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Unter dem Kreidekreis
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eBook421 Seiten5 Stunden

Unter dem Kreidekreis

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Über dieses E-Book

Ein Roman über die Liebe und doch kein Liebesroman. Eine einfühlsame Streitschrift für das Leben jenseits von Trennung, Umgang und Verweigerung. Ein Plädoyer für Veränderung. Ein Junge wird entführt. Die Mutter hadert mit ihrer Arbeit als Verfahrensbeistand. Als in ihr der Verdacht wächst, dass die Entführung etwas mit ihrer Arbeit zu tun haben könnte, folgt sie einer Spur nach Holland. Während ihr Sohn auf sich allein gestellt ist, gerät ihr bislang unverwüstliches Selbstbild ins Wanken.

Wie Marie haben auch die anderen Erwachsenen mit den Herausforderungen der Zweierbeziehung, der Kleinfamilie in einer modernen Gesellschaft und dem digitalen Zeitgeist zu kämpfen. Die wahren Helden der Geschichte sind jedoch die Kinder. Was geschieht, wenn Kinder versuchen, sich selbst zu helfen, weil ihre Eltern sie vor lauter eigenen Sorgen aus dem Blick verlieren? Der fremdgewordene Vater, die abgelehnte Mutter, machtlose Fachkräfte … Ist eine Weiterentwicklung möglich? Regina Reichart-Corbach legt einen eindringlichen Roman über Männer, Frauen und Kinder vor, die über sich selbst hinauswachsen.
SpracheDeutsch
HerausgeberRuhland Verlag
Erscheinungsdatum18. Aug. 2019
ISBN9783885091714
Unter dem Kreidekreis

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    Buchvorschau

    Unter dem Kreidekreis - Regina Reichart-Corbach

    Regina Reichart-Corbach

    Unter dem Kreidekreis

    Roman

    Ruhland Verlag

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich

    geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des

    Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

    Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und

    Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Die Charaktere dieser Geschichte sind frei erfunden.

    Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein

    zufällig, aber bei dieser Thematik vielleicht auch

    unvermeidlich.

    Regina Reichart-Corbach

    ISBN 978-3-88509-168-4

    ISBN 978-3-88509-171-4 (epub)

    ISBN 978-3-88509-172-1 (mobi)

    Copyright © Ruhland Verlag, Bad Soden 2019

    Regina Reichart-Corbach, Unter dem Kreidekreis

    Lektorat: Gerhard Lentzen, BGP

    Umschlagbild: © istockphoto LP / bankrx

    Alle Rechte vorbehalten.

    Gedruckt in Polen durch Custom Printing.

    www.ruhland-verlag.de

    Die ganze Mannigfaltigkeit,

    der ganze Reiz und die ganze Schönheit des Lebens

    setzen sich aus Licht und Schatten zusammen.

    Leo Tolstoi

    1

    Vor der Entführung ihres Sohnes hatte Marie Quest nicht gewusst, wie sich echte Angst anfühlte. Auch von Schuldgefühlen hatte sie keine Ahnung, obwohl sie oft darüber sprach. Über die Schuldgefühle der anderen natürlich. Seither kannte sie die hellgrauen Minuten zwischen Wachsein und Schlaf, in denen sie den eigenen tiefer werdenden Atemzügen lauschte, Minuten, in denen es sich entschied, ob sie schlafen würde oder nicht.

    Alles begann am Ostermontag. Für einen Tag im April war es ungewöhnlich heiß. Wie in jedem Frühjahr klebten auf der Terrasse braungelbe Grasreste zwischen den lachsfarbenen Steinen, die sie am Ende des Herbsts sich selbst überlassen hatte.

    Ihre blassen Beine und nackten Füße auf ungeputztem Winterterrassenboden.

    Marie legte sich auf ihre verwitterte Holzliege.

    Um sie herum erblühte der Garten, unaufhaltsam. Er wirkte harmlos, als habe er in diesem Jahr nicht vor, sich in wenigen Wochen in einen Dschungel zu verwandeln. Nur der Walnussbaum hing noch am Winter.

    Das Gefühl, dass sich etwas verändern musste, war nicht neu, aber diffus.

    Ein Kind rief: »Guck mal Papa, wie hoch ich schaukeln kann!« Und dann nochmal: »Guck doch, Papa!« So war es täglich. Jahrein, jahraus spielten Kinder auf dem Spielplatz neben ihrem Grundstück dieselben Spiele. Sie maßen sich aneinander, stritten und vertrugen sich, schrien lauter und vertrugen sich schlechter, wenn Erwachsene sich einmischten. Ein ewiges Auf und Ab. Schaukel, Wippe, Karussell. Schaukel, Wippe, Karussell. Marie stand auf und sah dem kleinen Jungen zu, bis der Papa sich langsam von seiner Bank erhob und das Telefon in die Hosentasche steckte. Ihr war, als könne sie seinen Seufzer hören. Ob er von der Mutter des Kindes getrennt lebte? Wie viel Zeit ihm und seinem Nachwuchs heute wohl blieb? Oder wohnte das Kind bei ihm?

