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Nenn mich nicht Mutter
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eBook326 Seiten4 Stunden

Nenn mich nicht Mutter

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Über dieses E-Book

Als uneheliches Kind in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts fürchtete Rosa nichts mehr als die Ablehnung ihrer Mitmenschen. Sie wollte dazugehören, ein ganz normales Leben führen, doch das schien nicht möglich. Ihre eigene Mutter verleugnete sie und zwang sie, so zu tun, als wäre sie ihre Schwester. Rosa begehrte gegen diese Ungerechtigkeit auf, die ihr gesamtes Leben dominieren sollte.
»Nenn mich nicht Mutter« ist eine wahre Geschichte, die die sozialen und moralischen Werte des bäuerlichen Lebens in Bayern ab 1920 widerspiegelt und zeigt, wie es das Leben einer Frau geprägt hat, die in so eine dörfliche Gemeinschaft hineingeboren wurde,
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Apr. 2022
ISBN9783347625587
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    Buchvorschau

    Nenn mich nicht Mutter - Isolde Martin

    Kapitel 1

    Das Jahr 1923

    Das Jahr 1923 war gerade mal einen Monat alt. Alle Tage dieses Monats waren so kalt, dass die Temperaturen immer unter der Null-Grad-Grenze blieben. Obwohl solches Winterwetter am nördlichen Fuß der Alpen allgemein als normal angesehen und erwartet wurde, betrachteten die Menschen es doch als Herausforderung, gut und gesund durch diese frostige Zeit zu kommen. Selbstverständlich empfanden die Bewohner dieses Landes Stolz auf ihre Fähigkeit, solche Bedingungen zu überstehen. Es fehlte ihnen nicht an gutem Essen und einem warmen Raum, zu dem sie zurückkommen konnten, um Finger und Zehen aufzuwärmen.

    Es gab nur einen einzigen Raum, in dem großen Haus, der beheizt wurde, er fungierte als Wohnzimmer und Küche zugleich. Das entsprach zu dieser Zeit der Architektur und dem Lebensstil der Landwirte in diesem Land. Der Eingangsbereich, das Treppenhaus, das obere Stockwerk mit den Schlafzimmern und das Bad wurden der winterlichen Kälte überlassen. Man war stolz, zäh zu sein.

    Nach dem Erwachen am Morgen wurden die Schlaftrunkenen oft von schönen angefrorenen Eisblumen am Fenster begrüßt. Dann galt es, die Kleidung noch kurz im warmen Federbett aufzuwärmen, bevor man blitzartig hineinschlüpfen konnte – unter der warmen Bettdecke, versteht sich. Aber weiter ging das Frieren, da es noch kein warmes Wasser gab. Persönliche Hygiene musste warten. Der Herd wurde sofort eingeheizt, da man warmen Kaffee und Frühstück brauchte. Damit wurde auch das Wasser warm.

    An diesem Tag wurde das einzige Schlafzimmer im Erdgeschoss und auf der nördlichen Seite des Hauses etwas warm gehalten, indem man einfach die Tür zu der Stube offenließ. Zwei Frauen standen am Bett der Frau, die mit schmerzverzerrtem Gesicht dort lag. Das lag nicht nur an den Wehen, sondern auch an den bösen Worten, die ihre Mutter auf sie niederprasseln ließ. Die Hebamme Maria stand mit verschlossenem Gesicht dabei, ohne der Mutter Einhalt zu gebieten.

    »Das macht nix, du verdienst diese Schmerzen«, fauchte die Mutter auf ihre Tochter Liz herunter. »Das passiert solchen Sünderinnen wie dir. Warum hast du diesem nichtsnutzigen, verantwortungslosen Mann nachgegeben?« In ihrer Wut und Enttäuschung, gepaart mit der Angst vor dem moralischen Urteil der Nachbarn und der Kirche, bedachte sie nicht, dass sie ihre dreizehn Kinder im gleichen Schmerz geboren hatte.

