Italienisches und andere erfundene Geschichten aus meiner Sippschaft
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Buchvorschau
Italienisches und andere erfundene Geschichten aus meiner Sippschaft - Malte von Neumann-Cosel
Sonnenblumen
Bei meiner Mutter ist vieles entsetzlich, grässlich, scheußlich, hässlich oder schrecklich. Es gibt eine entsetzlich lange Reise, eine grässliche Erkältung über 10
Tage mit einem scheußlichen Husten, hässliches Wetter oder einen schrecklichen Unfall.
Wenn sie schreibt, benutzt sie immer noch häufig statt des Punktes am Satzende lieber ein Ausrufezeichen.
Meine Mutter, „die Mother, wie wir sie nennen, ich bin mir gar nicht sicher, ob es ein Spitzname ist, ist über 90. Unsere Anrede ist eine Reminiszenz an die 60er-Jahre; London war damals der Nabel der Welt. Es swingte, oder sagt man, es swang? Wenn man mich mit acht gefragt hätte, wo ich hinwill, hätte ich mit Sicherheit „Carnaby Street
geantwortet. Wie gesagt, die Mother ist jetzt über 90, und ich mache mir Sorgen, wann es soweit sein wird. Ich musste ich mich schon mehrere Male darauf vorbereiten.
Leider nützt schützende Vorbereitung in diesem Zusammenhang wenig, es wird mich treffen. In meiner Jugend habe ich gerne „Die 2 geguckt, und es gab da einen „Herrn Hochwohlgeboren
, Lord Brett Sinclair, und einen Danny Wilde. War es Roger Moore oder Tony Curtis, der sagte: „Den Schwinger sah er wohl, doch fehlt ihm jetzt das linke Aug’?"
Das Gesicht meiner Mutter ist zwischen 65 und 85 fast unverändert geblieben. Sie alterte nicht oder nicht sichtbar. Als sie 85 war, schenkte sie mir zu meinem Geburtstag ein besonderes Portrait von sich. Im Gesicht, mit Augen, die dich direkt ansahen, spiegelte sich eine besondere Mischung von Neugier und Wachheit mit einem Schuss Frechheit. Ungewöhnlich, ein Bild von sich hatte sie noch nie verschenkt. Wollte sie sich verabschieden?
Ihr ganzes Leben lang hat sie immer versucht, ihre fünf Kinder gleich zu lieben, und sie hat relativ früh verstanden, dass sie sie dazu unterschiedlich behandeln musste. Eines war sicher: Wenn sie anfing, jedem ihrer Kinder ein Bild zu schenken, würde sie niemals sterben, bevor nicht jedes Kind ein Bild hätte. Ich rief meine Schwester an und erkundigte mich vorsichtig. Meine Mutter hatte mir im Januar als Letztem das Bild geschenkt.
Vor einigen Jahren, kurz nachdem ich 40 geworden war, erklärte mir meine Mutter, dass ihre Familie einmal zu den wohlhabendsten in Estland gezählt wurde. Für mich war das überraschend. Nie zuvor war davon gesprochen worden. Bis dahin wusste ich nur, dass sie meine Mutter, die Jüngste, zu Verwandten geben mussten, weil sie nicht genug Geld hatten. Später, erst kurz vor ihrem Tod, fand ich heraus, dass ihre ältere Schwester auch nicht zu Hause aufgewachsen war.
In dieser Sippe konnten sich Löcher auftun, in denen alle Sicherheiten urplötzlich verschwanden. Stattliche Häuser gingen in Flammen auf oder versanken, erstaunlich beweglich, mit dem Land, den Tieren, den Freunden und dem ganzen Geld, in einem tiefen Abgrund.
Bei meiner Mutter war das Loch etwas kleiner geworden. Es hatte auch an Hunger eingebüßt. Es fraß keine Häuser, Freunde und Staatsbürgerschaften mehr, nur etwas Geld.
Als Kind hatte ich manchmal grundlos Angst, wir könnten von einem Moment auf den nächsten arm sein.
Früher hat meine Mutter oft von ihrer Mutter – für uns Kinder Omama – erzählt.
Sie ist mit 91 gestorben, aber nicht bevor sie ihr drittes Urenkelkind auf dem Schoß gehalten hatte. Manchmal sehe ich sie genau vor mir. Sie hatte keine grauen Haare, sondern bis zum Schluss schwarzes Haar mit weißen Strähnen.