    Wenn jemand sie fragte, wovon sie lebte, mied sie das Wort »Verfahrensbeistandschaften«. Als sie vor sechzehn Jahren ihren ersten Fall übernommen hatte, hieß der Beruf »Verfahrenspflegerin« – eindeutig der schönere Begriff mit einer weiblichen Form, die ihr nicht sprachlich das mitfühlende Herz brach. Beiständin. »Ich bin Anwältin des Kindes«, sagte sie und wartete ab, bis ein verständnisloses »Aha« sie aufforderte zu erklären, dass es ihre Aufgabe sei, Kinder vor Gericht zu vertreten, deren Eltern nach ihrer Trennung um das Sorge- oder Umgangsrecht streiten würden; sie pflege im Auftrag der Familienrichter das Verfahren, damit das Leben der Kinder leichter würde. Wenn man sie nur ließe. Es gab auch andere Aufgaben, aber soweit gingen diese Gespräche selten.

    Warum war es nicht selbstverständlich, dass beide Eltern nach einer Trennung ihre Kinder sahen, so oft sie konnten? Wer hatte das Wort »Umgang« für das Ausleben von Liebesbeziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern erfunden? Wer brachte eine Mutter auf die Idee, dass sie darüber bestimmen durfte, wie und wann die Kinder ihren Vater umarmten und spürten? Diese Fragen waren für Marie von Bedeutung, aber kaum jemand stellte sie je; stattdessen die ewig gleiche Reaktion: »Das wäre nichts für mich. Ist das nicht unheimlich belastend?«, begleitet von einem Gesichtsausdruck als hielte die Person zwischen spitzen Fingern ein ekelerregendes, fremdes Taschentuch.

    Marie Quest hatte die kommende Woche zu ihrem Urlaub erklärt, aber sie konnte nicht abschalten. Wie ein Schmarotzer nistete sich diese Arbeit in sämtlichen Winkeln ihres Lebens ein, zehrte ihre Lebensfreude auf und schied Gedanken an ihre Arbeit aus, die wie Derwische im Kreis tanzten. Während jeder wachen Minute dachte sie über die Kinder anderer Menschen nach, und bei jedem Klingeln ihres Telefons überlegte sie, ob sie überhaupt nachsehen sollte, wer es war. Selbst unschuldige Eltern auf dem Spielplatz blieben nicht verschont. Ihr Gemütszustand glich einem Farn, der zum Winter vertrocknete und dessen braune, eingerollte Farnblätter darauf hofften, im Frühling austreiben zu dürfen. Was sollte ihr Frühling sein? Der nächste Fall? Die nächste Einigung?

    Eine Wolke schob sich von Westen kommend vor die Sonne. Die Brise würde sie zügig weiterschicken, wie meistens in dieser Stadt, in der der Wind beharrlich wehte und sie bei ihren Spaziergängen in Gedanken so tun konnte, als lebte sie in der Nähe eines unsichtbaren Meeres. Marie fröstelte.

    Ein Fall beschäftigte sie an diesem Tag besonders. Es würde ihr letzter sein, doch das wusste sie noch nicht. Es ging um ein fünfjähriges Mädchen. Erst als sie vier Jahre alt war, hatte der Vater von der Existenz der kleinen Bella erfahren. Er hatte sich gefreut, Unterhalt gezahlt und versucht, eine normale Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen – doch das Kind war nicht begeistert. Konnte sich denn nach all den Jahren noch eine Bindung zwischen Vater und Tochter entwickeln, die einer frühkindlichen Bindung nahekam?

    Als leiblicher Vater stand ihm mindestens ein vierzehntägiger Wochenendumgang zu, aber entsprach das dem Kindeswohl? In Bellas Augen war »Papa« doch jener Mann, mit dem ihre Mama und sie bis vor ein paar Monaten zusammengelebt hatten; der war ausgezogen, und plötzlich sollte sie einen fremden Mann besuchen. Ihr Wunsch war eindeutig, und sie tat ihn seit Monaten tränenreich kund. Die Übergaben scheiterten, egal wer sie versuchte, egal mit welchem neuen Trick. Sie wollte nicht bei diesem Fremden übernachten. Mal ein Eis essen oder in den Freizeitpark gehen, das war okay.

    »Ich habe es versucht und ich brauche ihn nicht«, erklärte die kleine Bella Marie mit dünnem Stimmchen.

    Marie übersetzte für Eltern und Richterin: »Beziehung? – ‚Na gut.’ Bindung? – ‚Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Mann mich trösten wird, wenn ich nicht einschlafen kann. Wird er ärgerlich, wenn ich nicht lieb bin?’ Falls es überhaupt einen gab, so führte der Weg über die Mutter. Wie sollte der Vater aber sein Vertrauen in diese Frau setzen, die jede Verantwortung für die abscheuliche Entscheidung von sich wies, Bella und ihn um die ersten gemeinsamen Jahre gebracht zu haben? Er glaubte, dass sie ihn nur über die Existenz seines Kindes informiert hatte, weil sie in Geldnot gekommen war; und Marie widersprach ihm nicht.

