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Liebe mit Siegel: psychologisch geprüft
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eBook376 Seiten5 Stunden

Liebe mit Siegel: psychologisch geprüft

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Über dieses E-Book

Eigentlich glaubt Clara Matthiesen, ihr Gefühlsleben gut im Griff zu haben. Zumindest vermisst die erfolgreiche Psychologin und alleinerziehende Mutter nichts in ihrem Leben. Bis ihre Freundin Bea sie ungefragt auf einer Singlebörse im Internet anmeldet und sie darüber auf den tiefgründigen Leo trifft. Dadurch gerät ihr bis dahin so wohl geordnetes Gefühlsleben völlig durcheinander. Auf dem Weg, sich emotional auf Leo einzulassen, muss Clara zähneknirschend feststellen, dass sie das, was ihre Klienten tagtäglich leisten, selber nur schwer hinbekommt. Sie muss sich ihren Gefühlen aus der Vergangenheit stellen und hinter ihrem Schutzwall der Rationalität hervorkommen. Dabei macht sie die Entdeckung, dass das Leben um ein Vielfaches lebendiger ist, wenn sie ihre Gefühle zulässt und sich nicht aus Angst davor hinter der eigenen Professionalität versteckt. Dass es das nicht immer leichter macht, weiß auch Leo aus Erfahrung. Hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen muss er eine Entscheidung treffen, die weitreichende Folgen haben soll.

Toni Field erzählt mit Witz und Esprit die Geschichte einer jungen Psychologin, die den Mut aufbringt, ihre schützende Unnahbarkeit aufzugeben und ihren Gefühlen zu folgen. Dabei nimmt sie den Leser mit auf die Reise in die komplexe Welt der menschlichen Psyche und der Psychologie.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Nov. 2018
ISBN9783746998749
Liebe mit Siegel: psychologisch geprüft

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    Buchvorschau

    Liebe mit Siegel - Toni Field

    Prolog

    Hallo Leo!

    Ich hab nachgedacht ...

    Ich kann das nicht mehr! Ich hab mich wirklich bemüht, aber … meine Gefühle sind mir zu sehr im Weg. Ich hab etwas länger gebraucht, um das für mich klarzukriegen.

    Wir haben gesagt, dass wir akzeptieren, wenn einer von uns irgendwann sagt, dass es nicht mehr geht.

    Es geht nicht mehr, Leo. Es tut zu weh. Die ständige Hoffnung zermürbt mich. Ich … Ich hab eine Entscheidung getroffen. Ich … ich werde mich aus deinem Leben zurückziehen, Leo. Ich brauche den Schnitt. Bitte versteh, dass ich keinen Kontakt mehr möchte. Ich muss dich aus meinem Herzen kriegen, um nach vorne gucken zu können …

    Bitte versuch nicht, Kontakt zu mir aufzunehmen. Akzeptier meine Entscheidung. Das haben wir uns damals versprochen. Bitte …!

    Es tut mir leid! Ehrlich!

    Leb wohl, Leo. Und pass auf dich auf!

    Mit zittriger Hand ließ Clara die Aufnahmetaste auf ihrem Handytouchscreen los. Aufgewühlt starrte sie auf das Display und wartete darauf, dass die Sprachnachricht an Leo übertragen wurde. Anschließend öffnete sie zögerlich sein WhatsApp-Profil und rief im Menü die Option »blockieren« auf. Eine Träne lief ihr über die Wange, als sie die Aktion mit pochendem Herz bestätigte. Ein letztes Mal schaute sie sich sein Foto an und streichelte zärtlich über sein Gesicht. Dann löschte sie Leos Kontakt aus ihrem Adressbuch.

    Sie hatte sich diesen Schritt gut überlegt. Sie wusste, dass sie das Richtige tat, denn alles andere hätte sie nur noch mehr gequält. Sie musste endlich nach vorne schauen.

    Als sie fertig war, Leo auch auf sämtlichen Social Media Netzwerken zu blockieren oder zu löschen, ließ sie ihr Handy entkräftet auf den Beifahrersitz fallen. Sie umfasste mit den Händen das Lenkrad und legte ihren Kopf darauf ab. Sie war erschöpft. Erst jetzt spürte sie die Anstrengung der vergangenen Wochen wie riesige Felsbrocken auf sich lasten. Sie hatte das Gefühl, Bleigewichte am ganzen Körper zu tragen, die sie komplett bewegungslos machten.

