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Gewissensbisse
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eBook387 Seiten5 Stunden

Gewissensbisse

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Über dieses E-Book

Er gilt als der Koffermann, ein Verrückter, der auf dem örtlichen Friedhof Woche für Woche ein bizarres Ritual vollzieht. Doch als Kavira fasziniert versucht, den Hintergründen dieses Verhaltens auf die Spur zu kommen, taucht sie ein in eine Familiengeschichte aus Missverständnissen, falsch verstandenen Idealen, zerbrochener Träume und Inzest. Unter den Augen von Gott und der Kirche ruft ein Pfarrer ein Drama ins Leben, das mehrere Generationen in eine Albtraum aus Leid, Hass, Verzweiflung und Leugnung stürzte. Doch dann wendet eine ungewöhnliche Liebe das Blatt und schenkt einer neuen Generation Hoffnung.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Sept. 2015
ISBN9783732360574
Gewissensbisse

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    Buchvorschau

    Gewissensbisse - Karolina Dorota Literski

    Kavira

    Kavira, im Frühling geboren, spürte an diesem Freitag jene Leben spendende Kraft des Frühlings außergewöhnlich intensiv. Sie atmete tief die leichte Luft ein, bewunderte die frischen grünen Büsche und Bäume. In dieser angenehmen Stimmung ging sie die Friedhofsallee entlang, ohne Eile. Sie verstand die Sprache, die auf den Marmor- und Granittafeln stand, aber ihr ging es nicht darum, sondern um die Kultur dieser Stadt. Sie pflegte zu sagen: Die Kultur einer Stadt ist am besten zu erkennen, indem man ihre Friedhöfe erkundet. Sie betrachtete die Gräber, bewunderte prachtvolle Skulpturen und las die Inschriften auf den Grabsteinen. Überall herrschte Ordnung und die Menschen kümmerten sich hingebungsvoll um die Grabstätten ihrer Familien. Nicht überall findet man heutzutage so viel Aufmerksamkeit, die die Lebenden ihren Verstorbenen widmen, dachte sie.

    Sie wurde aus ihren Gedanken aufgeschreckt, als ihr eine Gestalt entgegenkam, mit sichtbarer Anstrengung zwei Metallkoffer schleppend. Kavira, die wie angewurzelt stehen blieb, riss sich schnell wieder zusammen. Im nächsten Moment ergriff sie Hilfsbereitschaft.

    »Darf ich Ihnen helfen?«, sagte sie, als der Fremde auf ihrer Höhe war.

    »Sie dürfen«, erwiderte der verschwitzte Mann und stellte seine beiden Koffer auf den Boden.

    Kavira griff nach einem und bog sich unter dem Gewicht zur Seite. »Um Gottes willen, was ist denn da drin?«

    »Die Gewissensbisse«, antwortete er.

    Kavira lächelte. »Ich wusste nicht, dass Gewissensbisse so schwer sind.«

    »Sie sind schwer. Sie sind die schwerste Last überhaupt.«

    »Es ist also für Sie eine Notwendigkeit, sie zum Friedhof zu bringen, oder?«

    »Ich schulde Ihnen keine Antwort, gehen Sie wieder.«

    »Ihre Manieren scheinen mir nicht die Besten zu sein.«

    »Da haben Sie recht.«

    »Sind sie von Natur aus so unhöflich?«

    »Höflichkeit wurde mir nicht beigebracht. Lassen Sie mich in Ruhe«, sagte er erneut, nahm die Koffer wieder auf und setzte seinen Weg fort.

    »Seien Sie doch nicht so verärgert. Ich wollte Ihnen nur helfen.«

    »Für Ihre Hilfsbereitschaft bedanke ich mich, denn Sie sind die Erste, die mir Hilfe angeboten hat.«

    Kavira ging ihm nach. »Wenn es so ist, dann sollten Sie etwas freundlicher mit mir umgehen, finden Sie nicht?«

    »Ich möchte mit Ihnen auf gar keine Weise umgehen, also stören Sie mich nicht weiter!«

    »Wissen Sie, ich habe das Gefühl, dass Sie ein merkwürdiger Mensch sind.«

    Der Mann blieb stehen, stellte die Koffer wieder ab, trat ganz nahe an Kavira heran und sagte: »Sie wollten sicherlich sagen, dass ich ein verrückter Mensch bin … so, wie alle über mich denken.«

    »Ich bin nicht alle. Und ich sagte nur das, was ich von Ihnen denke. Sie sind für mich merkwürdig, aber auch sehr interessant und ich würde Sie gerne näher kennenlernen, wenn Sie erlauben.«

    »Nein! Nein! Nein! Und nun gehen Sie Ihrer Wege, verstanden?«

    »Warum schreien Sie so? Und warum wollen Sie mich nicht kennenlernen?«

    »Auf Ihr Warum, gibt es keine Antwort, Gnädigste!«, sagte er laut und machte sich erneut auf den Weg.

