite meines Schlafplatzes erwartete mich eine entzückende kleine Holzveranda, unmittelbar hinter der Schiebetür. In die Stirnseite des Tatamizimmers waren eine dunkel lackierte Holznische und ein Regal in die Wand eingelassen. Im ganzen Raum gab es nur ein einziges Möbelstück, das nicht ein fest integrierter Bestandteil des Hauses war. Nur der schwarze Lacktisch, unter dem ein Satz blauer Sitzkissen verstaut war, ließ sich willkürlich und frei bewegen. Von der Veranda aus blickte ich direkt auf die hochgewachsenen Papayabäume mit ihren überreifen Früchten. „Es ist nicht sehr komfortabel und recht einfach…aber wenn du möchtest, kannst du dieses Zimmer bewohnen…, sagte Yoshi und zeigte mir, wie sich die Papierschiebetüren in weniger als einer Minute hin und her bewegen ließen. „Und ob ich will…es ist großartig Yoshi…wirklich wunderbar…, sagte ich und war im Geiste schon dabei, meine Sachen in die Regalfächer einzusortieren.

    Yoshi verschwand für einen Moment und schleppte einen Futon, ein kleines Kissen und eine Decke herbei. „Kannst du auf Futon schlafen?, wollte er wissen und sah mich mit skeptischer Miene an. „Aber sicher…Nori und ich…wir hatten jahrelang ein Futonbett…, erwiderte ich aus meiner Spontaneität heraus und spürte plötzlich so etwas wie einen unsichtbaren Widerstand, sah etwas wie Erschütterung in Yoshis Gesicht aufblitzen. Hastig senkte er den Blick und stapelte hektisch die Bettwäsche auf dem zusammengerollten Futon, als wollte er sich der Aura des Gesagten entledigen. Im nächsten Moment bedauerte ich, so unbedacht drauflos gesprochen zu haben. Ich genierte mich wieder einmal für meine typisch westliche Spontanität.

    Was wenn ich mich die ganze Zeit nur getäuscht habe? Was wenn Noris Erkrankung und ihr Tod ihn doch so schwer getroffen hatten, dass er es einfach nicht fertigbrachte, nach Deutschland zu kommen…, grübelte ich vor mich hin. Für einen Augenblick glaubte ich sogar an meine fadenscheinige, dürftige Erklärung. Vielleicht wollte ich auch nur daran glauben, um Yoshi und mir den Start zu erleichtern. „Tut mir leid…ich wollte nicht…also…, faselte ich reichlich betreten und schuldbewusst, ohne Yoshi ins Gesicht zu schauen. „Schon gut…mach dir keine Gedanken…, erwiderte er und die sonderbare Kälte in seiner Stimme berührte mich wie eisiger Wind. Von einer einzigen Sekunde auf die andere hatte sich sein Gemüt eigenartig verfinstert, so als hätte ich ein Tabu angesprochen.

    Er weiß doch, warum ich hier bin und er weiß auch, dass ich Nori geliebt habe…, dachte ich und fühlte die Verzweiflung in mir aufsteigen. Ich war noch keine Stunde in Yoshis Haus und ahnte, dass ich dem seltsamen Bruch zwischen Nori und ihrem Bruder schon nach meiner Ankunft gefährlich nahe gekommen war. Mir war, als hätte ich in meiner Unbedachtheit auf einen fauligen Zahn geklopft. Yoshi blieb korrekt, er reichte mir zwei Handtücher und zwang sich zur japanischen Höflichkeit. Er lächelte sogar und ich musste zugeben, ihm trotz aller Verwunderung dankbar dafür gewesen zu sein. „Danke…", brachte ich gerade noch über die Lippen und versuchte ebenso unbefangen zu lächeln. Irgendwie fühlte ich mich schuldig, obwohl ich noch nicht einmal genau wusste wofür.

    „Aber jetzt…vielleicht noch das Badezimmer…du willst bestimmt duschen. Yoshis Stimme klang wieder so ruhig und freundlich wie zuvor, die Kälte war wie weggefegt. „Stimmt…ich glaube, ich rieche nicht mehr so gut, nach der halben Ewigkeit im Flieger…, entgegnete ich und schnupperte unauffällig an meinem Oberarm.

