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BLINDE JAHRE: blind years
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eBook484 Seiten6 Stunden

BLINDE JAHRE: blind years

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Über dieses E-Book

27 Menschen in einem brennenden Bus mitten in den verschneiten Alpen. Ein Fegefeuer, aus dem nur eine Frau und ein Hund lebend geborgen werden. Die Überlebende verschwindet für ein Jahr im Klinikum für Schwerstbrandverletzte. Sie erwacht mit falschem Namen am Bettpfosten. Verwechselt, vertauscht, vom Ehemann plus Tochter für tot erklärt.
Eine totale Amnesie macht es zunächst unmöglich, sich an Unfall oder eigene Person zu erinnern. Die einsam gelegene Hütte, in der die ehemals vermögende Karrieristin Stella Moosberg nun als Meike Richter leben muss, birgt Geheimnisse einer mystischen Vergangenheit. Sporadisch einsetzende Erinnerungen werden zur Qual: Nichts passt zur Person der neuen Bewohnerin. Und der einzige Mensch, der diesen Zustand ändern könnte - Ehemann Julius Moosberg - hat für seine Zukunft gerade ganz andere Pläne.
Es bliebe beim Gefühl lebendig begraben zu sein, wenn da nicht die beiden wunderbar skurrilen Nachbarn wären: Henry Plummer & Hazel Mc Murphy.
Der pensionierte Polizist bedient sich wertvoller Kontakte und bringt damit eine Lawine ins Rollen, die nicht zu stoppen ist.

Kontraste reizen die Autorin und sind der Motor von "BLINDE JAHRE".
Mit dem ihr eigenen Sarkasmus und schwarzem Humor erzählt SHARON WUNSCH die Geschichte vom Gewinnen und Verlieren, von totalem Kontrollverlust und dem Kampf zurück ins Leben.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Nov. 2019
ISBN9783749768479
BLINDE JAHRE: blind years

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    Buchvorschau

    BLINDE JAHRE - Sharon Wunsch

    Kapitel 1 – 19- Januar 2008 – 8.20 Uhr

    München Grünwald – Villa der Varner Biotec AG

    Der Hausprospekt klang vielversprechend.

    Berghotel Tauernblick, 4-Sterne, Tagungshotel am Weißsee.

    Umgeben von Gletschern, Seen und Gipfeln des Nationalparks. Stilvoll eingerichtete Zimmer mit Blick über eine Traumkulisse: Urlaub über den Wolken. Wellnessbereich vom Feinsten, 24 Stunden Küchenservice, Kellerbar im typisch alpenländischen Charakter. Hotel nur mit der Gondel erreichbar. Gerne werden wir Ihre speziellen Wünsche beachten.

    „Die haben wir, da könnt ihr euch sicher sein!"

    Ein amüsiertes Lächeln überzog ihr Gesicht.

    Das war´s, davon würde sich die Vorstandsetage von Varner Biotec überzeugen lassen. Brenner würde Augen kriegen, dass sie es wieder einmal geschafft hatte, derart kurzfristig eine Hotelunterkunft der Extraklasse für immerhin 60 Teilnehmer zu arrangieren. Mit einem enthusiastischen Klick vollzog sie die Anfrage mit Hinweis auf Dringlichkeit.

    *

    Drei Jahre harte Arbeit lagen hinter ihnen. Das neue Medikament benötigte eine extrem kostenintensive Test- und Erprobungsphase. Ständig die Angst im Nacken, dass ein anderer Konzern ihnen zuvor kommen würde. Und nun diese Überraschung: Das neue Präparat erfüllte nicht nur alle Erwartungen, es wurde in sämtlichen Parametern als wertvolle Neuerung der Diabetesforschung anerkannt und dementsprechend bewertet. Die Chefpharmakologen hatten sich überschlagen mit Lob an ihre wissenschaftlich-technische Abteilung und fuhren in Champagnerlaune am Abend ins Grand Hotel Salzburger Hof. Stella Moosberg (sie wiederholte vorm Laptop genüsslich langsam ihren Namen) und die neue Pressesprecherin von drüben (…wie hieß sie doch gleich?) mit im Gepäck. Niemüller hatte sie angeschleppt. Eine verhältnismäßig graue Maus, mit der sie noch keine zehn Worte gewechselt hatte. Überbleibsel aus einem liquidierten Pharmabetrieb in Innsbruck. Die würde es garantiert nicht lange bei Varner Biotec aushalten.

    *

    Es gab ein vorzügliches Menü und champagnergeschwängerte Reden. Gisbert Gruber, Seniorchef und Gründer von Varner Biotec hatte nach dem fünften Gang darauf bestanden, sie künftig beim Vornamen nennen zu dürfen. Damit sei Stella einen weiteren Schritt in die Vorstandsetage in Salzburg zu gelangen, nähergekommen. Sie müsse nur brav, artig und karrierebesessen, wie sie nun mal war, was er schmeichelnd betonte, weiter für Varner arbeiten.

    Eine Stunde später trafen sie sich noch einmal an der Bar. „Kindchen, Sie sind aus demselben Holz geschnitzt! Wir wissen, was wir wollen, und wie wir es bekommen. Machen Sie weiter so. Und verlieren Sie nie Ihr Ziel aus den Augen!"

    Mahnend hob er den Zeigefinger. Im Geiste ließ sie ihre To-do-Liste weiter Revue passieren.

    Jetzt tätschelte er sie am Arm, was ihr schon weniger sympathisch war. Sein leicht alkoholisierter Atem streifte ihre Wange. Prioritäten setzen müsse man, und jetzt wäre erst einmal eine Tagung samt Feier für die Elite der Belegschaft angesagt. Das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, sprich: Corporate Identitiy et cetera pp.