    Kavira blieb stehen und sah ihm nach. So ein komischer Vogel, dachte sie und ihre Neugier stieg. Sie versteckte sich hinter einer großen Stele und beobachtete ihn weiter. Er erwies sich als ein stattlicher und attraktiver Mann im reifen Alter, gepflegt und auffallend elegant gekleidet. Aber warum legte er öffentlich ein solch absonderliches und abweisendes Verhalten an den Tag? Sie grübelte über diese Frage und behielt ihn weiter im Visier.

    Er quälte sich nach wie vor mit den Koffern vorwärts. Plötzlich blieb er stehen, stellte sein Gepäck auf den Boden, streckte die Arme breit aus, wischte den Schweiß von der Stirn, zog die Hose hoch, ließ die Koffer stehen und kehrte um. Er verschwand in der buschigen Allee, aus der er aufgetaucht war, und erschien nach einer Weile erneut, mit zwei weiteren, genauso großen Metallkoffern. Er schleppte diese zu den zwei ersten Koffern, stellte sie daneben, streckte die Arme breit aus, wischte den Schweiß von der Stirn, zog die Hose hoch, nahm die ersten zwei Koffer und trug sie ein Stück weiter nach vorne. Dann stellte er sie wieder hin, streckte die Arme breit aus, wischte den Schweiß von der Stirn, zog die Hose hoch und kehrte zurück, die zwei verbliebenen Koffer zu holen. Dies wiederholte sich noch einige Male und schließlich war er sichtlich am Ende seiner Kräfte. Er stand reglos neben den Koffern, den Kopf tief gesenkt und mit herabhängenden Händen. Aber da straffte er sich schon wieder und Kavira beobachtete mit wachsender Faszination und Neugier, wie er den Kopf in den Nacken warf, die Arme ausstreckte, den Schweiß abwischte, die Hose hochzog und die Koffer wieder aufnahm.

    Auf diese sonderbare Weise brachte er alle vier Koffer zu einem Grab mit massivem Holzkreuz. Er stellte sie auf die linke Seite des Grabes. Er selbst stellte sich in die Mitte des Grabes, gegenüber dem Kreuz, streckte die Arme breit aus, wischte sich den Schweiß von der Stirn, zog die Hose hoch, bekreuzigte sich und fing an zu sprechen.

    Soweit Kavira das beurteilen konnte, galt seine Rede der linken Seite des Grabes und dem linken Arm des Kreuzes, weil er zu dieser Seite ging und es behutsam berührte. Am Ende streichelte er diesen Arm des Kreuzes und küsste ihn.

    Die rechte Seite des Grabes behandelte er ganz anders, geradezu gemein: Er trampelte heftig auf die rechte Oberfläche des Grabes und rüttelte stark den rechten Arm des Kreuzes, begleitet von Gebrüll und wilder Gestik.

    Kavira wollte von seinem lauten Ärger etwas mitbekommen und näherte sich vorsichtig. Diesmal versteckte sie sich hinter einer Linde und lauschte, konnte aber beim besten Willen nichts verstehen. Die Worte, die er aussprach, waren für sie ganz unverständlich. Näher heran wagte sie sich aber nicht, es gab keine ausreichenden Verstecke mehr.

    Resigniert löste sie sich von der Linde und ging nach Hause. Nach ein paar Schritten überkam sie jedoch ein unwiderstehlicher Impuls und zwang sie zurückzugehen.

    Diesmal versteckte sie sich nicht, sondern setzte sich auf eine Bank in der Nähe und setzte ihre Beobachtung nun unverhohlen fort.

    Der Mann stritt nach wie vor mit der rechten Seite des Kreuzes und am Ende fing er gar an zu weinen. Nach einer Weile heulte er regelrecht. Schließlich zog er ein frisches Taschentuch hervor, wischte sich das Gesicht und die Augen und verabschiedete sich ganz herzlich von der linken Seite des Kreuzes. Danach fing er an die Koffer zurückzutragen, auf dieselbe Art und Weise, auf die er sie herangeschleppt hatte.