    „Ehm…also…das Bad ist nicht direkt im Haus, es ist daneben…, erklärte mir Yoshi und nestelte verlegen an seinem Zopf herum. Es schien eine Angewohnheit zu sein, so als wollte er sich in Momenten der Unsicherheit an seinem eigenen Haarschopf festhalten. „Okay…Hauptsache es gibt dort Wasser und Seife…, sagte ich lachend und folgte ihm über den schmalen Gartenpfad in das Badehäuschen.

    „Und…du brauchst keine Angst zu haben, wenn du nachts hier draußen über den Hof gehst…es gibt hier keine Habu…!, verkündete er schließlich bestätigend, so als hätte er mir gerade eine besonders erfreuliche Nachricht überbracht. „Habu? Was ist Habu?, fragte ich, ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, wovon Yoshi sprach. „Ah…ah so…naja…Habu, das sind die nachtaktiven Giftschlangen…also drüben auf der Hauptinsel haben sie Unmengen davon…, erklärte er mir trocken und strich sich wieder über den Hinterkopf. „Aha? Okay! Der Gedanke an Giftschlangen jagte mir selbst in der schwülen Hitze einen eiskalten Schauer über den Rücken. „Und du sagst, die gibt’s hier sicher nicht!?, hakte ich forschend nach und versuchte in Yoshis Gesicht zu lesen. Ich hoffte, er trieb keine Scherze mit einer Fremden, die eben grade angekommen war. „Nein…keine Sorge…wirklich! Auf dieser Insel gibt es keine Giftschlangen und andere…na…die wirst du nicht zu Gesicht bekommen! Yoshi nickte kurz, um seiner Äußerung Nachdruck zu verleihen. „Okay…dann hoffen wir nur, die Viecher wissen das." Mein Blick fiel auf das Zuckerrohrfeld hinter der Mauer. Ich beschloss, lieber nicht wissen zu wollen, welches Getier sich zwischen den hohen, dichten Pflanzen tummelte.

    Das Badezimmer erinnerte an eine Art Bubble-Gum-Welt aus der Kindheit. Ich musste schmunzeln, als ich mich in Yoshis rosarotem Badehäuschen umsah. Die Badezimmerkacheln hatten etwas Blumiges, das zusätzlich von ungefähr drei Dutzend leicht vergilbten Kirschblütenaufklebern unterstrichen wurde. Yoshi klärte mich über die Tücken seines alten Boilers auf und ließ mich schließlich allein. Ich streifte mir die verschwitzen, schmutzigen Kleider vom Leib und ließ mir das lauwarme Wasser auf den Rücken prasseln. Langsam wurde das Wasser in der Leitung kühler und ich empfand die kalte Erfrischung als eine echte Wohltat an so einem entsetzlich heißen Tag. Zu Hause hasste ich nichts mehr, als kalte Duschen, auf Okinawa wollte ich mich augenblicklich damit anfreunden.

    Ich konnte nicht leugnen, wie erleichtert ich darüber war, in Yoshis Gesicht auf den ersten Blick nicht die geringste Ähnlichkeit mit Nori zu entdecken. Von Noris feinen Gesichtszügen, ihren weich geschwungenen Lippen und den kleinen mandelförmigen Augen fand ich in Yoshis Gesicht keine Spur. Yoshis Nase war auffallend flach und breit, seine Augen hübsch geschwungen, aber dennoch deutlich größer als die von Nori. Es war seine Mutter Mariko, der Yoshi verblüffend ähnlich sah, fast wie aus dem Gesicht geschnitten. Er hatte Marikos großen Mund und ein ebenso kantiges Kinn.

    Auf den zweiten Blick erinnerte mich Yoshis Lachen ganz plötzlich an Nori. Es lag so etwas Verschlagenes und Freches darin, gepaart mit einer Portion Undurchschaubarkeit und Scheue. Manchmal warf mir Nori genau denselben Blick zu. Es war die eigenwillige Mischung aus Lachen und Grinsen, die ich nach ihrem Tod noch so oft vor mir sah. Für mich verkörperte genau jene Mischung so eine gewisse charmante Unverschämtheit eines in Wirklichkeit scheuen, verletzlichen Charakters. Nori wusste um ihren bezaubernden Reiz und sie liebte es, damit zu spielen.