    „Wir lassen´ s mal so richtig krachen!"

    Er kicherte seltsam belustigt und warf dabei einen tiefen Blick in ihr Dekolleté. Der Senior war halt noch von der alten Schule. Sie hatte keine Lust auf Sentimentalitäten oder Sex mit vergreisenden Männern in aufgemotzten Suiten.

    Betont langsam stand sie auf, glättete ihren Seidenrock und schenkte ihm gönnerhaft einen betörenden Augenaufschlag, an dem sie lange vor dem Spiegel geübt hatte. Er verfehlte seine Wirkung nicht. Gisbert Gruber sank selig in die Kissen zurück und winkte ihr mit einem Glas Scotch hinterher.

    *

    Stellas To-do-Liste war wie üblich ellenlang. Sie hielt sich nicht länger als unbedingt nötig im Hotel auf, raste kurz nach 22.00 Uhr nach Hause und arbeitete bis nach Mitternacht.

    Es war 7.30 Uhr, als sie ein Pampelmuse-plus-schwarzer-Kaffee-Frühstück später im dunkelblauen Businesskostüm erneut in ihren weißen BMW stieg.

    Mann und Kinder sah sie nicht mehr. Den Zettel mit Gruß und Herzchen für die Kids hatte sie aus Versehen mitgenommen. Er lag zerknüllt auf dem Beifahrersitz. Keine Zeit, immer auf der Überholspur, wie üblich. Das zeichnete sie aus: Stella Moosberg, groß, schlank, dunkelhaarig, 39 Jahre alt und Münchner Verwaltungsleiterin bei einem der angesehensten Pharmaunternehmen Österreichs.

    Ihre Karriere ging seit einigen Jahren steil bergauf. Schon heute verdiente sie das Doppelte ihres Mannes. Und der war immerhin ein halbwegs renommierter Anwalt. Im Spiegel lächelte sie sich selbstgefällig zu und strich an einer roten Ampel etwas beigefarbenen Concealer unter ihre übernächtigten Augen, beim nächsten Ministau etwas Rouge auf die Wangen und abschließend apricofarbenes Gloss auf ihre vollen Lippen.

    Das Tolle daran: Sie hatte sich nicht einmal hochschlafen müssen.

    Jede ihrer Stationen war hart erarbeitet und erkämpft worden. Eine Menge männliche Kandidaten hatte sie dabei hinter sich gelassen. Sie war einfach zu gut! Niemand der hohen Herren kam an ihr vorbei, ohne ihr nicht wenigstens schrittchenweise zu ihrem persönlichen Traum zu verhelfen: Das Glück und die Einsamkeit der Vorstandsetage hatte sie schon vor Jahren kennengelernt.

    Während sie an diesem Morgen das Tor zum Pharmagelände passierte, dem Portier nachlässig mit der behandschuhten Linken zuwinkte, es war empfindlich kalt, spürte sie wieder das ultrasatte Gefühl, dass die Glücksfee in ihrem Leben sie reichlich geküsst und verwöhnt hatte.

    Sie konnte sich an jeden einzelnen ihrer Schritte hinauf in die Geschäftsetage erinnern. Und es verursachte ihr immer noch ein angenehmes Kribbeln, wenn sie daran dachte, wie oft sie zu rigiden Mitteln gegriffen hatte, Konkurrenten auszustechen, um sie dann wehleidig kränkelnd am Wegesrand zurückzulassen. So war das Geschäft nun mal. Mit Vollgas ging´s weiter… und es würde ewig weitergehen, dafür würde sie sorgen. Sie hielt auch nichts von unkontrollierten Aktionen. Das passte nicht zu ihr, zur wohldosierten Lässigkeit und gezielt eingesetzten Arroganz. Zumindest im Berufsleben konstatierte sie leise, überließ sie nichts dem Zufall.

    In einem großen Bogen kam sie neben der breiten Eingangstür aus Palisanderholz zum Stehen. Wie jeden Morgen klappte sie im Wagen ein letztes Mal vor Eintritt in die Arbeitswelt den Spiegel herunter, rollte hastig die beiden selbsthaftenden Lockenwickler aus dem Haar. Zwei Bürstenstriche später schmiegte sich die perfekte Welle an ihren Kopf. Peinlich genau achtete sie darauf, dass die dunkle Haarpracht unterhalb des rechten Ohrs endete. Was wie Zufall aussah, war exakteste Berechnung und wurde durch Verwendung von Haarlack unterstützt. Niemand sollte die beiden Hörhilfen sehen, die im Ohr wie kleine Mikrochips hafteten. Sie erzählten die Geschichte einer anderen Stella, die es schon lange nicht mehr gab.

    Ihr neuer Parkplatz trug die Nummer 4 und symbolisierte gewissermaßen das Entree ihres Erfolges. Sie brauchte nicht einmal einen Schirm, um trockenen Fußes in den Palast von Varner zu gelangen. Als Studentin hatte sie oft mit klatschnassen Haaren in der Metro gesessen und sich sehnlichst gewünscht, eines Tages solche Vorzüge genießen zu dürfen. Bereits als Kind träumte sie von alleengesäumten Auffahrten und hörte sich mit einem schweren teuren Wagen langsam über das ausufernde Kiesbett rollen. Spontan entrang sich ihr ein tiefer Seufzer der Genugtuung. Sie hatte alles, wirklich alles in ihrem beruflichen Leben richtig gemacht.

    *

    Wie wenig man doch vom wahren Leben weiß. Und wie sehr sie gerade ihr Gefühl trügt: Die Glücksfee hatte sie längst verlassen. Ganz genau 29 Tage würden ihr noch aus ihrem alten Leben verbleiben: „29 Tage, 12 Stunden und 18 Minuten."