    Eine Viertelstunde lang saß sie so da und weinte bitterlich. Ihr ganzer Schmerz spiegelte sich in jeder einzelnen Träne wieder, die zu wahren Sturzbächen vereint aus ihr herausschossen. Sie befürchtete schon, nie wieder aufhören zu können, als sich das milde Gefühl der Erleichterung einstellte. Vielleicht gab es ja doch noch Hoffnung, dass irgendwann dieser unendlich tiefe Schmerz nachlassen würde. Und wenn es nur für einen winzigen Moment wäre.

    Sieben Monate vorher

    Kapitel 1

    »In drei Wochen? Hast du 'nen Knall?«, zischte Bea entrüstet in ihr Handy. »Ich bin deine beste Freundin!«

    »Ich weiß, Bea. Aber früher habe ich wirklich keine Zeit.«, versuchte Clara sie zu beschwichtigen. »Ich hab gerade echt viel um die Ohren.«

    »Das hast du immer, meine Liebe. Dieses Argument lasse ich nicht gelten. Weißt du überhaupt noch, wie sich »Leben« anfühlt?« So leicht ließ sich Bea nicht abwimmeln. »Ich werde am Samstag vorbeikommen. Ob du Zeit hast, oder nicht.«

    »Aber, ich habe ...«

    »Das ist mir egal. Du wirst Kim fragen, ob sie auf Jonas aufpassen kann und dann werden wir zwei mal wieder richtig schön ausgehen! Keine Widerrede!«

    Beas Stimme war resolut und Clara wusste, dass sie keine Chance hatte.

    »Ich muss gucken, was sich machen lässt. Ich kann dir nichts versprechen. Ich …«

    Es klopfte an Claras Bürotür. Es war Frau Schuster, die Sekretärin, die ihren Kopf vorsichtig durch die Tür steckte.

    »Herr Martens ist da!«, sagte sie leise, als sie Clara telefonieren sah.

    Clara nickte ihr zu und bedeutete ihr mit den Händen, dass sie noch zwei Minuten bräuchte. Daraufhin zog sich Frau Schuster leise zurück.

    »Ich muss Schluss machen, Bea. Mein nächster Termin wartet«, wendete sie sich wieder ihrer Freundin zu.

    »Pass auf dich auf, meine Liebe. Und denk an Samstagabend. Ich bin um acht Uhr bei dir!«

    Damit beendete Bea das Gespräch und legte auf. Seufzend ließ sich Clara auf ihren Stuhl zurückfallen. Es stimmte, was Bea sagte. Sie hatten sich in letzter Zeit wirklich kaum gesehen. Und ausgegangen war Clara auch schon lange nicht mehr. Sie fand einfach keine Zeit dafür. Ihr Sohn Jonas war neun und lebte bei ihr, während sich sein Vater immer mehr aus der Verantwortung zog, seitdem er eine neue Familie gegründet hatte. Das war auch der Grund, weshalb Clara vor gut einem Jahr beschloss, mit Jonas nach Lübeck zu ziehen. Ihr Chef warb schon länger bei ihr darum, die psychologische Gesamtleitung des Psychotherapeuticums zu übernehmen. Als sie sich auf Teilzeit einigen konnten, sagte Clara ihm zu. Das verschaffte ihr mehr Flexibilität, insbesondere in der Betreuung von Jonas.

    Die erste Zeit hatte sich Jonas in der neuen Umgebung schwergetan. Doch dank der Schule und des kinderreichen Wohnviertels, in das sie gezogen waren, hatte er schnell Freunde gefunden. Mittlerweile war von der anfänglichen Wehmut nichts mehr zu spüren. Für Clara war das eine enorme Erleichterung. Als alleinerziehende Mutter hatte sie oft ein schlechtes Gewissen, ob sie ihrem Sohn in all seinen Bedürfnissen auch gerecht wurde.

    Sie rieb sich mit beiden Händen über das müde Gesicht. Sie konnte Herrn Martens nicht länger warten lassen. Er war der Leiter einer Stiftung, von der Clara sich für ihr Projekt Zuschüsse erhoffte. Das Psychotherapeuticum hielt verschiedene stationäre und ambulante Angebote für psychisch erkrankte Menschen bereit. Es war bundesweit für innovative Behandlungsmethoden bekannt und galt als Vorreiter für den systemischen Ansatz in der Arbeit mit dem Klientel. Ihr Projekt war gewagt. Deshalb musste sie gute Überzeugungsarbeit leisten, damit sie die Finanzierung über die Stiftung hinbekam. Die Mitarbeiter standen schon länger in den Startlöchern, denn eigentlich sollte es in wenigen Wochen losgehen. Dadurch jedoch, dass ein großer Investor kurzfristig abgesprungen war, stand die Finanzierung wieder auf der Kippe. Die Stiftung war ihre letzte Chance, wenn sie den Starttermin halten wollten. Alles hing nun von diesem Gespräch und Claras Überzeugungskraft ab.