    Nun verwirrte es mich etwas, um Yoshis Mundwinkel dasselbe Spiel zu erkennen, das kurz aufflackernde Grinsen, das seinem Gesicht denselben unverschämt-scheuen Ausdruck verlieh, den ich an Nori so unwiderstehlich fand. Es muss doch etwas gegeben haben, das diese Geschwister früher einmal verbunden hat…, dachte ich und schäumte mich mit dem zart duftenden Lavendelduschgel ein. Der frische Duft berührte mein Gemüt, er munterte mich auf und streichelte meine ersten Zweifel sanft einfach weg. Ich war angekommen, auf Yoshis Insel und jetzt musste ich eben das Beste aus meinem Besuch machen, das hatte ich Nori versprochen. Endlich hatte ich die Gelegenheit, einen Teil aus ihrem Leben kennenlernen, der mir bisher immer verborgen geblieben war.

    Mit dem Handtuch als Sarong um den Körper gewickelt, lief ich zurück in mein Zimmer und nahm mir frische Klamotten aus dem Koffer. Auf O-kinawa herrschten wunderbar hochsommerliche Temperaturen und so entschied ich mich für ein weißes Leinenhemd, zusammen mit hellbeigen Shorts aus dünner Baumwolle. Es fühlte sich an, wie Urlaub und wieder wurde mir bewusst, dass es so etwas in meinem Leben schon lange nicht mehr gegeben hatte. Helle Sommerbekleidung zu tragen, ohne doch wieder ein wenig zu frösteln, sobald die Sonne für einen Augenblick ihr Gesicht verbarg, das war wunderbar. Mit ein paar kurzen Strichen kämmte ich mir das nasse Haar nach hinten und machte mich auf den Weg in die Küche. Ich muss Yoshi einfach ein bisschen Zeit geben…immerhin habe ich ihn wie aus heiterem Himmel hier überfallen…, dachte ich und beschloss, Yoshi selbst das Tempo bestimmen zu lassen. Ich hoffte, er würde sich bald von selbst öffnen, neugierig werden und mit mir über Nori reden.

    Als ich die Küche betrat, war ich nicht wenig überrascht, Yoshi mit einem bunten Kopftuch und rot-weißer Hüftschürze am Herd stehen zu sehen. Über einen riesigen Kochtopf gebeugt, schlürfte er vorsichtig heiße Brühe von einem Holzkochlöffel und hielt für einen Moment inne, als ließe er den Geschmack der Suppe auf sich wirken. „Okay…das war jetzt richtig gut…ich fühl mich wie neu…", ließ ich ihn fröhlich wissen und blieb mitten in der Küche stehen. Abrupt drehte Yoshi sich um und schien schon im Ansatz zum Sprechen den Text vergessen zu haben. Regungslos stand er mir gegenüber und starrte mich mit dem Kochlöffel in der Hand an.

    „Es tropft…, sagte ich. „Was? Ich konnte sehen, wie Yoshis Augen meinen Körper hinunter wanderten und an meinen Beinen kleben blieben. „Vom Löffel…es tropft vom Löffel! „Ah…ah so ja! Er grinste wie zuvor im Badezimmer und wandte sich wieder seinem Kochtopf zu. Der Geruch von Suppe und Fleisch strömte mir entgegen. Ich wunderte mich über Yoshis eindringliche Blicke, immerhin trug ich ein weites Hemd und labbrige Shorts. Sicherlich war ihm keine bleiche Fremde in kurzen Hosen begegnet, seit er die Stadt verlassen hatte, um auf seine tropische Insel zu ziehen. Wahrscheinlich ist ihm seit Jahren überhaupt keine Fremde mehr begegnet…, dachte ich und warf einen neugierigen Blick in die Kochtöpfe.