    Sie wird wie eine Eisscholle auf dem Meer treiben für eine unendlich lange Zeit. Ohne an diesem Zustand irgendetwas ändern zu können.

    Kapitel 2 –

    1. Februar 2008 - Villa am Tegernsee, Seeweg 66

    Leise fluchend parkte sie neben dem Wagen ihres Mannes. Ihr blieb kaum Platz zum Aussteigen, derart schräg stand Julius Mercedes. Noch während Stella sich den steifen Nacken rieb, trat sie mit dem ersten Schritt - es hatte geregnet und jemand sinnigerweise die Außenbeleuchtung abgeschaltet - in eine tiefe Pfütze.

    Na warte! Sie war gespannt, mit welcher Ausrede er ihr diesmal kommen würde und schüttelte im Halbdunkel die triefnassen Pumps. Igitt! Das laute Quapwatsch-Geräusch verfolgte sie noch, als sie sich im Heizungskeller der Schuhe und Nylons entledigte und eine neue Packung Strümpfe aus der Zellophan-Folie zog. Das mit den Einmal-Nylons war ´ne kleine Marotte von ihr. Die knisternde Verpackung landete zusammen mit den alten Strümpfen im Mülleimer.

    Gerade war sie dabei, etwas Zeitungspapier in die Spitze der Pumps zu schieben, ein Trick ihrer seligen Großmutter, da stand Edgar vor ihr.

    Sie erschrak, so sehr war sie in Gedanken. Stress und häuslicher Ärger ließen sie fahriger werden in den letzten Monaten. Hinzu kam, dass sie gerne auf der Rückfahrt das Hörgerät im Wagen abschaltete, um zu entspannen. Es war ein schönes Gefühl, wenn die Welt da draußen gedämpft an ihr vorbei waberte. Um diese Zeit konnte sie es sich leisten. Edgar, der grau-weiße Mops ihres Vaters glotzte sie an. Er hechelte und leckte sich unentwegt die Schnauze. Das kannte sie zur Genüge. Der Wassernapf auf dem Flur zur Einliegerwohnung neben dem Heizungskeller war leer. Futter war auch keins mehr da. Der arme Hund. Was hatte ihr Vater bloß wieder angestellt? Wie lange hing das Tier hier schon im Kellergang rum? Als Antwort hob Edgar das Bein und pullerte gegen die Eingangstür.

    „Papa!", rief sie laut, lief zum Ende des Ganges und klopfte an die Tür. Es stank bestialisch. Sie war mit dem Hausschuh in einen Haufen Scheiße getreten.

    „Das darf doch nicht angehen. Vater!"

    Stella trommelte an seine Tür. Diese gab nach und erlaubte einen Blick auf die abendliche Idylle ihres alten Herrn. Richard Tauber saß sehr aufrecht mit dem Rücken zu ihr gewandt am Tisch und unterhielt sich angeregt mit einem Plüschhasen ihm gegenüber. Ihr Kuscheltier aus vergangenen Tagen.

    Richard hatte ihn von irgendeiner Klausurtagung mitgebracht, an einem x-beliebigen Stand auf einem Kirmesfest in Salzburg geschossen. Sie fand ihn ab der ersten Stunde einfach grässlich, wagte aber nicht, es dem geliebten Daddy, der so selten nach Hause kam, zu beichten. Nun kam er täglich uneingeschränkt zum Einsatz.

    Seitdem der Hase mit am Tisch saß oder von ihm zum gemeinsamen Fernsehen auf das Sofa drapiert wurde, ging´s Richard augenscheinlich besser. Er wurde gesprächig und saß nicht mehr stundenlang stumm vor seinen Katalogen oder starrte auf seine Rätselseiten. Der Therapeutin gefiel das. Ihr als Tochter blieb nichts anderes übrig, als seinen neuen Vorstellungen von einem halbwegs zufriedenen Leben zu folgen.

    Einem Rat aus früheren Wochen folgend, hatte sie ihrem demenzkranken Vater auch Familienbilder gezeigt. Er wollte wenig wissen, nichts von ihr, nichts vom gemeinsamen Leben, nur der dusselige rosa Riesenhase mit den ultralangen dünnen Fellbeinen, den rollenden großen Augen und dem dämlichen Grinsen im Gesicht beeindruckte ihn derart, dass er in kindlich penetrantem Ton darauf bestand, ihn wiedersehen zu wollen. Während er ansonsten die meisten Dinge schneller vergaß als man bis Zwanzig zählen konnte, brachte beharrliches Nachfragen ihn schließlich vom Dachboden zurück.

    Richard bekam die Pflege, die er brauchte und seine Medikamente, denn nur mit denen blieb er ausgeglichen. Anfangs besorgte sie ihm wöchentlich Autoprospekte und Zeitungen. Er hatte gefühlte hundert Jahre sein Geld damit verdient, Limousinen an vermögende Leute zu verkaufen. Man sollte meinen, das zählte, und die Erfahrungen nutzen sich nicht derart schnell ab.

    Die Demenz fraß binnen zweier Jahre alles auf. Erstaunlicherweise wurde diese Lücke bei ihrem Vater jedoch durch die totale Hingabe zu einem anderen Gebiet fast nahtlos ersetzt. Neuerdings lagen seine Obsessionen im Reich der sogenannten ‚weißen Ware‘. Keiner wusste, warum dies so war. Er führte den halben Tag Verkaufsgespräche über Waschmaschinen, wobei es ihm die Geräte der Marke Bauknecht besonders angetan hatten. Selbst beim Essen musste seine französische Pflegerin Schläuche und Ersatzmaterial bereitlegen. Während ihm Spinat und Püree in den Mund geschoben wurde, fragte er, ob sie Kontakt zur Werkstätte in Schorndorf aufgenommen habe, um Ersatzteile zu ordern. „Ab´ isch, Monsieur", antwortete Cloé monoton und schob gleich noch etwas Rührei hinterher. Meist grummelte der alte Herr dann zufrieden vor sich hin und bastelte ein wenig abgelenkt an Plastikschläuchen.