    Clara atmete tief durch. Sie war aufgeregt. Herr Martens galt als harter Brocken. Umso wichtiger war es, konzentriert in das Gespräch zu gehen. Ein letztes Mal überflog sie ihre Unterlagen, bevor sie zielsicher und selbstbewusst nach nebenan ins Besprechungszimmer ging.

    Als sie die Tür öffnete, war sie überrascht. Bislang hatte sie immer nur mit Herrn Martens telefoniert. In Claras Vorstellung war er ein Mann Mitte sechzig, der sich zum Ende seines Berufslebens noch einmal sozial engagieren wollte, um vor sich oder anderen sagen zu können, Gutes in seinem Leben getan zu haben. Stattdessen streckte ihr ein junger Mann die Hand entgegen, der nicht viel älter als sie selbst zu sein schien. Freundlich lächelte er sie an.

    »Frau Matthiesen, schön Sie endlich persönlich kennenzulernen!«, begrüßte er sie aufgeschlossen.

    »Guten Tag, Herr Martens!«, entgegnete Clara immer noch etwas verwirrt.

    Zögerlich reichte sie ihm die Hand, ohne ihr Erstaunen großartig zu verbergen.

    Herr Martens musste schmunzeln.

    »Sie schauen so verdattert. Ist alles in Ordnung?«

    »Ehrlich gesagt habe ich nicht damit gerechnet, dass Sie so jung sind!«

    Herr Martens lachte. Er fand Clara erfrischend.

    »Meine Vorstellung von Menschen, die in einer Stiftung arbeiten, waren wohl etwas vorurteilsbehaftet, muss ich gestehen!«

    Sie hob entschuldigend die Schultern und setzte sich auf den freien Stuhl. Frau Schuster hatte den Tisch mit Kaffee und einem Teller mit Keksen eingedeckt.

    »Sehen Sie, so habe ich das Überraschungsmoment immer auf meiner Seite.«

    Er lehnte sich etwas vor. »Damit verschaffe ich mir meistens einen Vorteil bei den Verhandlungen.« Zwinkernd lehnte er sich wieder zurück.

    »Na, das werden wir ja sehen!«, antwortete Clara taff. So leicht ließ sie sich nicht ins Bockshorn jagen. »Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass Sie freiwillig Ihr Stiftungsgeld investieren wollen, wenn Sie die Einzelheiten zu unserem Konzept gehört haben.«

    Herr Martens lächelte. Ihre Schlagfertigkeit gefiel ihm. Und nicht nur die.

    »Ich habe mir schon sagen lassen, dass Sie keine leichte Verhandlungspartnerin sind!«

    Damit leitete er zum geschäftlichen Teil über.

    In den darauffolgenden Minuten konzentrierte er sich auf die Vorstellung des Projektes. Dabei ertappte er sich, wie er immer wieder gedanklich abschweifte, um Clara zu mustern. Ihm gefiel diese offene und ehrliche Art, die nichts Aufgesetztes hatte. Es unterstrich die natürliche Ausstrahlung, die von ihr ausging. Er konnte seinen Blick nicht von ihrem langen, braungelockten Haar lassen, das die weichen Konturen ihres Gesichtes umrahmte. Es ließ ihre strahlend blauen Augen deutlich zur Geltung kommen. Er war fasziniert von dieser Frau, das konnte er nicht leugnen. Anstatt ihn mit leeren Phrasen und aufdringlichen Appellen an seine Menschlichkeit zu langweilen, bestach diese Frau auch noch mit überzeugenden Argumenten. Sie legte genauso ehrlich, wie sie ohne Scham ihre Verwunderung über sein Alter aussprach, die Schwachstellen des Projektes offen.

    Bei ihrem Vorhaben ging es um eine ambulante Maßnahme für Menschen mit Wahnvorstellungen, die sich in komplexen und für andere Menschen oft unverständlichen Verhaltensweisen äußern. Anders als andere Behandlungsansätze bei diesem Störungsbild war dieser systemisch ausgerichtet. Clara und ihr Team gingen bei ihrem Behandlungsansatz davon aus, dass dieses Verhalten in bestimmten Situationen und Beziehungskonstellationen stärker oder schwächer auftrat. Daher wurden bei der Auswahl der Projektteilnehmer ausschließlich diejenigen berücksichtigt, bei denen sich die Familienmitglieder verpflichteten, mitzuwirken. Nur so konnten die aufrechterhaltenden Bedingungen und Beziehungsgeflechte aufgedeckt werden, unter denen die Wahnvorstellungen auftraten und den Patienten und deren Familienangehörigen eine optimale Behandlung zukommen. Clara hatte es geschafft, für das Projekt eine wissenschaftliche Begleitung durch drei Universitäten zu gewinnen. Die psychologischen oder medizinischen Fakultäten der Universitäten Hamburg, Zürich und Heidelberg waren Kooperationspartner. Darauf war sie besonders stolz.