    „Hausgemachte Nudeln…Soba von Uehara san¹…also drüben aus dem Laden…also…er gehört den Ueharas…der Laden…, erklärte mir Yoshi als er meinen neugierigen Blick sah. „Sieht ja richtig lecker aus…hmmm! Der würzige Geruch der frischen Brühe und die frischen Sobanudeln weckten meinen Appetit. Tatsächlich hatte ich Hunger wie eine Wölfin und mir wurde bewusst, dass eine kleine Portion Hühnchen am Flughafen die letzte Mahlzeit gewesen war, die ich zu mir genommen hatte. „Uehara san macht die besten Soba weit und breit…mit frischen Kräutern drin! „Und das? fragte ich und deutete auf die ausgekochten, durchwachsenen Fleischstreifen in der Brühe. „Eh ja…es ist Schwein…Okinawa-Schwein…die Leute hier lieben Schwein…", sagte Yoshi und spießte ein Stück Fleisch mit der Gabel auf.

    Eine hell glänzende, etwas unappetitlich anmutende Fettschwarte und eine gut verkochte Haut säumten den gräulich-braunen Fleischbrocken. Triefend steckte das Stück Fleisch auf der Gabel, als würde das tote Tier ölige Tränen um sein bis zu Unkenntlichkeit verkochtes Schweineleben weinen. „Oh…es gibt natürlich auch Mageres…, fügte Yoshi hinzu und fischte ein anderes Stück Fleisch aus dem Topf, als hätte er mir den Ekel im Gesicht abgelesen. Zum Glück…, dachte ich und nickte erleichtert. „Ich glaub, ich bin so der Typ für das Magere…, sagte ich vorsichtig. Ohne Yoshis Kochkunst kritisieren zu wollen, sträubte sich jede Faser in mir gegen die Vorstellung, mit einem Berg Fettschwarten auf dem Teller fertigwerden zu müssen.

    Der Anblick glänzender Fettschwarten löste in mir nichts als das kulinarische Grauen aus. „Du bist sportlich und achtest auf deine Ernährung…oder? mutmaßte Yoshi und betrachtete abermals meine Beine. „Naja…ich laufe fast täglich und…zugegeben ja…ich esse sehr wenig Fett. Da waren Nori und ich uns ganz ähnlich…, wollte ich den Satz schon beinahe zu Ende sprechen und biss mir noch rechtzeitig auf die Zunge. Es war verdammt schwer, neben Yoshi zu stehen, und jeden aufkommenden Gedanken an Nori unausgesprochen hinunterzuschlucken.

    Zwischen den dampfenden Töpfen wurde mir bewusst, wie sehr ich mich danach sehnte, jemandem aus meinem vergangenen Leben mit Nori erzählen zu können, die Erinnerungen noch einmal lebendig werden zu lassen. Ich hoffte so sehr, dass Yoshi mir zuhören wollte, mit mir in die Vergangenheit abtauchen wollte. Aber Yoshi war wie versunken in seinen Suppentopf und er schien nichts über das Leben seiner Schwester wissen zu wollen.

    Lass ihm Zeit…, ermahnte ich mich abermals zur Geduld und sah ihm schweigend über die Schulter, wie er die Soba-Nudeln in zwei große Suppenschalen füllte. Obwohl Yoshi so schlank und hochgewachsen war, schien er eine gewisse Vorliebe für handfeste Portionen zu haben. Bis unter den Rand der Schalen goss er Brühe über die Sobanudeln und bedeckte das Ganze großzügig mit Fleisch. Er dekorierte die Nudeln mit leuchtend roten Ingwerraspeln und schnitt mit lockerem Handgelenk das Grün frischer Frühlingszwiebeln in feine Scheiben. Yoshis Art Zwiebeln zu schneiden, hatte jenen Touch des Professionellen, als hätte er Tag ein Tag aus nichts anderes getan.

    Yoshi erschien mir wie ein Widerspruch in sich, wie ein Hobby-Gourmet, der selbst den übelsten Fettschwarten in randvollen Schüsseln eine gewisse ästhetische Note verlieh. Das tat er mit einer Leichtigkeit, dass es richtig Freude machte, ihm beim Kochen zuzusehen. „Voilá…Okinawa-Soba…und einmal die Magervariante…, gab er nicht ohne Stolz von sich und stellte die randvollen Schalen vorsichtig auf ein Tablett. „Hmm…es riecht echt toll…genauso wie es aussieht…ich bin gespannt. Yoshi schien sichtlich Spaß dabei zu haben, mich als Fremde mit einem traditionellen Gericht zu überraschen.