    Ja, warum ließ Liz zu, diese Zeit mit ihm in der Scheune zu verbringen? Eine besondere Schönheit war er nicht. Aber er redete süß und charmant und hatte obendrein noch die Möglichkeit, eine Familie zu finanzieren. Liz war schon 29 Jahre alt und wusste, dass sie langsam zu alt wurde zum Heiraten. In dieser konservativen, christlichen Gegend war es aber kein Vergnügen, unverheiratet zu bleiben. Man wurde zum Gespött der Kommune. Aber jetzt, das wusste Liz, würde sie ans Ende der Hierarchie für heiratsfähige und moralisch einwandfreie Frauen sinken. Niemand würde sie jetzt noch als ehrbare Ehefrau und Mutter eines ledigen Kindes in Betracht ziehen. Sie musste einfach zu Hause bleiben. Oh ja, ihre Familie würde sie tolerieren, trotz ihres Fehltritts. Eine zusätzliche Arbeitskraft auf einem Bauernhof war immer willkommen. Später, nach dem Ableben ihrer Eltern, dürfte sie dann immer noch auf dem Hof bleiben, aber sie wäre ihrer Schwägerin unterstellt, sollte ihr Bruder, der vorgesehene Erbe des Hofes, heiraten. Liz zukünftiges Leben war vorbestimmt, aber es waren keine besonders erfreulichen Aussichten. Sie hatte etwas riskiert, für eine bessere Zukunft in ihrer eigenen Familie, aber es sollte nicht sein. Es war noch nicht mal schöner Sex, sondern hatte wehgetan. Sein süßes Gerede hatte sie zum Narren gehalten. Nach Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft zog sich der Kerl zurück, alle Beteiligung verleugnend. Nie kontaktierte er Liz wieder. Als ein respektierter Vater von eigenen vier Kindern war es leicht für ihn, sie der Lüge zu bezichtigen. Sie war offensichtlich eine leichtfertige Frau, warum würde sie sonst so weit weg von zu Hause arbeiten? Liz wusste, dass sie keine Chance hatte. Einmal eine Sünderin, immer eine Sünderin. Das war Usus. Sie entschied sich, ihren Kopf niedrig zu halten, nicht hervorzutreten, in der Hoffnung, dass die Leute vergessen würden. Schließlich, wie jede Mutter, musste sie ja auch ihre Tochter bedenken, die hier in die Schule gehen musste.

    »Lass sie jetzt in Ruhe«, rief die Hebamme endlich der Mutter zu. Sie wollte ihre Gebärdende vor so viel mentalen Schmerzen zusätzlich zu den Wehen beschützen. Sie wusste, dass das soziale Urteil Liz’ Selbstwertgefühl, das Gefühl von Schande und Schuld kräftig senken würde. Aber auch der Priester des Ortes hatte immer wieder betont, dass solche Dinge nur in der Ehe passieren dürfen. Und nur dann sind sie keine Sünde. Selbstverständlich musste diese Sünde gebeichtet werden, sollte Vergebung möglich sein.

    Liz kannte alle die Konsequenzen dieser einen, nicht mal besonders schönen Stunde und fühlte sich alleingelassen und hilflos.

    ***

    Endlich war der Geburtsvorgang so weit fortgeschritten, dass das Baby das Licht der Welt erblicken konnte. Das kleine Mädchen wusste noch nicht, dass seine Ankunft in diesem Leben nicht die übliche Freude brachte, dass das Dorf sie als Kind der Unmoral betrachten würde. Wie könnte es auch anders sein? Diese Geburt passierte in einem Haus, das direkt neben der Kirche stand. Die Glocken würden dafür sorgen, dass die speziellen Umstände ihrer Geburt nicht vergessen werden konnten.

    Liz versuchte, nicht zu schreien, sondern die Geburt ohne Ton durchzustehen. Ein erfolgloser Versuch, ihre angebliche Schande zu verheimlichen. Sie hätte gerne geschrien, aber solche wie sie waren dazu nicht berechtigt.

    »Da ist deine Tochter«, sagte die Hebamme und zeigte Liz das erstaunlich kleine Kind.