    Herr Martens hörte aufmerksam zu. Da es kaum Forschung auf diesem Gebiet gab, die den Erfolg dieses Projektes absichern konnte, war es gewagt, darin zu investieren. Jedoch lag die Durchführung des Projektes durch die Anbindung an eine wissenschaftliche Begleitung im Interesse mehrerer Institutionen.

    Er verhandelte hart mit ihr. Aber Frau Matthiesen ließ sich von ihm nicht in die Enge treiben. Seine kritischen Nachfragen hörte sie sich in Ruhe an. Sie wägte seine Einwände gut ab und gab ihm das Gefühl, diese ernstzunehmen. Einige Argumente konnte sie entkräften, während sie andere als durchaus berechtigt stehen ließ, um sie im Verlaufe der weiteren Projektplanung zu berücksichtigen.

    Nach eineinhalb Stunden hatte Clara ihre beantragte Summe aus seinen Stiftungsgeldern bewilligt. Erfreut über dieses Ergebnis begleitete sie Herrn Martens zur Tür.

    »Ich danke Ihnen, Herr Martens. Das Gespräch mit Ihnen war sehr bereichernd. Also, nicht nur finanziell!«, schob sie schnell hinterher und musste selber ob der Zweideutigkeit ihrer Aussage lachen.

    »Sie sind sehr erfrischend, Frau Matthiesen. Ich bin gespannt, wie Ihr Projekt anläuft. Berichten Sie zwischendurch mal.«

    Er streckte ihr lachend die Hand entgegen.

    »Das werde ich gerne tun. Sie dürfen selbstverständlich jederzeit vor Ort vorbeischauen und sich ein eigenes Bild machen. Kommen sie jedoch lieber als Kooperationspartner und nicht als Patient! Das wäre mir persönlich ein großes Anliegen.«

    »Wollen Sie damit sagen, dass Sie doch nicht von Ihrem Konzept überzeugt sind? Oder weshalb sollte ich es vermeiden, als Patient von Ihrem Vorhaben zu profitieren?«, scherzte er zwinkernd. Clara lachte.

    »Ich habe eher die Befürchtung, dass uns Ihre Gelder wieder entzogen werden, wenn Ihre Gesellschafter mitbekommen, dass Sie mit der Diagnose einer schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung hier eingewiesen werden.«

    »Und ich dachte schon, es ginge Ihnen um mich als Mensch!«

    Er zwinkerte ihr erneut zu und drückte noch einmal ihre Hand.

    »Haben Sie vielen Dank, Frau Matthiesen. Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.«

    Sie tauschten zum Abschied ein paar letzte Höflichkeiten aus, bevor Clara die Tür hinter ihm schloss und zurück ins Büro ging. Es dauerte keine Minute, bis ihre Sekretärin neugierig die Nase durch den Türspalt steckte.

    »Und?? Wie war es? Haben wir die Fördergelder?«

    Clara merkte ihr an, dass sie aufgeregt war. Dieses Projekt war ein wichtiger Meilenstein im Ausbau der Angebotspalette des Psychotherapeuticums. Die Geschäftsführung hatte hohe Erwartungen an Clara, diesen Schritt gut auf die Beine gestellt zu bekommen.

    Clara streckte den Daumen in die Höhe.

    »Mensch, Frau Matthiesen, ich fass es nicht. Das ist ja der absolute Wahnsinn. Wie haben Sie das hinbekommen?! Es hat hier keiner wirklich damit gerechnet, dass Sie bei Herrn Martens Erfolg haben werden!«

    Die Überschwänglichkeit von Frau Schuster machte Clara verlegen. Sie konnte nur schwer mit Lob umgehen. Sie mochte es lieber, wenn sie einfach nur ihre Arbeit machen konnte.

    »Es hat ja geklappt. Wahrscheinlich hatte Herr Martens heute einen guten Tag!«, versuchte sie, Ihre Leistung abzuschwächen. Je wortkarger sie blieb, um so eher erhoffte sie sich, Frau Schuster wieder loszuwerden. Es funktionierte. Die Sekretärin verließ ohne weiteres Nachbohren ihr Büro, jedoch verriet das aufgeregte Gekreische vor ihrer Tür, dass einige Mitarbeiter angespannt auf das Ergebnis gewartet hatten.