    Als er sie nach einer kleinen Ewigkeit alle zur Bushaltestelle an der Allee geschleppt hatte, machte er noch eine letzte Ritualgymnastik, unbeachtet der neugierigen Menschen, und wartete danach ganz ruhig und entspannt auf den Bus.

    Damit war die Sache für Kavira erledigt und sie ging.

    Zu Hause verspürte Kavira deutliche Müdigkeit und Erschöpfung. Sie legte sich auf die Couch und versuchte ein Nickerchen zu machen, aber ihre Augen wollten nicht zufallen. Die Bilder vom Friedhof nagten so stark an ihr, dass sie ständig an diesen merkwürdigen Menschen denken musste. Sie wollte aufstehen und sich mit Arbeit beschäftigen, aber das konnte sie auch nicht – ihre Muskeln taten so weh, als hätte sie selbst die schweren Koffer geschleppt. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass das Stehen auf dem Friedhof und das Beobachten in unbequemer Position die Ursache ihrer Steifheit waren.

    »Der Koffermann ist an all dem Schuld! Er hat mir meine Kräfte geraubt. Zum Teufel mit ihm!«, fluchte sie und über diesem Ärger schlief sie ein. – Aber nur für ein paar Sekunden, dann war sie wieder hellwach. Vor ihren Augen erschien der Koffermann samt seinem Gepäck. Es war ihr unmöglich, nicht an ihn zu denken.

    »Geh weg, du Teufel!«, schimpfte sie erneut und spürte zugleich Sehnsucht nach ihm. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zu ihm zurück, sein Bild bekam sie nicht aus dem Kopf.

    »Oh, Gott! Er hat sich in meinem Gehirn eingenistet«, schimpfte sie laut. »Bin ich verflucht, in alle Ewigkeit dem Mann beim Kofferschleppen zuzusehen?« Sie konnte keinen anderen Gedanken mehr fassen und versuchte eine Erklärung zu finden, bis ihr Kopf schmerzte, doch sie konnte keine logische Erklärung finden. Nein, sie konnte nicht begreifen, was mit ihr los war, aber ihr wurde immer klarer, dass sie dagegen, was sich in ihrem Inneren abspielte, nichts machen konnte.

    Sie bedauerte nun, dem Mann je begegnet zu sein, gab aber auf, ihn aus ihren Gedanken zu vertreiben, das würde sicher von alleine wieder aufhören, sie musste nur warten.

    Doch schon in der nächsten Minute schrie sie wütend: »Geh weg von mir, du Satan! Geh weg, du arroganter Ignorant!« Doch egal wie sehr sie auch schimpfte, der Koffermann war in ihrem Kopf. Sie ließ sich von ihrem Zorn übermannen und schimpfte so fürchterlich auf ihn, dass sie sich selbst erschreckte.

    Als sie dann schließlich glaubte, ihn aus ihren Gedanken vertrieben zu haben, wollte sie ihn jedoch gleich wiedersehen.

    Sie zog von der Couch um ins Bett, denn mittlerweile war der Abend vorüber und die Nacht angebrochen. Sie musste dringend schlafen. Doch stattdessen lief sie im Schlafzimmer herum, ärgerte sich, weinte und konnte sich überhaupt nicht mehr beruhigen.

    Im Morgengrauen – total erschöpft – verließ Kavira die Wohnung und eilte zum Friedhof, in der Hoffnung, den Mann dort zu treffen.

    Den ganzen Tag verbrachte sie dort, doch er kam nicht. Gegen Abend erst wagte sie sich zu dem Grab, an dem er seine seltsamen Zeremonien ausgeübt hatte, und las die Grabinschrift, die besagte, dass in dem Grab zwei Tote ruhten und beide am selben Tag tragisch ums Leben kamen. Gab es womöglich einen Unfall, bei dem der Koffermann verschont wurde? Hatte er deswegen Gewissensbisse? Was war mit diesem Mann? Warum behandelte er die beide Seiten des Grabes so extrem unterschiedlich?

    Kavira überlegte und verspürte in sich ein unwiderstehliches Verlangen nach einem Gespräch mit diesem Mann.

    »Wo bleibst du denn? Komm endlich! Komm …«

    Auffliegende Krähen rissen sie mit ihrem Gekrächze aus diesen neuerlich anstrengenden Gedanken. Das Krächzen blieb ihr jedoch in den Ohren hängen und untermalte nun die ständigen Gedanken an den Koffermann. Zutiefst enttäuscht verließ Kavira den Friedhof.