    Sie hatte Mutter und Kind gemeinsam erlebt. Ihr gefiel nicht, wie Bella ihre Mutter ununterbrochen mit den Augen folgte. Über das Innenleben der Mutter hatte Marie wenig in Erfahrung gebracht. Vielleicht hätte sie in ihrem Bericht den Satz einfügen müssen, dass Bella glaubte, der Mutter durch ihre Weigerung etwas Gutes zu tun. Oder wusste sie es sogar, weil sie die Erleichterung ihrer Mama spürte?

    Seit einigen Wochen nun quälte Marie die Frage, ob sie etwas übersah.

    Kindeswillen mit Kindeswohl in Einklang bringen – zwischen den Eltern vermitteln – natürlich wünschte sich jedes Kind, dass die Eltern sich vertragen würden, aber das taten sie selten. Kinder spürten, dass sie beide brauchten, dass die unterschiedlichen Energien sich zu etwas Gutem für sie ergänzten und dass, wenn alles gut ging, eins plus eins mehr ergab als zwei.

    Die Kinder in ihren Fällen durften Marie ihre Meinung sagen zu diesem oder jenem Zuhause, zu Übernachtungen und gemeinsamen Zeiten, doch sie sollten nie die Last der Verantwortung tragen. Die Erwachsenen trafen die Entscheidungen. Das erleichterte die meisten Kinder – ja sie wollten nicht eine Minute länger schuld daran sein, dass Mama oder Papa traurig oder ärgerlich waren.

    Kindeswohl – ein mit Füßen getretener, tausendfach missbrauchter Begriff. In jedem Familiendrama, das zu einem Fall wurde, versuchten Fachleute ihn mit neuem Leben zu füllen, suchten nach der besten Lösung für das betroffene Kind.

    Brauchte das Kind seinen leiblichen Vater wirklich nicht? Wäre es langfristig besser, wenn er sich aus seinem Leben zurückzog?

    Vielen Familien hatte Marie helfen können, aber es gab auch Eltern, die mit Hilfe ihrer Anwälte in unzähligen Gerichtsverfahren versuchten, das Beste für sich selbstherauszuholen. Mehr Geld, mehr Umgang, alleiniges Sorgerecht, gemeinsames Sorgerecht, weniger Umgang oder die Macht darüber, entscheiden zu dürfen, wo das Kind sich aufhielt. Zu häufig hatte Marie miterleben müssen, dass die Eltern dabei das Wichtigste einbüßten – den letzten Rest an Freundschaft, Mitgefühl und Respekt füreinander. Vordergründig geschah natürlich alles zum Wohl der Kinder. Diese trieben jedoch hilflos zwischen ihren Eltern hin- und her, weil die völlig unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, was denn unter dem Wohl des Kindes zu verstehen sei, und manchmal jahrelang um die Deutungshoheit stritten.

    Eisschollen zwischen Eisbergen.

    Sollte es nicht stärker um das Recht der Kinder gehen? Das Recht, vom Streit der Erwachsenen und von allen Gerichtsverfahren unbehelligt zu bleiben? Marie fühlte sich zunehmend ohnmächtig und bis in ihre Träume verfolgt von jenen, die beharrlich daran festhielten, dass andere ihre Probleme lösen sollten, und wütend wurden, wenn es ihnen nicht gelang.

    Noch am selben Tag würde sie den Entschluss fassen, keinen weiteren Fall anzunehmen – doch zu diesem Zeitpunkt wusste sie es noch nicht.

    Das Frösteln war ein Vorbote, ein Schüttelfrost vor dem Fieber, das in ihrem Körper das Virus verbrennen wollte.

    Burnout.

    Matti Quest konnte nicht ahnen, dass er gerade in dem Moment, als seine Mutter ernsthafte Zweifel an ihrer Tätigkeit erfassten, auf die Terrasse trat. Mit seinen fünfzehn Jahren war er von seinen Eltern meistens nicht sonderlich begeistert, er empfand sie als selbstgerecht und anstrengend – alles wurde ausdiskutiert, und kein gemeinsames Abendessen durfte ausfallen.

    Dieser »Tag des Fluches«, wie er ihn später nennen würde, war der Tag, an dem der neue Trailer zu einem von ihm langersehnten PC-Spiel erschien. Weltpremiere. 15:00 Uhr. Live.

    Seine Mutter lag auf einer Holzliege in der Sonne, das Handy in Griffweite neben sich. Wie immer, sein Konkurrent. Bereits als er im Bauch seiner Mutter gewesen war, hatte sie als Verfahrensbeistand gearbeitet. Sein Leben lang hatte sie anderen Eltern Empfehlungen gegeben, was zu tun war – und dabei ihn auf dem Arm gehalten oder ihm etwas zu Essen gemacht, gebadet oder beim Telefonieren im Garten vertrocknete Blätter von Ästen gezupft und entschuldigend fünf Finger in die Luft gehalten, als hätte sie selbst daran geglaubt, dass sie das Gespräch in fünf Minuten beendet haben würde. Was sie tat, war etwas Wichtiges. Matti durfte sie nicht davon abhalten, und er konnte es auch nicht. Und dennoch: Ausdauernd wie ein Stehaufmännchen schlug er immer wieder vor ihr auf.