    Clara musste schmunzeln. Sie freute sich ja selber über diesen Erfolg, wollte jedoch kein großes Aufheben darum machen.

    Munter wandte sie sich den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch zu. Der verhasste Papierkram, der dort auf sie wartete, ging ihr heute leicht von der Hand. Fröhlich setzte sie eine Unterschrift nach der anderen auf die Schriftstücke, die sie abzeichnen musste, und packte dann ihre Sachen zusammen. Sie musste los, da sie an drei Nachmittagen die Woche für Patienten eines Allgemeinmediziners Psychotherapie in dessen Praxis anbot. Sie liebte diese Arbeit. Es war ein schöner Ausgleich zu ihrer Leitungstätigkeit, bei der sie weit weg von den Patienten war. Außerdem war sie finanziell auf diese zusätzlichen Einnahmen angewiesen.

    Sie verließ das Psychotherapeuticum durch den Hinterausgang, der direkt zum Parkplatz führte. Auf dem Weg zu ihrem Auto kontrollierte sie die eingegangenen Nachrichten auf ihrem Handy. Drei Whats-Apps von Bea, die sie noch einmal daran erinnerte, dass sie keine Ausreden für eine Absage am Samstag akzeptieren würde. Eine Messenger-Nachricht von ihrem Bekannten David, der anfragte, ob sie sich mal wieder treffen wollten. Eine SMS von Finns Mama, die Jonas gerne heute zum Spielen mit aus der Nachmittagsbetreuung nehmen wollte. Schlussendlich noch drei Anrufe in Abwesenheit, wovon Clara zwei Nummern nicht zuordnen konnte. Sie schrieb Finns Mutter zurück, dass sie Jonas um 18 Uhr abholen käme. Dann antwortete sie David, dass sie für ein Treffen in nächster Zeit zu sehr eingespannt sei.

    Anschließend stieg sie in ihr Auto und fuhr zügig los. Obwohl es erst kurz vor zwei war, kam sie nur schleppend voran. Die Praxis lag am anderen Ende der Stadt. Ein unberechenbarer Zeitfaktor, da die Hansestadt Lübeck derzeit nichts Besseres zu tun hatte, als alles Geld in die Sanierung von sämtlichen Brücken und Straßen im Stadtgebiet zu stecken. Der Unmut der Bewohner wurde täglich größer, während die Stadtplaner bei der Koordination der Baustellen ganz offensichtlich schliefen. So war mittlerweile zu keiner Tages- und Nachtzeit mehr ein Durchkommen durch die Stadt möglich.

    Gerade rechtzeitig zum ersten Termin erreichte Clara die Praxis. Sie hastete hinein und sah durch die Glastüre vom Wartezimmer schon ihre erste Patientin sitzen.

    »Puh, so gerade eben geschafft!«, dachte sie, während sie ihre Sachen in einem Spint hinter dem Empfangstresen verstaute.

    »Moin, Clara. Da bist du ja!«, begrüßte die Sprechstundenhilfe Nadine sie mit einem freundlichen Lächeln. Clara mochte Nadine. Sie war eine lebensfrohe, junge Frau, die die Praxis gut im Griff hatte.

    »Du siehst müde aus, meine Liebe!« Sie überreichte ihr zwei Akten und schaute Clara besorgt an.

    »Ja, im Moment kommt einiges zusammen. Aber es geht schon.«

    »Du hast heute zwei neue Patienten!« Nadine deutete mit dem Kopf auf die Akten in Claras Hand. »Einmal Frau Schwartz und dann Herrn Wilhelm. Bei Herrn Wilhelm bittet Markus darum, dass du einmal schaust, ob eine Klinikeinweisung sinnvoll ist. Herr Wilhelm kommt um sechzehn Uhr dreißig. Wenn du anschließend noch einen Moment Zeit hast, würde Markus gerne kurz deine Einschätzung haben wollen.«

    Markus Stüber war der Arzt, für den Clara arbeitete. Sie mochte ihn sehr, nicht zuletzt deshalb, weil er seinen Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen lassen wollte. Dabei legte er großen Wert auf ihr Urteil.

    »Klar. Das können wir machen!«, antwortete Clara. »Ich muss nur Jonas rechtzeitig bei seinem Freund abholen. Kannst du ein Zeitfenster zwischen siebzehn Uhr zwanzig und siebzehn Uhr dreißig bei Markus blocken oder ist das schwierig?«

    Nadine schaute in den Kalender.