    Liz hob den Kopf, um das Baby sehen zu können, so wie es jede Mutter tun würde. Aber sofort spürte sie Unsicherheit, ob dieses Neugeborene auch eine Sünderin war. Sicher hatte sie nicht den gleichen Wert wie ein legitimes Baby, hatte nicht dieselben Möglichkeiten, die gleiche Wertschätzung, vielleicht noch nicht einmal die gleiche Liebe. Liz war sich nicht sicher, ob sie das Baby schon liebte. Ja, schon, aber sie fühlte auch Ambivalenz. Welche Gefühle waren erlaubt, welche sollte sie haben für ihre Tochter, die gerade mal ein paar Minuten alt war? Hatte der Priester darüber etwas gesagt?

    Nichtsdestotrotz nahm sie das Baby von der Hebamme und stillte es unter der Bettdecke. Es war ja kalt im Zimmer. Sie war eine Mutter, ohne Zweifel, beschützend über ihrem Kind wachend. Die Natur machte keinen Unterschied zwischen legitim und illegitim. Die Menschen machen das, so wusste und dachte Liz. Diese Gedanken störten jedoch ihre mütterlichen Gefühle. Die gängige Meinung, die ihr ihre Eltern und anderen Dorfbewohner einflößten, dass dieses kleine Wesen die verbotene Frucht eines unmoralischen Aktes sei, ließ ihre mütterlichen Gefühle sich nicht in Frieden entfalten.

    »Nimm es wieder zurück«, sagte Liz und hielt der Hebamme das Neugeborene hin.

    Maria nahm das kleine Bündel, legte es in die Wiege und schaukelte es, bis es schlief.

    ***

    Zwei Nächte und ein Tag waren seit der Geburt vergangen. Liz‘ Mutter schimpfte weniger und weniger, bis sie endlich ganz verstummte. Diese Oma, die anfangs das Baby ignorierte, die sich weigerte, der neuen Mutter beizubringen, wie man mit ihm umgehen musste, zeigte Anzeichen einer Änderung ihres Verhaltens. Gerade hatte sie das Baby aufgehoben, um es näher zu betrachten. Liz wusste, dass ihre Mutter im Gesicht des Kindes nach Merkmalen suchte, die dem des abwesenden Vaters oder ihrer eigenen Familie ähnlich waren. Das war wichtig, denn es würde proportional auf die Akzeptanz des Kindes in dieser Familie Einfluss haben. Dieses Kind war und blieb ein uneheliches, nichtsdestotrotz würde es ein Teil der Familie sein. Auf diese Art konnten die Ehre und der Stolz von den Großeltern beeinflusst werden. Man musste also hoffen, dass das Kind nicht dem Vater, sondern der Familie ihrer Mutter ähnlich sah. Wenn das Mädchen als eines der ihren identifiziert werden konnte, und nicht als die Tochter dieses Taugenichts von Vater, dann war schon etwas gewonnen.

    Im Moment wusste niemand, wer der Vater war. Sie hatte ihn wahrscheinlich gelockt, wurde unterstellt, hatte sich selbst angeboten oder war einfach nicht keusch genug gewesen, so wie die Kirche und das sechste Gebote es bestimmten. Erst mal wusste man, wo Liz gearbeitet hatte. Es war eine Stunde entfernt, dieses Dorf, wo man links abbiegen musste. Und man wusste, dass dieses Gasthaus viele Gäste hatte, ein idealer Ort, die Moral zu vergessen. Somit konnte der Kreis der Verdächtigen verkleinert werden. Man würde es herausfinden!

    Wie die meisten dramatischen und traumatischen Ereignisse im Leben, so beruhigte sich auch dieses und war bald nicht mehr das Topthema im Dorf. Die kleinen Babys hatten ihren eigenen ungekünstelten Charme. Blauäugig und unbedarft blickten sie die Menschen an. Auf diese unschuldige Weise gewann auch dieses kleine Baby, Rosa, die Herzen der Großeltern, ihrer vier Onkels, die noch ledig waren und zu Hause lebten, und ihrer Tante. Großmutter wiegte das Baby oft im Arm, wechselte die Windeln, wenn ihre Mutter draußen auf dem bäuerlichen Hof arbeiten musste. Sie wiegte das Kind in den Schlaf und wachte darüber.