    »Was machst du denn hier? Hast du schon wieder Hunger?«, fragte Marie.

    »Nein. Ich will dir einen neuen Trailer zu dem Spiel zeigen, das ich unbedingt haben muss. Weltpremiere ist um 15 Uhr.«

    »Hm. Welches Spiel denn? Setz dich zu mir.« Ein Versuch der Wiedergutmachung.

    »Assassinen in England. 60 Euro. Dezember. Kein Weihnachtsgeschenk. Ich zahle«, antwortete er auf ihre noch gar nicht gestellten Fragen und versuchte gleichzeitig, seinen langen Körper so in dem kleinen Strandkorb unterzubringen, dass ihn kein Sonnenstrahl erreichte.

    Ihr Handy brummte, und er wollte sogleich verschwinden.

    Sie rief: »Bleib doch, ich gehe nicht dran. Es ist anonym!«, aber er drehte sich nicht noch einmal um.

    Normalerweise war sie zu neugierig, um es klingeln zu lassen, und selbst an einem Feiertag tröstete sie die verzweifelten Anrufer, beteuerte, dass die Störung völlig in Ordnung sei – und würdigte ihre Familie keines Blickes.

    Es gab eine Zeit, in der Matti ihr gern bei der Arbeit zugehört hatte. Aufgebrachte Stimmen wurden freundlich, laute Stimmen leiser. Er hatte gedacht, sie wäre Ärztin. Sie erklärte ihm, dass sie Wut und Hilflosigkeit der Menschen als Hindernisstrecke ansah, die man mit etwas Anstrengung bewältigen konnte und an deren Ende der Erfolg wartete. Das Endlose sollte endlich werden, und Matti stellte sich vor, wie seine Mutter den Eltern nach ihrem Hürdenlauf eine Medaille überreichte.

    »Sie überfordern Ihr Kind, wenn Sie nicht miteinander sprechen, denn dann muss es sich selbst helfen. Die Schultern Ihres Kindes sind zu schmal für diese Verantwortung.« Sätze wie diese hatte er sie oft reden hören.

    Er fragte sie, wie schwer Verantwortung ungefähr sei und ob es wehtue, sie zu tragen, und sie sagte, man könne sie nicht wiegen, aber sie zu tragen sei sehr schwer. Als Matti ihr einmal während eines Streites klarmachte, dass Kinder ihren Eltern alles sagten, was sie wissen müssten und Eltern einfach nur gut zuhören sollten, entdeckte er, dass manche ihrer Sprüche nur für fremde Kinder galten.

    Nun, mit fünfzehn Jahren, interessierte er sich nicht mehr für die Arbeit seiner Mutter, und wenn ihr Telefon klingelte, zog er sich zurück. Er war seit einiger Zeit besonders mit sich selbst beschäftigt, er war verliebt. In Daria. Sie war seit dem fünften Schuljahr in seiner Klasse, aber bemerkt hatte er sie erst vor Kurzem. Als sie ihn gefragt hatte, ob er mit ihr gehen wolle, antwortete er: »Wohin?« Aber dann hatte er verstanden und sagte: »Na klar! Cool«, und das war es dann auch. Cool. Es gefiel ihm, eine Freundin zu haben, aber es stresste ihn auch. Plötzlich musste er seine Freizeit aufteilen zwischen seinen Eltern, den Jungs und Daria, und irgendjemand war immer unzufrieden mit ihm. Daher war es ihm ganz recht, dass zumindest seine Mutter ihr eigenes Leben hatte.

    Ein paar Wochen, nachdem Daria und er zusammengekommen waren, lernte Matti einen Jungen im Internet kennen, Django, mit dem er viel Spaß hatte. Seine Jungs waren damit einverstanden, dass der auch auf ihren Server kam und mit ihnen War is hell – Soldier’s duty spielte. Django war cool. Ihr Alter, andere Schule. Im Spiel waren Matti und seine Freunde besser, aber Django hatte einen Onkel, der Matti vielleicht eine Virtual-Reality-Brille besorgen konnte, obwohl die noch gar nicht auf dem Markt waren. Sie würden sich nach den Ferien treffen und bei Django das neue Feudal Warrior für die Konsole spielen.

    Matti holte ein Eis aus dem Eisfach und machte es sich auf dem Sofa bequem. Seine Mutter telefonierte tatsächlich nicht, sondern setzte sich zu ihm. Eine Minute vor drei.