    »Das machen wir einfach möglich!«, zwinkerte sie ihr zu. Sie schob mit der Maus ein paar Patiententermine am Computer hin und her und streckte den Daumen nach oben.

    »Danke!«, antwortete Clara. Es war nicht selbstverständlich für sie, dass alle in dieser Praxis Rücksicht auf ihre Situation nahmen. Hier versuchte jeder zu verhindern, dass ihr streng durchorganisierter Tagesablauf durcheinandergeriet. Sie schenkte Nadine ein dankbares Lächeln und holte sich auf dem Weg ins Behandlungszimmer den Inhalt ihres letzten Gespräches mit Frau Petersen ins Gedächtnis.

    Kapitel 2

    »Mama, meinst du, wir werden auch irgendwann wieder ein Haus mit Garten haben, so wie Finn und seine Eltern? Oder so wie Papa?«

    Jonas schlüpfte gerade unter die Bettdecke und schaute Clara hoffnungsvoll an. Zuvor hatte er ihr aufgeregt von der Schatzsuche in Finns Garten erzählt, die die beiden Jungs nachmittags veranstaltet hatten. Es war nur so aus ihm herausgesprudelt, und sie freute sich, dass er einen so tollen Nachmittag verbracht hatte. Genau wie Jonas war Finn erst vor kurzem mit seinen Eltern nach Lübeck gezogen. Die zwei waren von der ersten Minute an unzertrennlich. Vielleicht war es das, was die beiden verband: das Laster, für alle anderen »die Neuen« zu sein.

    Clara lächelte und strubbelte ihm durch sein viel zu langes Haar. Sie musste unbedingt mit ihm zum Friseur. Doch sie fand einfach keine Zeit dafür.

    »Wer weiß, mein Schatz. Bis dahin kannst du mit Finn in unserem großen Hof spielen. Überleg mal, wer hat schon einen so großen Garten, wie wir hier mit unserem Hinterhof? Und dann noch die vielen anderen Kinder, mit denen man dort spielen kann.«

    »Ja, stimmt schon!«, wägte Jonas langsam ab. »Aber der Garten bei Papa ist auch klasse. Den mag ich sogar ein bisschen lieber als unseren Hof.«

    »Das ist auch in Ordnung, mein Schatz!«

    Clara deckte ihn bis unters Kinn zu, ganz so, wie er es am liebsten mochte. Es versetzte ihr jedes Mal einen Stich, wenn sie merkte, dass sich Jonas nach Dingen sehnte, die sie ihm nicht bieten konnte. Da sie keinen Streit mit Jonas Vater anfangen wollte, hatte sie großzügig auf Unterhalt verzichtet. Sie wollte unabhängig sein, nicht das Gefühl haben, ihm zu Dank verpflichtet zu sein. Sie wusste, dass das quatsch war, denn rechtlich stand ihr der Unterhalt zu. Doch für Clara war es eine Kopfsache. Sie würde sich emotional abhängig fühlen, und damit war sie noch nie klargekommen.

    »So, jetzt wird geschlafen, Monsieur. Morgen ist wieder ein langer Tag, an dem du viel erleben wirst.«

    Sie küsste ihn liebevoll auf die Stirn.

    »Kann Finn morgen zu uns kommen oder musst du wieder so lange arbeiten?«

    In Jonas Stimme lag eine Mischung aus Hoffnung und Vorwurf. Clara seufzte. Bei dem Gedanken an ihren Schreibtisch im Psychotherapeuticum musste sie ihn eigentlich enttäuschen. Doch das brachte sie nicht fertig.

    »Ja, das können wir machen. Wenn Finn Zeit hat, kann er nach der Schule mit zu uns kommen.«

    Jonas umarmte Clara stürmisch.

    »Yes! Du bist die beste Mama der Welt!«

    Sofort wurde Clara warm ums Herz. Vergessen war der Gedanke an die Akten auf ihrem Schreibtisch. Stattdessen breitete sich die ganze Wärme der kindlichen Liebe ihres Sohnes in ihrem Herzen aus. Sie nahm ihn noch einmal fest in den Arm und mahnte dann zum Schlafen. Anschließend löschte sie das Licht und ließ die Tür vom Kinderzimmer einen Spalt offen. Sie ging nebenan ins Wohnzimmer, zündete sich eine Kerze an, holte aus der Küche einen Rotwein und dimmte das Licht vom Deckenfluter. Erschöpft ließ sie sich auf ihr Sofa fallen. Jetzt erst merkte sie, wie kräftezehrend die letzte Zeit für sie war. Seit der Zusage der Stiftungsgelder gab es jede Menge zu tun. Die Teilnehmer mussten informiert, die Abläufe mit den Mitarbeitern besprochen und letzte Koordinierungsgespräche mit den Universitäten geführt werden. Oftmals saß Clara bis spät in die Nacht daheim vor ihrem Rechner, um die vielen Kleinigkeiten abzuarbeiten, die es vor dem Start des Projektes noch zu bewältigen gab. Heute war der erste Abend, an dem sie nicht arbeitete. Es war alles vorbereitet, denn morgen sollte es losgehen. Zeit zum Durchatmen.