Es kam der Sommer des Jahres, in dem meine Mutter im September selbst ihren 91sten feiern sollte. Wir sitzen am Tisch, und plötzlich fängt meine Mutter an, von ihrer Mutter zu erzählen. Ich sage: „Eigentlich musst du mindestens ausgleichen, sonst wäre das ja ein schwaches Bild, oder?" Sie richtet sich auf, es ist, als sei ein Nachbrenner eingeschaltet worden, der kurzzeitig alle ihre Knochen erwärmt. Ihre Augen blitzen, aber sie antwortet nicht.
Einige Monate gewonnen. Ich weiß nicht, wie oft sich ihr Gesicht in der letzten Zeit geändert hat. Jedes Mal, wenn ich komme und denke, so, jetzt kann es nicht mehr älter aussehen, überrascht sie mich aufs Neue.
Eine Nichte wurde schwanger. Es sollte im Sommer kommen – das dritte Urenkelkind.
Im Frühjahr sitze ich mit meiner Mutter am Tisch, die Unterhaltung verläuft, wie so oft, in den letzten Monaten schleppend. Öfters macht sie einen abwesenden Eindruck. Zunehmend habe ich das Gefühl, dass sie nicht mehr so viele Dinge wirklich interessieren. Das Laufen fällt ihr nach dem Schlaganfall immer schwerer. Der Rhythmus ist verloren gegangen, und sie muss ihn auf der Stelle trippelnd finden, bis sie loslaufen kann. Im Haus kann sie nur noch auf einem großen elektrischen Sessel sitzen, der sie praktisch so wieder ausspuckt, dass sie direkt auf den Füßen steht.
Ich beuge mich zu meiner Mutter und sage: „Gell Mother, du willst auch noch dein drittes Urenkelkind auf dem Schoß halten? Ein Ruck geht durch ihren Körper, sie richtet sich auf und sieht mir mit blitzenden Augen ins Gesicht: „Natürlich.
Das heißt, in diesem Moment habe ich wieder einige Monate gewonnen. In der Zeit kurz nach ihrem 92. Geburtstag kommt meine Nichte mit der Kleinen zu Besuch. Einmal Gleichstand und gleichzeitig einmal die Nase vorn. Wir brauchen eine neue Sensation, ein neues Ziel – einen erneuten Gewinn.
Ein andermal sitzen wir zum Tee am großen Esstisch. Ich bin verspätet gekommen. Ein grässlicher Stau. Früher saßen wir immer an diesem Tisch, auch zum Frühstück, aber seit einiger Zeit bleibt sie zum Frühstück lieber in der Küche. Wir unterhalten uns ein bisschen über das hässliche Maiwetter. Dann wird nicht geredet. Es ist aber kein Schweigen, das sich über uns senkt und nach unten drückt, sondern es ist eine sich nach allen Seiten vergrößernde Wüste in der Nacht mit einem Himmel voller Sterne, die die Dunkelheit mit ihrem Licht erwärmen.
Plötzlich fällt mir der Eurojackpot ein, in dem sich über die Wochen der maximal mögliche Gewinn angesammelt hat: 90 Millionen Euro. Eine schier unvostellbare Summe. Das Lottolädchen, in dem ich noch ein Feuerzueg gekauft hatte, war mit lauter Schildern gepflastert gewesen, die auf den größtmöglichen Gewinn hingewiesen. Ich erkläre meiner Mutter die Gewinnmodalitäten dieses Spiels, bei dem man fünf richtige Zahlen aus 50 und zwei aus 10 auswählen muss. Dann erläutere ich ihr das Prinzip des Jackpots, der hier überzulaufen drohte. Ihre Augen sind wach, und an zwei Zwischenfragen merke ich, dass sie mir folgt. Nach einer kleinen Pause schwatze ich los:
„Stell dir vor, du hättest die 90 Millionen Euro gewonnen." Sofort geht ein Ruck durch ihren Körper, der sich deutlich aufrichtet. Mit wachen Augen dreht sie sich ungewöhnlich flott in meine Richtung. Die Antwort kommt verblüffend rasant, fast wie aus der Pistole geschossen:
„Ein entsetzlicher Gedanke."
Drei Wochen später bin ich wieder bei ihr zu Besuch. Das Gesicht hat sich wieder verändert und ist nochmal deutlich älter geworden, das Gehen hat sich verschlechtert, und sie kommt jetzt sogar nicht einmal mehr aus dem Elektrosessel auf die Beine. Sie kann keine Schubladen mehr aufziehen, keine Briefe öffnen, die Unterschrift dauert lange und wird zunehmend krakeliger.
„Du musst mir helfen." Sie dirigiert mich in ihr Schlafzimmer, in dem auch ihr Schreibtisch steht.