    Der Countdown zur Weltpremiere des Trailers. Gebannt starrten sie auf den Bildschirm, wo der martialisch ausgestattete, detailreich gezeichnete Protagonist des Spiels ihnen ernst und schweigend entgegenblickte und im Abstand von wenigen Augenblicken eine elegante Gebärde vollführte. Plötzlich erstarrte der Mann mit den markanten Gesichtszügen. Die spannungsgeladene Musik wurde lauter, eilte auf das Ende des Countdowns zu. Mutter und Sohn strahlten einander an, als der Trailer begann. Eine kurzweilige Mischung aus Werbefilm und Spielszenen. Sie liebte Spannung genauso wie Matti. Aber als der blutjunge Spielentwickler die besondere Brutalität des neuen Spiels anpries und dass die Mordinstrumente noch ausgeklügelter seien, da ahnte er schon, was kommen würde.

    »Meinst du, dir würde der Anblick von derart viel echtem Blut nichts ausmachen?«

    »Mama, deine Leute bei der Arbeit, die führen so was wie Krieg. Das hier sind programmierte Pixel. Mit echtem Blut hat das nichts zu tun!« Er brachte sie mit seiner Standardantwort zum Schweigen.

    Seine Mutter liebte es, mit ihrem Sohn spannende Filme anzusehen, aber es kam Matti so vor, als fühlte sie sich dabei von einer unbekannten pädagogischen Macht beobachtet. Es war, als starte sie vorsorglich das Besorgte-Erwachsene-Programm, um ein schlechtes Gewissen zu simulieren. Und er aktivierte dann den Das-sind-nur-Pixel-Konter, und sie konnten weitergucken. Es war ein Ritual, und trotzdem wünschte er, sie würde damit aufhören, denn es ließ ihn mit dem Gefühl zurück, eine Familie, die gemeinsam Actionfilme genießt, ist so was wie beschädigte Ware.

    Seine Mutter stand auf, Matti versuchte nicht, sie aufzuhalten. Er wusste nichts von ihren Zweifeln. Erst rückblickend würde sich alles zusammenfügen: Die Puzzlestücke, die aus der Abwesenheit von Dingen bestanden, die zu seinem Leben gehört hatten, ihr Gesang in der Küche, all die kleinen Albernheiten, Verfolgungsjagden durch Haus und Garten … Die Signale waren nicht leicht zu erkennen, und die Stimmen der Anrufer ließen ihre eigene verstummen.

    Sie warf ihm keine rohen Eier mehr zu.

    Auf dem Rückweg in die Sonne wurde Marie in der Küche vom Brummen ihres Handys begrüßt. Zwei verpasste Anrufe, anonym, und eine Mailboxnachricht. Ihre gute Laune war verflogen.

    »Echtes Blut«, sagte sie zu sich, »ich sollte echt mal die Klappe halten.« Sie schaltete das Telefon aus. Sie wollte nur noch lesend unter dem schweigenden Walnussbaum im Garten liegen und die Probleme der Welt ignorieren – die würde sie sowieso nicht lösen können.

    Das Buch, das sie lesen wollte, hatte sie vor mehr als zwanzig Jahren verschlungen und geliebt, auch wenn sie heute nicht mehr genau hätte sagen können, warum. Die Schrift war kleiner geworden, aber der Text versetzte sie geradewegs in ihre Vergangenheit, in jene Zeit, als sie noch nicht Ehefrau und Mutter gewesen war, als sie in einem Häuschen ohne Heizung, Bad und warmes Wasser gelebt und vor ihrem Holzofen liegend die Bücher dieser Frau verschlungen hatte. Damals war noch alles offen gewesen.

    Wie an einer unsichtbaren Leine aber hatte das Leben sie weitergezogen und vor Entscheidungen gestellt, die ihr nicht schwergefallen waren, weil alles logisch und gut erschien. Sie hatte alles so gewollt, wie es gekommen war, ihren Mann Rolf, ihre Tochter Emma, die Stadt, die Arbeit, das Haus, das zweite Kind Matti. Aber nun hatte sie das Gefühl, dass dieses Leben zu Ende ging. Obwohl – oder gerade weil – es nach Frühling duftete. Sie schloss die Augen, und als sie sie nach einer Weile wieder öffnete, sprach sie den Satz zum ersten Mal aus. »Ich möchte anders leben.«

    Ihr Leben sollte sich verändern, aber die Veränderung würde anders vonstattengehen, als Marie Quest es erwartete. Es geschah nicht planvoll und wohldurchdacht, sondern so, wie Lebensabschnitte eben meist zu Ende gehen. Plötzlich.

    Während die Espressomaschine zischte, nahm sie ihr Handy in die Hand. Es kam ihr mit einem Mal albern vor, so zu tun, als sei sie nicht gespannt darauf zu erfahren, wer angerufen hatte. Sie schaltete es ein und hörte die Mailbox ab.

    »Sie haben eine neue Nachricht. Empfangen heute, um 14:53 Uhr.

    ‚Ich verfluche Sie, Frau Quest. Ich verfluche Sie und Ihre Kinder und die Kinder Ihrer Kinder! Hier spricht Frau Achenbach. Jetzt sind Sie eine verfluchte Psychologin!’