    Wenn Thekla, Baby Rosas Tante, auf Besuch zu Hause war, sang sie Schlaf- und andere Kinderlieder, die jedes Kind von der Familie vorgesungen bekommen hatte. Thekla schnitt sogar das Thema Taufe an, etwas, wovor Liz große Angst hatte: »Wann wollt ihr sie taufen lassen?«, fragte sie geradeheraus, was Liz mit Schweigen beantwortete. Schließlich konnte man eine Taufe nicht geheim halten, es würde in der Gottesdienstordnung stehen und jeder konnte es lesen.

    Aber Großmutter antwortete scharf zurück: »Weiß noch nicht. Wer, denkst du, würde ihre Taufpatin sein wollen?«

    Diese Frage schmerzte Liz sehr. Sie hatte Angst vor Ablehnung. Thekla aber spürte Mitleid mit ihrer Schwester.

    »Ich werde nicht rumlaufen und Frauen fragen!«, stellte Großmutter klar.

    »Mutter«, rief Thekla, »du solltest still sein. Du hast selbst zwei uneheliche Kinder geboren. Du hattest nur Glück, dass dieser Mann dich geheiratet hat und auch unser Vater wurde.« Theklas Ärger auf ihre Mutter wuchs.

    Aber ihre Worte waren bei ihr angekommen. Ihre Mutter war plötzlich sprachlos. Töchter konnten nicht so mir ihren Müttern umgehen. Mutters Blick ging zu ihrem Mann auf der Suche nach Unterstützung.

    »Ja und?«, fragte er. »Lasst die Vergangenheit ruhen.« Der Rest seiner Gefühle über uneheliche Kinder und deren Mütter blieb ungesagt. Niemand wusste, dass er diese ganze Angelegenheit überhaupt nicht als Sünde betrachtete. Für ihn war es schön, Söhne oder Töchter in die Welt zu bringen, egal unter welchen Umständen. Er hatte seine höchst persönliche Meinung über Moral und das sechste Gebot.

    Thekla beendete das unangenehme Schweigen. Sie präsentierte ihre eigene Lösung des Taufproblems: »Ich werde selbst zum Priester gehen und werde Klein-Rosas Taufpatin sein. Somit wird sie nächsten Sonntag getauft, wie wir alle getauft worden sind.«

    Großmutter und Liz waren sprachlos, aber sie hofften, dass diese Taufe nun stattfinden würde. Immerhin hatten sie von Fällen gehört, wo die Hebamme die Neugeborenen taufen musste.

    Dieser Priester aber akzeptierte es, die Taufe durchzuführen. Nichts wurde bekannt über das Gespräch, das zwischen Thekla und dem Priester stattfand. Die Taufe wurde nicht im wöchentlichen Aushang aufgenommen. Alles ging sehr leise vonstatten, so wie es sich Liz gewünscht hatte. Trotzdem diese Angelegenheit positiv gelöst wurde, konnte sich die junge Mutter nicht von den Gefühlen der Schuld und Scham befreien. Letzteres war nicht so fest in ihrem Herzen verankert, da dieses Gefühl Hass und tiefe Enttäuschung auf den verantwortungslosen Vater dieses Kindes enthielt. Sie wusste, dass er von der Gesellschaft freigesprochen werden würde. Man benutzte das Argument, dass ein Mann eben einen starken sexuellen Trieb habe und er dem deshalb manchmal nachgebe. Aber es würde ja nicht passieren, wenn da nicht eine Frau wäre oder wenn sie es nicht erlauben würde.