    Heute nimmt er Stella zuerst gar nicht wahr. Sie legt ihre versauten Hausschuhe ins Waschbecken und setzt sich neben ihn. Der rosa Hase starrt sie beide an. Er wird mit ‚Bob‘ betitelt, so wie der Chauffeur ihres Vaters, Gott hab´ ihn selig.

    Cloé betet angeblich jeden Tag für den vor rund 10 Jahren Verstorbenen, weil sie an Reinkarnation glaubt und die Meinung vertritt, er wäre als Plüschhase neu auf die Welt gekommen, um ihrem Vater Gutes zu tun.

    Auf dem Tisch liegen ausgeschnittene Waschmaschinen aus Katalogen herum, die in einem gesonderten Heft sauber nebeneinander eingeklebt werden. Die Therapeuten loben seine Aktivitäten. Er scheint den ganzen Tag über mit diesem Thema sowie seiner Rätselleidenschaft beschäftigt zu sein und ist relativ milde gestimmt. Das heißt im pflegerelevanten Sinne: Er ist pflegeleicht!

    Stella fand´s irgendwie dennoch abartig. Sie brauchte sich nur die neuen Rätsel anschauen, die er täglich löste: Auch dieses Unternehmen sorgfältig wie üblich und lobend erwähnt von den Experten.

    Keiner der georderten Koryphäen der letzten dreieinhalb Jahre verlässt das Haus, ohne ein Lächeln im Gesicht. Der Fleiß ihres Vaters beeindruckt sie alle ungemein. Kaum ein Patient habe nach knapp vier Jahren noch so viel auf dem Kasten wie er. Stella könnt´ manchmal schreien vor Verzweiflung und Wut und ja… das ist es wohl auch: Scham! Der Vater, ihr Heiligtum, ihr großes Vorbild. Der ehemals geniale Techniker Richard Tauber mutierte zum therapeutischen Wunderzwerg in Menschengestalt, einer traurigen Figur auf zwei Beinen.

    *

    Dem Hasen wird klargemacht, dass die Zahlen längst keine schwarzen Zahlen mehr wären. Ein Aufstieg sei auch nicht in Sicht. Er müsse sich einfach mehr am Riemen reißen, mehr akquirieren.

    „Bob, das muss doch zu schaffen sein im nächsten Quartal. Die Ware ist einzigartig und auf dem neuesten technischen Stand! Bringen Sie sie an die Frau! Bauknecht weiß, was Frauen wünschen! Unser Slogan, - leben Sie ihn. Das kann doch nicht so schwer sein. Ich werde mich übrigens bei der Geschäftsleitung gegen eine diesjährige Gehaltserhöhung aussprechen, wenn das so weitergeht mit Ihnen."

    Ihr Vater schweigt bedächtig, legt nachdenklich die Stirn in Falten und blickt auf die heute gelösten Rätsel vor ihm wie auf eine Excel-Tabelle, während der Hase langsam vom Stuhl rutscht. Edgar zieht ihn am Arm unter den Tisch und hüpft im kurzen Sprung auf den verwaisten Platz. Er möchte auch mal solche Beachtung finden wie Bob. Wenn´s nicht so traurig wäre, müsste Stella eigentlich laut lachen.

    Die Rätsel und Richards Lösungen, die den Psychologen sichtlich Freude bereiten, sind eigentlich gar keine. Er nimmt sich einfach einen Begriff vor, wie zum Beispiel ‚babylonischer Himmelsgott‘ mit drei Buchstaben und schreibt mit krakeligen Buchstaben ‚Uhu‘ in das Feld. Eine Drüsenabsonderung mit fünf Buchstaben ist für ihn ein ‚Apfel‘ und die Prinzessin von Jordanien heißt ‚Kleber‘, weil er den für seine persönliche Waschmaschinensammlung benötigt.

    Ein polynesisches Rauschgetränk ist für ihn ‚Kaba‘, sein Lieblingsschokogetränk. Halt alles Sachen, die er noch kennt und die ihn am Denken halten, so begründen Neurologen ihre Strategie, Richard Tauber genau dieses Spiel bis zur Unendlichkeit weiter spielen zu lassen. Es strengt ihn an, man kann es deutlich erkennen. Er bemüht sich stundenlang, dieser Sache auf dem Tisch Herr zu werden. Es fordert ihn heraus, also wird´s dabei belassen und Stella übernahm den Kauf neuer Hefte. Der Verkäufer in dem kleinen Zeitungskiosk, den sie in der Mittagspause schnell mal aufsucht, wundert sich zwar über die große Menge, die sie an Ratematerial verbrät, äußert sich jedoch nicht dazu. Sie ist ihm direkt ein wenig dankbar dafür.

    Wenn der wüsste…!

    Ihr Vater hatte sich seine Freizeitbeschäftigung selber ausgesucht, und sich zahlreichen Vorschlägen der Neuropsychologie zu Anwendungen aus der Musik- und Kunsttherapie sowie Bewegungsübungen, Sinnes- und Wahrnehmungstraining hartnäckig verschlossen.

    Bei den „Kim-Spielen" zum Beispiel, bei denen Mitspielende durch Tasten und Riechen mit verbundenen Augen Gegenstände erraten müssen, war er das erste Mal richtig ausgeklinkt, hatte sich die Binde runtergerissen und sichtlich empört den Raum verlassen.