    Es liegen keine weiteren Nachrichten für Sie vor.«

    2

    Franziska Achenbach starrte auf die Zimmerdecke ihres Schlafzimmers. Bei ihrem Einzug hatte sie keine Lust gehabt, die Decken zu streichen. Ein Fehler. Siebenundvierzig Quadratmeter Wand, die sie sich nicht zu eigen gemacht hatte. Neben der nichtssagenden beigen Lampe war ein dunkler Fleck. Er gehörte den Vormietern, und sie dachte häufig über ihn nach. Er sah nicht wie ein Fleck aus, den ein Insekt hinterlässt, das erschlagen wird. Eher wie ein Komet. Ein etwas dickerer Punkt, gefolgt von einem sich zum Ende hin verjüngenden Schweif. Alles in Braun. Sie schloss die Augen. Ihr war schlecht. Früher oder später würde sie aufstehen müssen. Sie würde durch ihre kleine Wohnung laufen und versuchen, nicht daran zu denken, dass Ostern war. Auferstehung. Aufstehen. Auferstehung. Aufstehen.

    Allein, allein, in Zeit und Ewigkeit allein …

    Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren hatte sie keine Eier gefärbt, keine Geschenke gekauft. Nichts in ihrer Wohnung erinnerte an das Fest, ein Fest für Kinder. Keine Kinder, kein Fest.

    Franziska schlug die Decke zurück und setzte sich langsam auf. Unter ihrem linken Fuß zerknülltes Papier. Sie angelte nach dem Zettel und strich ihn glatt. Der Brief. Sie biss die Zähne zusammen. Sie wollte genug Alkohol trinken, um die Erinnerung an ihn für alle Zeiten zu ertränken, aber er war nach wie vor da, auf hellblauem Papier geschrieben, in Sophies leicht nach links geneigter Schrift. Kein einziger Schreibfehler. Jetzt hatte Falk es endlich geschafft. Vielleicht hatte er den Brief sogar diktiert. Und hatte Nadja ihn unterschrieben? Die Unterschrift sah nicht wirklich nach Nadja aus …

    Franziska las ihn erneut.

    Stadthagen, den 3. April 2015

    Mama,

    wir möchten, dass du uns endlich in Ruhe lässt! Kannst du nicht verstehen, dass wir nichts mehr mit dir zu tun haben wollen?

    WIR WOLLEN DICH NICHT MEHR SEHEN! LASS UNS IN FRIEDEN!

    Wir hassen dich, und daran bist du ganz allein schuld. Papa hat alles versucht, um dir zu erklären, was uns nervt an dir, aber du willst es ja einfach nicht glauben.

    Ich bin nicht mehr dein kleines Mädchen, das du fertigmachen kannst. Ich habe keine Angst mehr davor, dass du weinen könntest oder mich schlägst. Ich weiß jetzt, dass Papa gar nicht so schlimm ist, wie du uns immer gesagt hast. Er sorgt für uns und kann auch kochen. Wir sind eine neue Familie geworden und finden das toll.

    Keiner spricht hier über dich. Wir sind alle nur froh, dass wir endlich unsere Ruhe haben. Das ist unsere eigene Meinung, keiner hat uns beeinflusst.

    Ich hoffe trotzdem, dass du auch wieder glücklich wirst, aber ich will nicht mehr von dir unglücklich gemacht werden.

    Sophie und Nadja

    Sie schlagen! Pah! Die paar Ohrfeigen. Glücklich werden …

    Franziska stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Sie lochte den Brief und heftete ihn in den roten Ordner, den sie den Kindern zeigen würde, wenn diese eines Tages alt genug sein und sie fragen würden, was wirklich zwischen ihren Eltern passiert war. Es war alles da. Keiner würde ihr vorwerfen können, dass sie es nicht versucht hatte. Sie hatte um ihre Kinder gekämpft, aber dunkle Mächte waren am Werk gewesen. Dunkle Mächte und Verräter. Sie füllte ihr Glas vom Vorabend mit dem Rest des Rotweins.

    »Prost, Marie Quest, du verfluchte Verräterin.«

    Sie leerte das Glas in einem Zug und ging in die Küche, um eine neue Flasche zu öffnen. Die Quest war die Schlimmste von allen. Diese falsche Schlange, die als gute Fee daherkam und sie verzauberte mit ihrem Charme und ihrer weichen Stimme, ihren Versprechungen und ihrer geheuchelten Freundschaft.

    Franziska würde ihr zeigen, wie es sich anfühlte, sich um die eigenen Kinder zu sorgen und dabei völlig machtlos zu sein.

    Dunkle, höhere Mächte …

    3

    Marie warf das Telefon auf einen Stapel Zeitungen und lachte. Dann nahm sie es wieder an sich und hörte sich die Nachricht erneut an.

    Es war eindeutig. Die Frau lallte!