    Liz glaubte selbst an eine solche Philosophie. Aber jetzt schien das ganze Gefüge sehr einseitig. Sie hatte ein Kind großzuziehen, sie konnte nicht mehr heiraten, sie konnte nicht mehr zum Tanzen gehen und sie musste die öffentliche Verachtung ertragen. Aber sie hielt alle Gedanken und Gefühle im Herzen verborgen. Kein Wort darüber kam ihr über die Lippen. Was würde es nützen? Es würde nur die Debatte über ihr Fehlverhalten anheizen. In ihrem Kopf allerdings rumorte es: Muss ich jetzt für immer so leben? Werde ich immer die gefallene Frau sein, unpassend für eine Ehe, eine zweite Klasse Frau? Manchmal fühlte sie Verzweiflung und Wut. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihr Schicksal zum Besseren wenden konnte.

    Liz hatte eine Schlaflosigkeit entwickelt. Selbstverständlich stillte sie das Baby. Sie tat das aber mit gemischten Gefühlen. Da war einerseits die Freude, ihre kleine Tochter zu bemuttern. Aber auf der anderen Seite war gerade sie der Beweis ihres moralischen Falls, wie man es damals eben verstand. Ohne sie würde Liz immer noch die schöne, begehrenswerte Frau, blond und blauäugig, sein. Dieser Konflikt wuchs und wuchs in ihr. Eventuell wuchs auch die Angst vor eben diesem Konflikt.

    Eines Tages kam Liz zu einem Schluss. Sie wandte sich an ihre Schwester Thekla, die gerade zu Hause wohnte, da sie ohne Arbeit war: »Bevor du heute Abend schlafen gehst, komm bitte in mein Schlafzimmer«, bat sie.

    »Mach ich«, sagte Thekla und wunderte sich ob dieser ungewöhnlichen Bitte.

    Später am Abend fand Thekla das Baby schlafend in der Wiege. Ihre Mutter aber lag wach im Bett. Ihre schönen Augen waren fest geschlossen, konnten aber das Durchsickern der Tränen nicht verhindern. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst.

    »Was ist los?«, fragte Thekla.

    Liz deutete mit einer Kopfbewegung auf ihre schlafende Tochter und sagte: »Nimm sie mit in dein Schlafzimmer, damit ich ihr nichts antue.«

    Thekla zog ihre Augenbrauen hoch, soweit es möglich war. Ungläubig starrte sie auf ihre Schwester.

    »Es ist doch nicht so schlimm. Sei nicht albern. Es wird vorüber gehen. Wir alle lieben die Kleine«, sagte Thekla mit lauter Stimme.

    »Ja, freilich«, sagte Liz. In ihrer Stimme lag kein Glaube an Theklas Statement.

    »Ich kann das jetzt schon machen«, meinte Thekla, »aber ich werde nicht immer hier sein.«

    Darauf kam keine Antwort von Liz. So nahm Thekla das Baby in ihre Arme und nahm es mit in ihr eigenes Schlafzimmer.

    Am nächsten Morgen wachte Klein-Rosa an einem unbekannten Ort auf und fing an zu schreien.

    In dieser Zeit damals verstanden Männer wie Frauen, dass Babys von Frauen betreut wurden. Männer hatten fast nichts mit den Kleinen zu tun. Diese Familie war keine Ausnahme. Diese Regelung hatte alle Zeiten überstanden. Aber die Onkel dieses Babys wurden Schritt für Schritt, und einer nach dem anderen, langsam zu der Magie dieses neuen und so kleinen Wesens, das sich vor ihren Augen entfaltete, hingezogen. Man konnte sie beobachten, wie sie Babylaute in die Wiege sprachen, die kleinen Hände hielten oder den Kopf streichelten. Kon, der jüngste der Onkel, nahm sie manchmal in seine Arme und hielt sie hoch über seinen Kopf. Er freute sich riesig über die Geräusche von Vergnügen seiner Nichte.

    Als sich die grobmotorischen Fähigkeiten langsam weiterentwickelten, zeigte das Baby Zeichen von Freude und Erkennen, wenn ihr Onkel kam. Sie streckte ihm ihre kleinen Arme entgegen: Komm zu mir, spiel mit mir. Und so wurde der Grundstein gelegt für eine vertrauensvolle Verbindung, die ein Leben lang halten sollte.