    Sie fuhr mit dem Bus in die Altstadt. In der Fußgängerzone setzte sie sich in ein Straßencafé und trank etwas, dann bummelte sie stundenlang durch die Altstadt, ohne Ziel, schaute sich Schaufenster an, kaufte in einer Drogerie ihr Lieblingsparfum und ging danach über die Fußgängerbrücke zu ihrer Wohnung. Um sie herum gingen viele glücklich wirkende und lachende Menschen, Paare mit und ohne Kinder. Kavira fühlte sich in dieser Schar von Menschen einsam und unglücklich.

    In der leeren Wohnung verschlimmerte sich ihre Laune und der Koffermann war wieder da, leistete ihr nach wie vor lästige Gesellschaft.

    In der Nacht konnte sie wegen der stetigen Gedanken an den Mann wieder nicht schlafen. Sie stand stundenlang im Wintergarten und spähte auf die Dächer der schlafenden Stadt. Der nachtblaue Himmel, der sich in dieser Nacht ganz besonders reichlich mit schimmernden Sternen schmückte, verbesserte ihre Laune etwas und stimmte sie heiterer.

    Sie setzte sich in einen Sessel und beobachtete diesen himmlischen Zauber, aber in ihrem Kopf brodelten weiter diese unerträglichen Gedanken. Überfordert nahm sie eine Schlaftablette und nach einer Weile sank sie in die Kissen, sank zurück in ihre Kindheit, fühlte sich wieder als kleines Mädchen … fröhlich und lebhaft – glücklich …

    Dann sah sie sich mit ihren Eltern, die sie über alles liebten, und schließlich wie eine attraktive junge Frau, die einen Mann geheiratet hatte, der ihr nur Scham und Demütigung brachte. Wegen ihm musste sie aus München fliehen, weil er sie – nach der Entlassung aus dem Gefängnis – auf Schritt und Tritt verfolgte.

    So wandert Kavira durch die Vergangenheit, versank schließlich endlich in der ersehnten Dunkelheit und schlief ein.

    Doch schon nach einer knappen Stunde erwachte sie wieder, hörte die Kirchturmuhr schlagen.

    Sie biss die Zähne zusammen und stand völlig zerschlagen auf. Sie machte bei offenem Fenster ein paar gymnastische Übungen, atmete tief durch, streckte ein paar Mal die Arme und ging ins Bad, um zu duschen. Sie blieb vor dem Spiegel stehen, betrachtete ihr nacktes Bild, berührte behutsam alle Teile ihres Körpers und stellte fest, dass ihre Brüste noch straff waren; der runde und feste Bauch gefiel ihr auch und der Po ebenso. Als sie mit ihren Händen zu ihrer intimsten Stelle gelangte, wurde sie geradezu elektrisiert. Sie schloss die Augen und berührte diese Stelle weiter, die Wärme breitete sich in ihr aus und sie empfand ein äußerst angenehmes Gefühl.

    Sie öffnete die Augen und schaut sich im Spiegel an: »Nein, Selbstbefriedigung kommt nicht infrage. Niemals!«

    Sie verzichtete auf die Dusche, zog sich an, schminkte sich und ging ohne zu frühstücken erneut zum Friedhof, als ob es ihre heilige Pflicht wäre.

    Draußen war es schon klar und hell, aber unterwegs zogen dunkle Wolken auf. Kavira überlegte kurz, ob sie nicht zurückgehen sollte, um den Regenschirm zu holen, aber sie verwarf den Gedanken wieder.

    Das Gehen strengte sie an, weil ihre Gelenke ganz steif waren und die Müdigkeit sie kraftlos und fahrig machte. Dennoch setzte sie ihren Weg unbeirrt fort, weil sie unbedingt den Koffermann sehen musste.

    Auf dem Friedhof verbrachte sie mehrere Stunden, vergaß die ganze Welt und hielt nur Ausschau nach ihm. Ihre Augen fingen an zu tränen und ihr wurde übel.

    Erneut musste sie abends enttäuscht den Heimweg antreten, da er nicht gekommen war. Es konnte noch ewig dauern, bis er sich wieder blicken ließ.

    Kavira setzte nun alles daran, den Koffermann zu vergessen. Sie stürzte sich in ihre künstlerische Arbeit, weil sie Verpflichtungen hatte und die versäumte Zeit aufholen musste.

    Eine Woche war vergangen und Kavira hatte es geschafft, sich fast ausschließlich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Allerdings überstand sie die Nächte nur mithilfe von Schlaftabletten. Dennoch dachte sie kaum noch an den Mann.

