Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Differenz
Die Differenz
Die Differenz
eBook218 Seiten3 Stunden

Die Differenz

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Santiago de Chile. Die Stadt liegt nach einem Vulkanausbruch in Asche gehüllt da. Drei Kinder von ehemaligen linken Militanten werden mit der Vergangenheit der Pinochet-Diktatur konfrontiert, die sie weder erinnern noch vergessen können. Felipe, dessen Eltern unter dem Regime verschwanden, imaginiert in jedem Winkel der Stadt Leichen und zählt sie wie besessen, um dem Trauma eine Form zu verleihen. Auch Iquela und ihre im Berliner Exil aufgewachsene Kindheitsfreundin Paloma sind auf der Suche nach ihrem Platz in einer zerrissenen Gesellschaft. Als die Leiche von Palomas Mutter auf dem Transport nach Chile in Argentinien strandet, machen sich die drei mit einem Leichenwagen und einer Flasche Pisco auf zu einem etwas anderen Road-trip in die Anden.

Intensiv, intelligent und außerordentlich sensibel für Bedeutung und Gewicht der Worte, präsentiert dieses bemerkenswerte Debüt eine neue Art, über die Tiefe eines Schmerzes zu schreiben, der sich über Generationen erstreckt.

Nominiert für den International Booker Prize 2019 – Shortlist.
SpracheDeutsch
Herausgeberbahoe books
Erscheinungsdatum24. Mai 2022
ISBN9783903290907
Die Differenz

Ähnlich wie Die Differenz

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die Differenz

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Differenz - Alia Trabucco Zerán

    Elf.

    Am Anfang kamen sie dann und wann, den einen Sonntag tauchten sie auf, den andern wieder nicht, dann war mal ein Wochenende Pause und dann kamen sie Schlag auf Schlag, Disziplin ging ihnen nämlich ab, meinen Toten. Sie überraschten mich immer an den merkwürdigsten Orten: Sie lagen an der Bushaltestelle, im Rinnstein, im Park, sie hingen an den Brücken und Ampeln, sie rauschten den Mapocho hinab, an jeder Ecke von Santiago tauchten diese Sonntagsleichen auf, diese alle Ein- oder Zwei-Wochen-Kadaver, die ich methodisch und ordentlich zusammenrechnete und die Summe wuchs und wuchs wie Wellenschaum am Strand, wie Wut, wie Lava, sie wuchs und wuchs, obwohl das Wachstum ein Problem war, denn das ergab ja gar keinen Sinn mit dem Wachsen, wo doch alle Welt weiß, dass die Toten zerfallen und anklagen und an einem zerren, wie dieser Tote, den ich gerade heute auf dem Gehweg gefunden habe, ein einsamer Toter, der seelenruhig darauf wartete, dass ich zufällig vorbeikomme auf meinem Weg durch den Parque Bustamante und auf der Suche nach irgendeiner Spelunke, wo ich mir gegen die Hitze ein paar Bier hinter die Binde kippen konnte, diese klebrige Hitze, die noch die kühlsten Berechnungen zerfließen lässt, und so bin ich da unterwegs auf meiner verzweifelten Suche nach irgendeiner Bierbude, als ich an der Ecke Rancagua einen meiner aufmüpfigen Toten erspähe, ganz allein und noch warm und unentschlossen, ob er sich jetzt hier niederlassen soll oder doch auf der anderen Seite, so hat er auf mich gewartet mit seinen abstrusen Klamotten, ganz eingepackt in Mütze und Wollschal, als ob der Tod im Winterland wohnt und er ihn in angemessener Kleidung aufzusuchen hätte, ja, an dieser Ecke lag mein Toter mit nach vorne geneigtem Kopf und ich bin schnell hin zu ihm, um ihm in die Augen zu sehen, ich beuge mich hinab und halte seinen Kopf, um ihn zu überraschen, ihn zu befragen und in ihn zu fahren, und erst dann merke ich, dass er gar keine Augen im Gesicht hat, nein, nur zwei dicke Lider, dick wie Mauern, wie Kapuzen, wie Stacheldrahtrollen, und ich werde nervös, aber atme tief ein und nehme mich zusammen, atme aus, knie mich hin und lutsche an meinem Daumen, bis er ganz feucht ist, und dann führe ich ihn zu seinem Gesicht hin und hebe ganz ruhig das harte Lid an, ganz langsam ziehe ich diesen Vorhang auf, um hineinzuspähen, ihn auseinanderzunehmen, ihn abzurechnen, all das, aber eine furchtbare Angst hüpft in meiner Brust, ein Schrecken, der mich lähmt, denn das Auge wird von einer Flüssigkeit überschwemmt, die weder blau noch grün noch braun ist, da ist ein schwarzes Auge, das mich anstiert, ein Auge voll Brackwasser, eine von der Nacht umhüllte Pupille, und ich stürze hinein in den Abgrund dieser Augenhöhle und sehe mich selbst ganz deutlich in der dunklen Iris dieses Mannes: ertrunken, gebrochen, zerstört auf dem Grund dieses Wassergrabens, der mir doch die Dringlichkeit zu verstehen hilft, denn dieser Tote ist eine Mahnung, eine Spur, ein Aufscheucher, ich sehe mein Gesicht, das in seinem begraben liegt, meine Augen betrachten mich aus seinen Höhlen heraus und ich begreife, dass ich mich jetzt ein für alle Mal sputen und ranhalten muss, damit ich am Ende bei null rauskomme, ja, und gerade als ich mich einigermaßen beruhige und mich vorbereite und mein Notizbuch zücke, um ihn zu registrieren, höre ich von weitem die unerträgliche Sirene, den heranschießenden Krankenwagen, der mich dazu zwingt, ihn schneller abzurechnen, ihn ganz rasch zu löschen, denn summieren war doch immer das Problem gewesen und addieren die falsche Antwort: Wie bringt man die Menge der Toten und der Gräber auf einen Nenner? Woher weiß man, wie viele geboren werden und gerade noch übrig sind? Wie bringt man diese Totenmathematik und die Listen in Einklang? Indem man die Leichen abrechnet, auflöst, zerfleddert, genau, und dafür die Arithmetik des Endes aller Zeiten benutzt, um so schließlich am jüngsten Tage aufzuwachen, auf die Zähne zu beißen und die Differenz zu berechnen: sechzehn Millionen dreihunderteinundvierzig Tausend neunhundertachtundzwanzig minus dreitausend und soviel, minus die hundertneunzehn, minus eins.