    Während sie sich ein Glas Wein einschenkte, klopfte es an der Wohnungstür. Clara stand auf. Das konnte eigentlich nur Alex sein. Der Blick durch den Türspion verriet ihr, dass sie Recht behalten sollte. Alex wohnte ein Stockwerk unter ihnen, zusammen mit seiner dreizehnjährigen Tochter Kim. Als sie einzog, waren die beiden Claras erster Kontakt im Haus. Der klassische »Haben Sie mal Zucker für mich?«-Fall. Seitdem hatte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen ihnen entwickelt. Es verband sie nicht nur derselbe Beruf, sondern auch das Los der Alleinerziehenden ohne Familienangehörige in der Nähe. Kim und Jonas entwickelten schnell einen guten Draht zueinander, und so verdiente sich Kim ab und zu mit Babysitten ein paar Euros dazu. Im Gegenzug stand Clara als Anlaufstelle für Kim zur Verfügung, wenn Alex in der Klinik Dienst hatte.

    Clara freute sich, Alex zu sehen.

    »Hey. Ich wollte dir den hier zurückbringen«, begrüßte er sie. Er hielt einen Dosenöffner in die Höhe, den Clara ihm vor einigen Tagen ausgeliehen hatte.

    »Komm doch rein. Ich hab gerade einen Wein aufgemacht. Möchtest du auch ein Glas?« Sie trat beiseite. Alex zögerte nicht lange, sondern folgte ihr ins Wohnzimmer.

    »Gerne!« Er schaute sich um, während Clara ein zweites Weinglas aus dem Wohnzimmerbuffet holte.

    »Hast du umgeräumt?«, fragte er. »Irgendwie sieht es anders aus.«

    »Nein, umgeräumt nicht. Aber ich hab am Wochenende die eine Wand grau gestrichen.«

    Clara schenkte ihm Wein ein und setzte sich dann mit angewinkelten Knien aufs Sofa. Alex nahm neben ihr Platz.

    »Sieht gut aus!«, bemerkte er, bevor sie anstießen.

    »Danke! Und wie läuft’s bei dir so? Hast du nicht gerade Urlaub?«

    »Nächste Woche erst! Diese Woche muss ich noch arbeiten!«, korrigierte Alex sie. »Ich bin heilfroh, wenn Freitag ist!«

    »So schlimm?«

    »Ach, es ist einfach viel zurzeit. Vom Sommerloch habe ich bislang noch nicht wirklich etwas bemerkt.«

    Clara nickte zustimmend. Auch sie wartete bislang vergeblich darauf.

    »Und? Was hast du vor in deinem Urlaub?«, hakte sie nach.

    Alex zuckte mit den Achseln.

    »Nichts Bestimmtes. Ein paar Touren mit dem Mountainbike und ansonsten, ausspannen!«

    »Ja, das könnte ich auch mal wieder gebrauchen«, seufzte Clara gedankenverloren und nahm einen großen Schluck von ihrem Wein.

    »Sorgen mit deinem Projekt?«

    »Nein, im Gegenteil. Vor drei Wochen habe ich die Zusage von der Stiftung bekommen. Morgen geht’s los!«, erzählte sie stolz.

    »Gratulation! Das grenzt ja an ein Wunder. Du hast es tatsächlich geschafft, diesen Herrn Martens von dem Projekt zu überzeugen?«

    Alex war beeindruckt, wusste er selber nur zu gut, wie schwierig es war, Gelder zu akquirieren und die richtigen Leute zu gewinnen.

    »Ja, ich bin wirklich erleichtert. Wir standen ja die ganze Zeit schon in den Startlöchern und haben nur noch auf die Finanzierung warten müssen. Nun können wir endlich loslegen!«

    »Glückwunsch!«

    Er stieß mit ihr an.

    »Und bei dir? Gibt es Neuigkeiten bezüglich deiner eigenen Praxis?«, forschte sie nach.