    Sie hatte die drei Skulpturen fertiggestellt, die bei ihr bestellt worden waren, und war sehr stolz auf sich. Sie freute sich wie ein Kind, lobte sich für ihre Leistung. Dann empfand sie dieses Selbstlob als unanständig, aber warum? Warum unanständig? Die Menschen brauchen doch Lob, was soll schon Schlechtes dabei sein? Aber warum war das eigentlich so?

    Sie blickte in den Spiegel. Vor ihren Augen – wie eine Fata Morgana – erschien der Koffermann, der Umriss seiner Gestalt war zwar deutlich zu erkennen, aber schwebend, zitternd, flatternd und wimmelnd wie unter Wasser, wo er sich zu Dutzenden vermehrte – ein Schwarm.

    »Oh Gott! Nein … nur nicht das!« Sie erschrak gewaltig, schlug gegen den Spiegel, um das lästige Bild aufzulösen, doch das Bild blieb. Sie machte ihre Augen zu, aber sie sah es weiter. Sie schlug wieder gegen den Spiegel und schrie: »Geh weg! Verschwinde!« Hätte man sie so gesehen, wäre sie bestimmt für schizophren erklärt worden. Kavira war aber nicht schizophren, sondern erschöpft, übermüdet und besessen von diesem Mann mit den Koffern, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging und all ihr Denken beherrschte, wie ein Ohrwurm, nur intensiver.

    Schließlich bedeckte sie den Spiegel mit einem Tuch und verließ die Wohnung.

    Trotz des Regens ging sie ohne Schirm zum Friedhof, sie konnte einfach nicht anders. Sie war sich plötzlich ganz sicher, dass er heute kommen würde.

    Ungeduldig wartete sie, sah sich unentwegt in alle Richtungen um, ging nervös auf und ab: »Wo bist du denn? Nun komm endlich!« Es ist, als würde sie auf einen Freund warten, der sich verspätet hat.

    Plötzlich sieht sie ihn, wie er wieder auf seine eigenartige Weise die beiden Koffer schleppt. Er stellte sie just in diesem Moment ab, streckte die Arme aus, wischte sich den Schweiß von der Stirn, zog die Hose hoch und ging zurück, um die beiden anderen Koffer zu holen. Gebannt beobachtete sie ihn, bis er wieder alle vier Koffer bis zu seinem Grab gebracht hat. Er stellte sie wieder auf die linke Seite des Grabes, sich selber zu Füßen des Grabes, streckte die Arme aus, wischte den Schweiß von der Stirn, zog die Hose hoch, schüttelte sich ein paar Mal wie ein Hund, der aus dem Wasser kam, stand danach eine Weile ganz steif und reglos, stellte sich dann in die Mitte des Grabes und fing an zu singen. Er sang am Anfang leise, wurde dann immer lauter und sang auf einmal so kräftig und klar wie ein Opernsänger. Die Menschen unterbrachen ihre Arbeit an den Gräbern und drehten sich nach ihm um, hörten ihm zu.

    Kavira war zutiefst berührt.

    Als er Ave Maria beendet hatte, bekreuzigte er sich und ging zu einer nahen Bank. Er setzte sich bequem hin und blickte in den Himmel – er ruhte sich aus.

    Kavira wusste diese Gelegenheit für sich zu nutzen und ging unauffällig zu ihm rüber. Als sie jedoch in seine Nähe kam, verlor sie den Mut und ging an ihm vorbei, sagte nur: »Grüß Gott!«

    Er senkte den Kopf und sah sie an: »Sie sind mir fremd. Warum begrüßen Sie mich und stehlen mir meine Ruhe?«

    »Ich bin Ihnen nicht fremd. Ich bin diejenige, die Ihnen helfen wollte, Ihre Gewissensbisse zu tragen. Erinnern Sie sich nicht mehr?«

    »Ich erinnere mich wohl. Aber ich verstehe nicht, warum Sie mich verfolgen, Gnädigste!«

    »Es ist umgekehrt. Sie verfolgen mich. Und darüber möchte ich mit Ihnen sprechen.«

    »Nein. Ich verfolge Sie nicht, also Adieu!«

    »Doch, Sie verfolgen mich ständig.«

    »Wenn das so ist, haben Sie ein Problem mit Ihrem Kopf, Gnädigste!«

    »Sie haben recht. Deshalb will ich mit Ihnen über dieses Problem reden.«

    »Aber ich will nicht mit Ihnen reden.«

    »Warum nicht? Warum …«

    »Ich habe Ihnen gesagt, dass ich dieses Warum nicht wahrnehme.«

    »Bitte, sprechen Sie mit mir. Bitte …«

    »Was wollen Sie von mir, zum Teufel?« Er wurde ärgerlich.