    Aber solche Akzeptanz und Liebe erfuhr Rosa auch von ihren anderen Onkeln, sogar von jenen beiden, die nicht mehr zu Hause lebten. Es schien einen Konsens zu geben, dass dieses Kind eine von uns ist.

    ***

    »Was willst du?«, sagte der Älteste zur versammelten Familie, »sie hat keine Schuld.« Seine Meinung konnte in ihrer Wichtigkeit nicht unterschätzt werden, denn er wurde später der Besitzer dieses Anwesens.

    Es war damals normal, dass unverheiratete Geschwister auf dem Hof bleiben konnten, bis zu ihrer Eheschließung. Aber eine gefallene Schwester mit ihrem Kind für immer zu behalten, war eine andere Sache. Schließlich war da irgendwo ein Mann, der seiner Verantwortung nicht gerecht wurde. Sollte er für immer davon kommen?

    Und so kam es, dass Rosa in voller Akzeptanz und mit Liebe in die Familie ihrer Mutter aufgenommen, ja integriert wurde. Sie hatte Vertrauen in ihre Onkel und die anderen Familienmitglieder. Sie wusste, dass sie geliebt wurde. Unerwarteterweise erfuhr Rosa Schutz gegen die Anfeindungen der Menschen mit anderen moralischen Vorstellungen und hatte deshalb eine fast vollkommen glückliche Kleinkinderzeit. Niemand gab mehr einen Kommentar wegen ihrer illegitimen Geburt ab. Das allerdings sollte sich noch ändern. Trotz aller glücklichen Kindertage hatte Rosa bereits begriffen, dass sie keinen Vater hatte, wie ihre Schul- und Spielkameraden. War sie nicht so gut wie alle anderen?

    Mit diesem Wissen und dieser Frage entwickelte Rosa einen sensiblen Charakterzug. Sie brach leicht in Tränen aus, manchmal schien es ohne Grund zu passieren. Ein andermal war der Grund offensichtlich, aber nicht schlimm genug, um zu weinen. Das war besonders auffällig, wenn ihre Mutter sich anschickte, mit dem Fahrrad in das Nachbardorf zu radeln. Dort gab es ein größeres Geschäft. Da weinte Rosa nicht nur, sie heulte laut, wenn sie nicht mitfahren durfte. Die Erwachsenen in der Familie sahen sich erstaunt an. Was hatte sie nur? Es war keine verständliche Reaktion.

    »Hör auf!« Ihre Großmutter sprach in scharfem Ton. »Es gibt keinen Grund zu weinen. Deine Mutter wird nur ein paar Stunden weg sein.«

    Rosa beruhigte sich aber nicht. Großmutter wusste nicht, dass ihre Enkelin fürchtete, ihre Mutter könnte nicht zurückkommen.

    Liz allerdings liebte diese kleinen Ausflüge zum Geschäft. Es gehörte zu ihren Aufgaben, benötigte Dinge zu besorgen. Das nachbarschaftliche Örtchen lag auf einem Hügel, von dem man eine Panoramaaussicht hatte. Liz aber hatte kein Auge dafür. Ihre Mutter hatte ihr das benötigte Geld gegeben und das musste reichen für die Einkäufe für etwas Stoff, Spitzen, Strick-, Haarnadeln und Ähnliches. Liz hatte des Öfteren klug eingekauft, sodass ihr etwas übrig blieb für blaue Bänder für sich und ihren Sommerhut. Blau passte so gut zu ihrer blauen Augenfarbe. Jetzt aber war sie Mutter, legitim oder nicht, und kaufte ein paar Süßigkeiten für ihre Tochter. Es bereitete ihr Freude, das Gesicht von Rosa lächeln zu sehen, wenn sie ihr die Süßigkeiten gab. Es war aber ein Problem, das Bonbontütchen vor ihrer eigenen Mutter zu verstecken. Sie fürchtete ihre Reaktion, wenn knappe Familienressourcen für etwas verwendet wurden, das man nicht unbedingt brauchte. Hier war er wieder, der Gedanke, dass Rosas Existenz nicht geplant war. Liz fühlte immer noch Zwiespältigkeit wegen ihrer Tochter. Nichtsdestotrotz gewannen oft ihre mütterlichen Gefühle die Oberhand. Wann immer sie Rosa Bonbons zustecken konnte, befahl sie ihr, sie draußen oder in der Sandkiste zu lutschen: »Sag es niemand.«