    „Das ist mir zu lächerlich, diese Kinderspielchen mache ich nicht mit!" Das Institut, welches sich zur Aufgabe gemacht hatte, verbliebene Fähigkeiten der Kranken zu trainieren sowie ihr Selbstgefühl zu stärken, betrat er nie wieder. Außerdem hegte er seit diesem Tage ein generelles Misstrauen, einen ihm nicht hinreichend bekannten Arzt aufzusuchen. Das wurde allerdings mit dem Verschwinden seines Gedächtnisses immer schwieriger. Leute, die ihn tagtäglich umgaben, waren soweit okay. Wechsel beim Personal an Physiotherapeuten zum Beispiel nahm er ungern in Kauf. Seine Rückversicherung lief meist über ein vertrauliches Gespräch mit Bob, wenn Cloé nicht in der Nähe war. Nur auf den Hasen war diesbezüglich Verlass.

    Mit Bobs Einverständnis durfte der oder die neue Pflegekraft schließlich seinen Rücken massieren und Lockerungsübungen des Bewegungsapparates durchführen. Wobei er Frauen gegenüber ulkiger weise generell misstrauischer zu sein schien. Viele von ihnen mussten sich zunächst einem umständlichen Frage- und Antwortspiel unterziehen, bevor sie loslegen durften. Sie wurden nicht nur nach Referenzen befragt, sondern sollten dabei ebenso Pläne für ihre Zukunft darlegen. Dabei konnten schon mal 10-15 Minuten vergehen, ehe eine Behandlung in Sichtweite rückte.

    Eine junge Praktikantin schien er vorbehaltlos zu mögen, denn er fragte mehrfach am Tag nach ihr.

    Cloé war jedoch von deren respektlosem Verhalten mehr als entsetzt. ‚Diese Persson‘ (sie betonte dies in einer Art und Weise, als sei sie mit einen ekelerregenden Hautauschlag übersät…) habe Monsieur gegenüber auf seine Fragen zu ihrem persönlichen Hintergrund knapp mitgeteilt, es ginge ihn überhaupt nichts an, was sie in ihrer Freizeit mache. Er solle sich überlegen, ob er jetzt behandelt werden möchte oder nicht. „Es entstand eine entsetzlisch lange Bause …Madame, isch dachte schon, jetzt wird er ssornig, da lachte er plötzlisch, sog seine Ose un´seine Emd aus und legte sich zur Beandlung auf die Chaiselonge. Und… wissen Sie warum er diese Sinneswandlung vollsogen atte? Diese Persson, wie eißt sie doch gleisch, ich denke Bernadette… mon dieu, meinte mit eine Blick auf den Asen, dass sie auch so ein schönes Kuscheltier geabt habe. Und ob sie ihn streicheln darf. Da war´s um das Erz von ihre arme Errn Papa geschehen. Schrecklisch, Madame, …er ist soo ilflos!"

    Diese Meinung konnte Stella nun wiederum nicht teilen. Ihr Vater war zwar oftmals irritiert und verwirrt, ein wenig depressiv, aber eher melancholisch veranlagt. Angstzustände gab es bisher noch nicht. Richard hatte auch sprachlich keinerlei Defizite und bemühte sich auf seine Weise, die ihm fremder werdende Welt zu begreifen. Dazu gehörte, da sich sein Radius krankheitsbestimmt unaufhaltsam verkleinerte, das er Nachrichtensendungen im Fernsehen zunehmend mied. Er war nicht imstande, die Inhalte zu begreifen, zuzuordnen und zu verarbeiten. Und bevor es ihn zu ängstigen drohte, schaltete er ab und wand sich seiner kleinen vertrauten Welt zu. Diese zu managen fiel ihm subjektiv betrachtet nicht übermäßig schwer.

    Objektiv betrachtet war es ein Müllhaufen, den Richard verwaltete. Ein

    Haufen Schrott, der seinem Kopf jeden Tag den Krieg erklärte.

    *

    Von einem führenden Neurologen zu erfahren, dass genetische Faktoren bei der Entstehung von Alzheimer nur eine untergeordnete Rolle spielen und sich bei Verwandten ersten Grades das individuelle Risiko nur geringfügig erhöht, hatte Stella eine beklemmende Last, ja fast Lähmung, genommen.

    Sie würde auf sich und ihre sieben Sinne achtgeben, so schwor sie sich, während sie Richard vorsichtig über das volle graue Haar strich.

    „Papa … hast du Edgar heute rausgelassen? Bist du Gassi gegangen mit deinem Hund?"

    Fragend schaut er sie an.

    „Da müssen Sie Cloé fragen, junge Dame. Sie hat das übernommen. Ich hatte heute zu viel in der Firma zu tun. Sie sehen doch, manche Angestellte lassen einen gar nicht zur Ruhe kommen."

    Seine Augen suchen ruhelos den Hasen unter dem Tisch. Es tut weh, dass er sie siezt und manchmal nicht weiß, wer sie ist, während er die Namen seiner Pfleger und Therapeuten nahezu alle behält. Leicht genervt wendet sie sich ab, schnappt sich Edgar vom Stuhl und scheucht ihn in den Garten hinterm Haus am See.

    Der Mond steht hoch über ihnen. Edgar entleert sich zielstrebig an jedem Rhododendronstrauch, bevor er laut bellend die Umzäunung zur Uferpromenade entlangbrettert, um nächtliche Raucher zu warnen, die wie so oft leise telefonierend den Weg entlangschlenderten. Ein Einbrecher hätte es echt schwer bei ihm. Edgar ist zwar klein und dick, aber äußerst gelenkig und unerwartet bissig. Wenn ihm einer nicht passt, gibt´s schon mal ein ‚Wadenzwickerl‘, wie ihr Vater dies bezeichnete. Einige Anzeigen liefen bereits während seines sechsjährigen Daseins. Den Maulkorb hatte Richard bei seinem ‚Möpslein‘, wie er ihn kosend nannte, jedoch stets abwenden können.