    Yoshis Esstisch war einer der typischen niedrigen Tische, wie ich sie aus japanischen Häusern kannte. Wie in Japan üblich, gab es auch in Yoshis Küche keinen einzigen Stuhl. Ich schnappte mir ein Sitzkissen und ließ mich Yoshi gegenüber auf dem Holzboden nieder. Mit fröhlichem Gesicht überreichte er mir zwei Holzstäbchen und schien mehr als zufrieden mit dem Resultat seiner Arbeit. „Itadakimasu²…, sprach ich fast automatisch aus, als er mir meine Suppenschale über den Tisch entgegenschob. „Ach so…Stäbchen sind in Ordnung für dich, oder? Yoshis Blicke schweiften über die Anrichte, als würde er krampfhaft überlegen, aus welcher Schublade er wohl eine Gabel hervorzaubern hätte können. „Klar…ich bins gewöhnt, Yoshi…danke. Ich schmunzelte etwas über seine Unterstellung und machte mich über die köstlichen Okinawa-Soba her. Yoshi hatte nicht zu viel versprochen. Die hausgemachten Nudeln aus dem Dorfladen waren die besten, die ich jemals gegessen hatte. „Es ist köstlich Yoshi, wirklich…ich glaube, ich liebe Okinawa-Soba…, lobte ich sein Essen, ohne zu übertreiben. „Nicht der Rede wert…das Fleisch ist etwas lang gekocht…", erwiderte er und ich erkannte Noris japanische Bescheidenheit in ihm.

    Während ich mir den Magen mit den köstlichen Nudeln füllte und die Suppe nicht ganz so laut wie Yoshi schlürfte, fragte ich mich die ganze Zeit, warum Yoshi gar nichts über Nori und mich wissen wollte, warum ihm keine Fragen über ihre Krankheit und ihren Tod auf den Nägeln brannten? Ich wusste nicht, was Mariko ihrem Sohn geschrieben hatte. Die Resignation, die in ihren Worten mitschwang, als ich ihr von meinen Reiseplänen erzählte, ließ mich erahnen, dass sich zwischen Yoshi und ihr nicht viel verändert hatte.

    Yoshi erhob sich vom Tisch und holte zwei Getränkebüchsen aus dem Kühlschrank. „Deutschland ist doch berühmt für Bier…oder?, bemerkte er und ließ sich aus seiner schlaksigen Haltung zurück in den Schneidersitz fallen wie eine menschliche Klappfigur. „Schon ja…kann man so sagen…es gibt viele Brauereien bei uns in München…ja. „Dann bin ich neugierig, was du zu unserem Okinawa-Bier sagst?" Yoshi öffnete zwei Dosen Orion und jedes Mal entwich ein Zischen, als er die Lasche nach oben zog. Es war ein erfrischendes Sprühen, das zum tropischen Inselklima passte.

    Ich seufzte leise, als ich die kühle, von Kondenswasser beschlagene Bierdose entgegennahm. Einen Kommentar zur Mülllawine, die dabei war unseren Planeten zu ersticken, verkniff ich mir tunlichst. Immerhin war ich Gast in Yoshis Haus und wollte ich mich nicht schon unmittelbar nach meiner Ankunft unbeliebt machen. „Dann lass uns auf Okinawa und sein Bier anstoßen…, sagte ich und hielt ihm meine Dose hin. „Und auf deinen Besuch…Janne…kanpai! erwiderte Yoshi und prostete mir auf Japanisch zu. Im Geiste stieß ich mit ihm auf seine Schwester an und darauf, dass ich soeben dabei war, Noris letzten Willen zu erfüllen. Ich nahm mir fest vor, alles dafür tun, um die harte Nuss namens Yoshi zu knacken.

    „Oh oh oh…das ist jetzt unverzeihlich…ich habe die Pickles zum Soba vergessen. Hektisch sprang er auf und stürzte in einem Satz zurück zum Kühlschrank. Er nahm zwei Schälchen aus dem untersten Fach und stellte sie zwischen uns auf den Tisch. „Bitte…das ist noch eine Spezialität…das gibt’s auch nur hier auf Okinawa…, verkündete er stolz. Verwundert guckte ich auf den glänzend grünen und braunen Inhalt der beiden Keramikgefäße. Ich betrachtete die kleinen grünen Kügelchen, die wie Miniaturtrauben rebenförmig an kleinen dünnen Stängeln hingen. Das zweite Schälchen war gefüllt mit schlierigen braunen Fäden, die sich durch eine rot-orangene Sauce zogen. Beides hatte ich noch nie zuvor gesehen, noch nicht einmal in japanischen Kochbüchern.