    Mit ihren vier Jahren war es eigentlich nicht mehr notwendig, Rosa wegen der Extras zur Geheimhaltung anzuhalten. Sie hatte diesen Gedanken schon integriert zusammen mit dem Gefühl, dass ihre Mutter sie ja doch liebte. Aber wie dieses Verhalten ihrer Mutter zu verstehen war, wenn sie sie mal zurückwies, verwirrte Rosa. Eigentlich hatte Rosa doch manchmal Zweifel, was die Mutterliebe anbetraf, denn sie bekam auch Verhalten in Konflikt mit anderen Begebenheiten. Es war noch nicht so lange her, dass Rosa eine solche Situation erfahren musste. Sie war nicht nur unverständlich, sondern auch äußerst schmerzlich:

    An einem Regentag stand Rosa in der Haustür und hatte Schwierigkeiten, ihre Gummistiefel anzuziehen. Da sah sie ihre Mutter den Hof überqueren und in Richtung Scheune gehen. »Mutter, ich kann meine Stiefel nicht anziehen. Hilf mir.«

    Liz sah nach ihrer Tochter und legte ihren Finger über die Lippen. Sie bedeutete Rosa, nicht zu schreien. »Setz dich auf die erste Stufe«, sagte sie zu Rosa, »dann zieh ich dir deine Stiefel an. Und ruf mich nicht immer Mutter. Nenn mich mit meinem Namen. Sag einfach Liz zu mir.« Ihre Worte waren fast nur gewispert.

    Klein-Rosa war sprachlos und verwirrt. Mit großen fragenden Augen blickte sie in das Gesicht ihrer Mutter. Sie hatte ihre Spielkameraden das Wort Mutter benutzen hören. War das nicht das richtige Wort? Rosa hätte ihre turbulenten Gefühle nicht beschreiben können. Sie fing an zu weinen.

    Sofort nahm Liz sie in die Arme und versuchte, sie zu beruhigen. »Wein nicht, Rosa. Ich bin deine Mutter. Nenn mich halt nur nicht so.«

    Niemand auf dem großen Gehöft war Zeuge dieses Austausches zwischen Mutter und Tochter. Somit wusste niemand, welchen Konflikt und und welche Schmerzen Klein-Rosa gerade mit sich selbst austragen musste.

    Irgendwann später an diesem Tag sah Onkel Kon Rosa auf der Eingangsstufe sitzen und weinen. Er fragte nach ihren Problemen, obwohl er eigentlich keine Antwort erwartete. Er hob sie auf und trug sie zum Wagen, der schon an den Ochsen angehängt war. Vorsichtig setzte er Rosa in die Mitte der Plattform und ließ das Tier anfahren. Er setzte sich neben seine Nichte, die er mit einem Regenmantel bedeckte. Als die Fahrt langsam dahin ging, sprach Kon mit Rosa, deutete auf alle Wasserpfützen, kleine Bächlein auf der Straße, und andere Dinge, die Rosa von ihrem Kummer ablenken sollten. Es tat das sehr wohl und gut. Sie schien sich zu beruhigen. Ihre kleinen Arme schlagen sich um Kons Hals und ihre Wange presste sie an Kons Gesicht.

    Solche kleinen Lebenshilfen in Zeiten von Stress funktionierten auch mit ihren anderen Onkeln. Stefan, wenn er auf Besuch zu Hause war, hatte seine eigene Methode, die Kleine zum Lachen zu bringen: Er setzte sie auf seine Knie, mit einer Hand an ihrem Rücken. Dann machte er eine Hautfalte in ihr Knie und sagte: »Schau Rosa, das sieht aus wie das Maul eines kleinen Kalbes.« Rosa kreischte vor Vergnügen. »Noch mal«, sagte sie dann. Und er tat es noch mal, solange, bis sie von dem Spiel müde wurde. Abschließend fragte sie dann manchmal: »Magst du mich?«

    Sie war jetzt fünf Jahre alt. Aber manchmal brauchte sie diese Versicherung.