    „Das tut dem Viecherl nicht gut, da wird er bissig", gab er zur Auskunft. Wohlweißlich nicht zur Kenntnis nehmend, dass er das bereits war. Egal, sie würde Edgar auf alle Fälle nicht mehr erziehen, das hatten im Haus schon zu viele probiert. Der hatte eh alle mit seiner Sturheit genarrt und machte getreu seinem laut Rassebuch beschriebenen Charakter stoisch weiter, was er wollte.

    Stella regelte mit ihm alles übers Fressen. War er brav, gab´s mehr, wenn nicht, musste er sich anstrengen ihr gegenüber. Was er dann auch tat: Edgar war schließlich nicht doof.

    Deshalb liebte er auch die Nähe zum Herrchen heute mehr denn je. Der fütterte ihn in all seiner Schusseligkeit neuerdings mit den unmöglichsten Speisen. Bei dem Gedanken musste Stella im mondbeschienenen Garten unwillkürlich lachen.

    Erst vorigen Monat - sie war nach einer Präsentation ebenso spät nach Hause gekommen wie heute - sah sie wie üblich in der Einliegerwohnung nach dem Rechten.

    Cloe hatte verabredungsgemäß gegen 18.00 Uhr das Haus verlassen. Ihr Vater saß einträchtig mit Edgar zusammen am Tisch. Auf dem Boden lagen verdreckte schwarze Gummistiefel und die Hundeleine, er war demnach ausgeführt worden. Vor ihnen standen zwei Teller. Während Edgar eifrig an einem Eisbein kaute und zwischendurch Erbspüree schlabberte, versuchte ihr alter Herr mit einem Schuhlöffel weiches Hundefutter vom anderen Teller zu essen.

    Man konnte nur erahnen, was hier schiefgelaufen war. Vater hatte gedeckt, sich dann - einem plötzlichen Einfall folgend - der unbequemen Stiefel mittels Schuhlöffel entledigt, währenddessen der schlaue Edgar am Tisch die Plätze tauschte. Nun hatte er das anvisierte leckere Eisbein vor sich, während Richard auf dem ihm zugewiesenen Stuhl Hundefutter (es gab Truthahn und Reis) mit eben diesem Schuhlöffel Hand zu bewältigen versuchte.

    Stella wusste, dass ihn dieses Essen nicht gerade krank machen würde. Er hatte einen Magen wie ein Pferd und schaufelte Unmengen am Tag in sich hinein, je nachdem, wann ihm wieder einfiel, dass man etwas zu sich nehmen müsse. Meist alles durcheinander, sofern kein Pfleger in Sicht war und ihn davon abhielt.

    Edgar partizipierte letztendlich von seiner Unordnung im Kopf. Die Verminderung des Botenstoffes Acetylcholin, welcher Schuld an den stetigen Gedächtnislücken war, kam ihm gerade recht. Den ganzen Tag über hatte er damit zu tun, sein Herrchen auf seine Art zu bewachen. Sowie der sich erhob und Richtung Küche marschierte, versprach es, interessant zu werden. Seine knubbeligen Glupschaugen wurden noch größer, als sie eh´ schon waren. Sie stachen mit dem älter werden heraus wie kleine Ufos. Je dicker er wurde, desto mehr pupste, sabberte und schmatzte er. Und sein Schnarchen hörte man bis zum ersten Stock. Ihn wegzugeben, um ihm ein langes Leben zu sichern, kam leider nicht in Frage. Vater würde das Herz brechen. Je mehr er sich in die Demenz begab, umso mehr schmuste er mit Edgar. Die Hundeseele berührte und beruhigte ihn ganz offensichtlich. Cloé machte viele Bilder, auf denen ihr Vater neuerdings mit dem Hund eine Art Nachmittagsschlaf hielt, indem er ihn auf dem Chaiselongue liegend wie ein Kopfkissen unter seinen Kopf schob. Der Hund machte alles mit, Hauptsache die Futterressource blieb ihm erhalten und halbwegs in seiner Nähe.

    *

    Edgar bellte nun schon fast fünf Minuten ununterbrochen.

    Wie gerne würde Stella den klaren Himmel mit unzähligen Sternen noch ein wenig genießen. ‚Möpslein‘ machte das unmöglich. Ungeduldig schob sie ihn zurück ins Haus.

    Richard stand ihr mit nackten Füßen im Flur gegenüber.

    „Zieh dir Hausschuhe an, Papa, es ist kalt!"

    Sie öffnete die Badezimmertür, um ihm Zahnpasta auf die bereitliegende Bürste zu tun. Plötzlich strahlte er sie an und legte ihr sanft die Hand auf den Arm.

    „Mein Mädchen ist wieder da. Wie schön, guten Abend. Ist wieder spät geworden heute, nicht wahr? Du bist immer so fleißig."

    Mein Mädchen hatte er gesagt. Darauf hatte es sich gelohnt zu warten. Ein echtes kleines Highlight. Sie seufzte. Das war all die Jahre seine absolute Lieblingsbezeichnung für sie gewesen, genau genommen bis das hier - sie hielt inne und sah sich im unaufgeräumten Zimmer um -, passiert war.

    Das Schöne daran: Er sagte es immer noch derart liebevoll und jede Silbe betonend. Stella liebte ihn dafür. Die Momente des innigen Zusammenseins wurden langsam kostbar. Es gab nicht mehr viele davon.

    Sie umarmte Richard und küsste ihn sanft auf die Stirn, nachdem sie ihn wenige Minuten später zum Bett begleitet hatte. Edgar hüpfte auf seine Bettdecke, sie löschte das Licht der Tischlampe und winkte im Türrahmen.