    »Ich will, dass Sie mich in Ruhe lassen, sonst werde ich noch …«

    »So verrückt, wie ich? Wollten Sie das sagen, ja?«

    »Nein … Ich möchte nur, dass Sie mich von diesen qualvollen Gedanken über Sie befreien, indem Sie mit mir sprechen.«

    »Ich habe Ihnen nichts zu sagen, Gnädigste. Also gehen Sie gefälligst weg!«

    »Unter keinen Umständen werde ich das tun.«

    »Sind Sie Journalistin? Trachten Sie nach Sensationen? Erhoffen Sie sich etwa, dass ich Ihnen meine Gewissensbisse preisgebe oder verkaufe?«

    »Nein, ich bin keine Journalistin. Ich möchte Ihnen auch nichts abkaufen. Ich brauche das Gespräch mit Ihnen, um meine Seele ins Gleichgewicht zu bringen und meinen Kopf von den Gedanken an Sie zu befreien, sonst nichts.«

    »Wenn Sie Ihre Seele quält, müssen sie woanders Hilfe suchen und nicht bei mir. Ich bin nämlich kein Spezialist auf diesem Gebiet, Gnädigste!«

    »Aber ich will …«

    Er schnitt ihr wieder das Wort ab »Kein Aber, denn wenn ich ein Spezialist der Seele wäre, würde ich wissen, wie meine Seele zu heilen ist. Verstehen Sie?«

    »Und ob ich verstehe. Ich spüre, dass wir einander brauchen. Wir können uns gegenseitig helfen. Deshalb ist mir Ihre Unterstützung wichtig. Hören Sie auf mit dieser Gleichgültigkeit, ich bitte Sie.«

    »Gnädigste, was mir fremd ist, ist mir auch gleichgültig und existiert für mich nicht. Also, Adieu!« Er stand auf und ging zu dem Grab.

    Sie ging ihm ein paar Schritte nach und sagte: »Ihr Umgang mit Menschen widert mich an. Sie wissen wohl nicht, was Hilfsbereitschaft bedeutet, die Sie offensichtlich selbst doch brauchen.«

    »Sie irren sich, denn ich brauche keine Hilfe.«

    »Oh, doch! Sie brauchen sie. Nur sind Sie sich dessen nicht bewusst. Und Sie haben in Ihrem Leben viel zu viel zu schleppen … nicht nur Ihre Koffer.«

    »Gnädigste, mein Leben ist in Ordnung. Die Seelenkräfte auch, weil die Koffer, die ich schleppe, diese Kräfte stärken. Sie halten mich im Gleichgewicht.«

    »Sie täuschen sich. Sie sollten erwachen, um zu sehen, wie viel Sie in Ihrem Leben versäumt haben. Öffnen Sie alle Ihre Sinne und Ihre Seele, dann erfahren Sie, was Leben wirklich bedeutet. Das ist es, was Sie dringend brauchen.«

    »Gnädigste, damit ist alles gesagt. Mehr ertrage ich von Ihrer Lehre nicht. Gehen Sie endlich weg und lassen Sie mich mit Ihren Ansichten in Ruhe, denn ich kann sehr unangenehm werden. Verstanden?«

    »Sie sind schon unangenehm genug. Ihr rohes und grobes Verhalten, Ihre unfreundliche Art sind äußerst abstoßend.«

    »Und dennoch funktioniert es bei Ihnen nicht. Provozieren Sie mich nicht weiter, das kann schlecht für Sie ausgehen.«

    »Warum drohen Sie mir? Ich habe doch nichts Böses getan und nichts desgleichen gesagt. Also schicken Sie mich nicht weg und drohen Sie mir nicht, ich brauche Sie.«

    »Wozu denn? Wozu, zum Teufel?«

    »Zum Reden, zum Teufel!«

    »Gnädigste, Sie strapazieren meine Geduld. Und wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden, schalte ich vielleicht meine Gemeinheit ein.«

    »Lieber Gott, was habe ich verbrochen, dass Sie …«

    Er machte eine eindeutige Geste, schweigend, dass sie auf der Stelle verschwinden sollte.

    Sie ging, aber bevor sie es tat, sagte sie: »Wer sich vor den Menschen verschanzt, ist ein Verbrecher oder feige.«

    Er stellte sich schweigend in die Mitte des Grabes, bekreuzigte sich und betete.