    Seit Monaten hatte sie hatte nicht von ihr gehört. Franziska Achenbach, grüne Augen, faszinierend und beunruhigend. Natürlich hatte Marie den Finger nicht vergessen. An der rechten Hand fehlte Frau Achenbach der halbe Zeigefinger, aber Marie hatte nie gefragt, wie das passiert war. Sie war groß, kräftig und unglücklich, ihr Mann deutlich kleiner, kompakt, attraktiv. Es gab Väter, die Marie völlig kalt ließen, und es gab Männer wie Falk Achenbach, der hinter ihre professionelle Fassade blickte und sie als Frau wahrnahm; in seiner Nähe war sie angespannt.

    Ihre Töchter waren Teenager. Sophie und Nadja. Die beiden hatten sich bald nach der Trennung der Eltern entschieden, beim Vater zu leben. Nach ein paar Monaten wollten sie ihre Mutter nicht mehr besuchen. Bereits vor Marie waren verschiedene Fachleute an der Härte der Mädchen gescheitert, und sie ließen sich auch von ihr nicht erweichen. Zu oft waren sie bei den Eltern auf taube Ohren gestoßen. Den Krieg zwischen ihnen konnten sie nicht beenden, trauten es auch niemandem sonst noch zu.

    Die Mutter erwartete, dass die Mädchen sich auf ihre Seite schlugen und damit gegen den Vater und dessen neue Lebensgefährtin Stellung bezogen. Herr Achenbach schien sich zu bemühen, aber er schaffte es nicht, Sophie und Nadja zu Treffen mit ihrer Mutter zu bewegen. Ginge es nach ihm, sollte Frau Achenbach also abwarten, bis die Mädchen von sich aus auf sie zugingen. Die Mutter war dagegen überzeugt, dass er sich über die Haltung der Kinder freute und sie sogar förderte; dass es ihm nicht um die Mädchen ging; dass er sie nur treffen und bestrafen wollte.

    Trennungskinder entscheiden sich aus unterschiedlichen Gründen für die eine oder andere Seite. Das schönere Zimmer, die größere Freiheit, mehr emotionale Nähe, besserer Halt … Alle aber sehnen sich nach Ruhe – Ruhe vor dem Streit. Nadja und Sophie hatten gehofft, sie beim Vater zu finden.

    Die Geschichten der Achenbachs klangen nicht anders als die der meisten Menschen, die Marie kennengelernt hatte. Eine Aneinanderreihung von Klischees in zwei eigenständigen Versionen: zu hohe Erwartungen, sexuelle Probleme, abwesende Männer, unzufriedene Frauen, Außenbeziehungen, Eifersucht, Sprachlosigkeit, Kränkungen. Vermutlich wurde Frau Achenbach nach wie vor ausgeschlossen und von Tag zu Tag wütender.

    Eisberge, von einem Gletscher losgebrochen.

    Ruhe vor dem Streit? Eine Illusion. Ablösung? Utopisch, wenn man sich für beide Eltern verantwortlich fühlte. Abbruch einer Beziehung als Lösung?

    Das Letzte, was Marie wollte, war es, dieser verzweifelten Mutter das Leben noch schwerer zu machen. Wie gemein, dass Franziska Achenbach ausgerechnet ihr vorwarf, Mitverantwortung für die Verweigerung ihrer Töchter zu tragen.

    Es war Marie im Laufe ihres Arbeitslebens nicht oft passiert, dass sie sich mit den Eltern von ihr vertretener Kinder verbunden fühlte. Franziska Achenbach hatte sie von Anfang an gemocht; es hatte Marie Spaß gemacht, dieser ärgerlichen Frau ein Lächeln zu entlocken und ihr Hoffnung zu geben. Als Verfahrensbeistand verfügte sie über kein eigenes Büro, und so besuchte sie die Eltern und ihre Kinder je in ihrem jeweiligen Zuhause. Franziska Achenbachs Wohnung war nicht groß, aber Marie gefielen die weinrot und tannengrün gestrichenen Wände und den Kontrast zu den weißen Tür- und Fensterrahmen. Einige Male hatte sie mit Franziska Achenbach auf deren überdachten Balkon gesessen und aus dicken, geschmackvoll getöpferten Tassen Kaffee getrunken, der genauso schmeckte, wie Marie es mochte: Stark, mit viel Milch. Auf jeder freien Fläche standen Keramiktöpfe mit Kräutern und blühenden Blumen. Die bequemen Stühle waren mit dicken Polstern und zusätzlichen Kissen ausgestattet. Beim letzten Mal hatte es gewittert, aber sie waren sitzengeblieben und hatten schweigend dem Unwetter gelauscht.

    Damals hatte Marie sich noch vorgestellt, dass sie Mutter und Kinder wieder in Kontakt bringen und den Fall glücklich abschließen würde; danach hätten sie Freundinnen werden können, und hinter der Fassade aus Ärger und Unglück hätte die Frau zum Vorschein kommen können, der Maries eigentliches Interesse galt.

    Marie versuchte, bei den Mädchen Verständnis für ihre Mutter zu wecken: »Eure Mutter ist impulsiv, aber sie liebt euch von Herzen! Sie hat es verdient, dass ihr beide ihr verzeiht. Ich kenne sie mittlerweile recht gut. Sie braucht etwas Zeit.«

    Gespräche mit allen drei weiblichen Familienmitgliedern drehten sich aber am Ende im Kreis. Vielleicht hatte Marie die Mädchen zu sehr unter Druck gesetzt, weil sie Frau Achenbach nicht enttäuschen wollte?