    Ihr Vater hatte bereits die Augen geschlossen. Im Schein der Flurbeleuchtung sah sie ihn sich genauer an. Komisch, er wurde immer zarter. Derart gelöst wie spätabends, wenn er im Bett lag, sah er tagsüber selten aus. Sie konnte dies zwar nur am Wochenende, wenn sie sich mehr Zeit für ihn nahm, beurteilen, aber Chloé teilte ihre Auffassung. Womöglich hatte es auch damit zu tun, dass er in einem Stadium war, in dem er Veränderungen registrierte. Als Indiz wurde Wut, Beschämung und Niedergeschlagenheit diagnostiziert. Das stand nicht nur in den Protokollen der Pfleger, sie hatte es ebenfalls bemerkt, obwohl die Beobachtungsgabe in Bezug auf ihn sicherlich nicht zu ihren Stärken zählte. Oftmals musste sie mehrfach auf eine Veränderung hingewiesen werden, bevor sie diese ernsthaft registrierte. Schwächen zu sehen an ihrem Vater vermied sie wenn irgend möglich.

    Edgar hatte seine Pfote hinübergeschoben. Über der Bettdecke nestelnd ergriff Richard sie, ohne die Augen zu öffnen. Ein Paar, das einander brauchte. Stella musste schlucken, derart weh tat die sich akut aufdrängende Klagemauer unerfüllter Sehnsucht angesichts dieses Pärchens. Sie würde ihren Paps niemals zurückbekommen. Weite Teile waren bereits verschüttet, und immer mehr würden verschwinden. Der Hund hatte es besser als sie.

    Edgar nahm sein Herrchen täglich, so wie er war, mit und ohne Macken. Sie hingegen tat sich schwer damit, wenn sie ehrlich war, und hielt ihren alten Herrn vor allem aus der Öffentlichkeit zurück, um sich nicht kränken zu lassen.

    Ihre Eitelkeit, ihr Perfektionismus, einst anerzogen durch ihn, ließ es nicht zu, dass andere ihn derart ‚Gaga‘ dahinwelken sahen. Zumal sie fürchtete, dass auf ihrer Arbeit unter Umständen Rückschlüsse auf ihre Person gezogen werden könnten, indem sie nach Überlastungsmerkmalen und Schwächen suchten, wie die Aasgeier über sie herfielen, um sie zu vernichten.

    Sie wusste nicht, ob das so laufen würde, aber sie spürte bei jeder weiteren Anpassung an seine Beeinträchtigungen, dass es ihr zumindest schlechter ging. Dieser Milieutherapie, der sie sich als engste Angehörige laut den Ärzten verpflichtet fühlen müsste, entzog ihr sämtliche Energien, die sie eigentlich für ihren beinharten Job benötigte.

    Tagsüber, wenn sie unterwegs war, ging`s mit einigen laut vorgetragenen Mantras einigermaßen: Aber abends, wenn sie heimkam, verfolgte sie der Geruch von etwas schleichend Zersetzendem. Nachts lag sie oft stundenlang wach und wälzte sich unruhig hin und her. Das sollten eigentlich Richards Krankheitssymptome sein und nicht ihre. Der wiederum schlief seelenruhig Hand in Pfote mit Edgar, bis die beiden gegen 8.00 Uhr von Cloé geweckt wurden.

    Kapitel 3 –

    Tegernsee, Seestraße

    Leise schloss sie die Tür hinter der Einliegerwohnung, schlich die Treppe nach oben und betrat ihr eigenes Reich. Julius lag der Länge nach in seinem Armchair, der aufgeschlagene Tegernseer bedeckte sein Gesicht, die rotbestrumpften Füße hingen schlapp herunter. Die Schuhe lagen genau wie sein Jackett und die gestreifte Krawatte über den Teppich verstreut. Er bot ein Bild des Grauens.

    Der Fernseher lief und spendete kühle Lichtreflexe, welche die Szene in seltsam groteske Bilder tauchte. Es war Donnerstag und ein langer Skatabend mit seinen Freunden lag hinter ihm, das war ganz offensichtlich. Stella schaltete den Fernseher aus und schmiss die Fernbedienung auf den Teewagen neben den überquellenden Aschenbecher. Der Mensch unter der Zeitung grummelte. Er stank nach Whisky, rülpste leise und schnarchte übergangslos weiter. Die Zeitung mit Sportnachrichten hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Es wirkte bizarr. Der Tennisschläger von Roger Federer spielte zitternd Richtung Netz.

    Sie konnte Säufer absolut nicht ausstehen. Zu intensiv hatte einer davon in ihrer Kindheit eine tragische Rolle gespielt.

    Mit einem Mal fühlte sie sich entsetzlich einsam und allein und stieg schweren Schrittes zwei Stockwerke höher ins Gästezimmer unterm Dach. Dort würde sie Ruhe haben für die kurze Nacht, die ihr blieb, wie so oft in den letzten Jahren. Ihr Privatleben war alles andere als berauschend. Niemand aus ihrem Umfeld wusste Bescheid. Nur die zwei kleinen Kinder, die unter ihr schliefen und die sie zuvor aufgesucht hatte, um ihnen einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Valerie und Leonard hatten im Laufe der Jahre Streit und Aggressivität zwischen den Eltern erlebt. Sohn und Tochter blieben die Leidtragenden, denn nichts verbesserte sich. Die Mutter kam später heim und der Vater wurde immer unzugänglicher für sie.

    Kindermädchen wechselten häufiger, weil sie oft länger arbeiten mussten und selber kaum Privatleben hatten. Seit achtzehn Monaten gab es Barbara. Valerie und Leon waren mittlerweile im Vorschulalter und hingen mit bedingungsloser Liebe an ihr.