    Alex arbeitete in einer Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Seit einigen Wochen war er intensiv dabei, sich um einen Kassensitz in Lübeck zu bewerben. Er wollte seine eigene Psychotherapiepraxis eröffnen, da es ihn zunehmend störte, seine Patienten nur während des Klinikaufenthaltes zu betreuen. Er wollte endlich einmal die Früchte seiner Arbeit ernten, indem er sie durch einen ganzen Therapieprozess begleitete.

    »Naja, Lübeck ist ein begehrtes Pflaster. Ich schau mich in diversen Foren um, ob jemand seine Praxis aufgeben möchte. Doch wenn die Info stimmt, die ich letzte Woche bekommen habe, dann stehe ich mittlerweile ganz oben auf der Warteliste für einen Kassensitz. Schauen wir mal!«

    »Ach, ich hätte auch gern eine eigene Praxis!«, geriet Clara ins Schwärmen.

    »Wer weiß, vielleicht steigst du ja später bei mir mit ein?«

    Er zwinkerte ihr zu.

    »Das stell' dir mal vor! Wir beide eine gemeinsame Praxis!« Clara kicherte. »Du haust deinen Patienten die schonungslose Wahrheit um die Ohren und ich bau sie anschließend wieder auf!«

    Sie mussten beide lachen.

    »Good Cop, bad Cop! Warum nicht? Wäre mal ein neues Therapiekonzept!«, gluckste Alex.

    Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach.

    »Übrigens«, begann Alex und schenkte sich vom Wein nach, »ich soll dir von Kim ausrichten, dass sie Samstag gerne kommt. Sie lässt fragen, ob sie Übernachtungszeug mitbringen soll, falls es später wird.«

    Clara ignorierte Alex neckenden Unterton geflissentlich.

    »Ich denke nicht, dass es sehr spät werden wird!«

    Sie schaute ihn mahnend an, denn sie ahnte schon, dass er ihr Falsches unterstellen könnte.

    »Was hast du denn vor?«, forschte er prompt nach. »Etwa ein Date?«

    Clara lachte.

    »Date?? Nein! … Nein …!«

    Alex bemerkte, dass sich Claras Blick veränderte. Er war besorgt. Er konnte sich noch gut erinnern, wie er nach dem plötzlichen Verschwinden der Mutter seiner Tochter gelitten hatte. Viel zu lange war er der Hoffnung hinterhergelaufen, dass sie wiederkommen würde. Das war der Grund, weshalb er über viele Jahre keine neue Beziehung eingegangen war, sondern sich maximal mit kurzen Affären oder One-Night-Stands vergnügt hatte.

    »Warum nicht? Würde dir gut stehen!«, versuchte er es auf die scherzhafte Tour.

    »Das ist ja lieb, dass du dich um mein nicht vorhandenes Liebesleben sorgst!«, schmunzelte sie. »Wie sieht‘s denn in der Hinsicht bei dir aus? Tut sich da was?«

    Nur zu gerne wollte sie diesen Kelch an ihn zurückgeben.

    Alex schüttelte den Kopf.

    »Keine potenzielle Kandidatin in Sicht! Weder Zeit noch Geld, um da hinein zu investieren!« Er prostete ihr zu.

    »Na dann, auf die Liebe und darauf, dass sie uns irgendwann ereilt!«, erhob Clara das Glas. Sie nahm einen großen Schluck und ließ den fruchtigen Geschmack ihre Kehle hinunterlaufen. Sie merkte, wie der Wein ihr langsam zu Kopf stieg und ihre Zunge lockerer wurde.

    »Und was ist mit Anna? Ich habe bis heute nicht kapiert, warum du mit ihr Schluss gemacht hast!«, schoss es aus ihr heraus.

    Anna war Alex letzte Freundin. Clara kannte sie nicht näher, sondern hatte sie nur ein paar Mal mit Alex zusammen gesehen.

    »Irgendwie hat es nicht gepasst. Vielleicht war es unser Beruf. Stell dir vor, wir beide wären zusammen. Das würde vermutlich auch nicht gutgehen.«

    Clara wurde nachdenklich. Gedanklich wägte sie ihre Antwort ab.

    »Früher hab ich immer gesagt, dass das Beste, was mir passieren könnte, ein Kollege sei. Da wäre wenigstens garantiert, dass er in der Ausbildung seine eigenen Dachschäden aufgearbeitet hätte.«

    Sie schaute Alex schmunzelnd an. Doch dann wurde sie wieder ernst.

    »Vermutlich bin ich zu anspruchsvoll geworden.« Sie spielt am Rand ihres Weinglases. »Lieber bleibe ich allein, als wieder jemanden an meine Seite zu lassen, der erst mal lernen muss, mit sich

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