    Kavira versteckte sich wieder hinter der Linde und beobachtete ihn. Nach dem Gebet bekreuzigte er sich erneut und fing an, den rechten Arm des Kreuzes anzuschnauzen. Dann kommunizierte er freundlich mit dem linken Arm des Kreuzes und weinte dabei. Das Weinen brachte ihn zum Heulen. Kavira hatte das Gefühl, als müsse er alles, was in seinem Herzen schwer und düster gewesen ist, sofort auf einmal ausheulen und anschnauzen zu gleich. Und es fehlte nicht viel, so hätte sie mitgeheult … und ihn getröstet. Das aber wagte sie nicht und blieb wo sie war, ihn weiter beobachtend.

    Es war wieder Freitag, er kam also offensichtlich jeden Freitagnachmittag um 17 Uhr an das Grab. Ich habe dich erwischt und werde dir jeden Freitag Gesellschaft leisten, bis ich dich zum Gespräch bringe, weil du mich nicht freilässt, du Satan! Kaviras Blut pulsierte auf einmal so heftig, dass sie erschrak. Was soll dieses selbe Geschrei von ihm und von meiner Seele bedeuten? Oh, Gott! Wie gerne würde ich mit ihm darüber sprechen und erfahren, was ihn so schrecklich verwirrt hat, dass er die Ruhe der Toten stört. So quälte sie sich mit solchen und ähnlichen Fragen, aber ihn nochmals anzusprechen traute sie sich nicht.

    Er schrie wieder, diesmal so laut, dass sie die Worte verstehen konnte: »Du verdammtes Monster, du hast meine Seele getötet! Mein Leben ist ausgelöscht! Ich verfluche dich!«

    Er beruhigte sich wieder, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, ließ seine Koffer am Grab stehen und ging energisch zu den Gießkannen-Ständen. Zu seinem Pech hatte ihm die letzte eine ältere Dame direkt vor der Nase weggeschnappt.

    Er ging auf sie los, riss ihr die Gießkanne aus der Hand und schnauzte sie an, dass sie es nicht wagen solle, ihm die Gießkanne streitig zu machen. Danach füllte er sie am Wasserhahn und ging wieder zum Grab, derweil die alte Dame schockiert das Weite suchte.

    Er goss die linke Seite des Grabes und sang ein trauriges Lied.

    Kavira beobachtete ihn und dachte: Der Mann ist nicht nur seltsam, sondern auch frech und gemein. Sie fühlte sich von ihm schrecklich enttäuscht, verzichtete auf eine weitere Beobachtung und ging der älteren Dame nach.

    Sie tröstete sie und fragte: »Kennen Sie diesen Mann?«

    »Nur vom Friedhof. Er kommt jeden Freitag und führt dieses merkwürdige Ritual auf. Haben Sie gesehen, wie die linke Seite des Grabes aussieht? Er widmet dieser Seite seine ganze Aufmerksamkeit und sein ganzes Herz. Die rechte Seite des Grabes lässt er verkommen. Ich glaube, dass er dem Verstorbenen darin irgendwas heimzahlen will. Seien Sie vorsichtig. Sie haben ja gesehen, was das für einer ist. Man munkelt, dass er in einer psychiatrischen Anstalt war. Er soll seine Eltern umgebracht haben. Man sagt auch, dass er sehr reich ist und den Verrückten nur spielt, weil er nicht ins Gefängnis gehen wollte.«

    Kavira bedankte sich für die Auskunft und verabschiedete sich. Sie ging zurück zu der Linde. Sie schaute dem Koffermann weiter zu und dachte: Menschliche Schicksale sind wirklich geheimnisvoll.

    Er stand jetzt auf der linken Seite des Grabes, mit tief gesenktem Kopf. Er schien zu beten. Nach einer Weile ließ er den Blick gen Himmel wandern, senkte ihn wieder und sang ein schönes, aber sehr trauriges Lied, das sich am Ende in leichtes Summen verwandelte. Zum Schluss bekreuzigte er sich, küsste den linken Arm des Kreuzes und schleppte seine Koffer mit dem üblichen Ritual zurück zur Bushaltestelle. Wenn man ihn so sah, dann musste man ihn ja für verrückt halten.