    ( )

    In jener Nacht regnete es Asche oder vielleicht auch nicht. Möglicherweise war dieses Graugestöber nichts als das Rauschen meiner Erinnerungen und alles, was in jener Nacht seinen Anfang nahm, war ein leichter Nieselregen und ein großes Fest, ein hartnäckiger Nebel und der Knoten, der diese Erinnerungen an die übrigen Fäden meiner Kindheit knüpfte.

    Die Sonne war schon untergegangen und der Strudel aus Umarmungen und Küssen, aus Wie-groß-bist-du-geworden, Wie-die-Zeitvergeht, war mit dem Hereinbrechen des Abends allmählich abgeebbt. Ich hatte einen klaren Auftrag: auf das Läuten der Türklingel lauern, die tintenbefleckten Daumen kontrollieren und die Tür bei Bedarf öffnen. Ich nahm diesen Auftrag meiner Mutter so ernst (diesen Elementarauftrag, wie sie sagte), dass ich es für notwendig befunden hatte, mich von meinen Barbies zu verabschieden, sie auf ewig im Garten zu beerdigen und mich endlich in die Hüterin des Hauses zu verwandeln. Ich war ja schon groß, mir würde die Aufgabe zufallen, die Haustüre zu bewachen, dachte ich, während ich sie im Matsch vergrub und noch nicht wusste, dass ich sie später Felipe schenken würde, schwarz vor Erde wie sie waren.

    Getreulich bekleidete ich meinen Wachposten und empfing die Wellen an Gästen, die gleichermaßen euphorisch und ungeduldig daherkamen und sich, nachdem sie etwas zögernd vor dem Gartentor gestanden waren (der Schlamm, die Büsche, das unbezähmbare Unkraut auf dem Boden), im Tumult der Party verloren, die auf der anderen Seite der Fenster tobte. An all das erinnere ich mich ohne einen Hauch von Wehmut. Ich erinnere mich an den Geruch nach feuchter Erde, an die runden Maquibeeren auf meiner Zunge, an die auf meinen Knien antrocknende Erde (die mich steif werden ließ, als versteinerte ich langsam). Ich habe den Staub von diesen Bildern abgeklopft, sie sind frei von Sehnsucht. Mir ist es gelungen, meine Nostalgie zu zähmen (angebunden habe ich sie an eine Stange in der Ferne) und außerdem war es nicht meine Entscheidung, diese Erinnerung zu bewahren. Es war der 5. Oktober 1988, aber nicht ich, sondern meine Mutter sorgte dafür, dass ich jene Nacht nicht vergessen sollte.