    Das erste gemeinsame Elterngespräch verlief eigentlich reibungslos. Die beiden redeten miteinander, wenn sie auch nicht einer Meinung waren. Frau Achenbach verlor ein paarmal die Fassung, aber er blieb friedlich. Marie versuchte zu vermitteln, erläuterte, wie die Entwicklung aus ihrer Sicht begonnen hatte, aus welchem Grund die Kinder sich inzwischen verweigerten und wie man ihnen helfen könne. Gegen Ende des Gespräches wirkte Frau Achenbach entspannt.

    Die Schriftsätze der Rechtsanwälte las Marie damals längst nicht mehr, es machte keinen Unterschied, ob sie sie las oder nicht. Die Eltern und ihre Kinder erzählten ihr alles, was sie wissen musste.

    Als ihr das Gericht kurz nach dem Elterngespräch einen Anwaltsbrief zustellte, ahnte sie nichts Böses, sie erwartete sogar, dass etwas Nettes über sie darin stünde.

    Doch es war anders: Sie sei parteiisch und ungeduldig, hieß es darin. So eine Frechheit!

    Marie kannte den Rechtsanwalt, der das Schreiben verfasst hatte, seit Jahren. Er vertrat mit Vorliebe Frauen und war dafür bekannt, dass er Annäherungen und sich anbahnende einvernehmliche Lösungen torpedierte. »Sie nehmen das, was ich schreibe, hoffentlich nicht zu ernst«, hatte er einmal mit einem Augenzwinkern zu ihr gesagt.

    Im Fall Achenbach nahm Marie es ernst. Sie war zutiefst gekränkt. Als Frau Achenbach ein paar Tage später versuchte, sie telefonisch zu erreichen, nahm sie den Anruf nicht an. Stattdessen schrieb sie ihren Bericht. Das Schreiben des Anwalts erwähnte sie mit keiner Silbe. Sie blieb sachlich, auch wenn es ihr schwerfiel, vermied Vorwürfe, fasste die unterschiedlichen Bedürfnisse, Hoffnungen und Enttäuschungen in Worte. Ein letzter Versuch, die Herzen zu erreichen, sie milde zu stimmen. Das Recht der Kinder auf ein gesundes Aufwachsen lasse sich nur sichern, wenn ihre Eltern Frieden schlössen; wenn Jugendliche dagegen zwischen verfeindeten Eltern lebten, könnten sie sich nicht gut ablösen.

    Natürlich hatte sie Klartext reden und das Verhalten der Eltern beschreiben müssen. Das hatte Frau Achenbach nicht gefallen. Dabei warnte sie auch Herrn Achenbach, dass es einer Familie nicht guttat, wenn sie ein Mitglied ausschloss.

    Der Abbruch von Beziehungen erscheint manchmal als der einzig gangbare Ausweg, aber das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ist mächtig und lässt, wenn man es unterschätzt, die Familie nicht zur Ruhe kommen

    Marie hatte für den simpelsten Weg geworben, eine Umgangsverweigerung aufzulösen, und war dafür in weiteren Anwaltsschreiben mit Häme bedacht worden. Sie hatte vorgeschlagen, dass die Eltern in der Wohnung, in der die Kinder lebten, Gesellschaftsspiele spielten und die Kinder links liegen ließen. Eltern, die wirklich den Kindern helfen wollten, probierten diesen Rat sofort aus, wenn auch zunächst mit geballten Fäusten. Nicht so die Achenbachs. Diese Eltern wollten eine Entscheidung, keine Spielerei.

    An dem Tag, an dem der Anhörungstermin stattfand, ließ Marie sich krankschreiben. Die Richterin beauftragte einen Sachverständigen damit zu klären, ob Herr Achenbach die Kinder der Mutter entfremde, wie es um die elterliche Erziehungseignung bestellt sei und bei welchem Elternteil die Kinder langfristig am besten aufgehoben wären. Marie überließ ihm das Feld und wartete ab.

    Die Fronten verhärteten sich. Am Ende stand die Empfehlung, Sophie und Nadja bei ihrem Vater zu belassen und einen einjährigen Umgangsausschluss gegen die Mutter zu verhängen, weil die Kontakte zu ihr die Kinder extrem belasteten.

    Die Kindesmutter habe sich dem Sachverständigen gegenüber wiederholt ausgesprochen ausfallend geäußert, hieß es. Ja, das passte zu ihr.

    Marie starrte auf das Telefon in ihrer Hand. Hatte die Achenbach sie gestalkt? Woher wusste sie von ihren Kindern? Hatte sie auch ihren Mann Rolf verflucht?

    Marie glaubte nicht an die Wirkung von Flüchen, sie hatte auch nicht zum ersten Mal einen bedrohlichen Anruf erhalten – und dennoch war ihr der Gedanke unheimlich.

    Am Ende

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