    „Was ist das?, fragte ich und nahm den Geruch von Chili und Knoblauch wahr. „Das ist aus der Fabrik…wir züchten Umibudo, die Meerestrauben und Mosuku, eine Art von Algen…, erklärte mir Yoshi. Tatsächlich sahen diese Umibudo aus wie winzige Weintrauben, fast so wie die ganz jungen, unreifen Trauben im Frühling…nur dass die winzigen, glänzenden Kügelchen in Yoshis Schälchen offenbar schon gänzlich ausgewachsen waren. „Umibudo? Meerestrauben? Wie putzig!" Neugierig biss ich auf eine der Reben und es knackte wie die kleinen orangefarbenen Fischeier, die für gewöhnlich außen auf gerolltem Sushi klebten.

    Auf meiner Zunge lag ein angenehmer leicht salziger Meeresgeschmack, vermischt mit einem leichten Zitronenaroma. Schon nach dem ersten Häppchen stellte ich also fest, die kleinen Merkwürdigkeiten aus Yoshis Fabrik schmeckten herrlich. Mit Begeisterung sammelte meine ersten sinnlichen Eindrücke in der neuen, fremden Welt und beschloss, damit weiterzumachen. „Absolut lecker…", sagte ich und schätzte mich glücklich, endlich auf die Reise gegangen zu sein. Yoshi grinste erfreut und sog schlürfend seine letzte Portion Soba-Nudeln von den Stäbchen.

    Wieder musste ich an Nori denken und daran, wie sie sich jedes Mal aufs Neue über die japanische Sitte des Schlürfens echauffieren konnte. Obwohl sie wusste, wie normal es in ihrer Heimat war, sich seine Nudelsuppe nicht gerade geräuschlos und leise einzuverleiben, brachten sie die langgezogenen Schlürfgeräusche doch immer wieder auf die Palme. So oft wir mit Mariko in unserer Lieblings-Soba-Kneipe mitten in München saßen, konnte ich sehen, wie Nori jeden Moment explodieren wollte, sobald Mariko damit anfing, mit Leidenschaft und Hingabe ihre Nudelsuppe zu schlürfen. „Mama, wir sind in Deutschland…was du grade veranstaltest, ist einfach nur peinlich! So hatte sie Mariko jedes Mal mit entrüsteter Stimme ermahnt. Mariko konnte stets nur darüber lachen, was Nori jedes Mal umso ärgerlicher machte. „Eben, meine Liebe…wir sind hier nicht in Japan…glaubst du wirklich, es interessiert mich noch, was die Leute denken? Das war Marikos regelmäßige Antwort gewesen, während ihr der Schalk im Nacken saß.

    Mariko schien das legere Leben fern ab von Japan ganz einfach in vollen Zügen zu genießen. Wie oft hatte Nori darüber geklagt, dass Mariko sich wohl niemals an die deutschen Sitten anpassen würde. Aber ihre Mutter kümmerte sich nicht darum, sie machte erst gar keine Anstalten, sich irgendwo auf der Welt anzupassen. Europa bedeutete für sie ein Leben ohne soziale Zwänge und sie nutzte beinahe jede Gelegenheit, sich ihren spontanen Ideen und Bedürfnissen hinzugeben.

    Das war eine andere Zeit, eine Zeit in der die Welt für uns drei noch in Ordnung gewesen war. Immer wieder erinnerte ich mich daran, wie oft sich Mariko über Noris spießige Ansichten lustig gemacht hatte. Mariko…Mensch genau…, erinnerte ich mich plötzlich an die Mitbringsel für Yoshi. Wie unaufmerksam von mir…, dachte ich…einfach so hereinzuplatzen. Für Noris blaues Päckchen war der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen, vor allem, weil ich nicht die geringste Ahnung hatte, was sich in der Schachtel verbarg. So wie Yoshi sich benahm, hielt ich es für besser, auf

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