    Es war schon spät, als sich drei Unbekannte dem Gartentor näherten. Zwei Riesen und eine Mittelgroße brauchten ungewöhnlich lange, bis sie die Klingel gefunden hatten, und begannen dann einen falschen Namen zu rufen, «Claudia, Claudia», riefen sie mit einer gewissen Furcht in den Stimmen und blickten sich dabei nervös um, als ob irgendein Schatten sie verfolgte. Die Mittelgroße war die Einzige, die keinen Ton sagte und sich nicht rührte. Ihr blondes Haar, ihr gehetzter Gesichtsausdruck und der in ihrem Mund umherkreisende Kaugummi sagten mir, dass es sich um das Mädchen handelte, das mir meine Mutter an jenem Morgen angekündigt hatte («mach dich fein, grüß höflich, warte auf sie, lächle»). Sie hob nicht einmal den Blick, als ich öffnete. Unbeweglich stand sie da: Ihre Augen, die starr auf die Spitze ihrer weißen Espadrilles gerichtet waren, ihre Hände in den Taschen ihrer abgewetzten Jeans und die ihre Ohrmuscheln umschließenden Kopfhörer reichten, um mich sofort zu erobern. Rechts von ihr stand ein blonder und bärtiger Mann, der eine Hand auf ihren Kopf gelegt hatte (als wollte er sie in den Boden, ja unter die Erde drücken). Links von ihr stand lang und aufrecht wie eine Pappel eine Frau, die mich musterte und deren Gesicht mir auf entfernte Weise bekannt vorkam, dachte ich, als hätte ich sie schon einmal auf einem alten Foto oder in einem alten Film gesehen, doch sie unterbrach mich, noch ehe ich sie zuordnen konnte. «Das ist Palomita», sagte sie und zeigte auf die Mittelgroße, der sie einen Schubser versetzte, damit sie endlich zum Tor hereintrat. «Und du musst Iquela sein, nicht wahr? Gib ihr (mir) eine Umarmung», befahl die Frau und zwang Paloma und mich zu einer Geste, die wir gehorsam ausführten und dabei so taten, als würden wir uns kennen und endlich wiedersehen (und damit das hungrige Heimweh unserer Eltern stillen).

    Paloma wirkte auf mich zuerst wie ein Rockstar. Sie weigerte sich, den Flur zu verlassen, nachdem wir ins Haus gegangen waren, und ihre Eltern versuchten gar nicht erst, sie vom Gegenteil zu überzeugen, und verschwanden in einem Karussell voller Umarmungen, Wie-lang-ist-das-her, Kaum-zu-glauben, die-Ingrid-ist-da, und so blieben sie und ich allein zurück: zwei unbeeindruckte Statuen im Strom der Gäste, die unschlüssig zwischen Wohnzimmer und Küche pendelten, zwischen Enthusiasmus und Angst. Sie hörte Musik und nichts außer ihrer Füße, mit denen sie wütend im Takt einer Melodie wippte, schien sie etwas anzugehen. Eins, zwei, Pause. Eins, zwei. Ich wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte, um sie zu unterbrechen oder meine Schüchternheit zu überwinden, die mich schon fast all meine Fingernägel gekostet hatte. Ich war es gewohnt, unter Erwachsenen zu sein, und ihre geheimnisvolle Erscheinung, die meine Mutter mir wie die Ankunft eines Engels oder einer Außerirdischen angekündigt hatte, hatte mich schon den ganzen Tag über in Unruhe versetzt. Außer ihrem hartnäckigen Schweigen bot mir Paloma, die man sicher gegen ihren Willen auf diese stinklangweilige Party mitgeschleppt hatte, lediglich das Geräusch ihres gegen den Boden schlagenden Absatzes an, wie einen einzigen Hinweis auf ihre Melodie, dachte ich, und stellte meinen Fuß neben ihren, mit dem ich mich langsam an den Rhythmus dieses stillen Refrains anzuschmiegen begann. Sie steppte zwei Mal, dann ich zwei Mal. Nach einer Weile, als wir quasi tanzten, ohne uns zu bewegen, hielt sie, ja hielten wir beide inne. Paloma baute sich vor mir auf (sie war zehn, vielleicht auch fünfzehn Zentimeter größer als ich), nahm meine Hand, drehte sie mit der Innenfläche nach oben und legte ihre Kopfhörer hinein. «Probier sie dir aus», sagte sie mit ihrem sperrigen Akzent und einer seltsamen Stimme. «Probier sie dir aus und drück auf Play», wiederholte sie und kaute dabei weiter auf diesem plattgebissenen weißen Wurm herum. Sie selbst setzte mir die schwarzen Muscheln auf und bedeutete mir dann mit einem Finger auf den Lippen, dass ich keinen Laut von mir geben und ihr folgen sollte. Ich lief dicht neben ihr her, so dicht wie es nur ging, und der samtene Träger, der auf ihrer Schulter blitzte, hypnotisierte mich genauso wie die Spitze ihres Zopfs, der wie ein Köder auf ihrer Hüfte tanzte, und die in einem Winkel meines Kopfes ertönende Musik: eine Gitarre, eine Stimme, das traurigste Klagen der Welt.