    Die alte Dame jedoch hielt das alles nur für eine Show, um einer Haftstrafe zu entgehen. Sind wir nicht alle auf verschiedene Weise ein bisschen verrückt? Viele von uns erscheinen den anderen als sonderbar. Als normal betrachtet zu werden ist doch auch nicht einfach. Wie definiert man eigentlich normal? Was ist denn normal? Bodenständig? Anständig? Vernünftig oder auch schlau, berechenbar und …? Was, zum Teufel, ist normal? Sie empfand tiefes Mitleid mit ihm und würde so gerne wissen, was ihn so schrecklich bedrückt, dass er sich auf so sonderbare Weise abgesondert hatte. Es kam ihr so vor, als müsse ihm etwas Ungeheuerliches aus der Bahn geworfen haben. Und wenn die Menschen aus Furcht vor ihm und seinem seltsamen Verhalten flüchteten, dann war es natürlich auch kein Wunder, dass sie üble Gerüchte über ihn verbreiteten. Dass sie ihn für verrückt, schizophren oder sogar für einen Mörder hielten, ohne ihn genauer zu kennen.

    Kavira wollte seine Geschichte erfahren, um sich von ihm ein eigenes Bild zu verschaffen. Sie hasste diese Vermutungen, Spekulationen und üble Nachrede. Sie war ein Mensch, der die Wahrheit liebte, deshalb wollte sie von der Quelle schöpfen. Sie wollte, trotz aller Bedenken, sich ihre eigene Meinung bilden, deshalb wollte sie auch unbedingt wieder mit ihm sprechen. Er hat sie irgendwie gefangen genommen und ließ sie nicht wieder los. Sie bekam ihn nicht aus dem Kopf, deshalb sagte sie sich: Koste, was es wolle, aber ich knacke dich und deine harte Schale. Egal wie.

    Sie ging ihm nach.

    Er beendete gerade auf der ersten Strecke seine Gymnastik, bemerkte sie und sagte: »Sie schon wieder? Warum kreisen Sie um mich, wie eine lästige Fliege? Wollen Sie, dass ich Sie wie eine solche totschlage?«

    »Will ich nicht. Aber bevor Sie es machen, sprechen Sie mit mir. Es wird Ihnen guttun.«

    Er blickte sanft auf, nahm ihre Hand, streichelte sie ein paar Sekunden und sagte: »Ich bin beschäftigt, Gnädigste!«

    Als er seine Koffer wieder aufnahm, ging sie neben ihm, versuchte noch ein paar Mal ihn anzusprechen, aber er schenkte ihr schon keine Aufmerksamkeit mehr, stattdessen stellte er die Koffer wieder hin und vollführte sein Ritual, bevor er zurückging, um die zwei anderen Koffer zu holen.

    Da stellte sie sich ihm in den Weg. Er reagierte wie auf ein Hindernis und schob sie beiseite. Kavira merkte, dass er bei seiner Beschäftigung dermaßen konzentriert war, dass für ihn die Außenwelt gar nicht mehr existierte. Um sich davon zu überzeugen, schnippte sie direkt an seinem Ohr mit den Fingern, aber er reagierte nicht. Sie stellte sich ihm erneut in den Weg, aber er ging einfach um sie rum. Ihr wurde damit bewusst, dass seine Auseinadersetzung mit den Koffern ihn vollkommen beanspruchte und für alles andere um ihn herum blind machte.

    So tief in seine Beschäftigung versunken, brachte er alle Koffer zur Bushaltestelle. Dort übte er noch die Entspannungsrituale aus. Einige Menschen schauten ihn verblüfft an, andere schüttelten den Kopf und zeigten ihm einen Vogel. Ein Mann entfernte sich ein paar Schritte von der Haltestelle und fing, unter den Augen aller an der Haltestelle Wartenden, an zu pinkeln. Er weckte damit die Aufmerksamkeit des Koffermannes, der kopfschüttelnd zu ihm rüber sah.

    »Was ist hier mit dem Kopf zu schütteln? Wenn man pissen muss, dann muss man pissen!« schrie der Wildpinkler und zog seinen Reißverschluss wieder hoch.

    Kavira wunderte sich, dass kein Mensch – nicht mal der Vater, der mit zwei Mädchen an der Bushaltestelle wartete – auf diese Schweinerei reagierte.

    Endlich kam der Bus. Der Pinkler stieg als Erster ein, dann der Mann mit Kindern und die anderen Fahrgäste, darunter auch Kavira. Der Koffermann stieg als Letzter ein und holte nach und nach die Koffer rein. Kavira beobachtete seine Bemühungen und staunte, dass niemand bereit war, ihm zu helfen. Der Pinkler sowieso nicht, der ärgerte sich

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