    Natürlich gab es noch andere Quellen, aus denen Rosa emotionelle Wärme beziehen konnte, wenn diese auch nicht von Menschen stammte. Der gesamte Bauernhof war ein lebendiger Platz mit viel Flora und Fauna. Klein-Rosa wurde nahezu überall mit hingenommen, wo es landwirtschaftliche Arbeit gab. Sie durfte mit auf die Wiesen gehen, wenn das Gras geschnitten werden musste. Da stand sie inmitten der vielen bunten Blumen, wie in einem Gemälde von Monet. Sie durfte zur Ernte mitfahren, wenn die Wagen mit Getreidepflanzen beladen wurden. Sie liebte es, hoch auf dem Wagen nach Hause fahren zu dürfen. Kon hob sie hoch und wieder runter, mit starken, beschützenden Händen. Eine Fahrt in den Wald, sei es Winter oder Sommer, war für sie immer ein Erlebnis. Dort duftete es nach Waldboden, Nadelbäumen und Moos. Mit Letzterem konnte man ein weiches Bett bauen, auch wenn ihr Popo etwas nass wurde, wenn sie darauf lag. Es gab auch genug zu tun: Da gab es Himbeeren, Heidelbeeren, Brombeeren und nicht zuletzt Pilze zu sammeln. Rosa fürchtete sich kaum, ins Dickicht zu kriechen. Dorthin, wo die Hexen sein könnten oder wo Hänsel und Gretel sich versteckten, wie es in dem gleichnamigen Märchen hieß.

    Aber über allen Dingen, die Rosa Freude machten, standen die Tiere, vor allem die Baby-Tiere. Da gab es kleine Kälbchen, rosige kleine Schweinchen, gelbe flaumige Entchen und die feuchten Gänschen, die sie beobachtete, wie sie aus ihren Eiern schlüpften. Alle durfte sie in ihrer Hand halten. Sie hatte keine Angst vor den Kleinen. Die kleinen Kätzchen aber waren ihre absoluten Lieblinge. Hier, so wusste sie schon, musste sie allerdings etwas vorsichtig sein, denn die Katzenmamas waren sehr aufmerksam mit ihren Babys. Aber wenn sie nicht mehr gestillt werden mussten, schliefen manche der kleinen Kätzchen in ihrem Schoss. Rosa fühlte sich geliebt und liebte zurück. Es war der gängige Glaube damals, dass Katzen das Fieber reduzieren konnten. Wenn Rosa im Winter an Grippe erkrankte, durfte sie deshalb eine Katze in ihrem Bett haben. Ein starkes Band entwickelte sich dabei zwischen Rosa und den Katzen.

    Nach dem Desaster von Rosas unehelicher Geburt und mit nur einem Elternteil in ihrem Leben, hatte sich das Mädchen, wenn man nur die Oberfläche betrachtete, sehr in das Leben auf dem Familienbauernhof eingefügt. Sie schien sich gut und fröhlich zu fühlen. Sie genoss den Schutz ihrer Großeltern und ihrer zögerlichen, ambivalenten, aber liebenden Mutter. Zusätzlich genoss sie die Akzeptanz und ebenfalls den Schutz ihrer Onkel. Aber bald musste sie lernen, dass sie diesen Rückhalt von ihrer Familie brauchte. Einige Einwohner des Dorfes glaubten fest daran, dass ledig geborene Kinder nicht gleichwertig mit Kindern von verheirateten Eltern waren. Man wusste es doch schon immer, dass ledig geborene Babys ein Produkt der Sünde waren. Oder etwa nicht?

    Trotzdem schien Rosa ein glückliches Kind zu sein. Sie hatte viele Spielkameraden. Es waren in jedem Haus in der Nachbarschaft mindestens zwei in ihrem Alter. Die Kinder gingen ohne Probleme in die Häuser der Kameraden, das war Usus. Es

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