    Paloma und ich schlichen auf Zehenspitzen ins Esszimmer, streng darauf bedacht, dass uns niemand bemerkte. Auf dem Tisch standen lauter Weingläser und Becher, ein Berg Zeitungen und Pamphlete lagen neben einem Kofferradio und daneben tätschelten unsere Väter sich die Hände und das Gesicht, als müssten sie sich davon überzeugen, dass ihre Namen und ihre Körper wirklich miteinander übereinstimmten. Im Radio begann gleich die Sendung, die meine Eltern jeden Abend hörten, mit ihrem wilden Trommelwirbel und dem immer gleichen Tenor an nicht enden wollenden schlechten Nachrichten (das war der Soundtrack jener Jahre, die unendliche Epoche der Trommelwirbel). Ich erklärte Paloma, dass das kein altes Radio war, sondern mit Batterien funktionierte, damit wir vorbereitet waren, falls der Strom ausfiel. Während der Stromausfälle, flüsterte ich ihr ins Ohr, spielen Felipe und ich abends miteinander. Wir spielen Verschwinden. Ich wusste nicht, ob Paloma mich nicht hörte oder nur so tat. Sie ließ mich stehen und begann damit, die Weingläser und Becher zusammenzuschieben, an denen sie schnupperte, nur um sie dann mit angeekeltem Gesicht wegzustellen. Lediglich zwei Gläser überstanden den strengen Auswahlprozess und standen nun vor uns. «Weißer- oder Roterwein», fragte sie mit rauer Stimme. Roter, antwortete ich (hatte ich wirklich Roterwein gesagt und war die Antwort auf diese Frage wichtig für diese Erinnerung?).

    Paloma reichte mir das Weinglas und schenkte sich selbst einen Whisky ein. «Wirklich köstlich», flüsterte sie, während sie mit ihrem Zeigefinger die Eiswürfeln kreisen ließ. «Trink», sagte sie, «trink den Wein, oder magst du den etwa nicht, Iquela? Wie alt bist du eigentlich?», fragte sie ohne zu blinzeln und ich bemerkte die Tausenden von Sommersprossen auf ihrem Gesicht und die blauen Augen unter ihren Brauen, die so blau waren, dass sie mir unecht vorkamen. Plastikaugen. Falsche Augen, die mich durchleuchteten, mich durchschauten. Sie zeigte ein aufgesetztes Lächeln, mit dem sie mechanisch ihre Zähne entblößte, und dann spuckte sie, ohne zu lachen, den Wurm in die Handfläche und knetete ihn durch, bis er sich in eine kleine Kugel zwischen ihrem Zeigefinger und Daumen verwandelte. «Du zuerst», sagte sie und zeigte auf mein Glas. «Du bist dran», insistierte sie, während sie weiter auf der immer festeren runden Masse herumdrückte. Ich atmete tief ein, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken, ehe ich das ganze Weinglas in einem Zug leerte. Ein, zwei, drei endlose Schlucke. Ich konnte ein Schaudern nicht unterdrücken und öffnete die Augen. Paloma trank ihren Whisky aus, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein Eiswürfel knirschte zwischen ihren Zähnen und sie stellte das Glas zufrieden und als ob nichts gewesen wäre auf den Tisch zurück. Jetzt lächelte sie wirklich.