    Der Neuzugang kam ursprünglich aus einem kleinen Dorf in Tschechien und arbeitete zuvor bei einem pensionierten, ziemlich versponnenen Ornithologen, der vor gut zwei Jahren verstorben war. Babs konnte sich übrigens fast ebenso wie Stella absolut auf sich und ihre Intuition verlassen und hatte den richtigen Riecher gehabt. Sie erkannte, was für ein Chaos in diesem Haus der reichen Leute herrschte. Stundenlang hing sie am Computer und surfte im Internet. Sie entnahm Geld aus der großzügig ausgestatteten Haushaltkasse für fadenscheinige Unternehmungen mit den Kids.

    Sie log, wo sie nur konnte, so lange die Kinder zu klein waren, um sie zu entlarven. Es lief noch besser als in ihren kühnsten Träumen. Die Eltern schienen derart mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, dass es gar nicht zu interessieren schien, was sie tagtäglich anstellte. Hauptsache die Kinder machten einen fröhlichen Eindruck. Dafür ließ sich leicht sorgen, und es blieb genügend Zeit für ihre persönlichen Vorlieben.

    Im Internet bot sie ihre Dienste geilen, meist älteren Herren an, welche sie, während die Kinder im Kino saßen, in deren Wagen oral versorgte.

    Mit ihren dicken Busen und festen Schenkeln flutschte dieses Unternehmen. Es brauchte nicht viel Zeit, um die meist feisten Dickbäuche zu befriedigen. Ihre Hand half hier und da mal nach, der Gier zur Explosion zu verhelfen. Ihr Geldbeutel, den sie stets unter der Matratze verstaute, füllte sich zusehends seitdem sie in diesem Hause weilte.

    Die Kinonummer lief gut und die Kinder sahen gerne Filme zwei- oder dreimal. Manchmal ging´s auch einfach nur Eis essen. Babs verschwand kurz, nicht ohne zuvor Valerie - als der Älteren - die Aufsicht zu übertragen. Das gleiche Spielchen lief beim Essen im noblen Tegernsee 51 oder beim Griechen nebenan. Überall gab es lauschige Plätzchen, die man mal kurz auf einen Sprung aufsuchen konnte.

    Handyverbindungen machten das problemlos möglich. Die Nummern, die dort in sportlichen 5 bis maximal 10 Minuten abliefen, wurden anstrengender. Um die körperliche Fitness zu erhalten, manche Wagen waren extrem klein und eng, brauchte Babs neben umfangreichen Mahlzeiten hinterher auch Trainingseinheiten, um erneut ihre Gelenkigkeit unter Beweis stellen zu können. Inzwischen hasste sie das Lenkrad verschiedener Fabrikate.

    Auch im Fitnessstudio blieb es nicht beim Training auf der Matte. In den Duschräumen der Herren wurden die Einheiten entsprechend erweitert, während Valerie Ballettkurse nahm und das Stepptanzen lernte, und ihr jüngerer Bruder sein Kung Fu Training absolvierte.

    Reichten diese Angebote noch nicht für Barbaras Aktivitäten, so wurden Schwimmlehrer verpflichtet, um den beiden zum Seepferdchen zu verhelfen. Immerhin lebten sie am Wasser und waren noch nicht schwimmtüchtig. Babsi trug Verantwortung, dagegen ließ sich nichts einwenden. Manchmal fühlte sie sich ein wenig schlapp von all den Aufträgen. Und dann überlegte sie sich, wie es wäre, bald mal beim Hausherrn vorbeizuschauen.

    Beim Senior ging´s nicht, der war ja bereits hinüber, leider. Aber Julius Moosberg schien noch Saft in den Knochen zu haben, und eine gewisse Geilheit im Blick war ihm ebenfalls nicht abzusprechen. Das konnte was werden.

    Ihr Kapital war vielleicht noch gute 5 Jahre einsetzbar: Immerhin war sie 35 geworden! Die meisten törnte das ab, wenn die Frauen Falten bekamen.

    Sie war gescheit, die Barbara. Lediglich das Unheil, arm geboren worden zu sein, hatte verhindert, früh Gas geben zu können. Kein Internatsbesuch, keine höhere Schulbildung, keine schicken Klamotten, keine entsprechenden Freunde aus gutbürgerlichen Familien.

    Alles nur Halunken um sie herum, die zusahen, wie sie mit vielen Tricks zu etwas Geld kamen. Meist Dreckiges, nichts, worauf man stolz sein konnte, - die Herkunft am Allerwenigsten. Ohne Schulbildung, aber mit gefälschten Papieren, lebte es sich jedoch besser. Ivana Svoboda alias Barbara Seligmann erfand sich einfach neu. Svoboda bedeutete Freiheit im Deutschen, und genau die nahm sie sich.

    Sie empfand es nicht einmal als Urkundenfälschung. Es stand ihr einfach zu, ihr Leben ein wenig zu frisieren, um mehr Chancen zu erhalten und dort leben zu können, wo sie sich selber am liebsten wähnte: in den gehobenen Kreisen.

    Wenn sie es sich recht überlegte, sollte sie wirklich mal beim Alten von der Moosberg ansetzen. Womöglich würde sie mit ihren erworbenen Fähigkeiten das Rad drehen können und irgendwann in ferner Zukunft selber dieses Reich regieren. So kaputt wie die Moosberg aussah und so spät, wie die heimkam, lief doch sowieso nichts mehr bei den beiden. Abitur und hervorragende Referenzen als Hausdame hatte sie zumindest vorzuweisen, das war doch schon mal ein Anfang. Die Herzen der Kinder hatte sie erobert, so viel stand fest. Sie

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