    Die wild umherlaufenden Gäste fielen sich gegenseitig ins Wort und redeten zunehmend lauter und schneller, bis alles ein einziges Getöse war. Zwischen ihrem Geschrei war das Radio zu vernehmen: zweite Auszählung der Stimmen. Meine Mutter ging nervös auf und ab. «Was haltet ihr davon?», fragte sie in den Raum, an alle und niemanden gerichtet. Und ob das Militär wohl das Abstimmungsergebnis respektieren würde, ob noch jemanden einen Drink wollte, noch mehr Eis, das Radio lauter, und dann ließ sie ein metallisches Lachen erklingen, an das ich mich nur allzu gut erinnere. Ich konnte kaum glauben, meine Mutter so lachen zu sehen, mit einem durchdringenden Geheul und weit aufgerissenem Mund (ihre strahlend weißen Zähne standen da wie ein Zaun an einer Schlucht). Ich wollte nicht, dass Paloma sie so sah. Ich wollte zu ihr hingehen und ihr sagen, Mutter, ich liebe dich ganz fest, aber halt den Mund, ich bitte dich, halt den Mund. Aber das Getrommel aus dem Radio überdeckte ihr Lachen oder vielleicht verwandelte sich das Lachen in das Getrommel, das für Ruhe und Ernsthaftigkeit sorgte und den Stand der Auszählung bekannt gab, «zweiundsechzig Prozent der Stimmen.»

    Als die Nachrichten vorbei waren und kein Alkohol mehr auf dem Tisch übrig war, meinte Paloma, sie wolle rauchen. Sie nahm mich bei der Hand und führte mich hinaus in den Flur. Ich erinnere mich, wie wir schwankten. Eine unbekannte Erregung durchlief mich, ein leichter und froher Schwindel, den Paloma nach wenigen Schritten unterbrach. «Und deine Zigaretten?», fragte sie mit ihrem holprigen «R», während sie meine Hand drückte und mich mit diesen Augen ansah, die mich zu schweigen und gehorchen zwangen.

    Ich führte sie zum Schlafzimmer meiner Eltern am anderen Ende des Hauses, wo der Lärm der Party kaum noch zu hören war. Ruhig und ohne sich einmal umzublicken, betrat Paloma das Zimmer und begann, es bis in den letzten Winkel zu durchstöbern. Ich hingegen presste die Augen zusammen und schloss die Tür (wie man die Augen vor der Welt verschließt, um selbst nicht gesehen zu werden). Als ich sie wieder aufmachte, wartete Paloma schon ungeduldig. «Und?» Ich zeigte auf den Nachttisch. Dort bewahrte meine Mutter ihre Zigaretten, Streichhölzer und die Tabletten auf, die sie manchmal an trüben Morgen und immer bei nächtlichem Stromausfall zu nehmen pflegte. In der Schachtel Barclays steckte nur noch eine einzige Zigarette, aber Paloma zog die Schublade auf und zauberte nach einigem Wühlen gleich ein ungeöffnetes Päckchen hervor. Sie griff sich auch einen Streifen Tabletten und alles zusammen verschwand im Innern einer kleinen roten Handtasche, die wie von Zauberhand an einer ihrer Schultern aufgetaucht war (denn solche Dinge bleiben gut im Gedächtnis, das wilde Glitzern einer roten Handtasche).

    Unter meinen Füßen begann der Boden zu schwanken, wie das wohlige Schaukeln eines Schiffs auf dem Weg in den Untergang, auf dem ich glücklich und erschrocken zugleich im Zickzack mit Paloma quer durch das Haus dahinschipperte. Gemeinsam durchquerten wir den Flur und das Wohnzimmer und ließen das Stimmengewirr und die neuen Auszählungsergebnisse hinter uns, die nun bei dreiundachtzig Prozent der Stimmen angekommen waren. Ich klammerte mich mit aller Kraft an sie und zog sie nach draußen, weit weg von wo unsere Väter sich gegenseitig anschrien (ihr Vater war vom Sofa aufgestanden und meiner versteckte sich hinter dieser Brille, die sein Gesicht in zwei Hälften teilte). In immer weiterer Entfernung von uns lehnte mein Vater an der Wand und schlug mit der Schneide seines Messers gegen ein Weinglas. Ding, ding, ding. «Ruhe». Ding, ding. Als ob

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1